Ich liebe dich, du sanftestes Gesetz – Lyrik-Part VI
Rainer Maria Rilke
Heute zum (kalendarischen) Herbstanfang möchte ich hier gern vier Gedichte von Rainer Maria Rilke vorstellen. Es sind dies zwei Gedichte, die er im Herbst 1902 in Paris und zwei Gedichte, die er - ebenfalls jeweils im Herbst bzw. Spätherbst - zu Ende des 19. Jahrhunderts in Berlin geschrieben hatte.
Es ist oft eine Geschichte für sich, wann und wo ein Dichter seine Gedichte schreibt. Beim Gedicht „Herbsttag“, das hier als erstes vorgestellt wird, hatte ich bei den von mir dazu angeschauten YouTube Videos weder Ort noch Zeit gefunden, zu denen es geschrieben worden war. Das wollte ich aber unbedingt wissen. Dann entdeckte ich, dass bei Wikipedia allein über dieses Gedicht eine eigene Seite existiert, und es gibt dort auch einen Hinweis über die Umstände und auf Ort und Zeit der Entstehung des Gedichtes. Das habe ich nun hierher übernommen, und es ist darunter in „Herbsttag“ zu finden.
Den Text der vier Gedichte habe ich jeweils, hintereinander geschrieben, hier mit hineingenommen.
Herbsttag
https://www.youtube.com/watch?v=x-MwVjggIcE
Text: Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß. Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren, und auf den Fluren laß die Winde los. Befiehl den letzten Früchten, voll zu sein; gib ihnen noch zwei südlichere Tage, dränge sie zur Vollendung hin, und jage die letzte Süße in den schweren Wein. Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben, wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben und wird in den Alleen hin und her unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
Im Herbst 1902 hatte Rilke seine Frau, die Bildhauerin Clara Westhoff, in Berlin zurückgelassen und war nach Paris gezogen, wo er an einer Monographie über den Bildhauer Auguste Rodin arbeitete. Diese verschiedenen für Rilke eher negativen Umstände können bei der autobiographischen Deutung von Wichtigkeit sein. In dieser Zwischenzeit hatte er auch das Gedicht geschrieben.
Entnommen von: https://de.wikipedia.org/wiki/Herbsttag
Eine wundervoll stille, ruhige Rezitation, begleitet von je einem Bild dreier berühmter Maler. Sehr schön.
Bilder: Gauguin, Paul - Ernte in der Bretagne; Pissarro, Camille - Ernte; Turner, Joseph Mallord William - Cassiobury Park – Ernte
Herbst
https://www.youtube.com/watch?v=VWbqOK-TTyo
Text: Die Blätter fallen, fallen wie von weit, als welkten in den Himmeln ferne Gärten; sie fallen mit verneinender Gebärde. Und in den Nächten fällt die schwere Erde aus allen Sternen in die Einsamkeit. Wir alle fallen. Diese Hand da fällt. Und sieh dir andre an: es ist in allen. Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält.
Geschrieben in Paris am 11. 09. 1902
Ruhige, schöne Rezitation, begleitet von Herbstbildern des Malers Camille Pissarro.
Bilder: Camille Pissarro
Ich liebe dich, du sanftestes Gesetz
https://www.youtube.com/watch?v=o8Ct4QSRXLM&t=12s
Text: Ich liebe dich, du sanftestes Gesetz, an dem wir reiften, da wir mit ihm rangen; du großes Heimweh, das wir nicht bezwangen, du Wald, aus dem wir nie hinausgegangen, du Lied, das wir mit jedem Schweigen sangen, du dunkles Netz, darin sich flüchtend die Gefühle fangen. Du hast dich so unendlich groß begonnen an jenem Tage, da du uns begannst, - und wir sind so gereift in deinen Sonnen, so breit geworden und so tief gepflanzt, dass du in Menschen, Engeln und Madonnen dich ruhend jetzt vollenden kannst. Lass deine Hand am Hang der Himmel ruhn und dulde stumm, was wir dir dunkel tun.
Geschrieben am 26. September 1899, Berlin-Schmargendorf
Von einer Rezitatorin schön vorgetragen. Jedoch fängt das Video mit Reklame und nicht ganz vorne an, was ärgerlich ist. So sollte sich der/die Zuhörende und Zuschauende die Mühe machen, das Video anzuhalten und es mit der Maus noch einmal zum Anfang zurückzusetzen, (Schieberegler betätigen). Dann ist es wunderschön anzuhören, und auch die das Gedicht begleitenden Herbstbilder und die Musik sind sehr eigen und sehr schön.
Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort
https://www.youtube.com/watch?v=UBCAPL2a3ZY
Text: Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort. Sie sprechen alles so deutlich aus: Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus, und hier ist Beginn und das Ende ist dort. Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott, sie wissen alles, was wird und war; kein Berg ist ihnen mehr wunderbar; ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott. Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern. Die Dinge singen hör ich so gern. Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm. Ihr bringt mir alle die Dinge um.
Geschrieben am 21. November 1898, Berlin-Wilmersdorf
Sehr schöne Rezitation mit begleitenden Bildern des Malers Felix Nussbaum. Ein Innehalten und Nachdenken bietet sich für die Hörenden und Betrachtenden geradezu an! Die Bilder des Surrealisten Felix Nussbaum sind so eindrucksstark, dass ich über diesen Maler noch mehr wissen wollte, was heute dank Google und Wikipedia ein Leichtes geworden ist.
Bilder: Felix Nussbaum
Ich wünsche Ihnen viel Freude und vielleicht auch einmal ein Innehalten-Können beim Anhören und Anschauen dieser vier Videos mit Gedichten von Rainer Maria Rilke.
Angeli44
Obiges Bild: Rainer Maria Rilke
Von der Malerin Paula Modersohn-Becker
Public domain via Wikimedia Commons
This photographic reproduction is therefore also considered to be in the public domain in the United States.
Kommentare (6)
Noch ein Hinweis, liebe Ingeborg, gar nicht für dich, da du es ja schon kennst, aber für alle, deren Interesse vielleicht am Stundenbuch von Rainer Maria Rilke entfacht worden ist und die gerne hineinschauen oder es sogar lesen möchten:
Spiegel online und das Projekt Gutenberg.de machen es möglich: Das Stundenbuch Rainer Maria Rilkes mit seinen Kapiteln 1, 2, 3 und 4 ist zu finden unter:
http://gutenberg.spiegel.de/buch/das-stunden-buch-5564/1
Achtung:
Copyright / Nutzung der Werke
„Alle Bücher im Projekt Gutenberg-DE sind nach unserem besten Wissen frei von Urheberrecht. Es wird keine Gewähr Dritten gegenüber für eventuell unbeabsichtigte Copyrightverletzungen übernommen. Die Ansprüche der Rechteinhaber bleiben gewahrt. Alle Gutenberg-DE Texte können zeitlich unbegrenzt für private Zwecke und beliebige Lesegeräte genutzt und vervielfältigt werden.“
(Entnommen aus Projekt Gutenberg.de)
Einen schönen Tag wünscht
Angeli44
Siehst Du, Angeli, und ich hab mit dem Stundenbuch angefangen.
Mittlerweile kann ich ca. 30 Gedichte von ihm auswendig, davon einige aus dem Stundenbuch.
Eines davon beginnt:
"Ich habe Hymnen, die ich schweige".
Was für ein Anfang, und was hätte er uns noch sagen sollen, können, wollen?
Vielleicht hätten wir noch gar nicht alles verkraftet.
Ich liebe seine Briefe, in ihnen offenbart sich seine Seele am reinsten, da er sich ja darin einem Andern offenbart.
Durch meine Freundin Sirona bin ich wieder auf Dich hier aufmerksam geworden, weil ihre Posts mir im "Start" angezeigt werden.
Soweit für heute mit
einem lieben Gruss
Ingeborg
Danke, liebe Ingeborg, für deine wertvollen Hinweise zum „Das Stundenbuch“ von Rilke, das ich bisher überhaupt nicht kannte! Ich habe gleich bei Wikipedia nachgeschlagen. –
Zitate Wikipedia: „Der Titel des Zyklus geht auf die seit dem Spätmittelalter gebräuchlichen Stundenbücher zurück und deutet bereits den religiösen Bezug an. Diese Gebets- und Andachtsbücher waren häufig mit Buchmalerei ausgeschmückt und verbanden so die religiöse Erbauung mit der Kunst. Sie enthielten Gebete für unterschiedliche Tageszeiten und sollten durch die regelmäßige Hinwendung zu Gott den Tag strukturieren.“ ...
“ Das Werk umfasst die Teile: Das Buch vom mönchischen Leben, Das Buch von der Pilgerschaft und Das Buch von der Armut und vom Tode.“ ...
„Zum biographischen Hintergrund des Werkes gehören Rilkes Russlandreisen, die er im Sommer 1899 und 1900 mit der Widmungsträgerin Lou Andreas-Salome unternahm und nach deren Abschluss er mit seiner Arbeit an dem Zyklus begann. Die Weite Russlands, seine von der westlichen Zivilisation noch wenig berührte Kultur und die orthodoxe Religiosität der Bauern formten einen Hintergrund, der sich durch persönliche Begegnungen mit Leonid Pasternak und dem bewunderten Leo Tolstoi im Laufe der Zeit zu einer geistigen Heimat entwickelte.[3] Wie er zwanzig Jahre später rückblickend schrieb, habe sich ihm dieses Land aufgetan und ihm „die Brüderlichkeit und das Dunkel Gottes“ geschenkt, „in dem allein Gemeinschaft ist.“ In dieser dunklen Ferne sollte der uralte und ewige Gott, an dem immer zu „bauen“ war, auch später für ihn bleiben.[4]“...
Die Zitate sind aufzurufen unter:
https://de.wikipedia.org/wiki/Das_Stunden-Buch
Es grüßt herzlich
Angeli
Hach, liebe Angeli, das hat meiner Seele gut getan! Solche Menschenworte muss man nicht fürchten. Liebes DANKE!
HG Sirona
Liebe Sirona, ja, ich finde die vier Herbstgedichte von Rainer Maria Rilke auch sehr schön. Auch, wie sie in den vier Videos verbunden werden mit anderer Kunst, etwa der Malerei und auch der Musik. – Jetzt ist viel Eigenstaltung und die Veröffentlichung (bei YouTube) möglich geworden. Das ist doch sehr schön so.
Herzlich
Angeli
Ich liebe Rainer Maria Rilke.
1978 hörte ich bei einem Seminar für Bühnenkunst zum erstenmal aus den Stundenbuch Gedichte.
Es war in Freudenstadt, in der Pause rannte ich in die Buchhandlung und kaufte mir "Das Stundenbuch".
Mein Eintrag:
"Freudenstadt
Freitag, 13. Okt. 1978
auf dem Kienberg
Jetzt kamen im Lauf der Jahre noch kleine Zeichnungen von mir dazu.
Lieben Gruss und Dank
Ingeborg