Die schlimmsten 36 Stunden meines Lebens
Meine Tochter war 15, als sich der Diabetes Typ 1 durch eine Blutübertragung (zwei Jahre zuvor unter einer OP erhalten) bei ihr erkennbar zeigte, und ich hatte prompt den zuckerkranken Sohn der Bäckersleute Lampe gegenüber meinem Elternhaus im Kopf, sah in meinem Kopf, wie er mir nach kurzer Zeit mit einem Blindenstock und schwarzer Brille begegnete und wenige Wochen später beerdigt wurde!
Meinem Diabetes-Kind alle Freiheiten ihrer Freundinnen auch zuzugestehen, fiel mir daher ungeheuer schwer. Wenigstens sollte sie diabetes-gerecht zu Hause essen und erst danach etwas unternehmen. Das bedeutete aber auch, dass sie nicht vor 19 Uhr aus dem Haus durfte, da waren die Freundinnen längst beim Tanzen, im Kino, usw.. Eines Tages standen wir uns tatsächlich richtig zankend gegenüber, sie uneinsichtig, weshalb ich ihr keine Ausgangserlaubnis gab, und ich mit viel Nicht-begreifen-wollen, warum ihr das Leben kennenlernen so viel wichtiger war, als die eigenen Gesundheits-Bedürfnisse zu akzeptieren.
Irgendwann in diesem „Streit“ wurde es mir einfach zu blöd! Ich liebte meine Tochter, gönnte ihr alles von ganzem Herzen, wollte sie aber nicht an den Tod verlieren. Meine Angstgefühle um sie gewannen die Oberhand, ich brach in Tränen aus. Sie weinte ja schon längst …
Ich kam mir plötzlich so engstirnig, so dumm vor und nahm sie dann einfach impulsiv in meine Arme, drückte sie liebevoll, erklärte kurz meine Gefühle, nahm ihr das Versprechen ab, auf ihren Diabetes acht zu geben und ließ sie ziehen. DAS fiel mir schwer genug. Aber es führte dazu, dass sie lernte, achtsam mit sich umzugehen. Inzwischen ist mein Schatz 50 Jahre alt, Spätschäden hat sie bislang keine. Klar, einmal war sie in ihrer Lehrzeit in Hannover nicht achtsam genug. Sie unterzuckerte schwer, es hätte sie fast ihr Leben gekostet. Doch das war wohl eher der egoistischen Internistin des Internats anzulasten als meiner Tochter …
Es hatte an diesem Abend eine Feier zur bestandenen Gesellenprüfung Anderer gegeben. Es war Grippezeit und obendrein hatte meine Tochter sich überreden lassen, doch ein Gläschen mitzutrinken, obwohl sie wusste, das könnte ihren Zuckerhaushalt durcheinandernbringen. Es dauerte auch nicht lange, bis sie in einen koma-ähnlichen Zustand geriet. Sie war schon ins Bett geflüchtet, konnte aber ihren Durst auf Wasser schon nicht mehr selbstständig stillen. Zucker messen – ging nicht mehr selbst. Die Zimmergenossin rief die Ärztin. Die kam zwar, aber sie war weder bereit, bei ihrer Patientin den Zucker zu messen, noch den inzwischen kritischen ohnmachts-ähnlichen Zustand zu beachten. Was wusste diese „Ärztin“ überhaupt von Diabetes?? Sie riet der Ohnmächtigen, sich aus dem Nachbarraum eine Flasche Wasser zu holen?! – und ging.
Die Zimmerkameradin ahnte, dass der Zustand ihrer Mitbewohnerin auf Messers Schneide stand, rief den Freund meiner Tochter herein. Der schnappte sich mein Mädchen, trug sie zu seinem Pkw und fuhr mit ihr nach Hause zu seiner Mutter. Die ahnte sofort, was geschehen könnte und ließ sie ins nahe Krankenhaus bringen, wo sie gleich auf die Intensivstation zur Behandlung kam.
Es war Mitternacht, als ich hintereinander den Anruf vom diensthabenden Notarzt bekam: “Wenn sie ihre Tochter noch einmal lebend sehen wollen, kommen sie sofort her!“ Direkt danach rief mein Sohn an, der von der Freundes-Mutter benachrichtigt worden war, damit ich nicht total geschockt und allein die 170 km zum Krankenhaus, in dem man versuchte, meine Tochter wieder ins Leben zurück zu holen, fuhr. Schließlich hatte ich am gerade vergangenen Vormittag meinen Mann zu seiner ersten Krebs-OP ins heimische Krankenhaus gebracht. Eigentlich hatte ich daher noch Glück, dass ich wegen der empfundenen Angst um ihn noch nicht zu Bett gegangen war und so das Telefon sofort hörte.
Dann hörte ich schon meinen Sohn hereinkommen, ich zog mir schnell etwas über und dann düsten wir Zwei bei heftigem Frost und Neuschneegestöber über die glücklicherweise recht wenig befahrene Autobahn, die noch nicht gestreut oder von dem Neuschnee geräumt war, zu Tochter und Schwester.
Ach ja, wir wussten ja noch nicht, wie wir sie antreffen würden. Ihr Vater, bereits frisch vorbereitet auf seine Krebs-OP, musste ja wenigstens darüber informiert werden. Also zuerst zum heimischen Krankenhaus, ihm Bescheid geben und ihm seinen Autoschlüssel wegnehmen, damit er nicht auf die dumme Idee käme, in benebeltem Zustand uns in seinem PKW zu folgen.
Gegen halb Drei waren wir im Krankenhaus, durften aber noch nicht zu meinerTochter, weil es bis dahin noch nicht gelungen war, sie wieder in einen wenn auch leicht benebelten Wachzustand zurückzuholen. Um halb vier durften wir dann kurz zu ihr herein und wurden nun beruhigt, dass sie durchkommen würde! Nach dem Kurzbesuch fuhren wir über die inzwischen geräumten und gestreuten Straßen nach Hause, benachrichtigten meinen Mann, damit er die anstehende Operation ruhiger überstehen könnte. Mein Sohn fuhr nach Hause, ich frühstückte und fuhr zur Arbeit, denn an Schlaf konnte ich gar nicht denken, so aufgekratzt wie ich war!
Ich wartete den ganzen Tag nervös darauf, zu erfahren, wie mein Mann seine OP überstanden hätte. Der Anruf kam um 17 Uhr. Die wenig mitfühlsame Erklärung des Sanitäters lautete: „Ihr Mann hat die OP gut überstanden, aber er will Sie nicht sehen!“ Kein Wort mehr ...
Das war zu viel für mich! Ich brach zusammen, heulte vor Erleichterung, aber auch vor Empörung. Heute kann ich mir vorstellen, warum mein Mann nicht wollte, dass ich käme. Jedes Mal, wenn ich operiert worden war, saß er an meinem Bett und rügte mich, dass ich mich von dem nicht vertragenen Narkosemittel übergeben musste. Außerdem hatte man seinem für die OP stillgelegten Darm wohl ein Mittel verpasst, dass wieder Bewegung in ihn käme. Auch das war dem frisch Operierten unangenehm. Also bitte keinen Besuch.
Nach dieser Nacht mit dem Fast-Verlust meiner Tochter war das nicht gerade das, was ich gebraucht hätte. Und dann standen die beiden sympathischsten Kollegen (Allgemeinarzt und ltd. Psychotherapeut) meiner Arbeitsstätte ausgerechnet nun vor mir und fragten, ob sie mich zum Trost in die Arme nehmen sollten … Ich hab sie aus meinem Büro geworfen!
Kommentare (2)
ehemaliges Mitglied
Ich bedanke mich für die Herzchen, lieber JürgenS, liebe HeCaro.
Ich weiß, wie schwer es sein kann, solche Geschichten zu lesen und dann auch noch sein Empfinden dazu kund zu tun. Aber das Leben ist nicht immer Friede, Freude, Eierkuchen. Man darf daran wachsen, solche Erlebnisse zu bewältigen ... sagt Uschi all den anderen Lesern auch. Irgendwie hat jeder sein Päckchen zu tragen.
Wie stark wir sind, zeigt sich in solchen Situationen. Und nun kümmere dich um dich, sei umarmt. Nimm Kraft auf, wo immer sie sich dir bietet und lebe. Herzlichst Flo