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THEMA:   Erschrecken über sich selbst

 10 Antwort(en).

wanda begann die Diskussion am 27.09.04 (22:13) :

Heute morgen besuchte ich meinen Sohn, wollte mich sozusagen vom Urlaub zurückmelden. Er frug mich nach den Wanderungen, dem Wetter, dem Hotel usw. und dann sagte er zum Schluss "und wie hast du die Abende verbracht". Oh, sagte ich, wir haben immer Rummicub gespielt bis zur Vergasung" ja, sagte mein Sohn, das kenne ich, das kann zur Sucht werden.

Auf dem Heimweg dachte ich darüber nach und erschrak, sollte diese Floskel etwa ein Überbleibsel aus dem dritten Reich sein, warum hatte ich nicht gesagt, bis zum umfallen, oder bis in die Puppen.
War man wirklich so verroht, dass man so etwas in den Sprachgebrauch mit aufnahm, oder hat das "bis zur Vergasung" ganz andere Ursachen?


carla antwortete am 27.09.04 (22:37):

Dieses Erschrecken kenne ich auch: Ich hatte schon als Kind (geb. 1944) diese Redewendung benutzt, mir aber nie Gedanken darüber gemacht. ERst als ich dann mehr über das Dritte Reich und die Judenvernichtung hörte, wurde mir klar, wie schrecklich diese Redewendung war. Also habe ich sie mir ziemlich abgewöhnt, aber sie gehört trotzdem immer noch in meinen Sprach"schatz", und ich merke, daß sie mir manchmal als erstes in den Kopf kommt, wenn dann auch nicht mehr aus dem Mund :-).
Mit dem Text unten bin ich nicht ganz einverstanden. Meiner Ansicht beweist die Redewendung nicht, daß alle über die Vernichtung und das Wie der Juden Bescheid wußten.

"Vergasung": chemischer Prozeß im Auto, auch geläufig als klassische deutsche Redewendung "bis zur Vergasung", meint: bis ganz zum Ende (selbstverständlich einem guten Ende.) - Diese bis heute verwendete Metapher, die offensichtlich zum festen Bestandteil der deutschen Sprache geworden ist und sich wahrscheinlich auch nicht wieder aus ihr entfernen läßt, stammt nicht aus der Nachkriegszeit, wo man demütig in Sack und Asche ging und mit allem Vorherigen nichts zu tun gehabt und noch weniger davon gewußt haben wollte, sondern stammt aus der glorreichen Epoche der arischen Herrenrasse, und ist der unwiderlegbare Beweis dafür, daß alle Deutschen wußten, was in Auschwitz geschah, was aber bis heute immer wieder bestritten wird."

Internet-Tipp: https://www.station23.de/51025woerterbuchTbisZ.html


Karl antwortete am 27.09.04 (22:44):

Liebe Wanda,

dazu habe ich schon einmal etwas ähnliches geschrieben:

Karl antwortete am 13.08.03 (09:51):

Ich halte es für wichtig, dass wir in Bezug auf Sprache sensibel sind. Wir dürfen den Bogen dabei aber nicht überspannen und behaupten, dass jeder der missverständliche Begriffe verwendet (wir tun das alle!) dann gleich in eine bestimmte Schublade zu stecken ist.

Andererseits bin ich persönlich immer froh, wenn ich auf solche Missbräuche aufmerksam gemacht werde. Ich erinnere mich, dass ich schon oft meinen Gebrauch von Worten bewusst geändert habe (dazu sind wir doch nie zu alt, Mart).

Als Jugendliche hantierten wir oft mit kleinen Feuerwerkskörper. Wir nannten sie "Judenf...". Sobald ich lernte, was wir Deutsche den Juden angetan hatten, empfand ich das als mehr als eine Geschmacklosigkeit und habe das Wort nie wieder in den Mund genommen.

Ebenso entsetzt war ich, als mir bewusst wurde, wie der Begriff "etwas bis zum Vergasen" durchziehen, interpretiert werden könnte. Später habe ich gelernt, dass die Wurzeln dieses Ausdruckes offensichtlich weiter zurückreichen als in die Nazizeit. Trotzdem würde ich diesen Begriff niemals mehr verwenden wegen seiner Missverständlichkeit.

Mit freundlichen Grüßen

Karl

Internet-Tipp: /seniorentreff/de/diskussion/archiv6/a1165.html


seewolf antwortete am 28.09.04 (01:35):

Meint "Vergasung" nicht eine Veränderung des aktuellen Aggregatzustandes einer Substanz/eines Stoffes (Beispiel: Kohle-Vergasung)?

Müssen wir auch den Begriff "Vergaser" neu überdenken? Ein echtes Problem für Motoren-Techniker...

Angesichts der Praktiken eines Dr. Mengele wäre dann auch der Begriff "Einspritzung" sicher fragwürdig...

Wenn mich nächstes Mal ein Polizist nach meinem "Führerschein" fragt, soll ich dann gleich eine Anzeige machen?


Pauline1 antwortete am 28.09.04 (07:01):

In der "alten DDR" gab es anstelle eines Führerscheins die Fahrerlaubnis...aber eigenartigerweise immer noch die Deutsche Reichsbahn...


jo antwortete am 28.09.04 (10:10):

@Pauline

Auch in der Bundesrepublik - alt wie neu - heißt die Fahrerlaubnis amtlich Fahrerlaubnis (FeV - Fahrerlaubnisverordnung).

Daß die Eisenbahn in der DDR weiterhin Reichsbahn hieß, habe ich nie verstanden.

@Seewolf

Vergasermotoren sind out - da werden die Techniker vielleicht mit der Wortfindung keine Probleme mehr haben?

Ich plädiere für einen sensiblen Umgang mit Wörtern im hier diskutierten Sinne. Vielleicht hilft es ein wenig, wenn man unterscheidet zwischen hergebrachten Vokabeln und solchen, die sich die Herrschaften damals geschaffen haben oder deren Bedeutungswandel besonders gravierend ist.

Außerdem sollte man für unbewusste und gedankenlose Verwendung, wie hier geschildert, Verständnis haben, wenn dem nach Klärung Einsicht folgt.

Ich denke an viele Wörter, die mit Volks... beginnen, vom Volksgerichtshof über die Volkswohlfahrt, das (gesunde) Volksempfinden, die Volkshygiene bis zum Volksempfänger - der VW gehört eigentlich auch dazu!!!

Auch viele Wörter mit dem Bestandteil Macht . . . wie Machtergreifung und Ermächtigungsgesetz sollte auf einem persönlichen Wörterindex stehen.

Ganz zu schweigen natürlich von auf Juden bezogenen Ausdrücken wie judenfrei, Judenfrage oder Judenstern.

Es gibt das "Wörterbuch des Unmenschen" von Dolf Sternberger, dessen Lektüre in diesem Zusammenhang vielleicht Erkenntnisse zu Tage fördert - ich habe es nicht gelesen.


juergen1 antwortete am 28.09.04 (13:15):

Den Begriff Judenstern möchte ich aber nicht auch noch "gestrichen" wissen.
Völliges "vergessen" der grausigen Zeit wäre Hohn für die Opfer.


Medea. antwortete am 28.09.04 (17:02):

Hier auch einmal eine andere Sichtweise:

"Mannheim (AP) Mehr als 400 Sprachwissenschaftler haben auf der Jahrestagung des deutschen Instituts für Sprache (IDS) in Mannheim Formulierungstraditionen und Sprachmoden dieses Jahrhunderts nachgezeichnet. "Eine kultische Verehrung der deutschen Sprache gibt es seit Beginn der Nachkriegszeit nicht mehr", sagte IDS-Wissenschaftler Gerhard Stickel am Donnerstag. Beim Klang des Deutschen laufe niemandem mehr ein Schauer über den Rücken. Statt dessen gebe es einen Trend zum gebremsten Sprachstolz der Deutschen. Eine Untersuchung unter deutschen EU-Beamten in Brüssel habe gezeigt, daß sie eher ein schlechtes Englisch sprächen als das vermeintlich provinzielle Deutsch, sagte Stickel. Die Ursache dieser Tendenz gehe auf die NS-Greueltaten zurück und den Schuldvorwurf aus dem Ausland. Aber: "Nicht die deutsche Sprache ist schuld an Auschwitz", sagte Stickel. Die Tagung habe schließlich deutlich gemacht, daß Sprache kein eigenständiges Wesen sei, ergänzte IDS-Wissenschaftlerin Heidrun Kämper. Derjenige, der die Sprache gebrauche, müsse dafür gerade stehen. Die Tagung habe auch gezeigt, daß viele Redewendungen aus der NS-Zeit heute in Variationen verwendet würden. So habe der NS-Verbrecher Hermann Göring bei seinem ersten Vier-Jahres-Plan die Kampagne "Kampf dem Verderb" ins Leben gerufen. Die Anti-Atomkraft-Bewegung habe später "Kampf dem Atomtod" gefordert. Die Redewendung, etwas "bis zur Vergasung" zu tun, stamme dagegen nicht aus der NS-Zeit, sagte Stickel. Diese Formulierung sei zu Beginn der Industrialisierung aufgekommen, als Kohle vergast wurde. Die Rechtsschreibreform war auf dem Treffen kein Thema. "Was immer man derzeit zur neuen Rechtschreibung sagt, kann gegen einen verwendet werden," erklärte Stickel. Aber auch in der Diskussion um die Reform würden Formulierungstraditionen erkennbar. So sei diese als "sprachwissenschaftliche Unzucht mit Minderjährigen" bezeichnet worden. Dabei gebe es bisher bei Lehrern und Schülern durchaus positive Erfahrungen. Die Schüler machten weniger Fehler, sagte der Wissenschaftler. "


Ein interessanter Link:
https://www.prophecy-factory.de/dt/sprachstolz.htm

Internet-Tipp: https://www.prophecy-factory.de/dt/sprachstolz.htm


wanda antwortete am 28.09.04 (19:00):

danke für die Zuschriften, ich klammere mich an das, was Medea bekannt gibt - werde aber trotzdem diese Floskel nie mehr gebrauchen, das habe ich mir geschworen.

Weiß vielleicht jemand woher der Ausdruck kommt "bis in die Puppen" ?
Komisch, dass mich das jetzt interessiert, wo ich eigentlich überhaupt nicht "mehr durchmache" bezw. ein geregeltes Leben führe mit ganz normalen Bettzeiten.


jo antwortete am 28.09.04 (20:24):

Franziska Schröder - Wörter unter der Lupe

Bis in die Puppen

Diese Umschreibung für "sehr weit" oder "sehr lange" wird auch heute noch benutzt, vor allem in Berlin. Schließlich war es Friedrich der Große, der einst im Berliner Tiergarten am Großen Stern, wo aus allen Himmelsrichtungen Straßen aufeinander treffen, Statuen der antiken Götterwelt aufstellen ließ. Diese wurden von der Berliner Bevölkerung prompt respektlos als "Puppen" bezeichnet, ein Spaziergang bis dorthin war recht weit und ging "bis in die Puppen". Heute wird der Ausdruck auch zeitlich benutzt, man kann bis in die Puppen tanzen, schlafen oder arbeiten.

Internet-Tipp: https://hor.de/


wanda antwortete am 29.09.04 (08:38):

ganz lieben Dank, jo - das ist eine schöne Geschichte, bei der ich das alte Berlin direkt vor mir sehe.