Die Arme verschränkt und selbstbewusst stand sie in ihren traditionellen Kleidern da und schaute mich mit ihren großen braunen Augen an, als wollte sie mich fragen, woher ich komme und was ich hier überhaupt mache.

Es war genau vor 50 Jahren. Sie wartete mit ihrer Mutter an einem öffentlichen Brunnen in Bhaktapur, um Wasser zu holen. Ich kannte ihre Sprache und ihren Namen nicht und konnte deshalb nicht mit ihr sprechen. Ich nenne sie der Einfachheit halber Birsha.

Ich war damals dreiundzwanzig, Birsha schätzungsweise zehn bis zwölfjährig; sie müsste heute also um die 60 Jahre alt sein.

Ich frage mich, wie ihr Leben verlaufen ist, was sie aus ihrem Leben gemacht hat, machen konnte? Ob sie ein Handwerk lernen konnte, eventuell sogar Töpferin wurde?

Oder ob sie in die Golfstaaten ging, um dort als Hausmädchen zu arbeiten und ihrer Familie Geld zu schicken? Ich hätte es ihr von ihrer forschen Art her zugetraut.

Oder dass sie einen Bauern heiratete, mit dem sie Gemüse- und Reisanbau betrieb, der ihnen ein bescheidenes Auskommen und Leben ermöglichte. Ob sie Kinder hatte?

Ob sie vielleicht als Lastenträgerin Güter in entlegene Dörfer trug, die nur zu Fuß erreichbar sind, um so die Feinverteilung von Waren zu sicher zustellen. Und ob sie vom schmalen Lohn leben konnte?

Wohnte sie in einem baufälligen Backsteinhaus oder schaffte sie es, in einem neueren solideren Steinhaus zu leben?

Ich frage mich, ob Birsha bis zu dem Zeitpunkt, als die Erde bebte, lebte? Und wenn ja, ob sie die Katastrophe überlebte?

Wenn ich an dieses Naturereignis denke bedrückt es mich, weil ich machtlos bin und weiß, dass es gar nicht möglich ist, all den verletzten und obdachlosen Menschen, die draußen in Dörfern leben, mit ärztlicher Hilfe, Trinkwasser und Nahrung zu helfen.

Ich schaue mir Birsha’s Foto an und bin traurig.

Ernst

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Kommentare (2)

Ernest dass es so gewesen ist, wie Du und ich annehmen. Ich habe diese kurze fiktive Geschichte geschrieben, weil ich das Land und seine Menschen liebe. Danke für deine Zeilen und einen lieben Gruss. Ernst
finchen wie die Kleine in der traurigen "Landschaft" steht....ich glaube, genauso selbstbewußt ist sie durch ihr Leben gegangen.Bestimmt kein Glück, doch selbstbewußt mit den Gegebenheiten abgefunden.
Denken wir mal, sie hat ihren Weg gemacht........
Lieben Dank für diese traurige Geschichte... auch heute noch "Zeitgeschichte", die ich als erwähnenswert empfinde.
Lieben Gruß
das Moni-Finchen

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