Der Tod in der Abstellkammer (- 2. -)
Heinrich schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Langsam wird mir einiges klar!«
Er holte er sich einen Stuhl aus der Küche, setzte sich neben die Kammertür und fragte seinen eingeschlossenen Gast:
»Sitzen Sie auch gut, ja? Ich habe es jetzt kapiert. Hat ja etwas gedauert, aber nun habe ich das gecheckt! Ich weiss endlich, wer Sie sind. Entschuldigen Sie, dass ich Sie nicht früher erkannt habe! Sie wollen mich mitnehmen in Ihr Schattenreich, nicht?
Er lachte dann kurz auf. »No Sir! That's out of the range. Never ever! Hier habe ich das Sagen, verstehen Sie? Ich! Und da redet mir niemand rein! Und ob Sie nun der ›Ewige‹ heißen oder ›Purzelmann‹, das ist mir völlig schnuppe!«
Heinrich fuchtelte wild mit den Händen, obwohl der Andere es ja nicht sehen konnte. »Wo waren Sie denn, als meine Frau den Weg antreten musste? Na, wo?
Herr Immortaler antwortete leise: »Das tut mir leid, aber Unfälle gehören nicht in mein Ressort! Ich weiss darüber nichts. Es ist aber doch nur gerecht, dass jeder zu uns übersiedelt, übersiedeln muss. Ist das so schwer zu verstehen?«
Erbost wurde Heinrichs Ton nun immer lauter:
»Ach ja? Da weiss bei Euch drüben die Rechte nicht, was die Linke tut, ja? Meine Frau war vierundfünfzig Jahre alt! Haben Sie das verstanden? Vierundfünfzig!
Und sie wurde einfach abgeholt, mitten von der Straße. Da hat niemand gefragt, ob es schon so weit ist. Ich konnte mich nicht mal von ihr verabschieden. Ist das nun Eure Gerechtigkeit?«
Heinrich bemühte sich, nicht in Wut zu geraten. Mit aller Gewalt überkam ihn die Situation jener Zeit, als er die Nachricht erhielt, dass Natalie ihr Leben im Straßenverkehr lassen musste.
Immortaler in der Kammer war still geworden. Kein Laut drang nach draußen. Heinrich saß kerzengerade auf dem Stuhl neben der Tür. Beide schwiegen minutenlang. Dann meinte Herr Immortaler: »Haben Sie es sich überlegt? Lassen Sie mich frei? Sie ändern nichts an der Sachlage. Ich werde Sie mitnehmen, darüber gibt es keine Diskussion!«
Heinrich saß immer noch mit verschränkten Armen auf dem Stuhl vor der Tür. Sein Blick blieb am Bild seiner verstorbenen Frau an der Wand haften.
»Mein lieber Herr Immortaler oder wie immer Sie heißen mögen, merken Sie immer noch nicht, dass Sie nicht mehr den Taktstock in der Hand halten?
Sie, mein Herr, tun das, was ich will! Und inzwischen fängt die Sache an, mir Spaß zu machen!«
Ein grimmiges Lächeln erschien auf seinem Gesicht. ›Ich habe ihn in der Hand, dachte er bei sich, und so einfach lasse ich mir das nicht mehr wegnehmen.‹
Er erhob sich, legte sein Ohr an die Tür und fragte dann etwas burschikos: »Sind Sie noch da? Natürlich sind Sie noch da. Oben auf dem Schrank liegt eine Luftmatratze, die können Sie aufblasen, es schläft sich gut darauf!
Ach so, ja, wenn ich das richtig verstehe, schlafen Sie ja nicht! Sie brauchen kein Essen, haben keinerlei menschlichen Bedürfnisse. Leben Sie eigentlich? Haben Sie im Schattenreich eine leitende Funktion?«
Herr Immortaler brummte irgendwas vor sich hin. »Wünschen Sie noch etwas?« fragte Heinrich, »Ich erfülle Ihnen jeden Wunsch - nur freilassen, das steht nicht auf meinem Plan!«
»Lassen Sie mich in Ruhe«, sagte drinnen der Herr Immortaler. »Alles was Sie für mich tun können ist, mich hier schleunigst herauszuholen!«
»Vergessen Sie das ganz schnell!« meinte Heinrich darauf. »Unser Spiel ist noch nicht aus!«
Er erhob sich, ging langsam zur Wohnungstür, die Zeitungsfrau hatte gerade die »Rundschau« durch den Briefschlitz eingeworfen. Er hob die Zeitung auf, setzte sich wieder auf den Stuhl neben der Tür. Schlug die vorletzte Seite auf und meinte beiläufig: »Wollen wir mal sehen, was heute wieder für Untaten geschehen sind!«
»Wissen Sie eigentlich, was Sie da tun?« fragte Herr Immortaler von jenseits der Tür, »wissen Sie das? Sie bringen den Ablauf der Welt durcheinander. Das Kommen und Gehen, das Werden und Vergehen hält das Weltgefüge zusammen! Können Sie sich das überhaupt vorstellen? Nein - wie denn auch. Sie glauben doch nur, dass Sie der Mittelpunkt des Universums sind? Nein, mein Herr, es geht ohne Sie. Aber es geht nicht ohne ›mich‹! Verstehen Sie das? Oder ist Ihr Spatzenhirn zu klein, um diesen Gedanken weiterzuverfolgen?«
Heinrich versuchte sich nicht zu sehr von den Worten Immortalers provozieren zu lassen. Natürlich hatte er darüber auch schon nachgedacht.
»Hallo, großer Meister, ich lese hier gerade: Drei Tote bei einem illegalen Autorennen in der Stadt. Was sagen Sie dazu, old fellow? Drei Menschen, deren Zeit auch noch nicht abgelaufen war. Ist das nun Eure Gerechtigkeit? Aber das ist ja auch nicht Ihre Sparte, nicht wahr? Geht das nach dem Grundsatz: ›Kollege kommt gleich‹? Sie können mir nicht erzählen, das ginge alles gerecht zu. Ihr arbeitet drüben wohl alle nach dem Zufallsprinzip; macht Ihr das mit einem Würfel oder pokert Ihr mit der Existenz der Menschen?«
Immortaler war verstummt, es schien, als hätte er Heinrichs Ansicht verstanden. Dann meinte er:
»Sie lenken ab. Sie lenken bewusst ab, Herr Gärtner. Das Problem, das Sie gerade ansprachen, hat mit uns Beiden nicht das Geringste zu tun. Hier geht es um den Ablauf, um die vorgegebene Chronologie des menschlichen Daseins. Dieser Kreislauf des Lebens wird unterbrochen, wenn Sie den Prozess einfach stoppen, vielleicht sogar völlig aussetzen wollen. Sie greifen in das Werk des Allmächtigen ein!«
Heinrichs Stimme war leiser geworden:
»Ach, ist das so? Sie haben den Kreislauf des Lebens meiner Frau doch auch gestoppt. War das denn chronologisch gewollt? Sie wollen mir nun den Schwarzen Peter zuschieben, ja? Ich nehme den aber nicht an. No Sir, ich verweigere die weitere Mitarbeit mit Euch Jenseitigen!«
Heinrich hatte sich nun doch entgegen seinem Vorhaben in Rage geredet. Er bemühte sich, weiter aus der Zeitung vorzulesen: »Hier, verehrter Herr Immortaler, hier stehen die Todesanzeigen auf der vorletzten Seite. Acht Anzeigen sehe ich hier. Alle mit tollen Nachrufen: ... hat es dem Herrn gefallen, ... zu sich gerufen, ... in stiller Trauer ... unerwartet ... etcetera, etcetera.
Diese Menschen hatten allesamt Glück, sie wurden alle bedeutend älter als ich. Warum, sagen Sie mir doch, warum sollte ich denn schon gehen?
Ich komme noch früh genug zu Ihnen ins Jenseits!«
»Herr Gärtner«, der Mann in der kleinen Kammer sprach jetzt ziemlich leise und kaum verständlich. Die Erregung der vergangenen Minuten war immerhin abgeklungen: »Sind Sie noch da? Haben Sie denn auch schon einmal an den Herrn Krämer im Erdgeschoss gedacht? Der Mann ist todkrank, er leidet seit Monaten, er wünscht sich nichts mehr, als endlich von seinen Qualen erlöst zu werden.
Er möchte sterben, Herr Gärtner, einfach sterben! Und Sie in Ihrem Egoismus lassen ihn nicht gehen, weil Sie mich festhalten. Sie lassen ihn weiter leiden. Haben Sie das schon mal überlegt?«
Heinrich überlegte wieder. Natürlich war ihm sein Vorgehen überhaupt nicht bedenkenlos vorgekommen. Aber sich jetzt so einfach ergeben? Sein Trotz ließ das einfach nicht zu. »Na klar, jetzt holen Sie sich wieder neue Gesichtspunkte aus Ihrer Trickkiste, was? Wäre doch gelacht, wenn wir den Gärtner nicht doch noch weichkochen könnten, nicht wahr? Aber das kann ich Ihnen schwarz auf weiss versprechen: Ich werde meine Einstellung nicht ändern!«
Heinrich stellte seinen Stuhl an die Seite, dann ging er zur Tür und sagte:
»Ich gehe jetzt in meine Eckkneipe, habe heute meinen Skatabend! Soll ich das Radio anstellen? Vielleicht interessieren Sie ja die neuesten Nachrichten. -
Keine Antwort? Na, dann eben nicht! Schlafen Sie gut, Herr Immortaler, bis nachher!«
Er öffnete die Wohnungstür, ging auf den Flur, kam dann aber nochmals zurück und sagte zu seinem Gast: »Übrigens, Schreien hat keinen Sinn, hier hört sie kein Mensch. aber vielleicht hört Ihr Chef Sie ja?«
Siebenundzwanzig Tage saß Herr Immortaler nun schon in Heinrichs privater Haft. Es hatte keine Veränderung gegeben. Sie hatten vielfach und mehrmals täglich miteinander diskutiert, das Für und Wider der Gewaltmaßnahme Heinrichs immer wieder erörtert. Ihre Streitgespräche waren oft so heftig, dass oft im wahrsten Sinne des Wortes die Wände wackelten. Heinrich blieb hart, ließ sich nicht erweichen, eine Umkehr von seinem Verhalten schien in weiter Ferne zu liegen. Er verließ auch seine Wohnung nicht mehr, er befürchtete, dass sein ungebetener Gast irgendwas anstellen könnte, dass dann die Situation eskalieren ließ.
Dann kam der 16. Juni, es war Heinrichs Geburtstag. Er war nun fünfundsiebzig Jahre alt geworden. im Grunde genommen sollte es ja ein Glückstag sein, dieser Geburtstag. In dem kleinen Häuschen in der Waldsiedlung schien das Glück aber gar nicht mehr daheim zu sein. Heinrich Gärtner war mit sich selbst und der Welt unzufrieden. Es war ihm bewusst, dass es so dieser Form nicht endlos weitergehen konnte. Was sollte er tun?
»Herzlichen Glückwunsch, Herr Gärtner!«
Herr Immortaler in seiner kleinen Klause war es, der Heinrich gratulierte. »Fühlen Sie sich gut? Wann kommen denn Ihre Gäste? Man wird ja nicht jeden Tag Fünfundsiebzig, nicht wahr?«
Heinrich sagte nichts. In den letzten Tagen hatte er schon nicht mehr mit Immortaler geredet, dessen Worte und Sätze waren nur noch Monologe, Heinrich hatte ihnen einfach nichts mehr entgegenzusetzen.
»Es gibt keine Gäste. Da ist niemand mehr. Das Rendezvous mit Beate haben Sie mir auch versaut! Was soll ich nun noch? Ich gratuliere: Sie haben gewonnen!«
Er ging langsam zur Tür der Abstellkammer, schob den großen Riegel zurück und sagte dann: »Bitte, ich gebe auf! Man muss auch verlieren können! Jetzt dürfen Sie mich in aller Ruhe mitnehmen. Sind Sie nun zufrieden?«
Herr Immortaler kam aus dem engen Raum hervor, blitzsauber und wie frisch gebadet, man sah ihm nicht an, dass er vier Wochen in diesem Gefängnis verbracht hatte. Gefühlvoll fasste er Heinrich an eine Schulter und zog ihn sanft in die Küche.
So saßen sie einige Zeit schweigend nebeneinander am Küchentisch. Dann sagte Herr Immortaler: »Sie haben meinen Respekt, Herr Gärtner, wirklich. Und nach Rücksprache mit meinem Chef darf ich Ihnen heute ein Angebot machen. Sie können es ablehnen, Sie können es annehmen, ganz wie es Ihnen beliebt. Ich bin befugt, Ihnen zuzusagen, dass Sie noch hierbleiben dürfen, und zwar mindestens noch bis zu Ihrem Fünfundachtzigsten! Wenn Sie möchten, auch noch länger. Sollten Sie jedoch eines Tages von sich aus den Wunsch haben, zu uns zu kommen, dann wird es auch geschehen.«
Heinrich hatte die Augen bei diesen Worten Immortalers weit aufgerissen. Es war ja nicht so einfach, solch eine Nachricht zu glauben. Doch der Herr Immortaler beschwichtigte ihn lächelnd.
»Es ist alles so, wie ich es Ihnen zusagte. Und mein Chef hält sein Versprechen. Immer, darauf können Sie sich verlassen! Also, nehmen Sie an, Heinrich?
Herr Immortaler hatte ihn Heinrich genannt. Welch ein Ereignis. Das Geburtstagskind war außer sich vor Freude. Solch einen Geburtstag konnte kein Mensch auf dieser großen weiten Welt aufweisen und dabei so glücklich sein wie er es nun war.
»Danke«, schrie er laut auf. »Danke Adam!«
Adam Immortaler war inzwischen zur Tür gegangen, winkte lächelnd noch einmal und sagte halblaut: »Viel Freude noch mit Beate, ich hab das schon geregelt!«
©2020 byH.C.G.Lux
Kommentare (3)
Roxanna
Spannend zu lesen, lieber Horst. Hoffentlich bereut er es nicht eines Tages, dass er nicht mitgegangen ist. In dem Alter weiß man nicht, was kommt. Vielleicht schaust du später mal wieder bei ihm vorbei 😉.
Lieben Gruß
Brigitte
Pan
Liebe Roxanna - sollte der Herr Immortaler mich nicht vorher besuchen, werde ich den "Gärtner" zu seinem "Fünfundachtzigsten" besuchen, mal schauen ...
Horst
Das zu verinnerlichen und ohne Sträuben anzunehmen, ist der Weisheit höchster Schluss…
...meint
Syrdal