Die Geschichte eines Bauern aus dem Taunus


Die Geschichte eines Bauern aus dem Taunus


Liebe ST-ler*innen, ich stelle hier ein Buch mit einer Geschichte vor, welche ich bereits im August des Jahres 2004 auf meiner damaligen Seniorenhomepage vorgestellt hatte. Dies ist in allem so besonders, dass ich den damaligen Blog hier nun sehr gerne noch einmal vorstellen möchte!
Ich wünsche Ihnen viel Lese-Vergnügen und Anteilnahme an einer  besonderen Geschichte in einem besonderen Buch. 
 
Gedanken zum Buch:
 
Als ich 1978 das daneben abgebildete Taschenbuch - eine Jubiläumsausgabe des S. Fischer Verlages - in einem Buchladen in Berlin im Vorbeigehen kaufte (was für ein Preis: 1,99 DM; welch ein Inhalt: Erzählungen von Ilse Aichinger, Peter Altenberg, Wolfgang Bächler, Joseph Breitbach, Joseph Conrad, Tibor Dèry, Fedor M. Dostojewski, William Faulkner, Hubert Fichte, Ota Filip, Otto Flake, Marianne Fritz, Gerhart Hauptmann, Manfred Hausmann, Peter Henisch, Hermann Hesse, Hugo von Hofsmannsthal, Peter Stephan Jungk, Franz Kafka, Reiner Kunze, Thomas Mann, Otto Marchi, Luise Rinser, Gerhard Roth, Klaus Schlesinger, Arno Schmidt, Arthur Schnitzler, Gerold Späth, Franz Werfel, Virginia Wolf, Carl Zuckmayer und Stefan Zweig) konnte ich nicht wissen, welches "Schicksal" das Buch erwartete. Zwar hatte ich "das Doppelte... zu sogar weniger als einem halben Preis von heute" (S. 1 der Ausgabe; gemeint ist also 1978, d.V.) erworben; als besonders handlich erwies sich jedoch das Taschenbuch nicht. Immer lag es irgendwie quer zu allen anderen Büchern im Bücherregal. Aber oh, welcher Inhalt! Ich habe alle Erzählungen jetzt wieder gelesen und möchte hier die Erzählung von Carl Zuckmayer: "Die Geschichte eines Bauern aus dem Taunus" vorstellen.
 
Als ich, noch ganz in gedanklichem Überschwang des Gelesenen, einer Freundin die Geschichte erzählte, hielt sie sie für wahr und wollte wissen, wer mir diese Geschichte erzählt hat.
 
Carl Zuckmayer hat sie erzählt; nicht mir, sondern uns allen.
 
(Im August 2004)
 
 
Mehr zum Inhalt
 
Die Geschichte eines Bauern aus dem Taunus - von mir nacherzählt:
 
Ein Bauer aus dem Taunus, der im Frühjahr 1918 aus dem Krieg nach Hause abkommandiert worden war, um seine Felder zu bestellen und dessen Frau schwanger geworden war, brach im Spätsommer desselben Jahres in einer klaren Mondnacht ohne äußeren Befehl und ohne sichtbare Not erneut auf, um scheinbar in den Krieg zu ziehen. Er stand in voller Uniform, den Stahlhelm auf dem Kopf, den Tornister auf dem Rücken, vor seiner schlaftrunkenen Frau, der seit einiger Zeit schon das veränderte Verhalten ihres Mannes aufgefallen war, und sagte: "Ich geh"; und auch: "Es schad weiter nix";  und: "Ich komme bald wieder" und schritt mit klappernden Absatzeisen zur Tür hinaus. …
 
 
…Er war, so wird der Leser im Verlaufe der Geschichte erfahren,  in einem Landwehrregiment in einem kleinen Dorf an der Grenze zu Russland stationiert gewesen und hatte dort mit einer Frau in einer Hütte zusammengelebt, die von ihm ein Kind bekam, an dessen Bett er saß und das er in seinen Armen hielt. Er war dann von dort zweimal abkommandiert worden und hatte die Frau und das Kind vergessen. Jetzt, da er wieder ganz zu Hause war und wohl nicht fürchten musste, noch einmal eingezogen zu werden und seine Frau schwanger geworden war, "ging es ihm gewaltig auf ... ." (S. 229) "Und das Kind, das damals schrie und das Kind, das die im Taunus von ihm trug, beides brannte in ihm und ließ ihn nicht los und mußte zusammenkommen." (S. 233) So zog er in seiner Unteroffiziersuniform mit Stahlhelm und Tornister los und wollte nach Südosten in das Dorf, um das Kind zu holen.
 
Es sollte zunächst anders kommen. In Frankfurt auf dem Bahnhof wurde er von Kameraden entdeckt, die gerade aus diesem Dorf gekommen und an die Westfront abkommandiert worden waren und glauben mussten, dass er hier auf sie gewartet hatte, ebenfalls erneut abkommandiert. Wie hätte er seine Kameraden und den Offizier von etwas anderem überzeugen können?
 
Die Kämpfe an der Westfront waren schrecklich. Irgendwann wurden er und einige andere Kameraden, in einer engen Grube zusammengepfercht liegend, von Offizieren der Sieger entwaffnet und in ein provisorisches Gefangenenlager gebracht.
 
Obwohl er, wie alle anderen, zu Tode erschöpft war, entfloh er in derselben Nacht, kam durch die Frontlinien und auf Materialzügen, auf Dächern, an Puffer und Trittbretter geklammert, durch Frankreich. Später fuhr er mit einigen anderen Deserteuren auf einer herrenlosen Lokomotive ostwärts. Durch Deutschland kam er mit gefälschten Papieren und "der letzte Zug, der deutsche Soldaten nach Südosten fuhr, trug ihn dem Ziel entgegen." (S. 232)  Er fuhr bis zu jener kleinen Bahnstation, von der er vor zwei Jahren abgereist war und marschierte zu dem ziemlich weit abgelegenen Dorf. Schon von fern her hörte er Schüsse, das Rattern eines Maschinengewehrs und das Brodeln von Infanteriefeuer. Als er näher kam, sah er das Dorf in hellen Flammen stehen, und ein vorüberlaufender Soldat schrie ihm zu, dass sie überfallen worden waren und er nicht in das Dorf gehen sollte. Aber er lief in das Dorf, durch ein brennendes Gehöft und stand vor der Hütte, in der er gelebt hatte. Das Strohdach schwelte, vor der Tür lag in ihrem Blut der Körper einer Frau und aus dem Innern der Hütte hörte er ein Kind weinen. Er ging hinein, nahm es auf den Arm, während draußen das Feuer über die Dachbalken abwärts sprang und verließ mit ihm das brennende Dorf.
 
Er wurde angeschossen und ging mit dem Kind immer tiefer in den Wald hinein, bis er das Geschrei der Kämpfenden und die Schüsse nicht mehr hörte. Die Richtung hatte er längst verloren, und als es dunkelte, kroch er mit dem Kind in ein Dickicht. Es fiel Schnee, der alles gleichmachte und jede Spur verwischte.
 
Er blieb mit dem Kind den ganzen Winter über bis zum Frühjahr im Wald. Er hatte einen alten Militär-Unterstand gefunden, in dem sie lebten und in dem es auch einige Kisten Munition gab. Nun schoss er Wild, von dem er und das Kind sich ernährten. Das Kind und er hatten eine eigene Sprache für sich erfunden, und das Kind war weit über sein Alter hinaus entwickelt und begleitete ihn auf seinen Jagden.
 
Im Frühjahr begann die Not: Das Kind wurde krank, die Munition knapp, und es gab auch nicht mehr so viel Wild zu schießen. Nun entschloss er sich aufzubrechen. Aus Fellen von Wölfen hatte er für sich und das Kind Kleidung gemacht und zwei starke Tragriemen aus Leder. Er band das Kind auf seinen Rücken, und wanderte los. Er erreichte den Rand des Waldes, und vor ihm lag eine gelbe, wellige Steppe. Plötzlich sah er dunkle Gestalten am Horizont auftauchen, die er zunächst für Trugbilder hielt, von denen sich aber herausstellte, dass sie echt waren: Männer auf Pferden, mit dicken Mänteln und Lanzen quer über dem Sattel: Kosaken, Aufklärungspatrouillen der Reiterscharen des Roten Generals. Ein Unterführer nahm ihn und das Kind zu sich aufs Pferd, und so kamen sie ins Lager zu den Truppen des Generals Budjenni. Dort wollte man ihm das Kind wegnehmen und Sanitätsschwestern zur Pflege geben. Er setzte sich jedoch verzweifelt zur Wehr, und bald sprach sich im ganzen Lager die Geschichte vom wilden Mann und seinem Kind herum. Sie rissen Witze über ihn und sangen ein Lied von einem Mann, der schwanger war und Mutter wurde, und es gab ein großes Geschrei und Gelächter. "Da trat ein kleiner weißbärtiger Mann durch die Menge, der die Uniform der einfachen Sanitätssoldaten trug, aber vor dem wichen alle zurück und zeigten Respekt vor ihm, mehr als vor einem hohen Offizier. Sein stilles, vielfach zerfurchtes Gesicht, das eines alten jüdischen Weisen, erfüllte auch Seuffert mit einem Gemisch aus Ehrfurcht und Vertrauen, und er ergriff die dargebotene Hand des Greises." (S. 238) Diesem Mann, der großen Einfluss auf die Führer der Soldatenräte hatte, erzählte er nun alles. Noch am selben Abend rief der einstmalige Rabbiner den Rat der Soldaten des Lagers zusammen und erzählte ihnen die Geschichte des Bauern aus dem Taunus weiter. Die Geschichte von dem Mann, "der alles verlassen hatte und durch das kriegsdröhnende Land gegangen war, unberührt von den Gewalten der Vernichtung, um ein kleines Lebenslicht ... vor dem Verlöschen zu retten." (S. 238) Am nächsten Tag erhielt der Bauer aus dem Taunus Papiere, "die ihm und dem Kind sicheres Geleit und freie Reise durch die Länder aller befreiten Russen gewährleisteten...". (S. 238)
 
Auch auf der weiteren, noch langen und beschwerlichen Reise sorgte ein gutes Glück für sie beide. Im Mai standen er und das Kind dann vor dem Haus im Taunus, und seine Frau, die mit ihrem Kind aus dem Haus getreten war, setzte dieses zunächst sorgsam in den Wagen, bevor sie ihn und das neue Kind mit beiden Armen und offenen Händen empfing.
 
 

Ende der Geschichte
 


FotoZuckmayer.jpg
 
Über den Autor:
 
"Carl Zuckmayer wurde am 27. 12. 1896 in Nackenheim am Rhein geboren. Er starb am 18. 1. 1977 in Visp/Wallis. In Mainz aufgewachsen, wurde er gleich 1914 nach dem Not-Abitur Soldat. Nach dem Krieg studierte er Natur- und Geisteswissenschaften, wurde Volontär und gelegentlich Regieassistent in Berlin. 1922 Dramaturg am Stadttheater Kiel, 1923 am Schauspielhaus München und 1924, zusammen mit Bertolt Brecht, am Deutschen Theater in Berlin. 1925 heiratete er Alice Herdan. 1926 siedelte er sich als freier Schriftsteller in Henndorf bei Salzburg an, wurde 1933 sogleich mit Aufführungsverbot belegt und mußte 1938 nach Beschlagnahme seines Hauses durch die Gestapo in die Schweiz emigrieren. Im Herbst 1939 wanderte er mit seiner Familie über Cuba in die USA aus, wo er zunächst kurze Zeit als Drehbuchautor in Hollywood arbeitete, aber schließlich als Farmer in die 'Grünen Berge' bei Barnard/Vermont zog. Seit 1946 machte Zuckmayer zahlreiche Reisen nach Europa, kehrte 1958 endgültig in die Schweiz zurück und erwarb dort, in Saas-Fee in Wallis, ein Haus. - 'Die Geschichte eines Bauern aus dem Taunus' nahm der Autor 1927 in den Band 'Ein Bauer aus dem Taunus und andere Geschichten' auf.
 
Werke von Carl Zuckmayer: 'Kreuzweg', Drama (1921), 'Der Baum', Gedichte (1926), 'Der fröhliche Weinberg', Lustspiel (1925), 'Schinderhannes', Drama (1927), 'Der Hauptmann von Köpenick', Drama (1930), 'Eine Liebesgeschichte'(1934), 'Salwàre oder Die Magdalena von Bozen', Roman (1936), 'Herr über Leben und Tod', Roman (1938), 'Der Seelenbräu', Erzählung (1945), 'Des Teufels General', Drama (1946), 'Der Gesang im Feuerofen', Drama (1950), 'Ulla Winblad', Drama (1953), 'Engele von Loewen', Erzählung (1954), 'Die Fastnachtsbeichte', Erzählung (1959; Fischer Bibliothek 1976), 'Als Wär`s ein Stück von mir', Autobiographie (1966), 'Der Rattenfänger', Fabel (1975), 'Aufruf zum Leben', Essays (1976)" (S. 255-256 des vorliegenden Taschenbuches)
 
Da der hier vorgestellte Jubiläumsband bereits seit 20 Jahren vergriffen ist,  verweise ich auf die bei S. Fischer jetzt lieferbare Ausgabe von Carl Zuckmayer: "Ein Bauer aus dem Taunus. Erzählungen" ISBN 3-10-096537-X.
 
(Im August 2004)
 
Und am 15. Mai 2020
 
 
 
Mit besten Grüßen und Wünschen 🌷

Angeli44
 
 
 
Bild oben: Taschenbuch – Jubiläumsausgabe des S. Fischer Verlages 1978
 
Im Text: Foto von Carl Zuckmayer   (1966)
Fotograf: Heinz Heinicke
(Mit freundlicher Genehmigung des S. Fischer Verlages)
           
 
           
           
 
 
           
 
 


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Kommentare (2)

wolke07

Liebe Angeli,ich las die Nacherzählung von Dir mit Spannung.
Zuckmayer ist mir bekannt,der Kreuzweg und der Hauptmann v. Köpenick.
Habe fast alle meine spannenden Bücher an meine Kinder verteilt,aber noch stehen im Bücherschrank einige Bücher,damit es nicht so leer ist.
Aber durch die neue sprechende Brille
,kann ich ja wiedermal richtig mit lesen anfangen--
Gruss Wolke Gisela

Angeli44

@wolke07

Liebe Gisela, toll, danke!  😃 Ja, ich selber fand jetzt die obige Erzählung auch wieder richtig gut. Rührt mich total an! Da frage ich mich natürlich, was das mit meiner eigenen Geschichte und den Geschichten meiner Vorfahren, (Männer im Krieg, Frauen alleine mit den Kindern, etc.)  zu tun haben könnte. - Aber vielleicht ist es auch der geniale Schriftsteller Zuckmayer, der hier "Regie" führt - und uns so toll mitnimmt. 

Habe immer noch immens viele Bücher, auf riesigen Bücherregalen, in Bücherchränken - und auch anderen Schränken. Habe schon einige Male Bücher verschenkt und sogar - das ist blöd  - weggeworfen! 

Dass du jetzt die "sprechende Brille" hast, ist ja prima! 😃 Gratuliere! Das wird ja wohl auch meine Zukunft sein.

Beste Grüße,
Angeli


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