Einsamkeit
Gerade in der heutigen Zeit kommt mir immer wieder diese Geschichte in den Sinn. Vor 30 Jahren arbeitete ich als Arzthelferin bei einem Neurologen. Auch damals gab es Rentner*innen, die mit jedem Pfennig rechnen mussten.
Eine Patientin fiel mir auf, die besonders still war, jedoch bei jedem Praxisbesuch im Wartezimmer einen Anfall bekam. Also Sonderzimmer, Chef holen und Beruhigungsspritze geben. Eines Tages fragte ich die Patientin wie es ihr sonst gehe. Also zu Hause, im "normalen" Leben. Darauf erhielt ich die Antwort: "Ach Frau F., es ist so schlimm wenn man mit niemandem sprechen kann. Noch nicht einmal sagen kann, ob man gut geschlafen hat oder nicht".
Diese Antwort machte mich sehr nachdenklich und wir vereinbarten, dass sie mich jeden Morgen in der Praxis anrufen kann um mir zu sagen wie sie geschlafen hätte. Sollte bis 8 Uhr kein Anruf erfolgen, käme ein Anruf von mir.
So geschah es auch. Meine Kolleginnen gingen morgens schon nicht mehr ans Telefon weil sie wussten, dass dieser Anruf für mich war. Diese Gespräche dauerten keine zwei Minuten. Doch der Erfolg war, dass die Patientin keine Anfälle mehr in der Praxis bekam und sie auch ein wenig gesprächiger war.
Nach einiger Zeit hörten die Anrufe auf und sie erzählte mir, dass sie sich mit jemandem aus der Nachbarschaft angefreundet hat und sie sich oft trafen.
Eines Tages kam die Patientin in die Praxis und übergab mir ein Geschenk. Sie entschuldigte sich, dass sie aus Geldmangel dies auf einem Flohmarkt kaufte. Es war eine mechanische Armbanduhr mit einem Metallarmband, die ich an meinem Kittel tragen konnte. Die Uhr funktioniert schon lange nicht mehr. Doch in meinem Schmuckkästchen hat sie immer einen Platz.
Das, was ich von dieser Patientin lernte war, dass man nicht viel Zeit "verschenken" muss. Auch zwei Minuten am Tag können schon helfen. Ebenso ein Lächeln und Freundlichkeit.
Kommentare (10)
@Ernu
Danke Ernu.
Du weißt, genau wie ich, dass man nur mit offenen Augen durch durchs Leben gehen muss. Das sehe ich bei Deinen Geschichten ebenso. 👍
@Dagmar F. Ich tu das auch in der Realität. Da ist es nur immer nicht ganz einfach – wie man auch an deiner Geschichte sieht ;-)
Auch ich hab' so eine Nachbarin, die das "Annehmen" nicht kennt. Die kriegt durch Krankheit körperlich nichts mehr gebacken und lebt allein. Der muss ich aber hinterherlaufen mit meiner Wertschätzung 😁
Seit anderthalb Jahren hab' ich ihre Treppenhausreinigung übernommen, kaufe für sie ein (muss aber deswegen nachfragen) und koche für sie hin und wieder mit (so Gerichte, die man sowieso für mehrere Tage kocht und von denen man locker eine Portion abgeben kann – Grünkohl oder Soljanka zum Beispiel). Ich hab' mich vor einiger Zeit darüber unterhalten mit ihr. Aber sie versteht nicht, dass mir das Freude macht.
@Ernu, irgendwie kann ich mich in die Frau reinversetzen. Es ist einfacher selber zu geben als anzunehmen. Versetz Dich mal in ihre Lage. Solange man alles noch einigermaßen "wuppen" kann, kann man leicht sagen, dass man Hilfe annimmt wenn sie einem geschenkt wird.
Bitte nicht verkehrt verstehen. Es ist echt toll was Du machst. Doch ich kann mir vorstellen, dass dann bei Deiner Nachbarin auch noch der Stolz und die Scham dazwischen kommen. Vielleicht möchte sie sich auch erkenntlicher zeigen und kann es evtl. wegen einer kleinen Rente nicht. Da gibt es so viele Komponente dazwischen. Vllt. hilft es, wenn Du sagst, dass Du aus Versehen zuviel gekocht hast und wenn sie es nicht annimmt, dann musst Du es wegwerfen. Dann tut sie ja DIR einen Gefallen. Verstehst Du was ich meine?
Übrigens, wenn Du Grünkohl machst, wär ich gern Deine Nachbarin. Denn da bin ich als Fränkin zu doof dazu. 😉
Ansonsten, lass Dir die Freude nicht nehmen. Mach so weiter! Nachbarn wie Du sind echt sehr dünn gesät.
@Dagmar F. , du redest hier mit einem Mann! Und als solcher weiß ich, wie problematisch das mit dem Annehmen sein kann. Aber ich hab' dazugelernt, weil ich daran fast einmal gescheitert wäre. Und aus ebendiesem Grunde verstehe ich auch jeden, der hart darauf reagiert.
Das berührt auch mich sehr..., daran merkt man eben auch, es braucht nicht viel, um Menschen glücklich zu machen, indem man selbst aufmerksam ist und ggf. mit wenig Aufwand helfen kann.
Das wird dir ganz sicher immer in Erinnerung bleiben !
Kristine
@werderanerin
Danke, werderanerin.
Leider vergessen das heutzutage die meisten Menschen. Gerade in meinem Beruf habe ich in dieser Hinsicht sehr viel erlebt.
Hii Dagmar,
großes Lob, dass du diese Patientin so feinfühlig und aktiv wahrgenommen und begleitet hast. Und, dass du von ihre 'Lebenslehre' angenommen hast, wird dir im Beruf nicht häufig begegnen; jedenfalls nicht 'offiziell'. Aus (meiner) Sicht vom Patienten ist die Erfahrung einer persönlichen, emotional beteiligten Begegnung beim Arztkontakt sehr rar: ("Wie gehts uns heute?" - "In diesem Zimmer liegt das Knie!" - " hier Ist das Stimmenhören"- usw)
Selten habe ich Mediziner getroffen, die mit dem Patienten leilgenommen haben am Kontext der Krankheitserscheinung, Es gibt auch solche und die sind erholsam und effektiv. Mir ist es begegnet, dass ich Ärzte in einer Klinik ausgelacht habe, 'dass sie Krankheiten behandeln ohne mit den Menschen zu tun zu haben',
Deine schöne Erfahrung birgt auch in sich, dass das Wirken von Hilfe nicht eine Frage von Zeit ist, sondern vom realen Geschehen. Vielleicht in Sekunden oder Nanosekunden. Ab dann wardie Pat. auf einer anderen, lebensvolleren Spur. Vielleicht schon beim ersten lelefonischen Gespräch!
Hoffentlich betätigt sich dieser Anfang weiter!
liebe Grüße
traui
@traui
Grüß Dich Traui,
diese Geschichte hat mich besonders berührt. Es heißt zwar immer, dass wir die "Patientenakte" nicht mit heimnehmen sollen, doch das klappte bei mir nicht immer. Auch nicht seit meiner "Rentenzeit". Es gibt immer jemanden der soviel Vertrauen hat und sich mir anvertraut. Nicht die "große" Hilfe, wie z. B. jetzt für die Ukraine. Nein, die kleine in der Nachbarschaft. Auch mit 73 Jahren kann ich auf ein Kind aufpassen, kann bei der Tafel helfen usw.
Hi lebe Dagmar, dieses Thema: Was passiert in einem Menschen. wenn er einem anderen näher begegnet? hat mich viele Jahre beschäftigt. Wie Hun- de stimmungen von Menschen spüren, spüren Menschen Stimmungen von Menschen, nehmen es aber meistens nicht wahr zugunsten einer kognitiven Aktion. Es erfordert etwas Training,diesem Empfinden Raum zu geben. Am Beispiel einer kleinen Handlung: jemand jemandem die Hand:
"Hallo, wie gehts?" und der antwortet:"Willst du das wirklich wissen?" - -
Große Verwirrung: was denn, wie denn?- Gesetzt, die Antwort auf die Frage nach dem Wohlgehen, lautet: "Mir geht es nicht gut, meine Frau ist
gestorben!" Was sagt der Frager: " Ja danke, mir auch!". `Innerlich sind beide wie erstarrt und duchwirrt von diesem abstrusen Kontakt und müssen sich schnell trennen. Zuhören, Mitfühlen. Mitdenken und -spüren, was in mir selbst als aktiv erkennbar ist. Und dann den Antwortenden in den Arm nehmen. Und vielleicht sogar neue Wege finden.
Findefreudige Grüße
traui
Eine wirklich schöne Geschichte über "Wertschätzung" im Alltag.