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Übersicht Archiv "Politik und Gesellschaft"

THEMA:   Schlachtfest bei Jena

 6 Antwort(en).

gerald begann die Diskussion am 15.10.06 (19:55) :

Am Wochenende kam es bei Jena zu einem bizarren Mummenschanz. Knapp 2000 in historischen Kostümen auflaufende Komparsen stellten die historische Schlacht Napoleons gegen die Preußen und Sachsen von vor 200 Jahren nach. Über 30000 Schaulustige verfolgten dieses Spektakel. -----> link.
Meine Meinung dazu:
Diese Massenaufläufe sind nicht nur albern anzusehen, sie sind auch pervers in ihrer Grundaussage. Denn eine Massenmetzelei, bei der über 40000 Leute ermordet wurden, ist ja an sich schon der blanke Horror, dies aber auch noch familienfreundlich nachzuspielen, ist menschenverachtend und Ausdruck einer kommerziallisierten Verkommenheit. Warum nicht demnächst mal die Schlacht am Kursker Bogen spielen, oder den "Kessel von Stalingrad" als Familien-event darbieten (den Opa bitte zu Hause lassen, es könnte sonst zu Irritationen führen). Im Anschluss gibts original Kesselgulasch.
Wie ist eure Meinung? Erlaubt der historische Abstand von 200 Jahren eine solche Aufführung?

Internet-Tipp: https://www.mdr.de/nachrichten/meldungen/3607326.html


 dutchweepee antwortete am 15.10.06 (20:15):

so richtig "lustig" wird´s, wenn RTL eine grosse samstagabend-show macht unter dem titel:

DIE HUNDERT SCHÖNSTEN SCHLACHTEN.

denkbar wäre auch eine reihe: DIE BLUTIGSTEN KRIEGE DER 70er, 89er und 90er.

.


 klaus antwortete am 16.10.06 (09:14):

@,gerald
interessante Betrachtung, aus der sich Fragen für mich ergeben.
- Sollten Schlachten überhaupt "nachgespielt" werden ? Die Filmindustrie würde dann in die Pleite gehen. Es gibt über 2500 Kriegsfilme - einige mit höchsten Auszeichnungen versehen(Oscar...).
- Sollte man ev. berücksichtigen, welche geschichtlichen Hintergründe vorliegen? Wer ist der Angreifer? - Welche Rolle spielt die Schlacht für die geschichtliche Entwicklung einer größeren Region ( "Völkerschlacht bei Leipzig" )?
- Du schreibst vom "bizarren Mummenschanz"/..."Massenaufläufe sind nicht nur albern anzusehen"/..."kommerziallisierten Verkommenheit".
Müsste dann nicht auch der Rheinische Karneval in diese Kategorie fallen? Ich weiß, dass dieser Vergleich enorm hinkt.
ÜBRIGENS: Die Stalingrader Schlacht ist in Wolgograd schon einige Male nachgespielt worden.

Meine Meinung ist, dass man gut überlegen sollte, was in irgendeiner Form(Theater, Film, "Mummenschanz")nachgespielt werden kann. Dabei spielt sicher der historische Bezug eine große Rolle( nicht nur der zeitliche - auch der politische).
Wer so etwas nicht sehen will, kann ja abschalten oder nicht hingehen.


 schorsch antwortete am 16.10.06 (09:29):

Wenn aus solchen Nachspielungen Fazite aufgenommen werden, ist dagegen nichts einzuwenden.


 gerald antwortete am 16.10.06 (20:40):

Ich meine den Unterschied zum Film darin zu sehen, dass es die "Realos" in Jena nicht des Geldes wegen taten, sondern aus einer gewissen seltsamen Zuneigung zu krachenden Schießgeräten und martialischem Gehabe. So eine kleine , feine Liebe zum Krieg. Das macht mir diese absonderlichen Typen ein wenig unsympatisch, und aus gesamtgesellschaftlicher Sicht gesehen reif für den Klapperonkel.


 Giovanni antwortete am 17.10.06 (06:15):

Vor etlichen Jahren lernten wir mal Holländer aus dem schönen Ort Naarden kennen (siehe Internet-Tipp). Der eigentliche Kern von Naarden ist eine Festungsinsel, wie man sie in den Niederlanden häufig antrifft. Auf dieser Insel befindet sich auch ein kleines Museum, in dem man sich in den unterirdischen Gewölben militärische Zeugnisse ansehen kann. Gelegentlich treten dort auch ''Darsteller'' in historischen Uniformen auf, die unter anderem (mit Papp-Munition) eine mittelalterliche Kanone abfeuern, mit der sich ihre Vorfahren erfolgreich zum Beispiel gegen die Spanier verteidigt haben.

Ist das auch schon ''Zuneigung zu krachenden Schießgeräten und martialischem Gehabe''? Oder ist das ein Beitrag zum Geschichtsverständnis?

Ich denke, die Grenzen werden wohl fließend sein. Wenn zum Beispiel Sportschützen auf Zielscheiben schießen, wird man es wohl kaum verhindern können, dass der eine oder andere dabei insgeheim den Kopf seines Nachbarn vor Augen hat. Wenn Sportler an Sandsäcken trainieren, wird man es wohl kaum verhindern können, das manche dabei insgeheim auf ihren Chef eindreschen. Es dürfte auch wohl klar sein, warum ausgerechnet Gefängnisinsassen die besten Kunden für aufblasbare Plastikpuppen in Lebensgröße sind!? ;o)

In Rollenspielen lebt man oft das aus, was man irL (im richtigen Leben) nicht kann bzw. darf. Dieses ''Abreagieren'' hilft vielen Menschen, ihre ansonsten latenten Aggressionen abzubauen, statt es an lebenden Objekten zu praktizieren.

Ob eine Veranstaltung, wie die in Jena, einen solchen Zweck erfüllt, wage ich allerdings zu bezweifeln. Die Energie und die finanziellen Mittel, die dafür aufgewendet werden, könnten an geeigneterer Stelle sicherlich bessere Dienste leisten.

Internet-Tipp: https://tinyurl.com/y26zdo


 schorsch antwortete am 17.10.06 (08:47):

Im französisch sprechenden Teil des Schweizer Juras gibt es eine Gruppe "Cowboys". Sie organisieren in Zusammenarbeit mit einer nicht mehr offiziell verkehrenden Eisenbahn Überfälle auf die Bahn-Reisenden. Dabei kidnappen sie sogar die Reiseleiter oder z.B. die Geschäftsführung einer Firma, die auf dieser Nastalgiebahn reist und lassen sie nur gegen ein Lösegeld frei. Dieses Lösegeld wird vorher in Form von Schokolade-Fünflibern (Fünffrankenstücke) an die Reisenden verteilt. Natürlich können jene, die es vorziehen, die Fünfliber aufzuessen, auch richtige geben!