Ein anderes Flug-Ei

Autor: ehemaliges Mitglied

Immer mittwochs und samstags ging meine Oma zum Markt auf dem Domplatz. Ich durfte sie oft begleiten, wenn ich nicht zur Schule musste. Dieses Mal muss es wohl der Samstag vor Ostern 1956 gewesen sein, ich sollte ihr tragen helfen.

Es gab viele Stände, wo die Bauern ihre eigenen Erzeugnisse feilboten. An diesem Samstag kaufte sie ein lebendiges Huhn, nicht zu alt und zu fett, aber gut herangewachsen. Es sollte eine kräftige Hühnersuppe abgeben und aus seinem Fleisch ein leckeres Frikassee werden. Als Bauerntochter hatte sie es wohl gelernt, auch ein Huhn einen Kopf kürzer zu machen und so nahmen wir das lebendige Huhn in einem Korb, aus dem es für das Tier kein Entkommen gab, mit nach Hause.

Daheim in der Küche nahm sie das nun doch recht nervöse Tier aus dem Korb, griff seinen Hals und schleuderte es einige Male durch die Luft. Dann hatte sie den Hühnerkopf in der Hand. Doch das Tier flatterte weiter in der Küche herum und ehe wir es uns versahen, ließ es ein fertiges Ei auf den Küchentisch fallen, wo es natürlich zerbrach.

So seltsam es für mich als knapp Zwölfjährige auch aussah, dass der Körper des eigentlich schon toten Tieres weiter kopflos durch die Küche flatterte – wir mussten dennoch beide lachen. Hatten wir doch damit überhaupt nicht gerechnet. Ich denke, so ganz war es ihr auch nicht recht, den Hühnerkörper festzuhalten und dem Tier einfach in meiner Gegenwart den Kopf abzuschneiden.

Ich weiß nicht, ob ich es meinem heute fast neunjährigen Enkel zumuten würde, sich so ein ja eigentlich grausames Schauspiel anzusehen. Dafür lernte ich anschließend, wie ein Huhn zu rupfen war und wie man die restlichen Flaumfedern und Federkiele aus der Hühnerhaut entfernt ...


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Kommentare (8)

ehemaliges Mitglied

Ihr Lieben alle!

Ich muss bei meinem Enkel sehr darauf achten, dass ich ihm keine Grausamkeiten, die uns selbst früher begegnet sind, erzähle. Diese andere (legsthene) Wahrnehmung hat ihn lange von all dem ferngehalten, was eigentlich fast jedes Kind normalerweise gern ausprobiert: einen Purzelbaum schlagen, Roller oder Fahrrad fahren, Seilspringen, von Mauern herunter springn. Er muss zuerst immer die Erfahrung machen, dass dies oder das für ihn gefahrlos möglich ist ... Er kletterte lieber auf seinen Spielturm als in einen Baum im Garten. Bei mir war's anders herum (bis ich mir einmal als Sechsjährige beim Herunterspringen von einer 2 m hohen Mauer mit dem Knie so heftig unters Kinn stieß, dass die Zungenspitze stark blutete).

Natürlich kann er diese Dinge inzwischen alle. Aber es dauerte bei ihm eben drei bis vier Jahre länger, bis er den Mut zu diesem oder jenem Tun hatte. Bei der Einschulung hatte das zur Folge, dass Lehrerinnen ihm und seiner Mama vorwarfen, er säße zu viel vorm TV oder würde zu viel an einer Konsole daddeln, er bewege sich wie ein alter Mann ... Nichts davon entsprach der Wahrheit. Aber Sportvereine waren für ihn nicht von Interesse. Doch seit er Karate im Klub machen darf, öffnen sich für ihn so manche "Bewegungs"türchen ... Inzwischen hat er in 2019 sogar schon in seiner Altersgruppe den besten Platz belegt.

Genauso verhält es sich mit seinem Feingefühl. Es ist bei legasthenen Kindern sehr spürbar, wieviel Empathie sie schon im Alter von ein, zwei Jahren zeigen, im Grunde wohl ein Hinweis, was bei ihnen anders in der Genetik mitgegeben wurde. Doch zuzusehen, wie im Garten ein Mäuschen in ein Versteck läuft, lässt ihn erst zur Ruhe kommen, wenn es wieder zum Vorschein kommt und nicht von der Erde "verschluckt" wurde. Ich glaube auch nicht, dass er Regenwürmer in einem Glas einsammeln würde - wie wir das mit der Schulklasse in den Kartoffelferien taten.

Muscari

Liebe Uschi,

mit 6 Jahren habe ich das auch erlebt. Es war einfach grausig. Lachen hätte ich nicht gekonnt. War vielleicht auch noch zu klein.
Auch ich würde meinen Enkeln so etwas nie zumuten.
Ich zitiere aus meiner Geschichte, die hier schon einmal stand:


"Ich musste zusehen, wie dieTante eines meiner gackernden Freunde einfing, es am Hals packte und in den Hof schleppte. Dort schwang sie das Huhn mehrmals durch die Luft, legte es auf den Holzklotz und hackte ihm den Kopf ab. Dabei spritzte das Blut auf ihre Schürze, aber das Huhn flog quer über den Hof – ohne Kopf – und prallte gegen die Wand.
Für den Bruchteil einer Sekunde dachte ich, es habe sich im letzten Moment befreit und sei davon geflogen. --- "

 

ehemaliges Mitglied

@Muscari
Liebe Andrea, 
so seltsam es sich damals auch anfühlte, als das kopflose Huhn durch unsere Küche flatterte. Auch stieß es sich hier und da an einer Wand oder einem Schrank. Aber als Oma so lachen musste, konnte ich nicht anders, als einstimmen. Es war ja schon eine konfuse Situation.

LG Uschi

ehemaliges Mitglied

Ja, lieber Manfred, das war bei uns Zuhause auch das Problem. Alle unsere Tiere waren unsere Freunde und auch Spielkameraden. Ich hätte beim Schlachten eines dieser Tiere niemals dabei sein können. Wenn bei meinen Eltern früher ein Schwein im Garten geschlachtet wurde, hat unsere Mutter und Oma uns immer an die Hand genommen und ist mit uns Kindern in die Stadt gefahren oder gegangen. Wir hatten damals einen Hausschlachter in der Familie und wenn wir abends nach Hause kamen, war das Schwein schon zu Wurst und in Kleinteile verarbeitet und aus unserer Sichtweite.
Auf dem Dorfe war es etwas anderes, da schlachtete fast jede Frau angstlos ein Huhn oder anderes Federvieh. Meine Schwiegermutter hat auch vielen Hühnern den Hals umgedreht. Aber die nächste Generation war da schon empfindlicher, mein Mann könnte es nicht und kann auch keine frisch geschlachtete Wurst essen.
Einen lieben Gruß zum Wochenstart von
Jutta

Manfred36

Du hast mal wieder die Kammer meines episodischen Gedächtnisses aufgeschlossen. Das Hühnerschlachten war bei mir immer ein sehr zwiespältiges Erlebnis; ich benutzte zum Kopf-Abtrennen ein Beil. Das Schlimme war, dass alle Hühner zuvor meine "Freunde" waren.

ehemaliges Mitglied

@Manfred36  
Tja, Manfred + Jutta, ob es mein Vater oder eines seiner Geschwister wie seine Mutter gekonnt hätte, einem Hühnervieh den Garaus zu machen, kann ich nicht beantworten.

Als ich das erste Mal schwanger war, war der Mann (Tiierpräparator) meiner Tante so begeistert, dass er mir ein paar Täubchen aus seiner Taubenzucht versprach, die er wohl aussortieren musste. Ich bat mir aus: aber geköpft und gerupft!!

Nein, ich bekam sie mit umgedrehtem Hals, aber vollständig mit Federkleid und hängendem Kopf. Es hat mich ungeheuer viel Überwindung gekostet, die armen Tiere endgültig zubereitungsfähig zu machen ... Einfach wegwerfen - auch dazu war ich nicht imstande. Aber mir kamen die Kenntnisse, wie man das Federwerk total vom Tierkörper wegbekommt, zugute.

Eine Taubensuppe mit kleinen Fleischstückchen konnte ich wohl auch nur deshalb verzehren, weil diese Schwangerschaft für mich so völlig ohne jede Übelkeitsattacken verlief. Tauben habe ich nie wieder meinem Onkel abgenommen.

LG zum Wochenstart in die Weihnachtsfeierlichkeiten schreibt

Uschi

Manfred36

@nnamttor44  
Ja, liebe Uschi und jutta, Empathie zu Nutztieren, die man in der kleinstbäuerliichen Weise versorgt hat, einschließlich des Futter-Heimtragens auf dem Rücken, sind eine Sache für sich. Das war bei Hühnern, Gänsen,  Hasen und Zicklein nicht anders als bei Schweinen. Sie standen aber von Anfang an unter dem eisernen Gesetz, ein Nutztier  zu sein. Ich konnte auch bei der Hausschlachtung mit den Händen das warme Blut rühren, das aus der duchschnittenen Kehle floss oder später das geröstete Hirn essen.
Auch euch eine wunderschöne Vorweihnachtswoche
wünscht
Manfred

ehemaliges Mitglied

@Manfred36
Sorry, ich kann das alles nicht, ich kann noch nicht einmal einen Fisch ausnehmen und werde das auch nie tun.😉Ich bekomm beim Würzen eines Hähnchens schon bald Ohnmachtsanfälle und als ich mal einen ganzen Wildbraten zubereitet habe, war ich danach fix und fertig.😆Ich bin eben besser für Gemüseputzen geeignet, da fließt seltener Blut.😉
Lieben Gruß von
Jutta


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