Mit 14 Jahren kam ich zur Erweiterten Oberschule in ein Internat (zu vergleichen mit den heutigen Gymnasien). Der Internatsleiter, zugleich Musik- und Geschichtslehrer hieß Günter W.. Er war und ist genau 20 Jahre älter als ich. Von Anfang an hatten alle Schüler einen großen Respekt und Achtung vor ihm. Er wirkte auf den ersten Blick etwas streng und angsteinflößend. Aber mit der Zeit merkten wir, daß er eine Seele von Mensch war. Er konnte schrecklich brüllen, aber ich glaube im Inneren lachte er sich eins. Seine Strafen wurden meist nur angekündigt, ich hatte nie gehört, daß er sie ausführte. So hatten wir sehr schnell in ihm einen vertrauensvollen Elternersatz gefunden.
Im Internat herrschte auch ein flottes Freizeitleben. Jeder mußte bei irgendwas mitmachen. Ich machte im Blasorchester mit. Und zwar blies ich auf dem ES-Horn den Nachschlag. Das hieß, nach jedem Paukenschlag mußte ich einen Ton auf dem Ding rauslassen, je nachdem, wie die Melodie gerade war, mal einen hohen oder einen tiefen. Somit war das ein einfacher Job und leicht zu erlernen. Aber Herr W. sagte immer, dass der Nachschlag mit das wichtigste im Orchester war. Darum war ich sehr stolz auf mein Geblase. Das schönste waren unsere Auftritte und Märsche, zu jeder Veranstaltung, vom 1.Mai, bis Nationalfeiertag, jedes Volksfest, in Altenheimen und Kindergärten. Oft gab es auch noch für jeden einen kleines Dankeschön als Taschengeld.


Drei Jahre war Günter W. mein Internatsleiter und Lehrer. Dann wechselte er zu einer anderen Schule. Mit dem Blasorchester in diesem Internat war erstmal Schluß. Ich verlor ihn aus den Augen. Nach Jahrzehnten vor nicht allzu langer Zeit sah ich ihn zufällig in Magdeburg. Ich sprach ihn an und er erkannte mich wieder. Die Freude war groß. Er lebte nun in Magdeburg und nicht mal weit von mir entfernt. Von ihm habe ich auch diese Fotos. Ich besuchte ihn zweimal und wir unterhielten uns stundenlang über alte Zeiten.
Er erzählte mir, dass er auch mal in meinem Heimatdorf für einige Jahre lebte. Es war die Zeit, als ich noch gar nicht geboren war. Da war er zwischen 17 und 19 Jahren. Er spielte sogar Musik auf der Hochzeit meine
s Onkels. Die Musik lag ihm im Blut. Zusammen mit seinem Kindheitsfreund James Last, der eigentlich Hans Last heißt, war er Kadett auf der Heeresmusikschule im Dritten Reich. In der Nachkriegszeit verschlug es ihn nach Brumby in mein Heimatdorf, nahm nach dem Krieg ein Musikstudium auf und wurde Lehrer.
Er heiratete eine Bauerntochter und gelangte somit zu einem gehörigen Besitz von Ackerland. Dieses Land wurde an die Agrargenossenschaft Calbe verpachtet, wodurch er noch einen anständiges Nebenerwerb an Pacht erzielt. Er hatte zum 28.Mai eine Einladung zum jährlichen Hoffest des Betriebes erhalten. Aber da seine Frau krank ist, wollte er alleine nicht hinfahren. Wenn ich aber mitfahren würde, würde er gern fahren. Natürlich würde ich gerne mitfahren, also sagte ich zu.
Nun fuhren wir also hin, er wollte unbedingt selber fahren mit seinem Opel Astra. Nun ja, es war recht abenteuerlich. Immerhin war er 82 Jahre alt. Er fragte oft zwischendurch, ob er gut fährt. Natürlich – sagte ich.
Zwischendurch wurde mir aber heiß und kalt.
Wir kamen glücklich an. Er sagte, wir können gleich ordentlich essen ohne zu bezahlen. Ich habe genügend Wertmarken. Als wir aus dem Auto ausstiegen, fing er verzweifelt an zu suchen. Er fand die Wertmarken nicht. Nun gut, es gibt schlimmeres.
Das Hoffest war groß aufgezogen. Mit Festzelt, Vergnügungen, Verkauf von Speisen, Getränken, Kaffee, Kuchen. Viele Ausstellungen und Informationsschauen. Es war für jeden Geschmack etwas zu finden, für Kinder und Erwachsene.
Für mich war es wichtig, eventuell alte Bekannte zu finden. Denn diese Agrargenossenschaft umfaßte einige Ortschaften, die mit meiner Kindheit und Jungend zusammen hingen. Und ich brauchte nicht lange zu suchen. Auf Schritt und Tritt traf ich Bekannte, ehemalige Klassenkameraden, entfernte Verwandte, Bekannte aus meinem Heimatdorf.
Ähnlich erging es meinem Lehrer. Wir trennten uns, um mit unseren jeweiligen Bekannten zu tratschen. Nachdem ich mich mit einer Erbsensuppe mit Bockwurst gestärkt hatte, traf ich ein älteres Ehepaar aus Brumby, das früher mit meinen Eltern eng befreundet war. Die Freude es Wiedersehens war groß. Wie kommst du denn hierher – fragten sie mich. Ich sagte ich bin mit jemandem aus Magdeburg hergefahren, mit dem älteren Herrn, der da hinten am Tisch sitzt.
Wer ist denn das – fragten sie. Ich sagte: Günter W., der ganz früher mal in Brumby wohnte.
Waaaas? Das ist doch der Baron!!! Beide schauten ihn sich interessiert an: jaa, das ist er, über 60 Jahre älter, aber immer noch erkennbar.
Dann erzählten sie mir von ihm. Er war in jungen Jahren der attraktivste Mann im Dorf und Umgebung. Wegen seiner Erscheinung und seines Auftretens hatte er bald den Spitznamen „Der Baron“ weg. Er und drei weitere junge Leute waren unzertrennlich, sein bester Freund und seine Freundin, sowie seine Freundin Inge G. Dann sagten sie noch, daß Inge G. gerade noch hier am Nebentisch war, aber nun das Fest bereits verlassen hätte. Ich fand das alles so wichtig für meinen Lehrer, daß ich ihn darüber gleich unterrichten mußte. Er war sehr erstaunt, daß noch jemand seinen alten Spitznamen w
ußte, und daß seine Jugendfreundin noch hier war. Er wußte gar nicht, daß sie noch lebte. Dann erzählte er mir, daß Inge G. weit und breit das schönste Mädchen war und jeder sie wollte, aber sie wollte nur ihn. Und er bedauerte es sehr, daß sie schon nicht mehr da war, gerne hätte er sie wiedergesehen.
Wir setzten unsere Tour fort, trafen weitere Bekannte und alte Freunde, schwärmten von alten Zeiten. Plötzlich kam eine ältere Dame auf uns zu und sagte zu meinem Lehrer: Du bist Günter?
Sie hatte also doch noch nicht das Fest verlassen.
Die Freude war riesig groß. Zwei über 80-jährige trafen ihre Jugendliebe wieder. Natürlich mußte ich gleich ein Foto machen.



 


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Kommentare (2)

Manfred36


Eine amüsant erzählte Geschichte. Die Bilder der Erinnerung, die sich an Personen festmachen, bleiben besonders präsent, wenn man einmal in eine geschlossene Gruppe integriert war. Auch ich war einmal in einem sogenannten Pädagogium, einem Internat, das die Lehrerlaufbahn begründete und von jedem Schüler das Spielen mindestens eines Musikinstruments und Orchesterbeteiligung verlangte. Während meiner Zeit wurde daraus ein reguläres Gymnasium gemacht und mein Weg nahm eine andere Richtung. Nach nunmehr 70 Jahren ist mir vieles noch so gegenwärtig wie heute.

B.G. Manfred

pusteblume

Eine schöne Geschichte hast Du uns erzählt!

Ja es gibt Menschen, an die man sich gerne erinnert, die man nie vergisst, weil sie einem für's Leben geprägt haben!

Liebe Grüße

Pusteblume


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