AJA

Aja die Schwester meines Großvaters, die nach dem Tod der Großmutter zu  einer der zentralsten Figuren in unserer Familie wurde, war fromm, etwas schlicht im Gemüt, aber herzensgut und durch tragische Kriegsumstände allein geblieben. Sie war stets bereit überall einzuspringen, wenn Not an Mann war. Wir sechs Stadtkinder erlebten mit ihr, ihrer Fürsorge und Großzügigkeit bei Opa die  glücklichsten Ferienwochen unserer Kindheit.

Es begann am Bahnhof, des kleinen Taunusdorfes, wenn Aja der Großvater und ein riesiger Leiterwagen, wie ihn früher die Bauern zum Transport der Ernte nutzten,  auf die Enkelkinder wartete. Das Kribbeln im Bauch stellte sich ein, wenn der Zug einfuhr. Ich fürchtete mich vor der überschwänglichen  Begrüßung, denn Aja stürzte sich auf uns und presste jeden an ihren dicken Busen. Doch sie roch verführerisch nach Milch und frisch gebackenem Kuchen, was uns trotz der verhassten Begrüßungszeremonie in  erwartungsfrohe  Stimmung versetzte. Jubelnd ging es  in wilder Fahrt  gezogen zum Haus der Großeltern.
   
Aja konnte nichts aus der Ruhe bringen, Die große Kinderschar von Vettern und Kusinen , die im Sommer das Haus und die Gärten meines Großvaters bevölkerten, wurde auch in der kargen Zeit nach dem Krieg immer satt, denn Aja war eine begnadete Köchin, die aus ein paar Reiskörnern die  herrlichsten Mahlzeiten zaubern konnte. Auch wenn, an manchen Tagen die gefürchtete Kanne Wasser die Suppe verlängern musste, bewältigte sie alles mit großer Gelassenheit und Gottvertrauen. Unvergessen der riesige Brotlaib, den sie an ihren ausladenden dicken Busen drückte und Scheiben mit einem beängstigend großen, sehr scharfen Messer abschnitt. Noch immer erfüllen mich Erinnerungen  an die süßlich säuerlichen Düfte von Quetsche Latwerge mit kleinen lustvollen Schauern. Die Brote, die sich von der Last nach unten bogen, schmeckten herrlich. Mein kleiner Bruder hat es einmal geschafft 12 von diesen Broten mit bösen nächtlichen Folgen zu vertilgen. Hergestellt wurde diese Köstlichkeit in der Waschküche. In einen  holzbeheizten Kupferkessel landeten Unmengen der entkernten Pflaumen, die ohne Zucker und Wasser 12 Stunden köchelnd , mit langen Holzlöffeln zu einer dickflüssigen Masse gerührt und dann in große Tongefäße für den Winter abgefüllt wurden. Alle Bemühungen später Quetsche Latwerge nach alten Rezepten herzustellen,  gelangen mir nie! 

Wenn die Ferien so lagen, dass wir die Kirschenernte erleben konnten, es gab 7 große uralte Kirschbäume an denen Leitern aufgestellt waren, wurde die Kinderschar für die Ernte eingespannt. In guten Jahren hingen die Bäume voll mit dicken dunkelroten Herzkirschen. Meine Brüder verschwanden tagelang in den hohen Wipfeln der Bäume, wo die reifsten Früchte hingen. Es gab zwischen Opa und uns einen Deal. Von 10 gefüllten Körben durften wir einen behalten und an der Straße an die Fabrikarbeiter verkaufen. Für uns ein großer Spaß und wir fühlten uns wichtig und erwachsen. Opa sorgte für einen richtigen Verkaufsladen mit Kasse, Wechselgeld, Waage und jede Menge Tüten,  die wir am Vorabend aus Zeitungspapier und Mehlkleister zusammengeklebt hatten. Die alte Waage verfügte über 2 Messingschalen und Gewichte von
10 g bis 5 Kilo. Wir Kleinen mussten die Kasse mit dem Wechselgeld bewachen, wurden aber von den Größeren streng beäugt. Hin und wieder gab es Im Eifer des Gefechts Streit wer wiegen durfte. Wir Mädchen ließen uns nichts gefallen und setzen uns trotz energischer Proteste bei den Buben durch. Sie erklärten uns: Mädchen können nicht wiegen. Sie sind zu blöd!  An solchen Tagen hatte ich die erste Rechenlektion mit vielleicht 6 Jahren. Das Kilo kostete 50 Pfennig und wir mussten rechnen , wenn jemand mehr oder weniger wollte. Den Erlös teilten wir unter uns auf, setzten ihn aber sofort in Süßigkeiten um.

Erinnerungen aus Kindertagen Santos


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Kommentare (2)

Rosi65


Das ist eine wunderschöne Kindheitserinnerung, liebe Santos.
Allein diese herrliche Kirschenernte und deren selbstständiger Verkauf, auch das Auswiegen der Früchte muss euch Kindern viel freudige Aufregung und Spaß bereitet haben.
Ist denn eines der Kinder später vielleicht mal Kaufmann/Kauffrau geworden?😉

Herzliche Grüße
    Rosi65

santos

@Rosi65

Vielen Dank liebe Rosi,

Ja, Aja war eine besondere Person. Vollkommen unprätentiös und bescheiden für sich selbst. Ich kann mir nicht denken, dass sie je ein Buch außer der Bibel gelesen hat, aber sie konnte wunderbare Geschichten erzählen und für uns Kinder war es herrlich, dass jemand immer Zeit für uns hatte. Das galt auch für Opa. Er hatte oft grandiose Ideen ohne, dass wir es bemerkten wichtige Lebenserfahrungen zu vermitteln.  

Bei den Berufen meiner Geschwister findet man keine Kaufleute. Es gibt Juristen, Architekten,  Designer, Pädagogen und einen Flugzeugmechaniker.

Noch eine schöne Restwoche Santos   


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