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THEMA: Internat? Für und Wider. Wie seht Ihr das?
9 Antwort(en).
navallo
begann die Diskussion am 25.06.05 (19:28) :
Als ich neulich im Freundeskreis äußerte, ich sei Internatsschüler gewesen, erntete ich Mitleid. Eine Gesprächspartnerin (Pädagogin) meinte sogar, ihre Eltern haben ihr mit Internat gedroht, wenn sie sich widerborstig zeigte. Für mich war die Internatszeit eine Lebensschule, die ich nicht missen möchte.
Dabei ist das Internatsleben 1951 nicht mit dem von heute zu vergleichen. Als Aufenthalts- und Arbeitsraum für 20 Schüler diente ein etwa 30 m² großes Zimmer, in dem jeder über einen halben Spind und ein 75 cm breites Schreibpult mit Stuhl verfügte. Unterricht fand in einem Klassenzimmer statt, welches außer in Musik, Zeichnen, Physik und Chemie nicht gewechselt wurde. Erst in der Abiturklasse verfügten wir über einen gemeinsamen Schlafraum (Doppelstockbetten), vorher schliefen wir in größeren Sälen unter dem Dach, der größte – das sogenannte „Massengrab“ - hatte 60 Betten. Der Tagesablauf war streng geregelt (Klingel): vormittags Schule, nachmittags 2 Stunden Freizeit bis 16 Uhr (Einkäufe auf Lebensmittelmarken, Fußballspielen, Volleyball), von 16 – 20 Uhr Arbeitsstunde (unterbrochen von einer Stunde gemeinsamen Abendessens), in der ausschließlich erlaubt war, sich mit schulischen Dingen zu beschäftigen. Von 20 – 21 Uhr „Stille Beschäftigung“, während der man Socken stopfte, vielleicht auch Schach oder leise (!) Skat spielte, oder ein Buch las. Ausnahmen von Tagesprogramm gab es z. B. für Musiküben (mehrere Musikzimmer mit Flügeln, 2 Orgeln ...) oder Sporttraining, außerdem am Mittwoch ein freier Nachmittag und an einem Abend in der Woche ein gemeinsamer Kinotag. Nachtruhe von 22 – 6 Uhr.
Es gab eine Internatsleiterin und einen „Hauslehrer“, die beide in der Internatsschule wohnten und jederzeit ansprechbar waren. Organisation und Kontrollen erfolgten über eine Schülermitverwaltung. Aufgabenbereiche wie Essen, Schlafen, Arbeiten, Körperhygiene waren gewählten „Präfekten“ unterstellt, die ihrerseits Aufgaben (z. B. Zimmerreinigung) an „Wochner“ nach Plan delegierten.
Ich glaube kaum, daß heutige Kids sich damit abfinden könnten. Auch wir haben gestöhnt und versucht auszubüxen. Letzteres war mit kollektiven Erlebnissen verbunden, an die wir uns schmunzelnd erinnern. Z. B. trafen wir uns, nachdem wir durch ein Kellerfenster ausgestiegen waren, nach 22 Uhr mit der aktuellen Herzensdame oder in einer Kneipe wieder - ängstlich bedacht, daß kein Pauker auftauchen möge. In der Arbeitsstunde arbeiteten wir an Spickverfahren, die sich ein einzelner in derartiger Vielfalt nie ausdenken kann. Nach solcher intensiven Beschäftigung mit der Materie brauchten wir Spickzettel eigentlich nicht mehr.
Da es in den Arbeitsstunden kaum alternative Ablenkungsmöglichkeiten gab, ungeliebte Fächer auch nicht abwählbar waren, hätten wir wohl einen PISA-Test ganz gut bestanden. Wir haben gelernt zu lernen. Wer etwas nicht verstanden hatte, bekam unmittelbare Hilfe von Mitschülern. Das Wegsein von Mutters Schürzenzipfel führte zu früher Selbständigkeit, die sich schon im Studium auszahlte. Wer es an Hilfsbereitschaft oder Pflichtübernahme fehlen ließ, riskierte Mobbing – auch wenn es das Wort damals noch nicht bei uns gab. Selten wechselten solche Schüler die Schule, meist lernten sie, auch andere Bedürfnisse als die eigenen zu respektieren.
Angesichts drohender Überlänge breche ich hier erst mal ab.
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Lissi
antwortete am 25.06.05 (21:06):
Unsere jüngeren Töchter sind in einer Ganztagsschule aufgewachse, mit Interessegruppen und Arbeitsgruppen nachmittags,und wir können uns nur lobend über dieses Möglichkeit äußern. Angeschlossen daran war ein Internat,das unsere Mädeln nicht besuchten,doch mehrere Freunde von ihnen,und man merkte,wie sie zu selbständigen jungen Menschen heranwuchsen,sowie geprägt von einem echten Füreinander und Miteinander. Eltern machten abwechselnd "Nachtschicht",auch Freunde durften mal gastweise dort übernachten. Sicherlich wäre der Aufbau einer Ganztagsschule mit Internat innerhalb staatlicher Einrichtungen nicht möglich,mit den üblichen bürokratischen Auflagen als Bremsklötze zu kreativer Förderung. Die Internatkinder (3-5 Tage) hatten hauptsächlich Mütter in den Pflegeberufen. An vielen unserer Elternabende,stellte sich heraus,wie zufriedenstellend für Eltern und Kinder so eine Möglichkeit ist,und keiner hat darunter gelitten,wo es so ablief,dass zwischen Eltern u.Kinder ein guter innerlicher Kontakt war. In Ausnahmefällen wurden Kinder (unbewußt) ins Internat gebracht zwecks Erleichterung,da hat es dann nicht so gut geklappt.Kinder kränkelten,oder Mütter waren eher unkonzentriert bei der Arbeit. Man merkte schnell,wenn an der Entscheidung -ab ins Internat- etwas faul war. Von der Ganztagsschule her mit unseren Kindern haben wir immer wieder gemerkt,Kinder sind gerne unter sich,auch am gemeinsamen Mittagstisch,auch in den IG,s und AG,s am Nachmittag. Sie pflegten Zusammenhalt,trösteten sich gegenseitig,und gestanden Flausen,die sie z.b.der Mama nicht sooo gerne preisgaben,bzw.später irgendwann mal. Beim Abholen von der Schule wurde man gefragt. und wie war es bei dir heute Mama an der Arbeit? Das Miteinander und Füreinander können Kinder sehr gut von sich aus herausarbeiten,wwenn sie die gute Gelegenheit dazu bekommen.
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utelo
antwortete am 25.06.05 (23:10):
Während meiner Schulzeit hatte ich einige Freundinnen, die im Internat waren. Es gab unterschiedliche Beurteilungen der einzelnen. Die ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern hatten, Wochenende nach Hause durften und vorher gefragt wurden, ob sie sich einen Internataufenthalt vorstellen könnten, waren recht zufrieden. Die anderen wurden zwangsweise hingeschickt, nach vielen Drohungen, kein bisschen Liebe usw. Diese Mädels fühlten sich abgeschoben, nicht geliebt, überflüssig. Da kann ein Internat noch so gut und menschlich sein, es kam nichts an -verständlicher Weise. Ich denke schon, dass der Aufenthalt in einem Internat für einige Zeit nützlich und gut ist.
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wanda
antwortete am 26.06.05 (07:25):
selbst war ich für zwei Jahre im Flüchtlingsheim - einem Hotel in Interlaken - ich möchte diese Zeit nicht missen. Natürlich war das kein Internat, aber wir waren auch von der Mutter getrennt und hatten 4-Bett-Zimmer. Das heißt, man lernte sich anpassen, manchmal auch fügen, sich konzentrieren - also z.B. Schularbeiten zu machen, während andere sich unterhielten oder Karten spielten. Diese "gemeinsame Erziehung" unter erschwerten Bedingungen hat mir geholfen im ganzen Leben und besonders dann, wenn es schwierig wurde.
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carla
antwortete am 26.06.05 (12:13):
Die wichtigste Frage beim Thema "Internat" ist für mich die Frage an den Schüler, ob er denn im Prinzip in ein solches gehen möchte. "Zwangseinweisungen" sind wohl in den meisten Fällen kontraproduktiv und demotivierend. Ausserdem sollte die Schülerin die Möglichkeit haben, das Internat mit auszusuchen, falls es eine AUswahl gibt. Wir haben uns einstens aus gegebenem Anlaß auf Wunsch des Sohnes das Internat Salem angesehen. Ergebnis: nach einigen Gesprächen mit Schülern in Salem beschloss der Sohnemann, doch lieber mit den Unannehmlichkeiten und den Lehrern an seiner Schule fertig zu werden als in dieser elitären und durchaus von Geld bestimmten Umgebung zu bleiben. Dazu haben ihm übrigens alle Gesprächspartner dort geraten. Sie waren in Salem, weil sie nicht bei den Eltern sein konnten; warum auch immer. Oder weil sie eine Tradition fortführen mussten, die ihnen wenigstens zum damaligen Zeitpunkt nicht einsichtig war.
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Felix
antwortete am 27.06.05 (18:06):
Ich war von 16 bis 20 in einem Internat im Kanton Graubünden. Für mich waren diese 4 Jahre weg von den Eltern eine Schlüsselepisode für meine Entwicklung. Natürlich gab es auch negative Seiten. Vorallem die bigotte Hausordnung, der Kirchenzwang und die heuchlerische Frömmigkeit, die jeden Umgang mit dem andern Geschlecht untersagte, reizte mich zum Revoluzzen. Natürlich hatte ich gerade in dieser Umgebung auch meine ersten homo- und heteroerotischen Erlebnisse. Ich möchte aber diese wichtige Lebensphase nicht missen. Ich kann heute noch nächtelang über eine Menge von Ersterfahrungen berichten.
Hier nur einige Stichworte: gewagte Kletterpartien an Felswänden und in Abgrundhöhlen, Hochgebirgstouren mit Neuschneeabfahrten, Räusche mit Alkohol und andern Drogen, Blutsfreundschaften, musikalische Hochgefühle im Chor und im Orchester, Mutproben aller Art: über Brückengeländer schreiten, Tiefsprünge in Kiesgruben, mit dem Velo durch Eisenbahntunnels fahren, Liebesspiel auf dem Dachfirst des Schulhauses, Raketen bauen, Sprengstoffexperimente, Fahrt im Speiseaufzug oder Materialbahnen etc.
Nebenbei besuchte ich auch die Schule und absolvierte das Lehrerseminar mit der besten Examensnote als Abschluss. Ich hatte nach dem Schlendrian im städtischen Gymnasium den berühmten "Knopf" aufgetan. Ich lernte leicht und mit Freude. Plötzlich packte mich auch der Forschertrieb. Ich machte bedeutend mehr als das Verlangte. Mein Herbarium war keine Pflichtübung mehr. Um gewisse Pflanzenfamilien zu komplettieren reiste ich in den Ferien an Orte, wo gewisse Arten endemisch vorkommen! In der Mathematik begann ich Theorien zu wälzen, die auch meinem Math-Lehrer zu weit gingen. Vom Physiklehrer hatte ich einen Schlüssel anvertraut bekommen, weil ich in der Freizeit gewisse Experimente durchführen wollte. Ich verschlang die zeitgenössische Literatur und vertiefte mich in philosophische Werke. Für ein selbstgewähltes Vortragsthema über Parapsychologie und Okkultismus durchstöberte ich die Uni-Bibliotheken der Schweiz, nahm Kontakt mit Prof. Hans Bender in Freiburg auf, reiste zu Spukhäusern etc.
Als ich dann wieder bei meinen Eltern wohnte, war ich kein Sohn mehr ... sondern ein Miterwachsener, der selber zu entscheiden gelernt hatte.
Aber verallgemeinern lassen sich meine Erfahrungen natürlich nicht!
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Marina
antwortete am 27.06.05 (22:21):
Felix das Genie, der große Überflieger. Booaah! Ich versinke in Ehrfurcht.
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Felix
antwortete am 28.06.05 (18:11):
@ Hallo Marina
... nun übertreib mal nicht ... vielleicht hatte ich nur eine gute Portion Glück ... und einen tüchtigen Schutzengel!
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Marina
antwortete am 28.06.05 (19:38):
Ich dachte, d u hättest übertrieben. ;-)
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Justitia
antwortete am 30.06.05 (21:34):
Ich war auch in einem Internat, ist gar nicht mal so lange her... ab 22 Uhr war auch Nachtruhe... Ich finde es eine gute Erfahrung. Das Internat ist einfach stigmatisiert als eine Drohung der Eltern. Auch ich wurde oft gefragt: Probleme mit Eltern oder warum haben sie dich dort hineingesteckt?!? Ich wollte es so und ich werde diese Zeit auf keinen Fall vermissen. Für labile Menschen ist's auf jeden Fall heute nichts gutes... das fängt beim Kiffen etc. an... sehr beliebt und man wird halt immer wieder gefragt... auch die Regeln klingen härter, als sie sind... sie werden ja sowieso oft nicht durchgezogen... Bei uns war es z.B. so, dass Jugendliche, die man beim kiffen erwischte oder die unter 16 waren und geraucht haben, wurden die Eltern verständigt und beim kiffen wurde ein Urintest gemacht... das ich nicht lache... wenn die das bei allen gemacht hätten... die wissen ja nicht einmal, wie das Gras riecht... Dann wären fast keine Schüler und Schülerinnen mehr im Internat... item, egal. Ich war keine von denen... Aber es ist schon erschreckend... und trotzdem... Ich würde meine Kinder lieber aufs Internat als auf eine öffentliche Schule schicken... Wenn mein Kind dies auch so haben wollte... Engelberg ist happig... bei uns war ein gemschtes Internat... auch die Etagen waren gemischt... dort herrschen andere Regeln... Und die können nicht jedes Wochenende nach Hause gehen... ich konnte das... Und für mich war dies eine sehr lehrreiche Zeit.
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