Der Schmerz bleibt ein Leben lang, wenn die Mutter gegangen ist ...
Es ist eine meiner frühesten Érfahrungen, den Schmerz zu bewältigen, der eintritt, wenn man die Mutter verloren hat. Am 13. Juli 1951 starb sie an Brustkrebs, bei dem damals noch so gut wie keine Möglichkeit wahrgernommen werden konnte, geheilt zu werden. Ich weiß nicht, wie oft ich als kleines Mädchen Trost im einsamen Spiel, allein in Münsters Promenade, gesucht habe, um nicht den Gemeinheiten – mit Brennnesseln geschlagen zu werden, Versuche, mich mit gerade gereiften (noch roh und noch giftigen) Holunderbeeren vom Strauch zu füttern, ausgesetzt zu sein. Immer wieder hatte die Große solche Attacken ausprobiert, weil sie mich, so lange ich noch nicht allein zum Spielen auf die Ruinen-Straßen unserer Nachkriegs-Stadt durfte, „verwahren“ musste. Ihren Hass auf mich, die böse, "krankmachende" kleine Schwester, hatte sie stets gut zu Hause verstecken können. Offensichtlich wurde mit uns Kindern nicht über die Erkrankung, auch später nicht über den Tod unserer Mutter gesprochen
Unser Vater hatte seine Kleinsten mit einer Vertrauten aufs Land, auf einen Bauernhof geschickt, wohl mit dem Wissen, dass es bald mit seiner sterbenskranken Frau, der Mutter seiner drei Töchter, zu Ende gehen würde. Mit dreieinhalb und knapp sieben Jahren wollte er uns Kindern diese Erleben ersparen. Er ließ uns erst wieder nach Hause kommen, als die Beerdigung vorüber war. Wir erfuhren auch nicht, was mit unserer Mami geschehen war, denn er setzte auf Ablenkung, fuhr mit allen nach einem für die Erwachsenen sehr anstrengenden Jahr auf eine der ostfriesischen Inseln. Vielleicht aber war es ihm einfach noch zu schwer, mit uns über den Tod der Mutter zu sprechen, ohne dass ihm, dem Vater, der jetzt für uns stark zu sein hatte, die Tränen kommen würden.
Meine jüngere Schwester und ich bekamen für die Heimreise vom Bauernhof jede eine dicke Apfelsine mit auf den Weg. Aber wir aßen sie nicht, wussten wir doch, dass unsere Mami nur noch aus einer Schnabeltasse trinken konnte. Sie sollte den gesunden Saft der Orange bekommen! Doch zuhause gab es weder eine Mami noch ihr Krankenbett …
Erst als wir den vierwöchigen See-Urlaub hinter uns hatten, ich wieder in die Schule ging, gab es den gut gemeinten Gebetszusatz vor dem Unterricht: „... und jetzt beten wir auch für die verstorbene Mutter einer Mitschülerin.“, der eine Erika veranlasste, lauthals in die Klasse zu rufen: „... die kannte ich! Das war eine böse Hexe!“, begriff ich plötzlich, dass meine Mutter tot war!
Ich verstand plötzlich, dass Erika MEINE Mutter meinte! Sie konnte sie gar nicht kennen, denn meine Mami lag schon über ein Jahr zuvor im Krankenhaus oder zu Hause im Krankenbett, war gar nicht imstande, überhaupt aufzustehen. Und meine Mutter war keine Hexe!! Und ich wusste nicht, wie ich diesen boshaften Angriff verarbeiten, ihm begegnen sollte ...
Ich brach in Tränen aus, konnte mich gar nicht beruhigen. Frau Ostermann hatte schon festgestellt, dass eine Renate meine Freundin geworden war und sie direkt am Schulhof wohnte. Also bekam Renate den Auftrag, ihre Freundin – mich – nach Hause zu ihrer Mutter zu bringen, damit ich mich beruhigen könnte und sie der Klasse erklären konnte, dass so ein Zwischenruf alles andere als wahr und in Ordnung sei.
Inzwischen war unser Vater auch mit uns zum Zentralfriedhof am münsterschen Aasee gewesen und hatte uns das kalte Grab unserer Mami vorgestellt, wo sie nun in Frieden und ohne jeden Schmerz schlafen würde. Zur Ablenkung fragte er, wie denn nun auf dem Grabstein das Wort MAMI stehen sollte: in der Mitte mit einem oder zwei "M". Ich war zuvor noch nie auf einer Beerdigung gewesen und konnte mir nicht vorstellen, wie die Mami dort in der Erde nun ruhte. Da lenkte seine Rechtschreibfrage mich Erstklässlerin doch sehr vom Nachdenken ab.
Meine große Schwester hatte nicht nur damals noch eine Zeit lang damit zu kämpfen, dass unsere Mami nun ihrer Krankheit erlegen war, ihr Zuhause auf dem Friedhof hatte. Sie hat es offensichtlich bis in ihr eigenes Alter nicht verarbeitet! Aber sie begann, wie sie es schon zuvor immer wieder seit sechs Jahren getan hatte, mir Bosheiten und Anschuldigungen an den Kopf zu werfen. Sie, die damals knapp Fünfjährige, hatte in den letzten Monaten des Krieges miterlebt, dass unsere Mutter bei einem der letzten Bombenalarme mit uns Zweien in den Keller gehastet, dabei gestolpert war und sich heftig den Kinderwagengriff vor ihre Brust geschlagen hatte. Ich muss etwa acht Monate alt gewesen sein. Unsere Mutter wird froh gewesen sein, dass sie den Kinderwagen hatte festhalten können. Aber die Fünfjährige gab ihrer kleinen Schwester – mir – die Schuld, dass die Mami nun große schwarze Blutergüsse auf der Brust hatte und wohl über Schmerzen beim Stillen klagte.
Als unsere Mutter ein paar Jahre später dann die Diagnose Brustkrebs bekam, war das in den Augen der Großen meine Schuld! Das ist ihr nie aus dem Kopf gegangen. Sie bekämpfte mich, wann immer sie konnte, machte mir selbst als Erwachsene noch den Vorwurf: „... wenn Du nicht gewesen wärst, würde Mutti jetzt an meiner Hochzeit teilnehmen können! Das wäre mein größter Wunsch!!“ Da stand ich gerade sprachlos als 16-Jährige vor ihr. Ich sollte an ihrer Hochzeit nicht teilnehmen!
Selbst als ich sechs Jahre später meinen Sohn bekommen hatte, neidete sie mir das und ließ mich wissen, dass es ihr Vorrecht gewesen sei, unserer Familie den ersten Enkelsohn zu bescheren. Ich weiß bis heute nicht, wie sie so denken kann, aber ich ziehe es vor, nicht mehr mit ihr zusammenzutreffen. Es würde nur dazu führen, dass sie mir wieder und wieder Vorwürfe machen würde, dass ich kein Recht hätte, auf dieser Welt zu sein, ich die Schuld an der Erkrankung und dem Tod unserer Mutter hätte. Diesen Schmerz, mit dem sie immer wieder versuchte, mich auszugrenzen, will ich nicht mehr.
Ich habe diese „dummen“, kränkenden Vorwürfe innerlich überwunden, in vielen einsamen Fahrrad-Touren über Land in der schönen Natur zu einem gewissen Frieden gefunden. Aber besonders jetzt, wo ich selbst in der Situation stehe, mit Chemo- und Antikörpertherapie meinen eigenen Brustkrebs zu besiegen, nach mehr als 43 Jahren mehr Lebenszeit, als es unserer Mutter vergönnt war, eine Chance auf Heilung zu haben, darüber mag ich mit meiner inzwischen fast 81-jährigen Schwester nicht reden. Ich sah sie zuletzt vor etwa fünf oder sechs Jahren - und auch da bekam ich Vorwürfe zu der Erkrankung und dem Tod unserer Mutter zu hören. Ich schwor mir, ich werde sie nie wieder treffen!
Meine jüngere Schwester hatte ihr kürzlich berichtet, wie meine Gesundheitslage momentan sei. Sie wollte die Große wissen lassen, dass eine von uns nun auch betroffen war. Die Antwort war: „Ich war auch gerade im Krankenhaus!“ Die Große hatte ein orthopädisches Problem. Ihr Hass auf mich scheint ungebrochen …
Kommentare (5)
Deine Geschichte ist erschreckend. Wie können Geschwister so herzlos zueinander sein.
Sicher spielt bei Deiner älteren Schwester ein unverarbeitetes Trauma eine große Rolle.
Trotzdem - trotzallem - ich kann es nicht nachvollziehen.
Dir möchte ich alles Gute wünschen viel Kraft und Zuversicht um die Krankheit zu besiegen.
LG Seija
@Seija
Es ist und war für mich nie nachzuvollziehen, wie man so boshaft sein kann. Vorstellbar für mich ist, dass sie eine große Charakter-Portion von der Art ihrer mütterlichen Oma geerbt hat. Sie war ja nicht nur mir gegenüber so. Als sie im Internat war, bekam sie monatlich von den Nonnen eine "Klageschrift" mit nach Hause, weil sie auch dort als boshafte Zankliesel ihren Mitschülerinnen, aber auch den Schwestern gegenüber ihr Unwesen trieb.
Eine Erklärung wäre mir, dass sie zuerst mit ihrer Mutter in einem anderen Ort evakuiert war und dort ausgebombt wurden. Vermutlich ist niemand auf ein mögliches Trauma der damals Dreijährigen eingegangen. Und dann kam ich auf die Welt, sah auch noch - wie alle wohl behaupteten - ihrem/unserem Vater so ähnlich, dass sich ihre Eifersucht allein dadurch schon gegen die neue, kleine Schwester richtete.
Allerdings erfuhr ich erst in den letzten Wochen von meiner jüngeren Schwester, dass auch sie von ihr "getriezt" wurde, einmal sogar versuchte die Große, die Kleinste mit einem gehäuft vollen Teelöffel Salz - als Zucker beschrieben - zu vergiften! Da war die Große schon 14, die Kleine 7 Jahre alt.
Unser allein erziehender Vater hatte ganz schön damit zu tun, uns Geschwister "in Schach" zu halten ...
Danke für Deinen Kommentar und die guten Wünsche. Ich denke, ich vertraue erst einmal dem Onkologen, der davon sprach, ich würde zu 80 % wieder gesund. Bleib auch Du gesund (von Corona) wünscht
Uschi
Liebe Uschi,
Krankheiten haben nie und nimmer mit Schuld zu tun. Du bist nicht krank geworden, weil Du Schuld am Tod Deiner Mutter hast. Und es ist auch nicht Deine Schuld, dass Deine Mutter krank geworden ist. Das würde ich Deinen Schwestern mal klipp und klar machen und ihre Vorwürfe ein für allemal aus dem Weg räumen.
Einen lieben Gruß zum Abend von
Jutta
@Juttchen , @HeCaro
Ach wisst Ihr, liebe Jutta, liebe Carola, die Große (und nur die!) kann niemand von etwas überzeugen, nicht mal ihr eigener Ehemann! Und wenn der nicht mehr weiter weiß, bittet er die jüngere Tochter, ihrer Mutter - mal wieder - den Kopf "zurecht zu setzen"!!
Es würde zu nichts führen, zu versuchen, ihr klar zu machen, dass ich weder an der Erkrankung unserer Mutter noch an ihrem Tod irgendeine Schuld trage. Wer sich ein wenig mit der Entstehung einer krebsartig entarteten Zellstruktur auseinandersetzt, weiß, dass solche Zellen mindestens einige Jahre zuvor begonnen haben, sich feindlich für "ihren Körper" zu entwickeln, manchmal über 10 Jahre lang!
Vom Tod unserer Mutter zurückgerechnet wäre das dann wohl 1941 - ein Jahr, nachdem meine ältere Schwester geboren wurde. Und zuvor und danach gab es viele Jahre, die man nicht gerade als "gute Jahre" bezeichnen würde. Und unsere Mutter war starke Raucherin.
So oft meine Schwester mich auch beschuldigte, angriff, ich weiß seit Kindertagen, dass mich an ihrer Erkrankung keine Schuld trifft. Darauf dürfte "die Große" eigentlich selbst gekommen sein - ist sie bis heute nicht! Sie beansprucht als Älteste eine "Führungsrolle", die wir anerkennen sollen - und keiner tut das. Warum auch??
Natürlich bin ich nicht krank geworden, weil ich irgendejne Schuld an irgend etwas hätte. Ich freue mich allerdings einfach, dass ich - bezogen auf den Krebs - einfach über 40 Jahre mehr Lebenszeit ohne die Behandlung eines solchen erleben durfte, als meine Mutter! Dennoch beschleicht mich immer wieder ein ungutes Gefühl, wenn mir all diese Zusammenhänge durch den Kopf gehen. Ist das verwunderlich?
💖liche Dank für Euer Eingehen auf meine "Klage" sagt
Uschi
Liebe Uschi,
ich schließe mich zu 100% der Meinung von Juttchen an.
Dir wünsche ich weiterhin alles, alles Gute und viel Kraft.
Liebe Grüße, Carola