Der alte König in seinem Exil, von Arno Geiger
Ich habe das Buch sozusagen atemlos an einem Abend als eBook gelesen. Da war es hilfreich, dass man die Buchstaben auf dem KINDLE vergrößern kann, wenn Ermüdungserscheinungen eintreten.
Man kann es nicht besser beschreiben und nicht behutsamer und rücksichtsvoller schildern, was eine Familie an Unsicherheiten, Zweifeln, Verzweiflung durchmacht, bevor überhaupt die Demenz- Erkrankung eines Familienangehörigen offiziell festgestellt wird. Die Ärzte scheuen sich, die Diagnose mit dem einfachen Wort "Demenz" zu Papier zu bringen. Jahrelang kann es dauern, bis sich ein Arzt bereit findet, die "kognitiven Störungen", die "altersgemäßen Abbau-Erscheinungen" den Angehörigen gegenüber als Demenz vom Typ Alzheimer zu benennen. Dabei wäre eine frühe Diagnose für den Kranken und die Angehörigen nötig und hilfreich, denn es sind ja noch so viele Dinge zu besprechen und zu erledigen, bevor der Abbau der Hirnleistung Entscheidungen und Handlungen von weitreichender Bedeutung unmöglich macht.
Arno Geiger hat das alles sehr schön und beeindruckend ehrlich beschrieben. Besonders auch, wie verschieden die einzelnen Familienangehörigen mit dieser Diagnose umgehen, jeder nach seiner Art. Viele erwachsene Kinder ziehen sich ganz zurück und fühlen sich der "verkindlichten" Version ihres Vaterbildes nicht gewachsen. Es ist ja schwer, mit anzusehen, wie alles, was ein Mensch im Laufe seines Lebens an Wissen und Erfahrung angehäuft und an Ansehen erworben hat, verloren geht. Wie ein Vorbild an Glanz verliert. Dass es dafür einen Zuwachs an an Güte und Menschlichkeit zu verzeichnen gibt, das wird oft erst spät erkannt. Dazwischen sind viele Stufen, die für Angehörige zur Lernaufgabe werden: Zeiten des emotionalen Rückzugs des Patienten, die Zeiten der heftigen Abwehrreaktionen und Wutausbrüche, die Angst und Unsicherheit, die der Kranke mit Ersatzhandlungen zu vertuschen oder zu überbrücken sucht.
Es ist Arno Geiger gelungen, alle diese Stufen einfühlsam zu beschreiben, jeweils aus der Sicht des kranken Vatern, wie auch aus der Sicht des Sohnes, der immer mehr bereit wird, den Weg des Vaters mitzugehen. Es gibt keine andere Möglichkeit, dem Kranken eine Hilfe zu sein, als diesen Weg. "Nachgetragene Liebe" heißt ein Buchtitel von Peter Härtling; daran erinnert mich das Buch von Arno Geiger. Es ist eine nachgetragene Liebe, die sich gerade noch rechtzeitig Bahn bricht und zu einem neuen, einfachen Verstehen und Annehmen führt. Ein Trost ist, dass es im Laufe der Krankheit auch die Zeit gibt, in der der Angehörige erkennen kann, dass der
Kranke sich innerhalb seiner eingeschränkten Welt glücklich fühlt. Wenn er sein darf, wie er ist, dann kann er sich auch mit eingeschränkten Fähigkeiten zurechtfinden und im Rahmen der neuen Möglichkeiten Glück und Freude fühlen.
Ich wünsche dem Buch, dass es vor allem auch von noch gesunden und jüngeren Menschen gelesen wird. Man kann sich gar nicht früh genug mit dieser Krankheit unserer Zeit befassen. Arno Geiger hat dazu einen großartigen Beitrag geleistet.
Ella
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