Ich muss gestehen ...
… so ganz verstehe ich die Art meines Alterns nicht. Immer wieder bekam ich in den vergangenen 20 Jahren von einer Schwägerin die Frage, wie ich es anstellen würde, so glatt zu bleiben. Ihr Gesicht war schon mit fünfzig Jahre so furchig, wie ich es heute noch nicht habe. Erklären könnte ich es allenfalls mit der genetischen Vererbung.
Ich wurde (leider) unter den Fittichen meines Vaters und seiner Mutter groß. Was ihn zu dem hat werden lassen, wie er seine Umwelt, seine Töchter oder eben allgemein Frauen sah, kann ich irgendwie nur den Tatsachen entnehmen, welche Berufe seine Eltern, meine Großeltern väterlicherseits, hatten:
Opa, Uniformschneider unter dem letzten Kaiser,
die Oma, gelernte Weißnäherin, entwickelte sich in der kurzen Zeit ihrer Ehe (nach vier Jahren war sie Witwe) mit Hilfe ihres Mannes zur Damenschneiderin.
Mein recht sportlicher Vater liebte die Musik, brachte sich autodidaktisch das Klavier- und Geigenspiel bis zur Konzertreife bei. Der junge Karl erlebte durch seinen Stiefvater ab seiner Babyzeit viel Gewalt. Ob das dazu beitrug, in der Zeit des 1. Weltkrieges sich von den Berufen seiner Eltern abzuwenden – vielleicht? Aber der Sinn für Schönheit, Musisches, hatte sich in seinem Kopf festgesetzt. Nein, Musiker wurde er nicht, obwohl er nach dem 2. Weltkrieg für das münstersche Stadttheater sowohl als Violin-Solist Geld verdiente als auch für die Darsteller des Theaters als Visagist und
Friseur, der Beruf, den er erlernte, arbeitete, bis die englische Besatzungsmacht ihm erlaubte, seinen Salon wieder als Selbstständiger zu öffnen.
Unsere Mutter war die älteste Tochter eines Malermeisters und von Beruf Hauswirtschaftsmeisterin. Sie selbst besaß offensichtlich auch die Liebe und das Talent zur Malerei wie ihr Vater. Somit ergänzten sich meine Eltern in ihrem Sinn für Schönes und deren Erstellung. Und es zieht sich die musische Linie offensichtlich weiter durch unsere Adern. Mir war es wichtig, wenn ich schon zu hören bekam, Schreiben und Malen seien brotlose Kunst, dass meine jüngere Schwester noch als Mutter ihrer vier Kinder (so viele, damit sie keine Zeit fürs Studium haben sollte – eifersüchtige Aussage ihres Designer-Ehemanns) dennoch ihr Stipendium für Kunst absolvieren konnte. Obwohl heute auch schon fast 74, arbeitet sie immer noch in diesem sie erfüllenden Beruf!
Auch bei meiner Tochter tauchte das Talent schon auf, als sie neun Jahre alt war. Sie hat ihr Talent bereits in diesem Alter entdeckt, als ich für mich mit 36 Jahren wissen wollte, ob nicht doch so ein wenig irgend eines Talentes meiner Stammfamilie auch in mir schlummerte. Ich war die Dunkle unter uns Geschwistern,
das Talent meiner Schwestern wurde schon im Kindergartenalter entdeckt. Nur ich schien zu hören zu bekommen, dass gutes Lernen sehr viel mehr wert wäre!
Meine Tochter scheint auch die Musik sehr für sich entdeckt zu haben, denn in ihrer Ausbildungszeit gab sie nicht nur ihren Mit-Auszubildenden Airbrush-Kurse, sondern sie lernte auch diverse Musikinstrumente spielen: Gitarre und Keyboard, spielte bald mit der hauseigenen Internatsband als Keyboarderin und Sängerin mit, auch öffentlich in Hannover. Beim Flötenunterricht als Sechsjährige spielte sie die Noten alle in gleicher Art vom Blatt, weil die Lehrerin es wohl versäumte, die verschiedenen Darstellungen der Noten in ihren Werten zu erklären. Das lernte sie dann von mir zuhause: einmal den Titel des Kinderliedes nennen, ihr einmal auf der Flöte vorspielen, dass sie auch hier die Möglichkeit warhrnehmen konnte, die Melodie konkret nachzuspielen. Vielleicht zeigte sich ja hier schon die auch bei ihr vorhandene andere (legasthene) Wahrnehmung, denn das ist nie wieder bei ihr verloren gegangen. Das Einzige, was sie irgendwann dazu dann noch mal von mir erfragte, war, wie sie Akkorde greifen und Weihnachtslieder mit einem modernen Sound versehen könnte.
Nach Abschluss ihrer Ausbildung machte sie nachts neben ihrer Tagesarbeit zusätzlich ein Fernstudium zur Grafik-Designerin. Beides – ihr technischer Lehrberuf in Kombination mit ihrem guten Gefühl für bildliche Werbe-Aussagen – sorgt seit zwanzig Jahren dafür, dass ihre Selbstständigkeit funktioniert!
Soviel zu der Aussage „brotlose Kunst“!
Was das Altern angeht, begreife ich meine eigene Entwicklung nicht wirklich. Als Kind achtet man eher nicht darauf, welchen Eindruck man charakterlich und optisch auf seine Umwelt macht. Man ist eben wie man ist. Als meine Kurzsichtigkeit eine Brille erforderlich machte, bekam ich vom Vater eine sehr herbe Kritik: Siehst aus wie eine alte Juffer, bekommst sicher keinen Mann ab. Dann pflegst mich, wenn ich alt und zittrig bin!
Ab dem Zeitpunkt – ich war zehn – hielt ich mich für hässlich. Es brauchte Überredungskunst, mich mit zwölf Jahren auf dieses Foto einzulassen. Er kritisierte dann auch, dass ich mit elf Jahren noch keine Schuhe mit Absatz trug, meine Fingernägel nicht lackierte und keinen Lippenstift auftrug. Meine Mitschülerinnen taten das ja auch nicht, die Zeit war noch nicht gekommen. Heute läuft das anders …
Dass es dann auch für mich anders kam, begriff ich nicht wirklich. Vater verpasste mir meinen Optiker-Mann, wir bekamen unbegreiflicherweise zwei Kinder, mein Untergewicht änderte sich zu einem so gerade reichenden Fast-Normalgewicht und das stand mir offensichtlich. Inzwischen gab es auch hübschere Damen-Brillenfassungen, mit denen mein Mann mich versorgte und es gab keine kritischen Bemerkungen mehr … Ich stellte sogar fest, dass einzelne Nachbarinnen in dem Ort, in den wir inzwischen gezogen waren, meinem Kleidungsstil nacheiferten. Na so was!??
Mein Selbstbewusstsein bekam etwas Auftrieb. Das inzwischen erkannte Maltalent führte dazu, dass eine Töpferin sich von mir nicht nur die Porträts ihrer Kinder wünschte, was zu Folgeaufträgen ihrer Kundinnen führte, sondern auch regelmäßig bat, ihr Entwürfe für ihre Arbeiten zu machen. Ich begann, nicht mehr mental unter'm Fußboden her zu kriechen, sondern genoss es, als wir einige Jahre später gebaut hatten, dass man mir erzählte, was man so alles von mir wisse! Die Aufnahme in der neuen Nachbarschaft war sehr freundlich.
Doch meinem Mann gefiel das nicht, es betraf ja mich. Er versuchte mich weiter unter seinem Level zu halten. Als ich dann auch noch eine neue Arbeitsstelle bekam, dort von Kolleg/Innen und Patient/Innen Zuspruch und Anerkennung erhielt, fühlte ich mich – mit 46 Jahren – endlich in mir wohl.
Die ersten grauen Haare zeigten sich und da ich zwei blonde Schwestern hatte, kam ich auf die Idee, mein dunkles Haar blond zu färben. Das blieb bis Ende 2020 so, fast 30 Jahre. Dann folgte der Absturz: die Chemotherapie sorgte für Totalausfall und
der nachwachsende Ansatz glich einer bunten Kuh! Fast weiß vielfach, aber ebenso im Durchmesser zehn Zentimeter großer dunkler Haarneubewuchs dazwischen!
Fand ich anfangs interessant, aber lieber hätte ich die dunklen großen Flächen nicht gehabt. Doch alle um mich herum fanden meine neue „Frisur“ charmant, mein Enkel wünschte, ich solle das Haar so behalten. Nur mein durch die Chemotherapie abgemagertes Gesicht gefiel mir absolut nicht.
Inzwischen sehe ich wieder ein wenig akzeptabler (eigene Meinung!) aus. Aber nach so vielen Jahren mit dem „Blondhelm“ ist die Gewöhnung schwer. Zumindest kann ich inzwischen akzeptieren, dass ich so alt bin, wie ich aussehe. Doch dagegen bekomme ich Protest von meiner Tochter: sie sagt, sie sähe die nahende Achtzíg nicht … Da kommt der mir so bekannte Trotz wieder hoch: Viele Verwandte mütterlicherseits wurden 90 Jahre alt, mein Opa sogar 102! Da wünsche ich mir doch auch etwa die Neunzig (falls Corona mich nicht erwischt) und bin sehr gespannt, wie runzlig ich dann geworden sein werde!
Kommentare (9)
@Fewa
Danke, liebe Fewa, dass Dir meine etwas flapsig gescbriebene Geshichte aus meinem Leben gut gefiel.
Ich denke, so ein wenig Zeit wurde mir durch die heute sehr viel bessere Behandlungsmöglichkeit der Krebsbehandlung geschenkt, so dass ich es vielleicht noch erleben werde, wie mein fast zehnjähriger Enkel mir - wie heute - ganz stolz die Prüfung in Karate für den orangenen Gürtel geschafft zu haben, zukünftig auch von weiteren Prüfungen in dieser Sportart berichten kann!
Dieser Sport hat ihm geholfen, auch die Angst vor unbekannten Bewegungen, die ihm seine legasthenen anderen Wahrnehmungen nicht erlaubten, zu überwinden und dadurch ihm sein zu dick werden gestoppt hat! Da er obendrein heute auch wieder eine Mathe-Arbeit mit einer Drei mit nach Hause brachte - scheint er auch seine Konzentration in diesem Fach möglich besser nutzen zu können!!
Da waren mal wieder Drei richtig glücklich: der Junge, die Mama und die Oma! Der stolze Papa kann manchmal gar nicht richtig begreifen, dass es seinem Sohnemann gelingt, seine Legasthenie inzwischen besser zu beherrschen als er selbst seine eigene ... Legasthen bleibt man nämlich lebenslang.
💕lichen Gruß von Uschi
Danke für all Eure lieb gemeintenZustimmungsherzchen. Ich habe mich sehr darüber gefreut!!
Uschi
Liebe Uschi
bin immer wieder fasziniert von der Fülle Deiner Fotos samt der erklärenden Familienchronik. Besonders die alten Fotos der Großeltern finde ich sehr schön.
Behalte weiterhin Deinen Frohsinn, damit Du wieder ganz schnell gesund wirst. 🌞
Herzlichen Gruß
Rosi65
@Rosi65
Wenn ich hier mal ewas herauslassen soll, liebe Rosi: ich hab mir meinen (teilweise schwarzen) Humor in dem vergangenen Jahr nicht nehmen lassen!
Sehr geholfen hat mir das Engagement meiner Tochter, eine Änderung des Umgangs mit legasthenen Kindern in den Grundschulen in Deutschland herbeizuführen. Ich hab sie sehr dabei unterstützt und das hat mich ziemlich von meinen eigenen gesundheitlichen Belangen abgelenkt. Ich hatte kaum Zeit, über meine eigene Situation nachzudenken.
Und jedes Mal, wenn es kleine Erfolge festzustellen gab, bekam ich von ihrer "Umgebung" zu hören, sie könnten sich nicht erinnern, jemals eine so viel Glücklichsein ausstrahlende Krebskranke erlebt zu haben. Ich hab auch in der Rehaklinik zu hören bekommen, dass das ein wunderbarer Weg sei, keine Depressionen über die Krankheit zu entwickeln.
Ich denke, mit dem heutigen Wissen der Onkologie wird mir das - halbwegs - Gesundwerden auch gelingen.
Die Großeltern-Fotos waren Anfang des 20. Jahrhunderts wohl eine Art Werbefotos. Aber ich freue mich sehr, diese und eine Reihe anderer alter Fotos eingescannt zu haben. So ein Glück haben nicht allzu viele Privatpersonen.
Danke für Deinen Kommentar und Deine lieben Wünsche. Bleib auch Du gesund wünscht
Uschi
Liebe Uschi,
wunderbar geschrieben.
Wir sind etwa im gleichen Alter. Es war eben eine andere Zeit. Warum sollten Töchter das zunächst noch kostenpflichtige Gymnasium besuchen, wenn sie dann doch heiraten und Kinder großziehen werden?
Die Fotos sind sehr eindrucksvoll. Du bist eine sehr schöne Seniorin mit einer tollen Ausstrahlung und wirst auch das gesteckte Altersziel noch übertreffen.
ich wünsche es Dir von Herzen.
Lieber Gruß Ingrid 60
@Ingrid60
Oh je, liebe Inrgrid, wenn ich daran denke, wie die Geschwister meiner leiblichen Mutter im hohen Alter mit ihren rheumatischen Erkrankungen zu tun hatten, hab ich doch ein wenig Angst vor den Neunzigern!
Allerdings weiß ich auch, dass der Älteste in der Verwandtschaft, mein mütterlicher Opa, mit Mitte 90 sich noch seinen Blinden-Gehstock nahm und ohne seine Schwiegertochter zu informieren, den Prozessionsweg von Münster nach Telgte - ganz allein - machte!! Noch ehe jemand das entdeckt hatte, gab es einen Anruf eines Autofahrers, der Opa da laufen sah, dass der alte Mann wohl auf dem Weg nach Telgte sei. Zum Glück konnten sie ihn noch vor der gefährlichen Querung der B51 kurz vor dem Wallfahrtsort "abfangen".
Es war keine Demenz, die ihn dazu verleitet hatte, eher der Wunsch, vielleicht ein letztes Mal diese Prozession zu machen. Er war ein sehr gläubiger Mensch. Danach war es seinen Nächsten zu riskant, ihn in seiner eigenen Wohnung allein leben zu lassen, er kam in ein Altenheim, wo er noch sieben Jahre zufrieden lebte.
Diesen Spruch habe ich auch von meinem Vater gehört: Töchter brauchen kein Gymnasium zu besuchen, die heiraten sowieso! Dennoch kamen meine ältere Schwester und danach ich ins gymnasiale Internat. Das Geld war ihm egal, er hätte selber gern das Gymnasium besucht, aber sein Stiefvater ließ das nur für seinen nachgeborenen Ältesten gelten! Und der fiel in Russland ...
Es war erforderlich, dass meine ältere Schwester von zuhause weg kam. Sie war ein stets Streit verursachendes Mädchen, das uns Geschwister immer wieder dazu aufstachelte, uns gegenseitig Schmerzen zuzufügen! Nach vier Jahren wechselte ich ins Gymnasium. Aber hoher persönlicher Stress ließ eine Herzerkrankung seine Sorge um mich so sehr wachsen, dass ich zuhause auf die Realschule umgemeldet wurde.
Ich freue mich über Dein Lesen und Deine guten Wünsche und hoffe für Dich, dass auch Du gesund ein hohes Alter erreichst!
Uschi
Familiengeschichten, liebe Uschi, mit all ihren Höhen und Tiefen, Begabungen der einzelnen Mitglieder und Entwicklungen finde ich immer spannend zu lesen. Mit Interesse habe ich die deine gelesen und mir auch die Fotos angeschaut.
Früher blond gewesen, inzwischen schon an die 20 Jahre grau, dazwischen mal gefärbt, mich nicht wirklich wohl gefühlt damit, bin ich heute mit meinen fast weißen Haaren zufrieden. Aber, du hast recht, man muss sich gewöhnen, wie überhaupt an das älter werden. In Schüben habe ich schon immer mal wieder damit gehadert. Sollte man nicht machen, denn die Hauptsache ist einigermaßen gesund zu bleiben. Es freut, dass du deine Krankheit überstanden hast. Weiterhin alles Gute für dich und herzlichen Gruß von
Brigitte
@Roxanna
Dein Kommentar hat mich richtig gefreut, liebe Brigitte!
Wie schon so oft in den letzten Monaten hab ich daran gezweifelt, ob es richtig ist, meine Gedanken zum eigenen Leben öffentlich zu machen. Es gibt so viele User hier, die damit lieber hinterm Berg halten. Das Leben schenkt einem nichts und wenn es einem gut geht - was derzeit für mich der Fall ist - kommen einem auch die Zeiten in den Sinn, die ja zu einem gehören. Sie einfach an die Seite zu schieben, nur weil sie schwer zu bewältigen waren, heißt auch, sie nicht wirklich zu akzeptieren. Aber ich habe sie bewältigt - und darauf bin ich stolz!
Wenn ich schrieb, dass es fast mein halbes Leben dauerte, bis ich insgesamt zu mir selbst stehen mochte, sagt das ja auch etwas aus. Überstanden ist die Krebsgeschichte noch nicht, bis April gibt es weiterhin Anti-Körper-Therapie, alle drei Wochen. So lange mir Corona nicht die lange Nase zeigt, habe ich, so denke ich, eine Chance, meiner mütterlichen Verwandtschaft ins Alter zu folgen. Das wünsche ich Dir und allen, die ebenso oder ähnlich empfinden!
Uschi
Danke das ich deine Geschichte lesen durfte,sie war wunderschön und hat mich sehr berührt.Ich wünsche dir von Herzen Gesundheit,und eine schöne Adventszeit.
Liebe Grüße
Fewa