Endkriegskind ...
Ich bin bestimmt nicht halb blind durchs Leben gestiefelt, hab immer nach rechts und links geschaut.
Dass ich Endkriegskind mit denen, die in den ersten Nachkriegsjahren in der gleichen Straße wohnten, in den Ruinen nebenan trotz Verbots herum kletterte, erinnere ich noch gut. Ich habe auch – wie die anderen – aus den gefundenen vollen Einmachgläsern genascht (waren das eingemachte Birnen oder tatsächlich Pfirsiche?), obwohl ich es eher nicht nötig hatte, denn hungern brauchte meine Familie nicht. Vaters Mutter kam vom Bauernhof, der am Stadtrand Münsters lag und nicht ausgebombt war. Oma fuhr immer wieder ihre „Kundschaft“ ab, oft wie verabredet, um die noch sparsam vorhandene Kleidung mit ihren Nähkünsten tragbar zu erhalten. Aus der Bauernschaft oder auch von ihrem Bruder brachte sie dann doch so Einiges mit.
Ich denke, es wird auch so manches Wildbret auf unserem Speiseplan gestanden haben, denn ein Onkel war bei der Besatzungsmacht, den Engländern, als Jäger und Jagdaufseher bis weit ins Sauerland hinein tätig. So manches geschossene Tier erhielt von ihm, dem Tierpräparator, ein neues Innenleben. Das Fleisch wollten die Engländer oft nicht haben und so gab es manches mal einen Hasen oder Rehbock zu verarbeiten. Meine Tante konnte auch nicht alles einkochen und haltbar gemacht unterbringen …
Als Kind kam ich gar nicht auf die Idee, dass es auch viele Menschen gab, die anfangs der 1950er Jahre noch Not litten. Vater und Oma wussten stets uns Kinder vor dem Nachkriegselend zu bewahren. Ich weiß noch, dass die Krankenschwester, die bis zum Sommer 51 unsere Mutter bis zu ihrem Tod tagsüber pflegte,
ziemlich mager war. Ob das mit ihrer Ernährung zusammenhing oder ob sie unter den Kriegstraumata litt, ich hab als Sechsjährige natürlich nicht danach gefragt. Sie speiste ja täglich mit uns.
In den ersten Nachkriegsjahren war es meinem Vater noch verboten, seinen unversehrten Salon wieder zu eröffnen. Er arbeitete am Stadttheater Münsters als Friseur gegen Obst oder Zigaretten, gelegentlich gab es auch ein Kunstwerk als Entgelt, das ich heute noch in meiner Wohnung an der Wand hängen habe. Zwischendurch bediente er die Damen der Engländer.
Doch irgendwann war es auch wieder möglich, im Salon zu arbeiten. Die hinteren Räume gab er der Schwester unserer Mutter als Wohnung, so dass dort keine Fremden einziehen mussten. Gleichzeitig half sie, die anfallenden Handtücher zu waschen, abends die Reinigungsarbeiten für ihn zu erledigen. Die große Wohnung in der Finkenstraße im Kreuzviertel teilten wir mit der Familie ihres Schwagers, der mit seiner kranken Frau und zwei Kindern so auch eine Unterkunft im zerbombten Münster hatte. Aber auch Marianne und Eugen mussten stets wegen der kranken Mütter sehr leise sein, eher draußen spielen.
Nachts betreute Vater seine schwerkranke Frau, schlief im Wohnzimmer, wo ihr Krankenbett stand, um sofort helfend an ihrer Seite zu sein, wann immer es notwendig war. Sie brauchte wohl alle paar Stunden eine schmerzstillende Spritze. Doch als Sanitäter im Krieg hatte er einiges an Erfahrung, die meinen Eltern halfen, viele Nächte zu überstehen. Wir drei Mädchen schliefen dafür in den elterlichen Ehebetten.
Wenn ich heute daran denke, wie sich die legasthene Wahrnehmung auch auf das Essverhalten meines Enkels bis heute auswirkt, brauche ich meine eigenen Empfindlichkeiten diesbezüglich gar nicht dagegen zu setzen. Als ich etwa im Alter von vier Jahren meinen Teller nicht leer essen mochte, wurde der auf das oberste Bord im kühlen Vorrat gestellt, ich daneben gesetzt und ich kam nicht eher wieder zurück auf den Boden, als bis der Teller leer gegessen war! Es war Winter, es wurde früh dunkel und es gab nur ein kleines Fensterchen, keine andere Lichtquelle … Ich habe nie wieder Struwwelpeter gespielt! Doch es ist bei meinem Enkel kein "... ich esse meine Suppe nicht, nein"!, sondern das Fühlen bestimmter kleiner Teilchen, die ihm sofort signalisieren: "Ausspucken!" Bei mir war's nur der Eigensinn ...
Stattdessen habe ich irgendwann damit begonnen, von der täglichen Frischmilch den Rahm herunter zu schlecken! Mir schmeckte der Schmand vorzüglich, unsere Große trank lieber gar keine Milch, die bekam ihr nicht. Unsere Jüngste war keine Naschkatze.
Da ich mehrfach Gerstenkörner hatte, die ich auf Anordnung meines Vaters stets mit Kamillentee baden musste, war es mir nicht möglich, zum Abendbrot von dem Pfefferminztee zu trinken. Schon der Gedanke daran oder der Geruch verursachte mir Übelkeit! Auch Oma mochte keinen Tee. Also gab es für uns Zwei abends ein Mischgetränk: Muckefuck mit etwas von ihrem heißgeliebten Guatemala! Ich hätte sonst das Gefühl gehabt, den nachmittags als Gerstenkorn-Heiltee gebrauchten Tee abends nachtrinken zu müssen. War Blödsinn – aber das Gefühl war einfach da!
Ich wurde 1951 I-Männchen. Die Einschulung erfolgte in dem alten Schulgebäude der späteren Freiherr-vom-Eichendorff-Realschule zum 1. April, da die neu erbaute Grundschule nahe der Kreuzkirche noch nicht einzugsbereit war. Das war nach den Sommerferien dann möglich. Also wurde mein Jahrgang quasi zweimal eingeschult.
Mit Beginn der Sommerferien schickte unser Vater meine kleine Schwester und mich mit unserer Haushaltshilfe auf ihren elterlichen Bauernhof bei Herborn, weil es sich abzeichnete, dass es mit unserer Mami zu Ende gehen würde. Diese Sommerferien waren für mich bis heute unvergesslich! Einerseits gab es diesen für uns Kinder tollen bäuerlichen Ferienaufenthalt mit liebevoller Betreuung (unsere Haushaltshilfe und ihre Familie wusste natürlich um die traurigen Umstände bei uns zuhause), danach gab es vier Wochen Inselurlaub auf Borkum, wo sich auch noch überflüssiger Weise der Ziegenpeter auf mich stürzte, und ich wurde – bettlägerig – sieben Jahre alt, fast doch schon groß!!
Auch die Anreise nach Borkum war ein Erlebnis: erst mit dem Zug bis Emden-Außenhafen, dann mit der Fähre bei Sturm drei Stunden durch die Emsmündung zur Insel. Die Schifffahrt über die Emsmündung ist normalerweise noch relativ ruhig. Aber dann gibt es eine kurze Strecke, wo das Meer das Sagen hat, und dort kann die Nordsee doch recht stürmisch ihr Wesen zeigen. Bei Windstärke 10 verließ vor zwanzig Jahren ein Katamaran die Strecke, weil das „Boot“ zu kentern drohte, der Käptn kehrte lieber wieder in den sicheren Hafen Emden zurück.
Wir Kinder hatten jedenfalls 1951 sehr viel Spaß, den Wellen, die das Schiff ganz schön schaukeln ließ, zuzuschauen. Oma hatte uns als Wegzehrung Brote in die Hand gegeben. Teils futterten wir die selber, teils die Möwen. Dann kamen zwei ältere Damen auch aufs Deck, weil ihnen die Schaukelei unter Deck unerträglich wurde. Neugierig schauten wir zu, wie die Zwei sich verhielten. Es genügte allerdings nicht, dass sie an die stürmische frische Luft gekommen waren. Ihr Verzehr zuvor wollte wieder heraus und so beugten sie sich über die Reling, um die Quälgeister wieder los zu werden. Doch so richtig gelang das nicht, sie beachteten nicht die Richtung, aus der der Wind stürmte und so bekamen sie das Gespuckte gleich mitten ins Gesicht! Den Pechvögeln hätte eigentlich unser Mitleid gelten sollen, aber die Fakten ließen uns in herzhaftes Gelächter ausbrechen …
Der Sturm begleitete uns noch einen Tag länger. Auf Borkum lernte ich, dass auch ein kleines Mädchen zwei-Meter-Schritte machen kann, wenn die Straße zum Strand hin leicht abwärts verläuft und der Sturm „schiebt“. Ich wundere mich noch heute, dass ich dabei nicht auf meine Nase fiel.
Kommentare (0)