Engelstatue - eine Geschichte aus der Kindheit
Ich kramte mit Bekannten in einem alten Schuhkarton herum, der als Aufbewahrungsbox für diverse Fotos diente. Wir schauten uns viele davon an, wärmten alte Geschichten auf und schwelgten in Erinnerungen. Ein Foto berührte mich besonders. Es zeigte eine Engel- Statue aus Bronze, die Ihre Hände zum Himmel ausbreitete. Eine Trauerweide mit zarten Blättern umrahmte ihre Gestalt. Meine Gedanken schweiften in meine Kindheit zurück.
Ich wohnte damals bei meinen Großeltern in dem 300–Seelen Dorf „Pferdingsleben“ bei Erfurt. Vor unserem kleinen Haus befand sich ein Misthaufen, wie bei allen im Dorf und eine Abflussrinne für die Jauche zog sich durch den ganzen Ort. Es war 1948. Ich war fünf Jahre alt und spielte gerne mit den Kindern des Dorfes, bis hin zum Friedhof an der kleinen Dorfkirche. Ich erinnerte mich auch an die kleinen Kinder-gräber, die uns damals sehr beeindruckten. Auf vielen standen kleine Marmorengel, die die Seelen der Kinder zu behüten schienen. Es durchzog mich ein Gefühl der Geborgenheit. Es gab also jemanden, der auch auf Kinder aufpasste und sie behütete, einen Schutzengel. Ich hätte auch gerne so einen Engel gehabt.
Im Dorf gab es nicht viel Abwechslung. Aber uns Kindern genügte es. Wir konnten mit Stöckchen Bilder in den staubigen Boden malen oder mit einem Kreisel schlagen und Ringlein, Ringlein du mußt wandern, spielen. Aus alten Obstkisten bauten wir uns ein Häuschen, verhängten es mit alten Lappen, und spielten Kasperltheater. Als Figuren dienten uns Holzlöffel aus der Küche. Der Phantasie waren keine Grenzen gesetzt. Wir tobten uns mit den ganzen Kasperl - Figuren aus und verkloppten mit Begeisterung den Teufel und retteten das Gretel vor dem Krokodil. Uns fiel eine Menge ein und wir waren glücklich und vermissten nichts.
Ich besaß von meinem Großvater eine selbstgebaute Puppenstube, mit richtigen kleinen Schaltern und Lampen, kleinem Puppengeschirr und vielen Puppenmöbeln, in der damaligen Zeit ein Kleinod. Ich durfte auch nur zu Weihnachten damit spielen, dann wurde sie wieder weggepackt. Meine Freundin, deren Name mir längst entfallen ist, bewunderte sie sehr und eines Tages schenkte ich sie ihr. Dies rief aber sofort meinen Großvater auf den Plan, der sie umgehend zurückholte.
Auf beiden Seiten gab es großes Geplärr. Meine Freundin schrie vor lauter Enttäuschung, diese schöne Puppenstube nicht mehr zu besitzen und ich, weil ich ein Geschenk wieder zurück nehmen mußte. Hatte ich doch gelernt: „Wiedergeholt ist gestohlen.“ Aber es half alles nichts, die Puppenstube kam zurück und wanderte hoch auf unseren Dachboden, für das nächste Weihnachtsfest.
Der Frust meiner Freundin saß tief. Eines Tages zankten wir uns über die Dorfstraße hinweg. Ein Wort gab das andere und plötzlich schlug sie mir den Besen, mit dem ihre Mutter gerade die Jauche vor dem Haus aus der Ablaufrinne schob, über den Kopf. Eine stinkende Brühe ergoss sich über mich und ich schrie wie am Spies. Triefend und mit blinzelnden Augen lief ich laut um Hilfe rufend in unser Haus zurück.
Meine Tante, damals selbst erst 16 Jahre alt, wollte sich ausschütten vor Lachen, was meine Wut noch steigerte. Das habe ich ihr nie verziehen. Dieses schadenfrohe Lachen habe ich heute noch in meinen Ohren. Es hätte mir wohler getan, wenn sie mich bedauert und getröstet hätte. Aber nein, sie lachte und lachte und steckte mich dann in einen Holzzuber. Die daraufhin erfolgende Reinigung war nicht von Pappe. Der Kopf und das Gesicht brannten von der Schrubb-Aktion und es dauerte Tage, bis ich den Gestank los bekam. Shampoon gab es damals noch nicht, Kernseife tat es auch. Und somit war die Freundschaft zu meiner bisher besten Freundin beendet.
Irgendwann ging der Ruf durch das Dorf: „Die Puppenspieler kommen.“ So etwas hatte ich noch nie gesehen.
Sie sollten in der Dorfschule auftreten und ich freute mich schon riesig auf ein richtiges Puppentheater. Erwartungsvoll und immer noch grollend über den Jauchebesen auf meinem Kopf, saß ich alleine am Straßenrand und ließ in der Phantasie alle Puppen, wie den Kasper, die Großmutter, das Krokodil, den Teufel und wie sie alle hießen, an mir auf der Dorfstraße im Gänsemarsch vorüber ziehen. Ich saß sehr lange. Aber es kann niemand von ihnen bei mir vorbei.
Nach Stunden fragte mich meine Tante: „Wo warst du denn, das Puppentheater war ganz toll.“ Ich erwiderte, dass sie nicht an mir vorbei gekommen seien und ich immer noch auf sie warte. Daraufhin erntete ich wieder ihr bekanntes schadenfrohes Lachen: „Auch du dumme Person, die Puppen waren doch in einer Kiste bei den Theaterleuten. Die konnte man nicht sehen und alleine laufen können die auch nicht.“
Meine Traurigkeit und Enttäuschung waren unendlich. Ich ging alleine auf den Kinderfriedhof und weinte einem kleinen Marmorengel meinen Kummer vor, in der Hoffnung, dass er mir die Kasperlfiguren doch noch vorbei schicken könnte. Logisch, dass das nicht ging!
Inzwischen bin ich erwachsen und habe selbst einen kleinen Enkel. Aber immer wenn ich die Skulptur eines Engels sehe, berührt es mich und es geht eine Faszination davon auf mich über, die ich nicht erklären kann.
Irgendwann kam ich mit meinem Mann auf das Thema Sterben und wie beerdigt werden, zu sprechen. Ich wünschte mir eine Feuerbestattung und eine kleine Steinplatte mit einem weißen Engel darauf. Aber das hat natürlich noch lange, lange Zeit. Ich wollte es nur schon mal gesagt haben.
Zu meinem 60. Geburtstag erhielt ich von meiner Freundin Elfriede einen roten Granitengel geschenkt, gestaltet von ihrem Sohn Armin, einen künstlerisch sehr begabten Steinmetz und Musiker. Erst war ich perplex und es kam mir sehr makaber vor, als sie zu mir sagte: „Hier hast du deinen Engel.“ Aber dann begriff ich, dass sie mir eine besondere Freude machen wollte und ich lenkte meine Gedanken ins Positive und nahm den Engel als meinen Schutzengel dankend entgegen.
Da mein Schwiegersohn aus Kenia stammt, wollte ich von ihm wissen, ob es bei ihnen im Dorf eine gute Fee oder einen guten Geist gäbe. Erst verneinte er, dann fiel ihm ein, das es bei ihnen eine Art Glücksbringer gäbe, dessen Namen nur Gutes bedeute, ein langes Leben, Gesundheit, Glück und in ihrer Nähe nur gute Gedanken. Ihr Name sei „Maleika“. Dieser Name gefiel mir sehr und so taufte ich den Engel auf den Namen Maleika und stellte ihn zu uns in die Fensterbank des Schlafzimmers.
Vor ein paar Wochen starb unser geliebter Hund Candy, eine Foxterrier-Hündin. Wir begruben sie auf unserem Grundstück, mein Mann fertigte dafür ein Holzkreuz mit einem Podest an und darauf stellte ich dann meine Maleika. Es wurde ein wunderschönes kleines Grab mit Blumen, unter einem herabhängenden Forsythien-Strauch, den ich jedes Jahr bogenförmig frei schnitt, um einen Blick auf das Grab werfen zu können.
Als meine Freundin zu meinem 66. Geburtstag zu Besuch kam und den Engel auf dem Grab des Hundes stehen sah, war sie sprachlos und man konnte ihr die Enttäuschung ansehen. So hatte sie sich seinen Standort nicht vorgestellt.
Zum Glück hatte ich kurze Zeit später einen Grabengel aus Beton gefunden, der eine Wasserschale auf dem Schoß hielt. Und diesen stellte ich, anstelle von Maleika, auf das kleine Grab und freute mich, daß er dankbar von den Vögelchen als Wassertränke angenommen wurde.
Und Maleika steht natürlich wieder bei mir, diesmal in einem Eckregal in meinem Zimmer und das hoffentlich noch sehr lange.
Kommentare (2)
ehemaliges Mitglied
@Syrdal
Danke für Deine Zeilen und den Hinweis, das der Name Mareika heißt. Ich hatte ihn akustisch als " Maleika" verstanden. Aber schön zu wissen, daß es ihn wirklich gibt. Mein Mann und ich wohnen in Hessen, 30 km von Gießen entfernt. Dort habe ich über 40 Jahre gelebt.
Viele Grüße
von "Elo"
Eine lebensnahe Geschichte, wie ich sie mir aus meiner südthüringischen Kindheit auch vorstellen könnte. Nur gab es damals niemanden, der vom Engel oder Guten Geist Mareika, wie das in Suaheli heißt, erzählen konnte. Schön ist, dass es solche Mareika‘s überall auf der Welt gibt…
...freut sich Syrdal