Gedichte für K i n d e r


Gedichte über (... oder für Kinder)


Hier entsteht eine kleine Anthologie mit Gedichten, die in besonderer Weise die Beziehung der Erwachsenen zu Kindern ausdrücken.

Neben dem Text wird eine kurze Interpretation und ein biografischer Abriss des Autors/der Autorin


Übersicht der Texte:


1. Text: Karl Mickel: Das Kindlein am Himmelstor

2. Werner Bergengruen: Grabschrift für ein Kind

3. G. B. Fuchs: Für ein Kind

4. Hilde Domin: Überfahrt

5. Siegfried von Vegesack: Gotthards Totenbrett

6. Siegfried von Vegesack: Die Hebamme

7.



* ~ * ~ *


Anthologie der Texte:


1. Karl Mickel
(12.08.1935 in Dresden - 20.06.2000):

Karl Mickel:
Das Kindlein am Himmelstor


Das Kindlein kam zum Himmelstor
Der Pförtner Petrus stand davor.
Das Kindlein war so zart und fein
Es hatte weder Arm noch Bein.

"O lieber Pförtner, laß mich ein
Ich bin weiß Gott ein armes Schwein
Geboren zu Hiroshima
Im zwölften Jahr nachdem’s geschah."

"Du Kindlein kommst mir nicht herein
Dort muß die Höll gewesen sein.
Wer in der Hölle ist geborn
Dem ewig Leben ist verlorn.“
(1965 entstanden)
*
(Aus: K. M.: Vita nova mea. Gedichte. Reinbeck 1967. S. 35)

*

zu: Das Kindlein am Himmelstor

1960 entstand „Das Kindlein am Himmelstor“.

Anlass war die Erklärung des Bischofs von Berlin-Brandenburg, für Christen gäbe es keinen Grund, gegen Atomwaffen einzutreten, da es ihm gleich sein könne, auf welchem Wege er in den Himmel komme.

Das Gedicht kommt wie kleine Prosa daher: in der ersten Strophe schildert ein Erzähler die Ankunft eines „Kindleins“, der verwendete Diminutiv weckt sofort Mitleid beim Leser.
Dieses Gefühl wird wieder aufgehoben durch die Ironie der sachlichen Feststellung, dass das Kind weder „Arm noch Bein“ hat. Dann folgt ein Dialog Zwischen dem Kind und Petrus. Das Kind verweist darauf, dass Gott um die Ereignisse in Hiroshima weiß und, dass es zwölf Jahre nach dem Bombenabwurf geboren wurde. Somit ist es ganz unschuldig. Petrus’ Anrede „Du Kindlein“ klingt wie eine Beschimpfung. Petrus selbst weißt nicht um die Ereignisse auf Erden, er glaubt, es müßte „die Höll gewesen sein“. Seelenheil und ewiges Leben kann nicht die Folge sein.
Der groteske Vorgang macht ganze Ketten von Widersprüchen sichtbar. Das Kindlein, ein Strahlenopfer, ist kein Mensch mehr, die Erde zur Hölle geworden, der Himmel also nicht mehr zugänglich. Das ist der logische Widerspruch, in dem das Bischofswort lächerlich wird.
Widersinnig ist, dass das Kind in den Himmel will: Sein namenloser Tod, das geraubte Leben, die zerstörte Gestalt widersetzen sich dem Gedanken an Auferstehung, ewiges Leben. Das Gedicht polemisiert mit jenen Leuten, denen auch die Bombe nur ein Weg zu Gott ist, möchte darüber hinaus aber wissen, wie wir das Verhältnis von Krieg und Geschichte in unserem Jahrhundert zu denken haben.


1.2 Des Poeten Mickels Umfeld

Der Lyriker, Essayist und Prosaautor Karl Mickel gehörte zu den Protagonisten der "Sächsischen Dichterschule", keiner Poetenschmiede, wie man meinen könnte, vielmehr einem lockeren Zusammenschluss von Literaten, die sich solchen Freilegungen in ihrer eigenen Dichtung auch widmeten. Volker Braun, Sarah und Rainer Kirsch, Adolf Endler, Heinz Czechowski, Wulf Kirsten, B.K. Tragelehn - das ist die Dichtergeneration, die den wesentlichen Teil der DDR-Lyrik produzierte. Natürlich führte dies immer wieder in Konflikte mit der offiziellen Kultur- und Literaturpolitik, schon seit den frühen sechziger Jahren.
Teil der repräsentativen DDR-Literatur war Mickel nie. Im Westen fast völlig unbekannt, hatte er auch in der DDR nur eine kleine Lesergemeinde. Seinen Außenseiterstatus aber hat er nie kultiviert. Zwar geriet auch er mit der offiziellen Kulturpolitik der DDR aneinander, aber um daraus Ruhm zu ernten, war seine Form der Dissidenz doch zu hermetisch.
In der Lyrik der „Sächsischen Dichterschule“ wurde das Transistorische gelobt: wer nicht gefressen werden wollte, musste Zähne zeigen, selber den schadhaft umzäunten Dichtergarten auskundschaften und auf die Jagd nach geistige Nahrung gehen, um mit der jeweiligen Beute seine Verse zu schmücken. Durch Plagiat, Zitat, Paraphrase und Parodie „fremder“ Texte von zum Beispiel älteren Kollegen lernten sie sich in der Welt zurechtfinden, ohne dass ihnen eine Instanz eine Vorlage aufzwang.
*

1.3 Eintrag in lyrikline.org:

K.M. bei lyrikline.org

Karl Mickel: Werk und Leben:

Über Karl Mickel



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2.Werner Bergengruen:
Grabschrift für ein Kind



Ich hatte nur wenig Tage zu leben.
Doch war mir in ihren alles gegeben.
Ich kam aus dem Dunkel, das Dunkel war mild,
ich hatte Angst, doch die Angst zerrann,
das Licht nahm sich meiner in Güte an.
Mich hungerte sehr, ich wurde gestillt.
Dann ging ich ohne Schmerzen und Leid
zurück in die alte Geborgenheit,
so hab ich des Menschen Teil erfahren
wie andere in achtzig Jahren.
*
(W.B.: Die heile Welt. Gedichte. München 1962. Nymphenburger Verlagshandlung. S. 75)


Für jedes Menschenkind: die Licht-Erfahrung des sterbenden Menschen, eine Menschheitserfahrung!


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3.GÜNTER BRUNO FUCHS:
FÜR EIN KIND


ICH HABE GEBETET. SO NIMM VON DER SONNE UND GEH.
DIE BÄUME WERDEN BELAUBT SEIN.
ICH HABE DEN BLÜTEN GESAGT, SIE MÖGEN DICH SCHMÜCKEN.


KOMMST DU ZUM STROM, DA WARTET EIN FÄHRMANN.
ZUR NACHT LÄUTET SEIN HERZ ÜBERS WASSER.
SEIN BOOT HAT GOLDENE PLANKEN, DAS TRÄGT DICH.


DIE UFER WERDEN BEWOHNT SEIN.
ICH HABE DEN MENSCHEN GESAGT, SIE MÖGEN DICH LIEBEN.
ES WIRD DIR EINER BEGEGNEN, DER HAT MICH GEHÖRT.

(Aus: G.B. Fuchs: Gedichte. Berlin 1999)


Vgl.: "Der Irre ist gestorben“; s.:
Über G. B. Fuchs


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4. Ein ähnliches Gedicht von Hilde Domin


Hilde Domin: Überfahrt

Ein Kind
das macht die Ferne
es hat lockeres weißes Haar
es trägt ein schwarzes Kleid
es ist kein Kind
es steht in einem Boot
mir abgewandt
es hebt die Arme -
nicht zu mir -
auf der andern Seite ist Land

Ich sehe nur den Rand dieses Boots
und die seit immer bekannte
leichte
Drehung des Kopfs

(Aus: "Der Baum blüht trotzdem". S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1999.)


Einbezogen und metaphorisch eingeschrieben in Hilde Domins Traumszene der "Überfahrt" die heilsgeschichtliche Christopherus-Legende, in der ein Gottsucher ein Kind über das Wasser trägt und die Last auf seinen Schultern dabei immer schwerer wird.

Wir können es für die Dichterin, die sich retten konnte deuten:
Das markante Sinnbild für eine(n) Exilantin oder Exilanten, der seiner Heimat den Rücken kehren musste und nach dem rettenden Ufer die Arme ausstrecken konnte.
Es ist - auch ohne den religiösen Kontext - ein konzentriertes Gedicht von der Sehnsucht nach Rettung.


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5. Siegfried von Vegesack:
Gotthards Totenbrett


An der Kapelle zu Füßen des Dichterturmes bei der Burg Weißenstein in Niederbayern hängt noch heute das Totenbrett mit folgendem Vers für Vegesacks Sohn Gotthard v. V., der am 30. März 1944 als Freiwilliger einer Fliegereinheit in Polen gefallen ist.



Gotthards Totenbrett

Die Ähren sinken, wenn das Korn sich neigt.
Die Blüte fällt, wenn Frucht
aus ihrem Schoße steigt.
Und alles wächst und drängt und möchte sich vollenden.

Du aber bist gefallen vor der Zeit.
Du mußtest ohne Frucht, mit leeren Händen
Dich selbst verschwenden ...
Und bleibst nun jung in alle Ewigkeit.



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Siegfried von Vegesack:

Die Hebamme


Ich heiß Babette Rosenfinger
und bin im Städtchen wohlbekannt.
Ich hole alle jungen Dinger
ans Licht der Welt mit sanfter Hand.

Ich weiß im voraus jede Stunde,
bin stets bereit und stets adrett
und mach geräuschlos meine Runde
von Haus zu Haus, von Bett zu Bett:

vom Daunenlager zart in Seide
zur Eisenpritsche, hart wie Stein,
und komm und geh in stiller Freude,
und alle Kinder werden mein.

Die niemals Mutter ich gewesen,
bin Mutter dieser ganzen Stadt.
Und alle Nabelschnüre lösen
in meiner Hand sich sanft und glatt.

*
(Aus: S.v.V.: Seine schönsten Gedichte. Grafenau 2004. S.40)

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Ein wunderschöner Perspektivwechsel zu diesem Thema:

Woher kommen die Kleinen, die Kinder, die Feinen und Zarten, die Reinen?
- Ja, ihnen wird geholfen, auf die Welt zu kommen; weil Mütter in dem Zeitpunkt besonders hilflos sind: die Hebammen (.. eien schönes Wort!); sie helfen.

Und: Siegfried von Vegesack - ein Ökofreak, von Anfang an! Wobei ich das geläufige Fremwort "Ökofreak" ersetzen möchte: ein Naturfreund, von Groß bis Klein!


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