Einer, nein zwei (1.Kapitel vom 8-teiligen Krimi)
Einer, nein zwei 9.4.1989
Sollten wir uns wiedersehen? Er steht da! Seine zerfetzte Jeans hinterläßt in ihr einen Eindruck von seiner Verlassenheit, seinem Mut, trotzdem zu leben. Bewunderung steigt in ihr hoch. Seit 3 Jahren sind sie sich nicht mehr begegnet, obwohl beide in der gleichen Stadt zuhause sind, den gleichen Dreck gesehen und den gleichen Gestank gerochen haben. Es musste so sein, dass gerade er ihr über den Weg lief. Sie trafen aufeinander, wie 2 Stück Holz in einem angeschwollenen Gebirgsbach. Würden sie nicht untergehen? Werden sie auch stark genug sein, um für ihre Liebe zu kämpfen? Er wendet sich ab. Sie soll seine Tränen nicht sehen. Sie ist gut gekleidet. Sie kann sich nicht beklagen. Ihre Wohnung befindet sich in der kleinen Stadtsiedlung am Rande der Stadt, wo der Wald beginnt. Sie hatte ihn vergessen. Totgeglaubt hatte sie ihn. Um kein Lebenszeichen hatte sie sich bemüht. Sie wollte es so. Warum auch? Die Zeit mit ihm war vorbei. Und jetzt? Da stand er. Vor ihr. Leise sprach sie ihn an. “Ben?“ Seine Augen strauchelten. Er ließ die Arme hängen. Wozu auch? “Bärbel?“ “Ja, ich bin`s.“ Er packte sie am Arm. “Weg hier. Lass uns gehen! Vielleicht dort. Los, dort hinten hin.“ In ihrem Kopf raste es. Sie hatte Angst. Uringestank drang hervor. Warum? Warum war sie in dies Elendsviertel zurückgekehrt? Und gerade ihm begegnet? Nein. Sie wollte nicht. Vergeblich. Sie wehrte sich-trat ihm gegen das Schienbein. “Halte doch still. Ich tue dir ja nichts!“ Tränenüberströmt ließ sie sich fallen. Er blieb vor ihr stehen. “Na, haste Angst? Warum biste denn gekommen? Willst wohl schnüffeln? War schon immer ein angenehmer Zug von dir!“ Langsam versuchte sie aufzustehen, aber er warf sie zurück und setzte sich neben sie. “Schön, dich mal wiederzusehen. Hast dir ein feines Leben gemacht. Wo wohnst` n? Hast‘ n neuen Freund?“ Sie war den Tränen nahe. “Ben, hör auf, ich kann nicht mehr.“ Nachdenklich glitten seine Augen über ihr Gesicht. Ja, sie hatte sich verändert. Sie war fraulicher geworden. Warum hatte sie nur Angst vor ihm? Ihre Finger bewegten sich nervös in ihrem Schoß. Sie hielt den Kopf gesenkt. Träumte sie? “Ben, lass uns gehen. Es ist stickig hier.“ „Bist wohl besseres gewohnt?“ „Ach, Ben, du machst mir Angst!“ Ihre Augen suchten die seinen. “Können wir nicht…?“ „Los, steh auf.“ , herrschte er sie an. “Benimm dich doch nicht so zickig! Warst doch früher nicht so.“ Er zog sie am Arm hoch, zu sich herauf. “So, da wären wir. Los geht`s.“ Er stieß sie vor sich her. Sie stolperte. “Kannste nich aufpassen? Mensch, Bärbel, jetzt reiß dich doch mal zusammen.“ Sie weinte. Suchte nach einem Taschentuch und fand keins. Hilflos wischte sie mit dem Handrücken über die Nase.
„Bärbel!“ Warm umfing sie seine Stimme. “Du bist so zart geworden, so zerbrechlich. Hier sind wir wieder zusammengetroffen. Deine Augen haben mich gesehen und meine dich. Du bleibst bei mir.“ Er umarmte sie heftig und wiegte sie hin und her. “Ist ja gut, Kleines. Hab keine Angst mehr. Es wird alles gut, wenn wir zusammen sind.“ Er ergriff ihre Hand, die sie vertrauensvoll in seine legte. Mit großen Augen schaute sie ihn an. “Ach, Bärbel!“ Ein Lächeln umspielte seinen Mund. Zärtlich wischte er ihre Tränen ab und küßte sie. Wonnetrunken wankte sie hinter ihm her. Innerlich hell, fühlte sie nicht, was draußen war, um sie herum. Plötzlich ließ er ihre Hand los. Sie schreckte auf. Eine kreischende Frauenstimme rief: “Ben, bist du`s?“ „Ja, Mutter“, rief er eilig zurück. “Mach dir nichts draus, dass es so spät ist. Ich habe noch jemanden mitgebracht.“ Eilig zog er Bärbel hinter sich her. Sie wehrte sich nicht mehr. Ihr war alles egal. Die Haustür schlug zu. Gefangen? Sie schaute in ein Augenpaar, das offensichtlich Bens Mutter gehörte. “Ach Gott!“ Bens Mutter schlug die Hände über dem Kopf zusammen. “Nun komm erst mal rein!“ Bärbel fror. Sie stolperte hinter der Frau her ins Helle, ins Warme. Wo war nur Ben? Der Geruch irgendetwas Verbranntem stieg ihr in die Nase. Eine Katze strich schnurrend um ihre Beine. Bärbel schniefte. Sie fand eine Decke auf dem grünen Biedermeiersofa nahe am Ofen. Dort setzte sie sich und wickelte die Decke um sich. Immer wieder kippte ihr Kopf nach vorne, doch der Schlaf wollte nicht kommen. Immer wieder schossen ihr Bilder durch den Kopf. Das war doch vor 3 Jahren. Damals lebte auch sie noch in dem Elendsviertel, zusammen mit ihrem Bruder Daniel, den alle den „schlappen Dan“ nannten. Er war 2 Jahre jünger als sie, aber krank. Seine Lungen funktionierten nicht. Immer wieder spuckte er Blut. Sie pflegte ihn mit Marta, der 3 Jahre älteren Schwester. Sie hatten immer wenig Geld. Vater und Mutter waren schon lange tot. Dann wurde es immer schlimmer mit Dan. Er lag nur noch im Bett. Der Arzt meinte: “Krankenhaus!“ Sie hatten kein Geld. Bärbel gesellte sich zu den Tagelöhnern. Es war eine harte Arbeit. Putzen bei den Reichen. Diese stinkenden Bonzen, oh, wie sie die hasste. Sie hatte immer noch Wut, einen regelrechten Hass auf sie. Auf einer Fahrt im Tagelöhnerbus lernte sie Ben kennen. Er machte immer Witze und zog die anderen auf, vor allem die, die traurig verdrossen vor sich hinbrüteten. Auch sie gehörte zu denen, kümmerte sich aber nie um sein Geschwätz. Vielleicht war das der Grund, dass er gerade mit ihr jedesmal ein Gespräch anfangen wollte. Doch sie wehrte nur ab: “Wenn Sie nicht vernünftig mit mir reden wollen, lassen Sie` s lieber bleiben“, und lenkte ihre Gedanken auf Dan und Marta zurück.
Eines Abends aber ließ er nicht von ihr ab. Unter einer Strassenlaterne gab er ihr den ersten Kuss. Sie konnte sich nicht wehren, außerdem war es schön. Er legte seinen Arm um ihre Schultern und führte sie zu sich heim, genau in dieses Haus hier, wo sie jetzt saß. Nichts hatte sich verändert. Auch seine Mutter besaß dieselbe Figur, breit und groß, eine standfeste mütterliche Person, zu der sie sich gleich hingezogen fühlte. Warum nur hatte sie ihn damals verlassen? Dan war gestorben. Marta wollte im Elternhaus bleiben, in diesem elenden Unglückshaus. Nein,sie selber wollte fort. Fort von der alten Zeit, verschwinden, sich verkrümeln. Dorthin, wo das Leben leichter war, aber bis dahin war es ein weiter Weg.
Eines Abends, es war 21.00 Uhr. Laute Stimmen, grelles Scheinwerferlicht. Sie wohnte schon lange bei Ben. Sie fand in ihm den verlorenen Bruder, in seiner Mutter, die verlorene Mutter. Sie waren gut zueinander und vertrauten einander. Dieses Verhältnis, diese Beziehung machte sie das erste Mal glücklich. Bens Freunde wurden ihre Freunde und sie fühlte sich von ihm beschützt. Doch dieser Abend kam und damit die Nacht. Es war die schrecklichste Nacht ihres Lebens. Polizisten rannten die Haustür ein. Sie packten Ben und legten ihm Handschellen an. Ihr Ben wurde verhaftet. Es war aus. Die Mutter weinte tage,- ja, sogar nächtelang. Bärbel hielt es nicht mehr aus. Sie wusste nichts mehr von ihm. Er war verschwunden. Er hätte tot sein können. Dies hatte sie auch immer geglaubt. Ben war Untergrundkämpfer gewesen, gegen das Regime. Seine Freunde waren nicht nur das, sondern Mitkämpfer in gemeinsamer Sache. Sie wurde nie eingeweiht, aber sie durfte an Festabenden dabei sein. Anstatt, dass sie einen Mord an irgendeinem Regimeanhänger feierten, tarnten sie diese Feste als Geburtstagsfeiern. Das war gut so. Auch wurden dadurch Mitwissende eingeweiht; die Außenstehenden merkten von dem richtigen Grund nichts. Auch Spione hatten so keine beweiskräftigen Indizien. Diese Tarnung aber war durchschaut worden. Sie würde Ben wohl nie wiedersehen. Aber sie wollte sich nicht in ihrem Schmerz verkriechen. Sie wollte trotzdem leben, egal wie und sie konnte es. Sie verließ das Elendsviertel und jobte in den besseren Teilen der Stadt am anderen Ende. Sie war oft allein, denn sie suchte keinen großen Kontakt. Sie wollte ihre Ruhe, alles durchdenken, zehren von dem Vergangenen. Niemand dort wusste von ihrer Vergangenheit mit einem Revoluzzer. Und das war auch gut so. In dem Mietsblock,in dem ihre Wohnung war, wohnten viele Menschen verschiedener Hautfarbe. Mitunter riesige Familien. Sie konnte und wollte auch nicht mit allen Kontakt. Ihre Welt war begrenzt. Trauer und Angst, entdeckt zu werden, füllte ihr ganzes Denken aus. Dann eines Morgens: Ein Lichtblick. Etwas, dass ihr Wesen von Grund auf veränderte. In der Zeitung stand, dass insgesamt 5 ehemalige Regimewiderständler bereut und gebüßt hätten. Sie waren frei. Neue Hoffnung, neues Licht, neuer Unternehmungsgeist stiegen in ihr hoch. Sie musste zurück. Die Elendsviertelatmosphäre war noch genauso wie sie sie damals verlassen hatte. 3 Jahre waren seitdem vergangen. Sie hatte nicht viel Hoffnung, dass sie ihn wiederfinden würde. Warum sollte gerade er freigelassen worden sein? Sein Maul war doch schon immer das größte gewesen. Ben und Bussbereitschaft, nie und nimmer. Ihr Instinkt hatte sie geführt und geleitet. Vielleicht war das Gefühl der Neugier stärker gewesen. Unbewußt hatte sie nach ihm gesucht und ihn gefunden. Es war kein Traum. Sie war hier bei ihm – zuhause. In Sicherheit! “Bärbel!“ Sie schreckte hoch. Bens Augen ruhten fest auf ihr. “Du musst ins Bett! Komm!“ Sanft führte er sie die Treppen nach oben in seine Kammer. Es sah dort aus wie früher. Es gab noch den Schrank als Tür umfunktioniert. Dies war sein kleines Versteck, dass er vor Jahren – es erschien ihr, als ob nur Tage, nein Stunden dazwischen lagen und sie es nicht mehr schnell genug hatten aufsuchen können. Jetzt war es ihr gemeinsames Versteck. Mit einem Schlag schloss die Tür. Gefangen? Tränen schossen ihr aus den Augen. Wie lange war es her, dass sie so in seinen Armen gelegen hatte? Wie hatte sie ihn nur vergessen können? “Ben?“ „Bärbel?“ Zärtlich strich er ihr übers Haar. Sein Mund liebkoste sie. Ein Gefühl der Geborgenheit durchfuhr sie und erfüllte sie ganz. Nie mehr würde einer den anderen verlassen. Sie brauchten einander. Schmerzlichste Wonnetrunkenheit durchströmte ihr ganzes Sein. Die letzte, dunkle Nacht vor dem Morgen war angebrochen.
(Heidi Grünwedl)
Kommentare (4)
@Erika Wendzinski danke, für dein großes Lob...für eine Jugendliche ist es wohl sehr reif, oder? Ich will ja nicht angeben, aber ich finde ihn auch gut.
Liebe Grüße
Heidi
Danke, für dein Herzchen zu meinem Blogartikel s.o...
@wolke07
Liebe Grüße
Heidi