Der Fremde
Diese fiktive Erzählung ist heuer ebenso aktuell wie im vergangenen Jahr an Ostern
Die späte Nacht zum Ostersonntag hat ihren Mantel wie besorgt um ihre Kinder über meine Hütte geworfen, die am Strand der aufgewühlten See steht. Dorthin hatten mich eine innerste Erregtheit und die Furcht vor drohendem Unheil getrieben, beladen mit Papier, einer Schreibmaschine und meinen sonstigen Schreibutensilien.
Weit draußen über dem unsichtbaren Ursprung des geheimnisvollen Meeres brauste der in Zorn geratene Sturm einen Stern an die Brust des Himmels. Ich sah den Jupiter mit seinen zwölf Monden so nahe herangerückt, dass sich deren vier größten Trabanten hinter meinem entblößten Auge verstecken konnten.
Jemand klopft an die Tür. Erst einmal, dann noch einmal, und noch ein drittes Mal...
Eine Atemkehre lang erfasst mich der Hauch einer atmosphärischen Störung.
Was soll das mitten in der Nacht? Vielleicht ist es wieder jener Fremde, der am ver-gangenen Donnerstag in meiner Hütte aufkreuzte und mich bat, schriftliche Auf-zeichnungen über sein bevorstehendes Schicksal anzufertigen, mir aber seinen Namen verschwieg. Was wird er wollen?
Als ich die Tür nach draußen öffne, werde ich getroffen vom tausendfachen Licht unzähliger Sonnenmassen, die einmal ein schwarzes Loch im All bilden werden. Und ich entdecke das Geheimnis der Zweiwertigkeit dieser gewaltigen, phäno-menalen Erscheinung, die keine Zeit kennt und die ihr Ziel erreicht, ehe sie sich auf den Weg gemacht, erfüllt vom Ozean menschlicher Liebe in dem verborgen mir sich das Gesicht jenes namenlosen jungen Mannes öffnet.
Es sind drei Tage her, dass dieser an die Tür meiner Hütte klopfte. Ein charmanter und beeindruckender Mensch von asketischer Gestalt, mit langem, schwarzgewell-tem Haar, einem mächtigen Bart und einer überaus freundlichen Ausstrahlung. Er sagte, er möchte mir von einem Geschehen erzählen, das sich unmittelbar nach seinem Besuch ereignen und eine Geschichte von weltweiter Bedeutung würde. Da ich ein Geschichtenschreiber sei, solle ich aufzeichnen, was er mir nun berichten werde.
Was ich dafür bekäme, fragte ich ihn? Er überhörte die Frage und sagte: „Du brauchst ein starkes Nervenkostüm. Das ist augenblicklich das Wichtigste für dich.“ Dann begann er so zu reden:
„Dies wird täglich geschehen: Ich ziehe mit meinen Freunden über die Erde, die einsam ist und krank. Niemand ist da außer Wind und Regen, erfüllt vom Geruch verbrannter Leiber und dem Haar meines Schattens, von toten Vögeln und dem auf Moosgrund gehegten Hass. Im dumpfen Donner menschlicher Herzen wurzeln die Augen der Meridiane. Die Seelen der Menschen sind voll Nacht und Waffen aus Mehr und verloren gegangener Tage. Es kommt vor, dass ich müde bin, ein Mensch zu sein! Zur Zeit hause ich in den Gängen einer Höhle, die unergründlich sind wie die Akten der Genossen in den Ratsstuben der Städte.
Meine Aussage, „ein von Gott gesandter König“ zu sein, hat den Klerus des Landes sowie das Episkopat gegen mich aufgebracht. Eine geschlossene Welle namhafter Theologen und Gelehrter an den Hochschulen des Landes, deren Münder voll des Wassers eisenharter Begründungen sind, werden die Politiker bitten, die Verkündi-gung meiner Lehre in der Öffentlichkeit zu verbieten. Sie werden behaupten, ich wiegle in aufrührerischen und häretischen Reden das Volk auf, verbreite eine Irrlehre und stehle den Menschen die persönliche Freiheit, wodurch ich sie wie ausgerupfte Lilien zurücklasse.
Die Theologen werden mir vorwerfen, ich führe verwerfliche Reden, denn ich sage: „Liebt jene, dich euch hassen und werdet wie die Kinder. Wenn ihr nicht deren Ge-danken denkt, euch nicht ihrer Bilder bemächtigt und danach handelt, werdet ihr niemals die Glückseligkeit erlangen. Passt euch nicht der Welt an. Sie ist trügerisch, verlogen und heuchlerisch. Wenn ihr dieser mehr gefallen wollt als Gott, verliert ihr euer Leben. Doch die meisten ertragen meine Reden nicht und werden sagen, das verstehe wer will, oder sie stören sich nicht daran.
Bald werden mich die Vollzugsbeamten der Justiz mit Gewalt in das Dunkel der Kanzlei des Haftrichters schleppen und mich aus „Sicherheitsgründen“ inhaftieren. Sie werden mich wie einen verwahrlosten Hund vor den Volksgerichtshof zerren und verhören - wie man aus Hemden und Handtüchern geweinte Tränen ertrotzt. Vier ein halb Stunden werde ich barfüßig auf eisigen Steinplatten ausharren, werde das Feuer ertragen, das meine Fußsohlen verbrennt; sie werden mir die Nägel von den Fingern und Zehen reißen, mit geknoteten Peitschen die Haut von Brust und Rücken schlagen, während mich das anwesende Volk schmähen, mir ins Gesicht spuken und mich verhöhnen wird. Aber ich werde mich nicht beklagen, werde sie nicht wegen ihrer Taten rügen. In meiner Verlassenheit werden die Weite und das Grinsen der Gesichter in die Zeit sprießen wie der Wind durchs Blättermeer blühen-der Bäume ihm Frühling nach Erlösung schreit.
Danach wird eine demokratische Mehrheit meinen Tod beschließen. Den Tod durch Hinrichtung am Kreuz. Eine Hinrichtungsart, die seit zweitausend Jahren nicht mehr angewendet wurde. Mich ängstigt. Der Gerichtspräsident wird den Zeitpunkt festlegen. Zuvor werden mich Justizbeamte und Soldaten, die zu meiner Bewachung abgestellt werden, entkleiden und ein weiteres Mal foltern. Aus dem blutbefleckten Stacheldraht der Umzäunungen von Gefangenen- und Konzentrationslagern werden sie mir eine Königs-Krone flechten und sie mir als Symbol „eines gottgesandten Königs“ aufs Haupt pressen wie die in Jahrhunderten vergessenen Kriege und die Wut fahler Asche aus den Gettos der Vernichtungs-lager. Blut, das aus meinen aufgerissenen Wunden quillt wie das Leben aus entleibten Hingerichteten. Es wird meinen nackten, von Peitschenhieben gepeinigten Leib in ein Geflecht aus den Wurzeln menschlicher Sorgen und Bittge-suche verwandeln. Die Nacktheit wird mich schmerzen, mehr als die mir zugefügten Schläge auf Schädel, Rücken und meine geschundene Glieder.
Tausende und Abertausende Schaulustige aus allen Gegenden des Landes werden anreisen, um dem Spektakel meiner Hinrichtung zuzuschauen. Heftige Tumulte werden die Stadt erschüttern. Das Volk wird sagen, das Urteil sei angemessen, die Behauptung des Verurteilten, „ein von Gott gesandter König“ zu sein, sei eine skandalöse, himmelschreiende Anmaßung. Außerdem habe er unberechtigterweise heftige Kritik geübt an der herrschenden Moral im Lande und die Titel und Klauseln der Verwaltungen verworfen wie gebrauchte Löschblätter. Er habe, was als ungeheuerlich empfunden würde, vielen Priestern und Theologen eklatante Unglaubwürdigkeit ihres Handelns unterstellt und ihnen vorgeworfen, sie pflegten nicht mehr, ihre Hände zu waschen. Somit sei der unbequeme Prediger für den Klerus zu einer schwer einzuschätzenden Gefahr geworden und müsse beseitigt werden.
Die Sonne wird rot wie mein Blut werden, das aus meinen aderlosen Verletzungen quillt. Das feurige Gestirn wird mit großer Machtfülle hinter dem Horizont hervortreten und die Erde in Brand stecken, wenn mir die Menschen unter ekstatischem Geschrei zur Hinrichtungsstätte folgen. Wenn der Wind die Segel aufbläht und den Tag in die Nacht verkehrt, werden das knisternde Feuer in den Herzen der Menschen und die Glocken der Kathedralen in der Finsternis dieses Tages verstummen.
Ich mag soviel Unheil nicht für mich, will nicht länger Ursprung und Grab sein.
Viele, die am Wegrand stehen, werden mich verspotten, mir ins Gesicht und auf mein Glied spucken. Unter der ungeheuren Last der hölzernen Balken werde
ich von den qualvollen Schmerzen geschwächt wie haltloses Lechzen nach Was-ser zusammensinken, und die Peitschen der Soldaten werden mich wieder auf-richten.
Justizbeamte und Soldaten werden mich aufs Kreuz nageln, mir durch Handgelenke und Füße Nägel schlagen. Jeder Schlag wird wie die Detonation einer Granate meinen verwundeten Körper erschüttern, ich werde mich gegen die Schwerkraft aufbäumen und sie überwinden, ehe meine Peiniger das Kreuz auf-richten. Die Schwere meines entblößten und den Blicken der Drum-herum-stehenden preisgegebenen Leibes wird an den Nägeln zerren wie schwankende Karren am Zugzeug geschlagener Pferde. Das sich zu Wasser wandelnde Blut wird in schnellen Rhythmen aus meinen Gliedwunden pulsen, sich in scharfen Spuren über meinen Leib einen Weg zur Erde suchen und in ihr versickern. Um meinen Durst zu löschen, werden sie mir den blutenden Mund mit Essig betupfen und ich werde versuchen, die von der Säure aufgerissenen Lippen zusammenzupressen. Dann werde ich meinen Vater bitten, den Peinigern ihre Taten zu vergeben, ehe ich ihm meinen Geist empfehlen werde. Einer der Soldaten wird mir mit seinem Dolch in die Seite stechen, um sicher zu sein, dass mich der Tod ereilt hat, ehe sie mich vom Kreuz abnehmen und einen Bericht über meinen Hinrichtung anfertigen.
Die Sonne wird sich verfinstern, am Horizont wird ein heller, silbriger Lichtstreifen messerscharf den Tag von der Nacht trennen wie sich das verschmähte Urgrauen über die Augen des kühlenden Sandes legt. Ein Blitz wird für einen Augenblick die Dunkelheit durchdringen und die Kathedrale der Stadt in Brand setzen. Daraufhin werden die Menschen im Lichtschein des Feuers stumm in ihre Häuser und Hotels zurückkehren oder die Stadt verlassen.“
Danach blendet mich erneut dieses geheimnisvolle, die Wirklichkeit überflutende Licht, das in dem verborgen Antlitz des jungen Mannes aufscheint und das keinen Morgen, keinen Abend, weder Tag noch Nacht kennt.
© Horst Ditz
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Ein schönes und erholsames Wochenende wünsche ich dir, liebe Flo – von Horst
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Liebe Osterfeiertage wünscht dir Horst
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Liebe Ostergrüße von Horst
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Deine Geschichte geht tief, erinnert, rüttelt...
Flo
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Du hast einen sehr berührenden Text geschrieben.
Karfreitag ist für mich immer ein Tag der Besinnung und des Gedenkens an die vielen Unbekannten, die ähnlich Jesu ihr Martyrium erleiden mussten.
Senhora
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Jetzt habe ich Deinen Text gelesen und bin wieder mitten drinn.
Danke , ich sage einfach danke.
Emy
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