Begegnungen 2. Teil


Begegnungen 2. Teil

Während ich noch überlegte, ertönte unsere Türklingel erneut. Auch in diesem Fall wusste ich, ohne den Türspion zu benutzen, wer vor der Tür stand. Es war das Fräulein Werner. Sie wohnte ebenfalls im Parterre des Hinterhauses, allerdings im anderen Seitenflügel. Ihre jeden Sonntag stattfindenden Besuche bei uns waren denen von Onkel Poldi nicht unähnlich. Zwar rauchte sie nicht, aber aufklären und überzeugen wollte sie uns auch. Man konnte mit Fug und Recht sagen, dass ihre Agitation der von Onkel Poldi um nichts nachstand. Allerdings hatte sie es nicht so mit Marx, Engels, Lenin, Stalin und Ulbricht, sondern eher mit Adam, Eva, Maria und Jesus. Sie versuchte aufopferungsvoll, uns auf den rechten Weg zum wahren Glauben an Gott zu führen. Dass sie sehr fromm war, sah man ihr irgendwie direkt an. Sie war sehr dünn, trug immer dasselbe lange schwarze Kleid und dazu ein eigenartig gebundenes Kopftuch, was sie wie eine Nonne aussehen ließ. Bei ihren Besuchen führte sie stets Blätter ihres frommen Kalenders mit sich, deren Texte sie zu Beginn ihres Besuchs vorlas. Anschließend erläuterte sie uns das Gelesene mit sehr vielen eigenen Worten.
Wenn Fräulein Werner auftauchte, verzog sich Oma regelmäßig mit der Begründung, sie müsse kochen, in die Küche. Meine Mutter und ich hörten eine Weile geduldig zu, wobei es mir zunehmend schwerer fiel, mein Gähnen zu unterdrücken.
Fräulein Werner war gerade bei Abraham und seinen Nachfahren angekommen, da rief die Großmutter endlich aus der Küche, dass sie dringend Hilfe gebrauchen könnte.
Diesen Hilferuf nahmen meine Mutter und ich nicht nur sehr ernst, sondern auch zum Anlass, Fräulein Werner höflich, aber bestimmt aus der Wohnung zu bitten.
Obwohl sich diese Szene jeden Sonntag fast identisch wiederholte, schien das fromme Fräulein nicht zu bemerken, dass es ein Trick war. In ihrer grenzenlosen Güte wünschte sie uns einen gesegneten Tag des Herrn und überreichte uns sogar großzügig noch ein weiteres mitgebrachtes Kalenderblatt zum gefälligen Selbststudium.

Aus dem Buch "Was für ein Milieu!" von Wilfried Hildebrandt.


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