Abschied
Abschied
Noch pocht das Rattern des abfahrenden Zuges im Rhythmus eines Herzschlages.
Ankommende betreten zaghaft den Bahnsteig und lauschen mit angespannten Gesichtern den blechernen Ansagen des Lautsprechers.
Hella stand inmitten des Menschenstromes und lauschte dem fernen Zug, der ihren Vertrauten endgültig mitnahm.
Da - ein Laut ging durch die Bahnhofshalle, allmählich wurde er bewusst. Einige schauten nach oben, doch unter dem großen Glasdach war nichts zu sehen. Der Laut wurde Melodie, die Töne verbanden sich zu Schleifen, an- und abschwellend, klagend. An diesem Ort, der nur Ankommen und Weggehen kennt, erklingt die sanfte Melodie des Abschieds.
Eine Nachtigall hat sich ins Eisengestänge unterm Glasdach verirrt und nimmt alles Leid in sich auf und singt vom großen Abschied, der uns alle einst finden wird. Und sie singt die ganze Nacht, und sie tröstet und schmerzt und verzeiht.
Am kühlen Morgen liegt ein totes Federbüschel auf den Schienen.
Ingeborg
Herbst 1999
Kommentare (14)
Eben, liebe Andrea, es kommen ja immer wieder auch welche an.
Hans Carossa schreibt in seinem schönen Gedicht "Der alte Brunnen" am Schluss
Viel Wanderer gehn fern im Sternenschimmer
und mancher noch ist auf dem Weg zu Dir.
Auch dieses Gedicht war mir mal ein großer Trost.
Wir stellen fest: Abschiede sind niemals schwarz-weiss. Es scheint nur so im Augenblick des Erlebens.
Hab Dank für Deine Erinnerungen, sie sind doch immer besonders wertvoll.
Der sensible Willy ist eigentlich sehr schön auf die Nachtigall eingegangen, ich glaube, er hat am ehesten verstanden, was ich sagen wollte.
Einen lieben Abendgruss zu Dir
Ingeborg
Das georgische Volkslied Suliko, soll das Lieblingslied von Väterchen Stalin gewesen sein. Die deutsche Fassung habe ich für das Portal Vimeo hochgeladen.
Du kannst ja mal hineinhören- vielleicht gefällt es dir.
Jetzt bin ich ganz gerührt, lieber Willy,
dass Du Dir die Mühe gemacht hast.
Sehr georgisch!- ich mags!
Wir sollten auch die Tragik lieben lernen,
das nimmt ihr die Schwere.
Das ist nur meine Ansicht.
lieben Dank und Gruss
Ingeborg
Liebe Ingeborg,
mir kommt bei DeineDeiner Erzählung das Wort "Abschied ist ein bisschen wie sterben" in den Sinn. Schade, dass die Geschichte so traurig endet, es gibt doch auch Freude auf Bahnhöfen.
Liebe Grüße Carola
Ich freue mich, Dich zu lesen, liebe Ingeborg,
die Geschichte endet zwar traurig für die Nachtigall,
doch der Bahnhof wird schon viel mehr an Traurigkeit, aber auch an Freude gesehen haben.
Die Frage, was am Ende bleibt.... bleibt unbeantwortet.
Gruß Luzie
Liebe Luzie,
"was am Ende bleibt..."
Ja, es kommen ja immer wieder welche an. Und was
daraus wird, muss man halt abwarten.
Grüssle zu Dir
Ingeborg
Nachtigall- da denkt man an Gesang in den Rosenbüschen oder an die Nachtigall im georgischen Volkslied "Suliko" ...
Hier eine ganz andere Verbindung, da geht die Romantik unter im Geflecht der Technik einer neuen (unromantischen) Welt …
LG
Willy
Ich seh gerade einen hüschen Schreibfehler von mir:
"Was wissen sie von unserem Schmerz, unserer Freude?"
Dieser Fehler ist schon ein Grinsen wert, passt aber
genau zu mir.
Gute Nacht allerseits!
lächelnd
Ingeborg
Das georgische Volkslied kenne ich leider nicht, lieber Willy.
Da muss ich mal auf die Suche gehen.
Kennst Du von Theodor Storm:
Das macht, es hat die Nachtigall
die ganze Nacht gesungen;
da sind von ihrem süßen Schall
da sind von Hall und Widerhall
die Rosen aufgesprungen.
Was wissen wir schon von dem Gesang der Vögel?
Was wissen sie von unserem Scherz, unserer Freude?
Das wollte ich - nach einem besonderen Erlebnis - sanft und doch unmissverständlich andeuten.
Dein lieber Besuch und Deine Zeilen haben mich sehr erfreut.
Grüssle zu Dir
Ingeborg
Diese Geschichte liebe Ingeborg geht nahe. Ja, Bahnhöfe sind ein Ort des Abschieds, manchmal für immer, manchmal gibt es auch eine Wiederkehr. Aber, man weiß es manchmal nicht, dass es ein Abschied für immer ist. Es ist ein wenig kitschig, aber Roger Whittacker sang einmal ein Lied mit dem Titel "Abschied ist ein scharfes Schwert, das oft so tief ins Herz dir fährt". Ich mag Abschiede nicht. Danke für diese zu Herzen gehende Geschichte.
Herzlichen Gruß
Brigitte
Liebe Brigitte,
es gibt ja auch "Ankommende", und es gibt auch gesunde Abschiede!
Lieben Gruss zu Dir
und ein herzliches DANKESCHÖN!
Inbeborg
Liebe Ingeborg,
Deine Worte stimmen mich ein wenig traurig, zumal die Nachtigall das Lied des Abschieds singt, der für sie endgültig ist.
Bitte erlaube mir, an dieser Stelle eine Passage aus meinem Buch zu zitieren:
"Am Bahnhof herrschte Hochbetrieb. Wir standen beieinander, ein wenig hilflos, und sprachen kein Wort.
Mit ohrenbetäubendem Lärm zischte der Zug heran. Noch eine Umarmung, ein letzter Kuss, einsteigen. Ein Pfiff, und durch das Fenster reichten wir uns ein letztes Mal die Hand.
Plötzlich war da wieder dieser krampfende Abschiedsschmerz aus Kindertagen. Und während ich noch da stand und winkte, war der Zug hinter einem Schleier von Tränen verschwunden."
Doch zum Glück gab ein neues Ankommen....
Ich danke Dir, dass Du in mir diese Erinnerung geweckt hast.
Andrea