Anisplätzchen
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In ein paar Tagen ist Weihnachten. Jedes Jahr dasselbe, Adventkranz basteln, Kerzen gießen, Geschenke kaufen, Wohnung putzen und natürlich Kekse backen. Ich bin ja schon in Pension, ich bin alt, ich habe Zeit. Die Jungen haben eben zuwenig Zeit, sie hasten von einer Weihnachtsfeier zur anderen, sind ja auch noch völlig im Stress. Sie würden wohl nur dann schnell noch im Supermarkt ein paar – weiß Gott wo und wie - gefertigte Dinger kaufen. Aber wozu hat man halt dann doch die Oma.
Also heute sind halt Anisplätzchen dran, die Lieblingskekse meines Sohnes. Jeden Tag halt a bissal was, viel auf einmal wäre ja auch viel zu anstrengend. Den Teig kann man ja im Mixer rühren, aber dann ist Handarbeit angesagt. Und ich denke mir, heuer kann ich das ja noch, was ist aber dann? Ja ich möchte nicht so alt werden, dass ich keine Kekse mehr selbst machen kann.
Mit einem kleinen Löffel tropfe ich den zähflüssigen Teig auf ein Backblech. Meine Hände zittern etwas, schon wieder ein bisschen mehr als voriges Jahr – ärgerlich. Nur wenn man die Hand ganz ruhig hält werden es schön kreisförmige Dinger. So werden es immer öfters nur einfach Patzen. Aber was soll’s, eine Schönheitskonkurrenz brauchen sie ja nicht gewinnen, sie müssen ja nur schmecken. Und wenn der Sohn dann meint, na da hast dir heuer aber weniger Mühe gegeben, dann muss man ihm ja nicht sagen, dass die Hände immer mehr zittern. Er will es eh nicht wirklich wissen.
Und dann streut man Anis auf den feuchten Teig. So ein paar Krümel, möglichst in die Mitte. Ich habe noch ein Päckchen zu Hause gehabt, Ablaufdatum erst Mitte nächsten Jahres, brauche ich also heuer keines kaufen.
Nächstes Jahr, möchte ich das noch erleben? Wer weiß ob ich dann noch alles selbst machen kann. Nein, ich will eigentlich nicht wirklich ein Pflegefall werden. Da ist es doch besser man geht rechtzeitig.
Ein Backblech ist endlich voll und ich schiebe es in das Rohr. Ich nehme das nächste Blech, der Teig ist ja sehr ausgiebig. Wieder dasselbe. Wie machen es die denn eigentlich immer in den Filmen, wo bekommt man so viele Schlaftabletten her? Oder sollte ich mir eine hohe Brücke suchen, ich wollte schon immer einmal so im freien Fall durch die Luft schweben? Wie hoch muss diese Brücke sein, dass es nicht mehr wehtut, wenn man unten ankommt? Vielleicht sollte man sich auf die Schienen legen, aber was wenn man dann nur zur Seite geschleudert wird? Erschießen? Ich als Pazifistin, ich habe noch nie im Leben eine Waffe in der Hand gehabt, nicht einmal bei einer Schießbude.
Neben der Küche im Wohnzimmer läuft der CD-Player, damit habe ich gerade noch umgehen gelernt. Nana Mouskouri singt Lieder voll Liebe und Gefühl. Die personifizierte Sehnsucht hat sie eine Fernsehmoderatorin einmal genannt, ich weiß nicht mehr ob es die Russwurm oder die Stöckl war, na ist ja auch egal. Wirklich, diese Frau ist ja noch zehn Jahre älter als ich, und sie tritt noch auf der Bühne auf und ist auch noch so attraktiv.
Das zweite Blech ist voll, ich streue wieder Anis drauf, und ab damit ins Rohr. Ist ja noch immer genug Teig da. Jetzt weiß ich es, vielleicht sollte man den Föhn in die Badewanne fallen lassen, aber ob das wirklich hilft. Wie lange würde es dauern, bis mich jemand findet? Tage, Wochen – na jetzt vielleicht etwas weniger. In ein paar Tagen ist ja Weihnachten und da kommt dann doch die Familie. Aber sonst, wem würde ich abgehen, wem würde ich fehlen? Aber das kann mir ja dann eigentlich wirklich egal sein. Schön wär’s ja einfach einschlafen, wie hat man früher immer gesagt „Altersschwäche“, aber dafür ist es ja vielleicht doch noch etwas zu früh.
Das nächste Blech ins Rohr, die fertigen Kekse in eine Schüssel zum Auskühlen. Dann kommen sie in eine der unzähligen Dosen, die das ganze Jahr über im Kellerabteil auf ihren nächsten Auftritt warten. Aber ich will ja dann nicht mehr mitmachen, dann müssen sie sich halt einen anderen Platz suchen.
Jetzt reicht der restliche Teig gerade noch für ein halbes Blech. Akribisch, wie ich alles im Leben immer eingeteilt hatte, verstreute ich den restlichen Anis auf diese paar Teigpatzen und dann ab damit ins Rohr.
Als dann alles ausgekühlt war und ich begann die restlichen Teigzutaten wieder an ihren gewohnten Platz zu stellen, da fand ich ein Päckchen mit Anis – Ablaufdatum erst im übernächsten Jahr. Schrecklich wie vergesslich man schon wird, das hatte ich doch letztens gekauft, ohne daran zu denken, dass ich ja noch eines vom Vorjahr hatte. Was sollte ich jetzt damit tun?
Ach was, ich gebe es einfach zu den lang haltbaren Backzutaten. Sicher ist sicher.
Wer weiß, vielleicht brauche ich es doch noch nächsten Advent?
©sarah66
Liebe @sarah66,
gefreut habe ich mich, als ich die Überschrift Deines Blogs gelesen habe. Habe ich doch eine ganz besonders wertvolle Erinnerung an die Anisplätzchen. Meine Oma hat sie bis an ihr Lebensende mit 88 Jahren in jeder Weihnachtszeit für uns von Hand gerührt und gebacken. Ich weiß noch gut, wie wichtig es immer war, dass sie "Füßchen" hatten und nicht zu sehr auf dem Blech verliefen. Den Anis streute sie übrigens direkt auf das Blech, bevor sie den Teig darauf verteilte. Uns Kinder war es immer gleichgültig, wie sie aussahen, sie schmeckten immer köstlich. Von meiner anderen Oma kamen leckere Elisenlebkuchen mit vielen bunten kleinen Zuckerperlen darauf.
Gestern habe ich meiner 95-jährigen Mutter beim Plätzchenbacken geholfen. Sie klagte ähnlich wie Du darüber, dass das Backen immer schwieriger würde und dass sie im kommenden Jahr nicht mehr backen wolle. Ich weiß aber sicher, dass sie auch in der nächsten Adventszeit wieder mit meiner Hilfe ihre Lieblingsbrötchen für ihre inzwischen selbst altgewordenen Kinder backen wird.
Ernst wurde ich dann, als ich Deine Gedanken las, die Dich beim Backen überfallen haben.
Ja, manchmal mag es helfen, über "Auswege" nachzudenken. Damit hast Du mitten in die schönen nostalgischen Erinnerungen ein Tabu-Thema platziert, das aus der duftenden Weihnachts-Plätzchen-Seligkeit in den grauen Alltag führt.
Eigentlich müssen wir Alten uns doch gar nicht mehr so viele Gedanken über unser Ende machen. Es kommt nämlich von ganz allein, auch ohne unser Zutun. Und der Gedanke, dass wir alle viel länger tot sein werden als wir gelebt haben, lässt uns unser bisschen Leben umso höher schätzen.
Gut, dass Du noch Aniskörner für Weihnachten 22 hast.
Margit