Für die letzten Tage des Jahres


[i][indent][right]Winter am Niederrhein:
Besuch der Wildgänse[/indent][/right][/i]



Einleitend mit einem Text?

Passend von Eduard Mörike?

E.M.:
[i]Schlafendes Jesuskind[/i]

- gemalt von Francesco Albani -

Sohn der Jungfrau, Himmelskind! am Boden
Auf dem Holz der Schmerzen eingeschlafen,
Das der fromme Meister sinnvoll spielend
Deinen leichten Träumen unterlegte;
Blume du, noch in der Knospe dämmernd
Eingehüllt die Herrlichkeit des Vaters!
O wer sehen könnte, welche Bilder
Hinter dieser Stirne, diesen schwarzen
Wimpern, sich in sanftem Wechsel malen!

*

Aus: Eduard Mörike: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Bd. 1,1: Gedichte. Ausgabe von 1867.
Erster Teil: Text. Hg. v. Hans-Henrik Krummacher. 2003. (HKA). S. 1959


Das Gedicht erschien 1862 unter dem Titel Der Erlöser in der Stuttgarter Zeitschrift „Freya. Illustrierte Blätter für Deutschlands Frauen und Jungfrauen“; auf der gegenüberliegenden Seite war ein Holz- und Stahlstich des Stuttgarter Holzschneiders Eduard Ade (1835-1907) nach einem Bild des Bologneser Malers Francesco Albani (1578-1660) abgebildet.

Zum Bild schreibt Mörike in einem Brief an seinen Freund Wilhelm Hartlaub vom 23.03.1862, dem auch das Gedicht beilag:
„Der Knabe Jesus liegt an einem angenehmen Schattenplatz im Freien auf einem kleinen, gewissermaßen zierlichen Kreuz eingeschlafen.“

Das Gedicht, das Mörike unter seinem neuen Titel, ansonsten jedoch nur wenig verändert, in seine Gedichte aufgenommen hat, bietet eine schlichte Bildbeschreibung.


Zur weitere Interpretation s.:

Text und Interpretation zu Mörikes "Schlafendes Jesuskind"[/url]



[b][i]Eine andere Einstimmung:[/i]
[/b]
[url=http://www.dioezese-linz.at/redaktion/data/kiz/Weihnachten06_51_2006.jpg]Karikatur von Lois Jesner, Linz. © KIZ Ausgabe 2006/51 vom 2006-12-20[/url]


[b][i]Vorweihnachtlich...?[/i][/b]

[color=teal]Alle Villen, Hütten, Museen und Paläste…:
Auch der Vatikan schmückt sich aufs Beste.
[/color]

[color=teal]Ich werde bis Neujahr Texte - Geschichten, Gedichte und Briefe - und Bilder einstellen, die für weihnachtliche Stimmung und Begeisterung oder gegen weihnachtlichen Kaufrausch und jahresendzeitliche Dummheit Beiträge bieten.
[/color]


6. Dezember
[i](ohne Nikolaus-Gedöns!)[/i]


[b]Otto Julius Bierbaum:

CHRISTOPH, RUPRECHT, NIKOLAUS[/b]

Ich kenn drei gute, deutsche Gesellen
Mit großen Händen und Beinen schnellen;
Mit dicken Säcken auf breiten Buckeln
Stampfen sie eilig durchs Land mit Gehuckel;
Haben Eis im Bart Und grimmige Art,
Aber Augen gar milde;
Führn Äpfel und Nüsse und Kuchen im Schilde
Und schleppen und schleppen im Huckepack
Himmeltausendschöne Sachen im Sack.

All drei sind früher Heiden gewesen.
Der erste heißt Christoph: Auserlesen
Hat er in einer eisgrimmigen Nacht
Das Christkind über Wildwasser gebracht.
Ruprecht der zweite ist genannt:
Der fuhr voreinsten übers Land
Tief nächten in Gespenstergraus
Als Heidengott. Den Nikolaus,
Als wie der dritte ist geheißen,
Tät man als einen Bischof preisen.

Das ist nun all Legend und Mär,
Ich übernehme nicht Gewähr,
Dass just genau es so gewesen.
Habs nicht gesehn, habs nur gelesen.
Auf Schildereien jedermann
Die dreie freilich sehen kann.
Da ist der Ruprecht dick beschneet
Und derb gestiefelt fürder geht.
Drei Äpfel trägt der Nikolaus,
Sieht väterlich und ernsthaft aus.
Und Christopher im langen Bart
Ist heidenmäßig dick behaart,
Hat einen roten Mantel an
Und ist ansonst ein nackter Mann.

Die dreie nun, dass ihr es wisst,
Verehre ich als Mensch und Christ.
Sie sind so lieb und ungeschlacht
Und ganz aus deutschem Mark gemacht.
Mildherzig rau, kratzhaarig lind,
Des deutschen Gottes Ingesind.
Die guten Knechte, reichen Herrn!
Sie dienen gern und schenken gern,
Wolln keinen Dank, wolln keinen Lohn,
Sind in sich selbst bedank lohnt schon.

Grüß Gott ihr Dreie miteinand
Im lieben weiten deutschen Land!
Christoph, Ruprecht, Nikolaus!
Schüttet eure Säcke aus,
Schüttet sie mit Lachen,
Blickt mit hellen Augen drein
Und lasst wohl gesegnet sein
Eure Siebensachen.

* ~ *

[url=http://www.friedenspaedagogik.de/var/corporate/storage/images/service/karikatur_der_woche/2000/weihnachten/2850-1-ger-DE/weihnachten.gif ]Wenn Reiche flüchten: Arme ... unterwegs! [/url]

[i]Fritz Behrendt: "Weihnachten"
© Cartoon-Caricature-Contors, Pfaffenhofen.
http://www.c5.net
[/i]


[b]Zum Nikolaustag eine Geschichte:
[/b]

[url=http://www.deutschboard.de/topic,872,-kurzgeschichte-z-thema-entscheidungen-o-unentschlossenheit.html ]Novembertags[/url]
[i](Copyright by anton@reyntjes.de)
[/i]


[b]7. Dezember:
[/b]

[b][i]Frantz Wittkamp:[/i]
[/b]
[b]"Einnachten, Zweinachten.
Deinnachten, Meinnnachten.
Nur nicht Alleinnnachten!
Bald schon Vorbeinachten.
Fröhliche Weihnachten!"
[/b]

[i]Ein kleiner Geschenktipp:
[/i][b][color=red]Ein rotes Büchlein, voll gekritzelt mit humorvoll-wahren Gedichten, die jedes Kind (auch das Kind in Mann und Frau...) zu Sprachspiel und Erkenntnis einladen kann.[/color][/b]

[i](F.W.: Einnachten, Zweinachten. Fröhliche Weihnachten! Coppenrath Verlag,. € 6,95.)
[/i]


[b]8. Dezember:
[/b]
Lustig, lustig! Hahaha!
Unsere kulturellen Schmarotzer:
Otto, Robert, Wienfried …
Oder:
Paulus an den Poeten Robert. Und umgekehrt.
[i](Ohne Briefverkehr nach dessen Umzug ins Blau-Transzendente)
[/i]

[b][i]Robert Gernhardt:
Plädoyer[/i][/b]

[b]Daß er die Kindlein zu sich rief,
daß er auf Wassers Wellen lief,
daß er den Teufel von sich stieß,
daß er die Sünder zu sich ließ,
daß er den Weg zum Heil beschrieb,
daß er als Heiland menschlich blieb -
ich heiße Hase, wenn das nicht
doch sehr für den Herrn Jesus spricht. [/b]
*
[i](R.G.: Gesammelte Gedichte. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2005; © Thomas Schlück) [/i]

Den pseudo-kritischen Rest für solch naiv humorige Erbauung, die Gernhardt auch für Ottos Plappermaul schrieb, kann man sich erlesen:

http://www.dradio.de/dlf/sendungen/lyrikkalender/883371


Gernhardt glaubt, dass er die ihm und seinen Lachbrüdern und –schwestern eingetrichterten Glaubensmätzchen der Nachkriegszeit für die Spaßlinge seiner Generation ein bisschen verulken und in schräge Reime pressen darf.
Pseudointellektuell ausgedrückt:
„Es werden kirchentreue Ehrfurcht und eine weltabgewandte Frömmigkeit prinzipiell durch Ironie ausgehebelt.“
Aber wer nicht an irdischen Frieden (global), materielle und ideelle Versorgung von Frierenden, Hungernden und Lernwilligen, an Alltagsliebe und –frieden und anästhetische Freuden glaubt, sollte auch auf diese Mittel zur Erzeugung von Otto-Blödsinn verzichten. Jaja, solange es Applaus und Geld bringt, tröten diese Männlein mit.
Sie besaufen sich gern an Reim und Wein.

**

Paulus schrieb an die Apostel:
[i]Robert Gernhardt (unter dem Neck- und Decknamen „Winfried Kraft“
[/i]
Paulus schrieb an die Apostel:
"Ich taufe alle Frauen Chrostel!"
Doch Petrus schrieb in der Epistel:
"Das heißt nicht Chrostel, sondern Christel.
Und wenn ich gegen eins was habe,
Sind's Fehler, nur dem Reim zulabe!"
Vom Dichter Winfried Kraft sind "die Lebensdaten unbekannt", wie uns eine Anthologie mit "komischen Gedichten" mitteilt. Es spricht einiges dafür, dass die Autorenschaft dieser 1972 in der Satire-Zeitschrift "Pardon" erstmals veröffentlichten Miniatur einem Aktivisten der "Neuen Frankfurter Schule" zuzuschreiben ist, mit einer hohen Wahrscheinlichkeit ist der Dichter Robert Gernhardt (1937-2006) der Verfasser.

*

Soviel infantil-naive Zwangsreimerei kann ich nur in der Parodie ertragen:

[b]Antwort auf „Paulus schrieb an die Apostel“
Kontrafaktur von A. S. Reyntjes
[/b]

[b]Paulus schrieb an Rob, den Schreiber:
„Du bist als Gott- und Heilandsschreiber
ein fotzig ächter Hintertreiber!“

Robert zelebriert rhetor-, titanisch & retour:
"Das kommt dem Gottesknecht nur so vour!
Ich schreib als Gern-Hardt fromme Briefesstück
an heilig-selige Pontifeces zurück,
mit einer ächten Droh- & Mahnung,
dass euch dämmert befreiungstheol. diese Ahnung:
Lasst alle Hungernden im Mutterbauch verrecken.
Dann braucht ihr sie in Hospitälern nicht verstecken,
in Heimen nicht mehr ungestillt & ungechristet:
& yeah, die Krank- und Alt-Dementen auch.
Das ist Erlösung, rächter Himmelsbrauch."

Und ach, Epistelschreiber Paul, besuche mir,
den Robert Gern-, in Hölle IV,
Salon für Scherz & HARTZ-Poeten,
ein feiner, letzter Wort-Ort ist’s für jeten.
Hej & boah: Hier gibt’s PCs & Scanner,
das sind für Reim- und Schreiber ächte Renner!"
[/b]


Etwas Komisches?

[url=http://de.youtube.com/watch?v=f80Gn5zOOlg]Loriots "Advent"[/url]



[b]9. Dezember:
[/b]

[b]Etwas Heimatliches:




[i]„Jesus ward boren“
[/i][/b]
[i](Niederdeutsch- von Rudolf Muuß)
[/i]
Dat weer to de Tiet, do leet de Kaiser Augustus den Befehl utgahn: All de Inwahners in dat römische Riek schullen in de Stüüerlist inschreeben warrn.
Disse Aart Inschrieben to en Stüüer weer wat Niees, un se worr maakt, as Cyrenius den Kaiser sien Stattholer in Syrien weer. Un all de Lüüd güngen hen un leeten sik inschrieben, jedereen in sien Heimatstadt.

Ok Joseph maak sik domals op de Reis ut de Stadt Nazareth in Galiläa hen nah de Davidstadt Bethlehem in Judäa; denn he weer ut David sien Huus un Familie. Dor muß he sik inschrieben laten tosa-men mit Maria, de em antruut weer. Un se schull bald Mudder warrn. Un denn keem dat so: As se dor ankamen weren, do weer dat so wiet, un ehr sware Stünn keem. Un se kreeg ehren eersten Söhn. Un se wickel em in Winneln un legg em in en Krüff. Denn anners harrn se keen Platz in de Harbarg.

Un in desülwige Gegend weren Harders op't Feld. De hardern ehr Veeh bi de Nacht. Un een vun Gott sien Engels treed vor ehr hen. Un de Herrn sien Licht strahl um ehr rüm, un se verfehren sik öwer de Maten. De Engel awers sä to ehr: »Weest nich bang! Höört to: Ik segg ju en grote Freud an, un de gellt för dat ganze Volk. In David sien Stadt is vundaag ju Heiland to Welt kamen, de Messias, de Herr Christus. Un dit is dat Teeken för ju: Ji finnt dat Kind in Winneln inwickelt un in en Krüff liggen.«

Un denn weer miteens dat ganze Himmelsheer bi den Engel. Un de löövten Gott un sungen: »Ehr wees Gott in de Hööchde un Freeden op de Eerd bi de Minschen, de goden Willen hebbt!«

Un denn, as de Engels wedder torüchkehrten nah den Himmel, do sään de Harders een to enan-ner: »Laat uns gau nah Bethlehem hengahn un nahsehn, wat dor passeert is nah den Herrn sien Woord!«

Un so gau as se kunnen, leepen se hen. Un se funnen Maria un Joseph un dat Kind; dat leeg in de Krüff. Un as se dat sehn harrn, do verteilen se, wat se öwer dit Kind to hören kreegen harrn. Un all de Lüüd, de dat hören dään, de wunnern sik, wat de Harders ehr verteilen dään. Maria awers kunn all disse Wöörd nich vergeeten, un se leet se sik jümmer wedder dörch't Hart gähn. Un de Harders güngen wedder torüch nah ehr Veeh. Un se löövten Gott för allens, wat se sehn un wat se höört harrn.
Dat weer just so ween, as de Engel ehr dat anseggt harr.
*
[i](Rudolf Muuß: Plattdeutsch. Breklum 1975: Breklumer Verlag)
[/i]


[b]Epistel zum 2. Advent, des Geistes voll,
die bis zum 3. reichen soll:
[/b]

[i][color=teal]Damit alles gut werde:
Erhebt die Stimmen,
die Herzen
und die Augenbrauen:[/color]
[/i]

[url]http://www.youtube.com/watch?v=vULdW735fkw[/url]


Eine Epistel, also eine Brief, zum 10. Dezember:

[b]Mörike schreibt an Freund Hartlaub
[/b]
[img]http://www.donzelli-kluckert-verlag.de/Mu/Freunde/MoerikeHartlaub.JPG[/img]

[i]Eduard Mörike (links) und Freund Wilhelm Hartlaub 1866, in Stuttgart.
[/i]

[color=red]Ein Angebot für treues Lesen und eine intensive Beschäftigung:
[/color]

[b]Ein Mörike-Brief, der nicht in der großen Marbacher Ausgabe steht, die die Brief-Bände abgeschlossen hat. Er ist erst kürzlich in einem Konvolut aufgetaucht und von Volkskundler und Germanisten Hermann Bausinger ediert:
[/b]

Als Datum ist von Mörike genannt [i]10. Dezember[/i]. Jahreszahl und Ort aber sind nicht angegeben.
Es gibt einige Anspielungen auf Zeit und Ort, auf Gegebenheiten und Kontext, z.B. auf Wermutshausen; andererseits spricht Mörike von der „Aussicht aus großer Höhe“, was für Wermutshausen im Flachland nicht passen kann.

[i]Veröffentlicht wurde der Brief von Professor Hermann Bausinger, Reutlingen; im „Jahrbuch der Deutschen Schiller-Gesellschaft“. Band. LII. 2008. Wallstein Verlag Göttingen. 2008. (S. 684ff.)[/i]

[img]http://www.moerike-museum.de/md/GD_425xauto_1214488812_image.jpg[/img]

[i]Das Mörike-Museum[/i]


[url=http://www.moerike-museum.de]Das Mörike-Museum in Cleversulzbach[/url]
[b][size=14]Eduard Mörike:
[/size]
[i]Herzliebe Freunde,[/i]
[/b]
es scheint unverantwortlich und unbegreiflich, daß ich so lange kein Wort des Danks gefunden, und wahrlich ich könnt diesen ganzen Brief mit dem Pater peccavi füllen. Lang haben die widrigsten Umstände meinerseits eine gemütliche Mitteilung nicht aufkommen lassen, doch hat es auch ruhige Tage gegeben - wenn man sich nur nicht selber im Wege war! Aber das Paket, das schon vor einer Woche angekommen, bringt mich nun endlich dazu, mein epistolarisches Dintenfaß aufzurühren und meinen >armen Dank< zu übersenden. Ihr dürft mir's glauben, so schön die Aussicht von hier oben auf das Gewimmel im Schneeichten drunten ist, greift einem doch mehr ans Herz, was man an Nachrichten von guten alten Freunden erhält.

Und was seid Ihr für herzgute Leute! Ihr müßt denken, daß wir in unserem Wehmutshausen Hungers leiden, so reichlich ist der Proviant, den Ihr uns zugedacht; aber ich muß gestehen, daß mich alles in der Seele gefreut hat - auch das herrliche Confect und der türkische Tabak zumal, ein trefflich Geräuch, auch wenn das Rauchen hier nicht mehr so gern gesehen ist. Aber was denkt Ihr, wenn ich Euch auf den Kopf zu sage, daß ich in der Zwischenzeit ein Paket bei kommen habe, das Eures noch übertrifft - und Ihr werdet mir, ich weiß es, nicht gram sein über den Vergleich.
Gestern morgen flattert mir aus einer geistlichen Blumenlese, die ich lange nicht mehr in der Hand gehabt, ein Zettelchen entgegen mit einem Verslein, das unsere Kleinen gerne aufgesagt haben:

Weißt Du auch, wo Stugart liegt,
Stugart liegt im Thale,

Wo's so schöne Mädle giebt,
Aber so brutale.

Der so un-weihnachtliche Vers ist mir oft durch den Kopf gegangen, obwohl in meinen Klassen im Katharinenstift [in Stuttgart] recht liebenswerte Geschöpfe saßen. Vielleicht habe ich mit dem Vers meine Abneigung gegen das oft allzu laute Getriebe dieser Stadt festgehalten. Gestern aber kam nun just aus dieser Stadt, aus Stuttgart, eine Sendung, wie sie merkwürdiger und erfreulicher nicht hätte sein können. Von einem Stuttgarter Verleger kam eine Riesenschachtel, die der Fuhrknecht den verschneiten Weg entlang auf dem Buckel hereinschleppte und mit meiner Hülfe auf dem Sofa absetzte. Ich gab ihm ein großes Trinkgeld, unsicher, ob es durch den Inhalt aufgewogen würde; aber wie staunte ich, als in dem Packen elf dicke Bände, vornehm in Leinen gebunden, aufgeschichtet waren; und ich erstaunte noch mehr, als ich meinen Namen auf dem Titel las: Eduard Mörike, "Werke und Briefe“. Ich hätte mir zwar den minder anspruchsvollen Ausdruck "Schriften" statt "Werke" gewünscht; aber nichts konnte mir erwünschter seyn als meine Schriften in einer so sichern Hut untergebracht zu sehn, und Ihr könnt Euch Vorstellen, wie's mich in freudvoller Überraschung traf, hier alle meine Sachen schön gedruckt vor mir zu haben, auch solche, für die ich seinerzeit keinen Verleger suchte oder fand.

Was mir in dem Paket zuging, waren die Briefe, alle meine Briefe, von den allerersten an die Geschwister bis zu den letzten, die ich der Schwester nur noch mühsam diktieren konnte. Bisher hab ich nur da und dort herumgefischt und manch schöne Erinnerung an gute Freunde gefunden, habe auch mit Befriedigung bemerkt, daß ich beim Schreiben der Briefe die poetische Phantasie nicht grundsätzlich an die Kette gelegt habe. Freilich war ich, offen gestanden, ein wenig konsterniert, wie viel Dinte man doch verbraucht für Nichtigkeiten wie Bitten, Mahnungen, leere Höflichkeiten. Könnte man die Briefe in Stücke tranchieren und nach ihren Inhalten ordnen, so wäre gewiß mindestens ein Band mit dem Titel Entschuldigung zustande gekommen; mit einer Mischung aus Scham und Übermut habe ich bemerkt, daß meine Gründe für das non scripsisse sich verdächtig wiederholen und daß ich mit schöner Regelmäßigkeit behauptet habe, ich hätte eigentlich alsbald zur Feder greifen wollen, nachdem ich aber zunächst gehindert worden, sei mir die Antwort immer schwerer gefallen. Und so vergnüglich es ist, in die vertrauliche Wärme vergangener Herzensbeziehungen einzutauchen - es ist auch höchst merkwürdig für mich, ganz ähnliche Liebesbekenntnisse an verschiedene Personen nun nebeneinander vorzufinden.

Direkt nebeneinander stehen sie glücklicherweise nicht, da die Editoren allen Fleiß und allen Scharfsinn aufgewendet haben, um die Briefe in die richtige chronologische Folge zu bringen. Und nicht nur dies: Sie haben zu jedem der Briefe einen Kommentar verfaßt, der oft mehr als doppelt so lang ist wie der Text. Es gibt eine besondere Klammer für Niederschriften, von denen sie annehmen, ich hätte sie nur versehentlich nicht getilgt - hätte ich's zu entscheiden gehabt, wäre diese Rubrik bestimmt größer ausgefallen, und manchmal kommen mich Zweifel an, ob ich nicht all mein Geschriebenes versehentlich nicht getilgt habe. Die Herausgeber spüren bei jeder Äußerung der Situation nach, in der sie entstanden, geben Hinweise auf Personen und Namen, erklären inzwischen veraltete Wendungen und suchen für jeden dunkleren Satz eine Erklärung - ich muß gestehen, daß es mich geradezu beruhigt, daß ab und zu vermerkt ist: Unbekannter Sachverhalt. Ich sage dann laut vor mich hin, was da steht, zum Beispiel: Der Schneider ist doch ein Erz-Schmauder daß er ein Art von Öhringer Dozsch in mir besorgt - und freue mich, daß ich das den Dutzenden auf mich wie in einer Treibjagd angesetzten Gelehrten zum Trotz für mich behalten darf.

Was mich aber am meisten fasziniert, ist der alle Vorstellungen und banalen Erwartungen übertreffende Ordnungssinn, mit dem hier gesammelt, sortiert und erklärt wurde. Wenn ich etwas verlegt hatte - nicht nach Jahrzehnten, sondern schon nach Tagen oder Stunden - war immer das tröstliche Sprichwort meiner Frau: »Das Haus verliert nichts«; aber wiedergefunden wurde es immer nur aus Zufall. Hier dagegen, in diesen Bänden, bleibt nichts ungeordnet und unbemerkt; wenn mein Joli *] über einen Brief getappt ist und ein paar Buchstaben verwischt hat, findet sich bestimmt eine kluge Reflexion zu den besonderen Lesarten, die daraus scheinbar entstanden sind; und kaum ein Brief dürfte unentdeckt geblieben sein. Ordnungssinn bringt die Dinge, und sei's nach Jahren und in elf Bänden, zu einem Ende; für mich, ich gestehe es, blieb selten etwas am angestammten Platz, für mich war Ordnung eine unendliche Geschichte.
Doch nun genug. Ich hoffe, Ihr könnt Euch bald selbst den einen oder andern Band besorgen.

Ich sende tausend Grüße an Euch alle und bleibe dankbar

[indent]Euer getreuer [i]Eduard [/i]Mörike.[/indent]


*] „Joli“ ist Mörikes Hund, ein Spitz.

[b][i]
Die Mörike-Ausgabe ist im Cotta-Verlag, Stuttgart, erschienen.

Wer mag mitlesen und mit nachdenken bei diesem kryptischen Brief, der kaum Winterliches enthält?
Ich werde schon morgen zu diesem Brief einige Erläuterungen einstellen.[/i]
[/b]


* ~ *

[b][color=navy]12. Dezember 08[/color]
[/b]

Diesen Tag widme ich dem in Köln lebenden Dichter und Redakteur Hans Bender. Er wurde am 1. Juli 1919 in Mühlhausen (im schönen Kraichgau) geboren. Seine Kindheits- Schul- und seine Kriegsgeschichten sind für mich wahre Lebens- und Schullektüren geworden.

[i]Bitte den Autor nicht verwechseln mit einem Parapsychologen zufällig gleichen Namens, der in Freiburg lebte und heute wohlig in Para-Nirgendwo.
[/i]

Seine wichtigste Geschichte auf dem Hintergrund der deutschen Historie, nach meinem Geschnack, pardon: Geschmack, und nach meinen Erfahrungen...?

Zu seiner Kurzgeschichte [b]"Forgive me!", in der deutsche Kinder und Jugendliche "geopfert" werden wie Lämmer auf der Schlachtbank; in den Endtagen des sog. [i]3. Reiches[/i].
[/b]

Hier zu lesen:

[url=http://www.schoolwork.de/forum/thema_2840.html]"Forgive me!"[/url]

[url=http://www.rimbaud.de/HansBender-LBFE.jpg ]Hans Bender im Rimbaud Verlg, Aachen[/url]


Lesestoff allüberall, nicht nur zu Weihnachten: Benders schönsten Bücher bei Suhrkamp und Insel:

[url=http://www.suhrkamp.de/autoren/autor.cfm?id=295]Seine schönen Anthologien in den Verlagen Suhrkamp und Insel[/url]


Am 12.12.1989 habe ich ihn einmal mit einigen Schülern in Köln besucht, wo er seit Jahrzehnten lebt, in der Taubengasse, was eine Verballhornung ist, da dort früher "[i]Dauben[/i]schläger" arbeiteten.


[url=http://www.muehlhausen-kraichgau.de/zehnminutenrede.htm ]Benders "Zehnminutenrede" - der gescheiteste, kürzeste Beitrag zur Bildungspolitik[/url]


Im nächsten Jahr wird er neunzig Jahre. Ich wünsche ihm Gesundheit, Schaffenskraft und Lebensfreude über diesen Tag hinaus.


Eine seiner Weihnachtsgeschichte - [b][i]„Die Herberge“[/i][/b] - hier abzudrucken, habe ich ihn um Erlaubnis gebeten.


[url=http://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Bender_(Schriftsteller) ]Zur Person und zum Werk Hans Benders:[/url]


[i]Ein Widmungsgedicht zum 75. Geburtstag von Peter Härtling, der Jahr lang in der Reaktion der "Deutschen Zeitung" mit Hans Bender zusammenarbeitete:[/i]

[b]Peter Härtling:
Für Hans Bender[/b]
[i]Zum 1.7.1994[/i]

[b]Keine großen Worte.
Wörter wie Äpfel,
wie Kiesel.
Eins neben dem andern.
So ist er
den neuen Dichtern
auf der Spur.
So findet
er die alten.
Das Haus, in dem wir
zwei Jahre
halbe Stockwerke
bewohnten,
gibt es noch,
in der Brüderstraße,,
Nur fehlt jetzt,
wovon wir lebten:
die wandernden Bücher,
die Treppenhausfreundlichkeiten,
die eine Blume
für
»hinters Fenster«.

Erinnerungen wie diese
drücken sich
in der Luft ab,
wandern mit
dem Wind,
mit der Zeit
in unsere Himmelsrichtung.
[/b]
*
[i](In: P. Härtling: Horizonttheater. Neue Gedichte. Köln 1997. S. 73
[/i]


* ~ *

Eine schöne Weihnachtsgeschichte, die nicht im einmalig legenhaft Biblischen für zwei oder drei Feiertage verbleibt, sondern den Kern des Geschehens, die Sorge um den Nächsten, die erlebte Freude und möglichen Frieden und die Bereitschft, andere Menschen aufzunehmen, in die eigene Realität einbezieht; so will es der Vater des jungen Schülers Hans; und Hans Bender wird es als Dichter nie mehr vergessen. Es wird seine christliche Lebensaufgabe, im Krieg, in der Gefangenschaft, neben seiner literarischen Tätigkeit für andere, meist junge Dichter (30 Jahre Redakteur der wichtigsten Kulturzeitschrift "Akzente" im Hanser Verlag) und privat, wenn es Nachbarn, Freund, junge Autoren oder Schüler empfängt.


[url=http://www.hanser.de/page.asp?area=Literatur&page_id=266311257]Die Zeitschrift "Akzente" heute:[/url]



[color=teal][b]Hans Bender:
[i]Die Herberge[/i][/b]

Rechts vom Pult, zwei und zwei hintereinander, saßen die Buben, links die Mädchen der ersten Klasse. Ich saß in der letzten Bank neben Edwin, den ich beneidete, weil er eine Federbüchse aus Amerika hatte.

Der Ofen glühte. Die Schritte und Räder vor den Fenstern dämpfte frischgefallener Schnee. Es war vor Weihnachten. Lehrer Kühn erzählte die Geschichte der Herbergssuche in Bethlehem. In der Bibel stand nur ein Satz darüber, aber was machte Lehrer Kühn daraus! Er setzte sich mit gekreuzten Beinen auf das Pult, nahm die Pfeife aus den Zähnen und begann: Ja, damals kamen Maria und Josef auch durch unser Dorf. Es war schon dunkel, als sie die Straße von Eichtersheim herzogen. Maria saß auf einem Esel, Josef ging voraus und suchte mit Stock und Laterne den Weg. Maria sagte: »Ich habe Hunger und bin sehr müde.« Josef sagte: »In der ersten Gastwirtschaft werden wir übernachten.«

Vor dem Gasthaus »Zum Adler« band Josef den Esel ans Treppengeländer, klopfte die Stiefel an der untersten Stufe ab und ging hinein. Babette - ihr kennt sie alle - stand hinter der Theke und schwenkte die Gläser. Josef fragte: »Haben Sie ein Zimmer für zwei Personen? Nicht zu teuer?« Babette war an diesem Tag mit dem linken Fuß aufgestanden. Sie sagte kurz: »Wir haben eins, aber das ist schon belegt. Leider. «
Josef nahm den Esel am Halfter und zog ein paar Häuser weiter vor das Gasthaus »Zum Lamm«. Erschrocken blieb er unter der Türe stehen, denn an den Tischen saßen vornehme Herren mit weißen Kragen und weißen Manschetten. Das waren die Geometer, die das neue Bachbett vermessen sollten. Der Lammwirt sah Josef unter der Türe stehen und ging rasch zu ihm hin, weil er nicht wünschte, daß die Herren gestört würden.
»Nein, nein, mein Lieber, es geht nicht. Bei mir nicht. Aber frag doch in der „Sonne“ nach, die haben ein Extrazimmer für Handwerksburschen! Vielleicht kannst du da -.« Das mit dem Extrazimmer sagte er so laut, daß es die Geometer hören konnten.
Der Sonnenwirt und die Sonnenwirtin waren recht freundlich zu Josef. Sie sagten beide fast gleichzeitig: »Aber beim besten Willen, es geht nicht! - Das Handwerksburschenzimmer ist schon voll. Dann ist unser Ältester in Ferien da, er studiert in Freiburg Theologie, sonst hätten wir recht gern sein Zimmer zur Verfügung gestellt.« »Danke«, sagte Josef. »Gute Nacht, gute Reise!« sagen der Sonnenwirt und die Sonnenwirtin.
Auch im nächsten Gasthaus, in der „Reichspost“, hatten Maria und Josef kein Glück. Die Lichter waren schon gelöscht, und als Josef mit dem Knotenstock gegen das Tor schlug, fuhr der Kopf des Wirtes oben aus dem Fenster. »Was ist los? Ist das eine Manier?« »Haben Sie ein Zimmer für meine Frau und mich? Meine Frau ist krank!« schrie Josef hinauf. »Schert euch fort!« schrie der Wirt. »Ich vermiete meine Zimmer nicht an Vagabunden!« Klirrend schlug das Fenster zu.
Josef war traurig. Maria nahm den Schall über den Kopf und sagte: »Vielleicht gibt es noch ein Gasthaus im Dorf.«
Lehrer Kühn sah zu mir. Alle Buben und Mädchen drehten die Gesichter zu mir. Sie wußten nämlich, das letzte Gasthaus, bevor das Dorf zu Ende war, war der Gasthof meiner Eltern, der »Badische Hof«. Mir schoß das Blut in die Stirne, und ich wußte nicht, wohin ich blicken sollte. »Na, Hansel«, fragte Lehrer Kühn, »was hättest du gemacht, wenn Josef bei euch um eine Herberge gebeten hätte?« Ich stand auf und stotterte hervor: »Oh, Herr Lehrer, ... ich... ich, ich hätte sie bestimmt aufgenommen.«
Die Wirkung der Erzählung war tief. In allen Gasthäusern, die Maria und Josef abgewiesen hatten, wurden in den kommenden Tagen die Fensterscheiben eingeworfen, dem Lammwirt aber, auf dem Weg zur Kirche, ein Knallfrosch am Rockschoß angezündet.
Seit der Erzählung waren zwei, drei Jahre vergangen. Es war Heiligabend. Meine älteren Geschwister und ich warteten in der Gaststube auf die Bescherung. Am Stammtisch saßen einige Männer, tranken Bier, Wein, Schnaps und sprachen über die uninteressantesten Dinge von der Welt. Jede neue Bestellung war eine Verzögerung unserer Weihnachtsfreude. Und schließlich sagte mein Vater: »Schluß! Feierabend! Geht nach Hause. Wir wollen wenigstens einen Abend im Jahr allein sein.«
Sie zahlten nacheinander und gingen.

Mein Vater wollte hinter dem letzten Gast den Riegel vorschieben, als auf der Straße ein Auto hielt und gleich darauf Schritte die Treppe hochkamen. Ein Herr und eine Dame standen unter der Türe und fragten: »Haben Sie ein Fremdenzimmer?« - »Ja«, sagte mein Vater, »aber es ist Heiligabend.« - »Nehmen Sie ums trotzdem auf«, sagte die Frau.
"Eigentlich wollten wir bis zur Stadt fahren, doch ich fühle mich nicht wohl.« Mein Vater sagte. »Schön, es wird sich machen lassen."

Ich war verzweifelt. Ich wußte, was Gäste bedeuteten, eine neue, unendliche Verzögerung unserer Weihnachtsfreude. Essen mußte gekocht, die Betten mußten überzogen, die Krüge mit Wasser gefüllt, die Bettflaschen gewärmt werden. Und mein Vater sagte einfach »ja«, nahm keine Rücksicht auf den Heiligen Abend, auf mich! Ich lief in den zweiten Stock, schloß mich in mein Zimmer ein, warf mich auf das Bett und heulte in das Kissen, laut und herzzerreißend, wie nur ein Junge in seinem Trotz weinen kann.

Als kurz nachher meine Mutter an die Tür klopfte und bat, ich solle zur Bescherung kommen, gab ich keine Antwort. Dann hörte ich die Schritte meines Vaters die Treppe heraufkommen. Noch ehe er die Türklinke fassen konnte, hatte ich drinnen den Schlüssel umgedreht. Vor meinem Vater fürchtete ich mich. Er aber war ganz ruhig. Er legte mir die Hand auf den Kopf, der noch vom Schluchzen gestoßen wurde, und sagte: »Kennst du die Geschichte von Bethlehem, als Maria und Josef Herberge suchten und niemand sie aufnahm?«

Natürlich kannte ich sie, und wie schämte ich mich, jetzt daran erinnert zu werden.

Als ich in die Gaststube kam, saß mein Bruder Hugo am Klavier und spielte das erste Weihnachtslied. Wir sangen dazu. Der Baum war angezündet. Auch die beiden Fremden standen davor. Es wurde ein richtiger Weihnachtsabend. Ich bekam einen Anker-Steinbaukasten, einen Farbkasten und den Robinson Crusoe. Wertvoller als alle Geschenke aber war die frühe Erkenntnis, wie schwer es ist, das Gute, von dem man gehört hat, auch zu tun.

[/color][i]© by Hans Bender. Köln
[/i]
[i](Aus: Es begab sich aber zu der Zeit. Texte zur Weihnachtsgeschichte. Hrsg. von Walter Jens. Radius, Stuttgart: 1989. S. 49ff.
- In vom Autor veränderter Textfassung erschien die Geschichte neu in: Das Winterbuch. Gedichte und Prosa. Hrsg. von Hans Bender und Hans Georg Schwark. Frankfurt/M. 1983. Insel Verlag. S. 109 - 113.)
[/i]
*


Benders „Ausgewählte Werke“ erscheinen neu im Rimbaud Verlag, Aachen:

[url=http://www.rimbaud.de/bender.html ]Hans Benders Werke [/url]



* ~ *


[font=courier][b][i]Zum 13. Dezember:[/i][/b]
[/font]

[b]Eine Abwechslung als [i]comic[/i] - ein Weihnachtsmissgeschick:
[/b]
[url=http://de.youtube.com/watch?v=4rRHVF2f4yc ]... burlesker Weihnachts-Comic[/url]


* ~ *

[color=purple][b]Na, vielleicht ist es ein Versuch, (oder : ein Irrtum?):
Ob sich jemand als Leser oder Nachdenker [u]Gedanken
macht, warum dieses Gedicht von der eher unbekannten Ada Christen hier als ein Beispiel für christliche Lyrik seht? - Vielleicht hat es einen vorbereitenden Sinn für den Sonntag Gaudete...?[/b]

[/color]


Ada Christen (Pseud. für Chrstiane von Breden; 1844 - 1901)

Auf dem alten jüdischen Friedhof zu Prag


Sinnend stand ich bei dem Grabe
Rabbi Löws, des jüdischen Weisen,
Hörte wie im Traum den Führer
Seinen toten Ahnherrn preisen.

Und warum, so frug ich staunen,
All die Juden, groß’ und kleine,
Auf das Grab mit leisem Murmeln
Werfen bunte Kieselsteine?

Und es wurde mir die Antwort:
„Um zu ehren, ist geboten,
Daß wir Blumen streun Lebend’gen,
Steine auf das Grab den Toten.“

Von solch heidnischem Gebrauche
Sind wir Christen längst gereinigt,
Wir bekränzen stets die Gräber
Jener, welche wir gesteinigt.


Ada Christen kennen zu lernen?

* ~ *

Zum 14. Dezember:

Eine schöne vorweihnachtliche Erinnerung, mit eingearbeiter schauriger Mahnung durch ein Winterbild, auf dem die Gefährdung von Menschen auf einer Schlittenfahrt mit Entsetzen demonstriert wird.


Peter Gan:
[i]WEIHNACHTSMARKT 1900
[/i]
Es schneit an der blanken Laterne,
windstilles Geriesel, vorbei
und flüstert aus nebelnder Ferne:
Traumecho von Jubelgeschrei.

Es schneit. Und wir wallen durch Wunder,
erstanden aus Nichts über Nacht.
Ein Tempel dreht singend, ein runder,
im Kreis seine spiegelnde Pracht.

Drehorgelgewimmer und Schüsse.
Der Himmel ist feurig erhellt.
Lebkuchen locken und Nüsse
ins lampenerleuchtete Zelt.

Das Bergwerk voll emsiger Zwerge,
der Mann mit dem hölzernen Bein:
wir sahen ins Innre der Berge
um einen Groschen hinein.

Und weiter mit pilgernden Scharen!
Stand Einer mit deutendem Stab
und zeigte, gemalt, die Gefahren,
wenn man sich dem Bösen ergab:

[i]Die Wölfe verfolgen den Schlitten;
fast opfert die Mutter das Kind,
weil trotz paternosternder Bitten
die Wölfe so fürchterlich sind.
[/i]
Wir sahen's mit frommem Erschaudern
und hörten (mehr schaudernd als fromm),
wie weh mit asthmatischem Zaudern
die Orgel ins Himmlische klomm.

Ein Blinder mit zinnernem Teller
ging murmelnd im Kreise umher,
erst langsam und zage, dann schneller.
Der bittende Teller blieb leer.
*
(Aus: Peter Gan: Die Neige. Gedichte. Zürich 1961. S. 57f.)

*

Troika auf winterlicher Fahrt, verfolgt von Wölfen. (Angefragt wegen des Wiedergaberechts)



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