Das blaue Puddingschälchen, ein nachempfundenes Kriegserlebnis, Protagonist meine Mutter


Wir schrieben das Jahr 1939, der Alltag lief vorwärts, wir Kinder gingen zur Schule und machten uns noch keine großen Sorgen, um die Dinge, die da folgen sollten. Am ersten September jedoch, veränderte sich alles. Der Zweite Weltkrieg brach aus und es kam das Verbot auf, ausländische Radiosender abzuhören. Wir waren aber noch blauäugig und selbst als am dritten September der erste Fliegeralarm über uns hereinbrach, dachten wir im Traum nicht daran, dass sich davon noch etliche ereignen würden.
In der Zeit zwischen den Alarmen mußten wir und natürlich auch all die anderen Einwohner Luftschutzübungen absolvieren. Ein Teil dieser vorbeugenden Maßnahmen war, dass während der Abendstunden die Fenster in den Häusern verdunkelt wurden, denn wenn alles düster und man gut vorbereitet war, konnte der Feind weniger Angriffsfläche erhalten.
Mein Vater mußte an die Front, Mutter und wir Kinder blieben zurück in unserem Zuhause, in Gelsenkirchen. Die ersten Nöte fingen schleichend an, doch sie steigerten sich nach und nach und so begann eine Zeit der Entbehrungen und des Kummers. Der Mangel an Handelsgütern führte zu Rationierungen und für die Dinge des täglichen Bedarfs erhielten wir alsbald Lebensmittelkarten, sogenannte Reichskarten. Es konnte niemand mehr einkaufen, wie er wollte, wenn seine Zuteilungen aufgebraucht waren, mußte er sehen, wie er sich bis zur nächsten Kartenausgabe versorgte.

Die Zeit verstrich. Am 17. Mai 1940 führte unser Ort eine Volkszählung durch, sie ergab, dass unser schönes Gelsenkirchen noch 317.568 Einwohner zählte, doch das sollte sich bis Ende des Krieges sehr drastisch ändern.
Der erste Bombenangriff, durch die Tommys*, am 20. Mai 1940, betraf die Zeche Graf Bismarck im Ortsteil Erle, danach folgten immer weitere Angriffswellen. Wenn die Tiefflieger kamen, verschwanden wir stets in irgendwelche Keller, eben genau da, wo wir uns gerade aufhielten. Dort kauerten wir, zusammen mit vielen anderen Menschen, bis die Gefahr vorbei war. Kleine Kinder, Frauen und alte Männer, alle stierten mit angstgeweiteten Augen in die Dunkelheit, manche weinten und andere hielten sich, bis das Dröhnen der Motoren und die Detonationen der Bomben endlich aufhörten, die Ohren zu.
Zusätzlich zu den Alarmen und den Bomben suchte uns auch noch, am 14.November 1940, ein schwerer Orkan heim. Nicht genug, dass Bomben unsere Häuser zerstörten, nein, die Naturgewalt verursachte auch noch einen erheblichen Schaden an Wald, Flur und Gebäuden.
Alles jedoch, was uns nicht umbrachte, konnte uns nur stärker machen, denn wir aus dem Kohlenpott waren und sind hart im Nehmen.

Einige Eltern nutzten die Kinderlandverschickung, denn die Angst ums nackte Überleben, wurde immer größer. Die Kinder, die verschickt wurden, fanden bei fremden Menschen, in fernen Städten, wo der Krieg nicht so hautnah zu spüren war, Unterschlupf. Wir blieben und lernten, was es hieß Hunger und Angst zu haben.
~Hunger, wissen Sie, was es bedeutet Hunger zu leiden? Menschen, die es miterlebt haben, die wissen was es heißt, doch diejenigen unter Ihnen, die es nicht am eigenen Leibe erfahren haben, denen werde ich nun ein kleines Beispiel geben:
Wenn Sie vor Schwäche einfach umkippen und sich in einem Straßengraben wiederfinden, dann könnte das eine Folge von tagelangem Nahrungsentzug sein.~
Das heißt nun aber nicht, dass es gar nichts zum Essen gab, es war einfach nur nicht ausreichend. Menschen, ganz besonders Teenager im Wachstum, brauchen nämlich eine ausgewogene, gesunde und reichliche Ernährung. Aber, wo sollten die Frauen und Männer diese Nahrung auftreiben? Lebensmittel waren rationiert, stundenlang mußte man für irgendwelche Esswaren anstehen und wenn man an der Reihe war, dann konnte es sein, dass es einfach nichts mehr gab.

~Versuchen Sie einmal aus einer einzigen Kartoffel eine reichhaltige, sättigende Kartoffelsuppe zu kreieren, dazu bedarf es schon Genialität. Oder was meinen Sie?~

Meine Geschwister zogen manchmal los, um etwas Essbares zu organisieren, mir lag das nicht so, ich schämte mich. Sie ritzten Kartoffelsäcke an, so dass, wenn die Fuhrwerke losfuhren, einzelne Kartoffeln von der Ladefläche fielen, danach brauchten sie diese nur noch aufzusammeln. Das war ab und an ein feines Zubrot für uns, aber alles in allem reichten die wenigen Lebensmittel kaum aus, um unseren Kohldampf zu stillen.
1941 kam auch noch ein sehr strenger Winter über uns, der Schnee lag bis zu siebenundreißig Zentimeter hoch, uns blieb aber auch nichts erspart. In der Hoffnung, dass ein paar Briketts zum Heizen hinunterfielen, jagten wir Kinder den Kohlezügen hinterher, denn jetzt hatten wir nicht nur Schmacht, jetzt froren wir auch noch wie die Schneider.
Ab und zu lachte uns das Glück und wir konnten einige Kohlestücke ergattern. Ja, es gab auch erfreuliche Augenblicke, denn schließlich waren wir noch jung und da sieht man noch nicht alles so furchtbar schwarz.
Erfreulich war zum Beispiel, wenn unsere Mutter etwas Puddingpulver auftrieb. Wenn sie die blauen Schälchen, blaues Glas auf einem durchsichtigen Glasfuß, aus dem Schrank holte, dann wußten wir, es war Pudding-Zeit. Milch war Mangelware, meistens war es Vanillepudding mit Wasser angerührt, aber wenn diese Masse dann in die Schälchen eingefüllt wurde, konnten wir es kaum erwarten, sie uns genüßlich einzuverleiben. Dies war eine kleine Freude zwischendurch, die uns ein wenig von unserer mißlichen Lage ablenken konnte.

Nach cirka 340 Fliegeralarmen, 65 Bombenangriffen und 25001 Bombenabwürfen wurde am 01. September 1942 die „Öffentliche Luftwarnung“, kurz OLW, eingeführt. Durch die dreimalige Wiederholung eines hohen Dauertons, Länge 15 Sekunden, wurde ab dato die Bevölkerung vor den Tieffliegern gewarnt.
Ab 1943 gab es fast täglich Fliegeralarm, die Bomber warfen nun auch Phosphor-Brandbomben. Furchterregende Waffen waren und sind das, denn auch wenn man das entstandene Feuer ablöschte, so entzündete sich der Phosphor, bei Abtrocknung, wieder selbst. Verletzungen, die durch solche Bomben entstanden, waren schwer heilbar und oft starben die Menschen allein schon durch das Einatmen von den giftigen Dämpfen.
Das Jaulen der Sirenen verfolgte uns auf Schritt und Tritt, der Keller wurde unser zweites Zuhause, aber wir hielten es aus. Gelsenkirchen war stark in Mitleidenschaft gezogen, doch standhaft kämpften wir ums Überleben. Es wurde jedoch immer unerträglicher, die täglichen Angriffe, die Angst und keine Aussicht auf ein Ende des Krieges trübten unsere Hoffnungen für die Zukunft. Einige Einwohner mußten ihre zerstörten Wohnungen, ihre Heimat verlassen, aber selbst als die ersten Evakuierungen begannen, harrten wir noch immer aus.

Am Montag den 06. November 1944 holte Mama die blauen Schälchen aus dem Küchenschrank und unsere Augen begannen zu leuchten: „Mmmhh, lecker Pudding.“
~Als wenn es erst gestern gewesen wäre, erinnere ich mich auch heute noch haargenau an diesen Tag.~
Mama wollte uns ein wenig aufheitern. Das Wasser brodelte und sie gab das gelbe Vanillepuddingpulver hinein, ein kurzes Aufkochen und die Masse war fertig. Sie nahm den Topf vom Herd und schüttete den herrlichen Pudding in die bereitgestellten blauen Schälchen. Als wir auf die dampfenden Schalen blickten, lief uns das Wasser im Mund zusammen. Mein Bruder fragte: „Mama, können wir den Pudding jetzt gleich essen?“
„Nein mein Sohn, den gibt es erst nach dem Abendbrot.“
„Ach Mann, wenn sich den bis dahin mal nicht noch „der Tommy“ holt.“
Wie Recht er doch haben sollte, erfuhren wir später, denn genau um 13.55 Uhr begann der Großangriff auf Gelsenkirchen-Schalke, -Bulmke-Hüllen und die Altstadt. Wir rannten in den Keller.
Eine Bombenwelle folgte der nächsten, diese schreckliche Aktivität dauerte achtundvierzig Minuten und das Szenario war kaum zum Aushalten. Die Geräuschkulisse zerrte an unseren Nerven, dieses Dröhnen der Motoren, das Zischen der Bomben und danach die Einschläge, es war grauenhaft. Die schleichenden Minuten kamen uns wie Stunden vor. Da wir total verängstigt waren, nicht wissen wollten, was über uns los war und wir neue feindliche Offensiven vermuteten, blieben wir einfach im Keller hocken. Spät abends erfolgte ein zweiter Fliegerangriff und somit wurde der Keller unser Nachtquartier.
Als wir endlich wieder ans Tageslicht kamen, war unsere Heimatstadt fast dem Erdboden gleichgemacht und unser Haus nur noch ein Trümmerhaufen. Jedoch, inmitten dieser Trümmer, da blitzte mich etwas Blaues an. Ich wußte nicht, was es war, deswegen näherte ich mich ein wenig und dann sah ich es. Unversehrt und aufrecht, das leicht angestaubte gelbe Puddingauge zum Himmel gerichtet, hatte eines von den blauen Schälchen die Bombenangriffe überstanden. „Der Tommy“ hatte sie nicht alle bekommen, eines hatte sich den Attacken standhaft widersetzt.

Da wir nun obdachlos waren, wurden wir mit Sonderzügen der Ausgebombten nach Ostwestfalen evakuiert. Die Besetzung von Gelsenkirchen, zum Kriegsende 1945, bekamen wir nicht mehr hautnah mit, zu den restlichen 160.000 Einwohnern gehörten wir jetzt nicht mehr. 160.000, innerhalb von 5 Jahren war die Einwohnerzahl von 317.568 auf 160.000 geschrumpft.
War und ist das nicht erschreckend?
Dieser unsinnige Krieg kostete so viele Menschenleben und vertrieb unzählige Einwohner aus ihren Häusern und ihrer Heimat.

~Ich frage mich, wozu das gut war? Wissen Sie es? Ich denke, es gibt keine plausible Erklärung für einen Krieg.~

Ab und zu schweifen meine Gedanken zurück, dann sehe ich dieses kleine, blaue Schälchen inmitten dieses Trümmerhaufens, klein und zerbrechlich wirkte es, doch aufrecht, unumstößlich trotzte es den Angriffen von außen.

( Uschi Pohl 30.10.2004 geändert 16.04.2016 )

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Kommentare (4)

uschipohl ja, selbst wenn Hirn vom Himmel regnen würde, bei den Menschen würde sich trotzdem nichts ändern .
Gelsenkirchen ist die Heimatstadt meiner Mutter, sie kam 1944 als Teenager nach Wiedenbrück, meine Heimatstadt ist Wiedenbrück

~
unerklärlich
~

gäbe es vernünftige Erklärungen

für Hass und Kriege

wären diese Dinge begründbar

und das wäre fatal

deswegen

suche ich kein Dafür

und blicke erschüttert

auf das Gewesen

~


hab Dank für deine Gedanken
herzliche Grüße
uschi
omasigi unsere Eltern mussten in Zeit viele Entbehrungen hinnehmen.
Ich wurde im Krieg geboren und kenne solche Geschichten nur von den Erzaehlungen der Eltern und Grosseltern.

Du hast gut ueber die Ereignisse Deiner Heimatstadt recherchiert. Auch meine Heimatstadt Pforzheim wurde noch kurz vor Kriegsende stark bombardiert.

Wie aber Christl schreibt die Menschen lernen aus der Geschichte nichts hinzu.

Lieben Gruss
Sigrid
uschipohl Hallo Christl,

deine Wertschätzung ist mir eine große Ehre, dankeschön.

Meine Eltern waren beide noch Teenager im Krieg und ich habe ihn Gott sei Dank nicht miterleben müssen, aber wenn man sich die Weltgeschehnisse so anguckt, dann kann einem schon mal angst und bange werden.
Meine Eltern haben nie viel vom Krieg erzählt, nur dass sie ordentlich Hunger hatten und eben diese Geschichte mit dem Puddingschälchen.
Das mit dem Schälchen und dem ausgebombt sein, ist eine wahre Begebenheit, das Drumherum habe ich fein säuberlich recherchiert, denn ich wollte so gut wie möglich authentisch sein

herzliche Grüße
uschi
christl1953 Und deine letzte Frage wozu Krieg gut sein soll,beantwortet dir wohl keiner von denen die
Kriege anfangen. Auch wenn Hitler und Co. schon längst nicht mehr existent sind so bekommt man es doch mit der Angst zu tun,wenn man manchem hinterher hört.Die Menschheit scheint niemals zu lernen,dass Hass niemals Gutes bringen kann und auch nicht Neid.Und egal wo ein Krieg stattfindet,er bringt überall Leid Elend und Not für die
Bevölkerung mit sich.Nichts ist so hoffnungslos als der Gedanke dass es immer wieder Kriege gibt.

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