Ehrfurcht und Phantasie


Den Tag mit guten Worten zu beginnen, habe ich mir seit langem schon zu Eigen gemacht.
Manche lesen ein Bibelwort (ich auch), ein schönes Gedicht, einen Liedvers und stellen so einen guten Impuls an den Anfang eines neuen Tages.

Ich lese gerade in einem Buch von Albrecht Goes „Das Erstaunen“ – Begegnung mit dem Wunderbaren, jeden Morgen ein Kapitel. Er ist für mich ein Meister im Entdecken des Kleinen. „Alles nur Angedeutete wird aufgenommen, alles Geträumte wird Gestalt, und im Gestalten wieder ist der alte Vielklang der Sprache am Werk, und ein eigenes Licht wächst um jedes Wort“.
Vielleicht kann ich etwas von dieser Freude am Morgen weitergeben. Hier ein Auszug aus dem Kapitel“ Ehrfurcht und Phantasie“.

Ehrfurcht im menschlichen Bereich: das hieße, Menschenrecht und Menschenwürde darin zu achten, dass man den anderen anders sein lässt. Dass man in nicht zum Mittel herabwürdigt, zum Sprungbrett, zur Stufe, zum Gegenstand. In jedem Ehepartner, der seinen nächsten Menschen nicht als Besitztum ansieht, sondern als ein lebendiges Leben, als einen Gast auf Lebenszeit, wenn man so will, in jedem Lehrer, der den Kopf seines Schülers nicht mit einem Trichter verwechselt, in jedem Staatsminister, der seinen Erlassen ein Gran Höflichkeit beimengt oder auch zwei, freut sich die Ehrfurcht ihres Daseins und blüht auf.
Beistehen aber muss ihr die Phantasie des Herzens als die Kraft, sich in den anderen hineinzudenken und in solcher Kraft die Fremde zu überwinden. Es ist dies eine Kraft, die den anderen höher einschätzt, als der Augenschein erlaubt, eine Kraft, die das Beste in ihm ans Licht reißt. Es gilt in der Bitternis der Wurzel schon die Süßigkeit der Frucht vorauszuahnen und vorzuschmecken, in der verweigernden Gebärde die verhaltene Liebe zu erkennen, es gilt, einander auch die Umwege des Lebens zu glauben in Geduld.

Aus: Goes:Albrecht: Das Erstaunen. Begegnung mit dem Wunderbaren. Hrsg. von Oliver Kohler. Verlag am Eschbach. 1998. 220 S.

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