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THEMA:   Berlin, Köpenick ...... und Otto Reutter

 7 Antwort(en).

Enigma begann die Diskussion am 20.09.06 (12:34) :

In der letzten Woche bin ich nach über 30 Jahren endlich wieder einmal in Berlin gewesen.
Und bin begeistert, viel mehr als früher, wenn ich das richtig in Erinnerung habe. :-)
Vielleicht hat das aber auch nur damit zu tun, dass ich jetzt als wesentlich älterer Mensch “die Dinge des Lebens”, die sich bieten, ganz anders genießen will und glücklicherweise auch genießen kann.

U.a. stand auch ein Ausflug nach Köpenick auf dem Programm.
Und hier erlebten wir im “Ratskeller” einen älteren Schauspieler (und Sänger),der einige Couplets vortrug, die seinerzeit Otto Reutter seinem Publikum geboten hatte.
Inzwischen habe ich mehrere Texte und auch einiges im O-Ton- Reutter (wohl von alten Schellack-Platten übertragen) gefunden.
Man kann sich die alten Sachen anhören, wenn auch die Begleitgeräusche natürlich entsprechend stark sind.

Und ich kann es mir nicht verkneifen, den Text vom “Räuberhauptmann von Köpenick” hier einzustellen:


DER RÄUBERHAUPTMANN VON KÖPENICK

1. Ihr Leute, höret die Geschicht
Die man aus Köpenick bericht
Sehr kluge Leute wohn’ darin
Denn Köpenick liegt bei Berlin
Was dort vor kurzem ist geschehn
Das hat die Welt noch nich’ jesehn
Was rennt das Volk, was wälzt sich dort
Die langen Gassen brausend fort
Voran die Greadiere
Des Königs Grenadiere
Auf jeder Seite viere
Und der Jefreite vorn

2. Ja, zeigt sich wo ein blanker Knopp
Nickt man vor Ehrfurcht mit dem Kopp
Das Köpenicken, das bringt Glück
Daher der Name Köpenick
Die Grenadiere stellten sich
Vors Rathaus, es war fürchterlich
Die Leute standen auf dem Damm
Die Grenadiere standen stramm
Dann kam der Herre Hauptmann
Der Hauptmann, der Hauptmann
Ja, was der sagt, das glaubt man
Der Hauptmann hat’s jesagt!

3. Der Hauptmann zog ins Rathaus ein
Und dort jehorcht ihm Groß und Klein
Die Polizei von Köpenick
Hielt selbst das Publikum zurück
Der Hauptmann zählt den janzen Kitt
Er nahm sojar die Pfennje mit
Doch vorher wurde der Rendant
Zur neuen Wache hinjesandt
Und dann der Bürjermeister
Der Meister, der Meister
Der klügste aller Jeister
Ein kluger langer Hans

4. Als alles nun jeschehen dort
Und als der Hauptmann lange fort
Da wurde erst den Leuten klar
Daß er ein Räuberhauptmann war
Jetzt sucht man, wo der Schurke steckt
Die Mütze hat man schon entdeckt
Den Säbel bracht’ man auch herbei
Und fröhlich ruft die Polizei:
Jetzt habn wir auch die Hose
Die Hose, die Hose
Das Pech ist bei der Chose
Der Hauptmann ist nicht drin

5. Und die Moral von der Jeschicht’
Die Hauptsach’ ist der Hauptmann nicht
Die Uniform verschafft Respekt
Ganz gleich, wer auch darinnen steckt
Wenn eine Uniform sich zeigt
Da wird man ängstlich, und man schweigt
Da wird nur noch «Hurra» jeschrien –
Ja, eine solche Disziplin
Die habn wir nur in Preußen
In Preußen, in Preußen
Wenn alle Stränge reißen
Hält stramm die Disziplin

- siehe auch Internet-Tipp!

PS
Ob die Uniform immer noch „den Respekt verschafft“??

Internet-Tipp: https://www.corno.de/reutter/


 Enigma antwortete am 20.09.06 (12:55):

Und hier eine Rezension von Kurt Tucholsky (alias Peter Pan) zu Reutter:

„Otto Reutter


Ein gutes Couplet ist nicht immer wirkungsvoll
und ein wirkungsvolles Couplet ist nicht immer gut.
Otto Reutter



Gestern habe ich eine ganze Nacht verlacht. ›Otto Reutter. Ein Gedenkbuch über sein Leben und Schaffen‹ (im Verlag G. Danner, Mühlhausen in Thüringen, erschienen).
Otto Reutter sang etwas, was es im Deutschen gar nicht gibt, denn die deutsche Sprache hat keinen Namen für: Couplet, Chanson; die bessern Herrn nennen das ›song‹. Wie der Franzose unter ›le lied‹ etwas versteht, was er nicht besitzt, so haben wir keine Chansons. Wir müssen uns erst welche machen. Reutter hat sich welche gemacht: weit über Tausend. Ich kenne gut die Hälfte davon, denn ich habe mir einmal an ein paar stillen Vormittagsstunden in der Musikabteilung der Staatsbibliothek in Berlin alles zusammengesucht, was von ihm da ist, und es ist viel da. Eine merkwürdige Lektüre.

Otto Reutter war ein Künstler und ein Pachulke. Das Buch gibt beide Seiten gut wieder; der Begleittext ist allerdings unerlaubt dumm, die Auswahl ist nicht sehr gut, manche der berühmtesten Lieder fehlen, und wahrscheinlich ist hier und da der Text sanft ausgebessert, denn es ist nicht anzunehmen, dass Reutter vor dem Kriege von ›Marxisten‹ gesungen hat.
Reutter hatte so etwas wie eine politische Überzeugung. Für ihn spricht, dass er nie von ihr abgewichen ist; er hätte sicherlich kurz nach dem Kriege mit gewaltigem Erfolg nach links rutschen können – das hat er nie getan. Hut ab vor so viel Anständigkeit.
Gegen seine Überzeugung spricht, dass sie fürchterlich gewesen ist. »Der Deutsche braucht Kolonien« – Immer feste druff! – und was er nun gar erst im Kriege getrieben hat, das war bitter, bitter. Ein Radaupatriotismus übelster Sorte. Und doch, welch ein Könner auf seinem Gebiet!
Er hatte gegen eine Sprache zu kämpfen, die schwerfällig ist, die man erst biegen und kneten muß, mit der man Jahre und Jahre zu üben hat, bis sie tanzt ... bei ihm hopste sie. Massig, polternd, am besten und gemütlichsten im Dreiviertel-Takt, diesem deutschesten aller Rhythmen, lustig im Vierviertel-Takt, was bei uns immer wie ein beschleunigtes Marsch-Tempo anmutet – diese beiden Rhythmen hatte er im Blut. Er traf Töne, deren Resonanzboden sehr tief liegt – hier spricht die Seele deines Volkes, wie etwa in manchen Kitschversen bei Hermann Löns. Was heute bei den Nazis als Lyrik verzapft wird, lebt von diesen alten Mitteln, nur ist dort alles billig, Maschinenspitze. Reutter nähte mit der Hand.
Dabei war sein Deutsch oft grauslich. Er schreibt fast immer »großer als wie du«, er benutzt des Reimes halber Fremdwörter, dass es einen kalt überläuft, und doch, und doch ..... (...) „

Peter Panter
Die Weltbühne, 16.02.1932, Nr. 7, S. 254.

Internet-Tipp: https://www.textlog.de/tucholsky-otto-reutter-1932.html


 Literaturfreund antwortete am 21.09.06 (16:58):

Dank Dir, enigma! Das ist eine schöne Erinnerung – und ich suche meine einzige alte Reutter-Schallplatte…


Otto Reutter:
Das Meister-Couplet von 1919

In fünfzig Jahren ist alles vorbei


Denk’ stets, wenn etwas dir nicht gefällt :
»Es währt nichts ewig auf dieser Welt.«
Der kleinste Aerger, die größte Qual
Sind nicht von Dauer, sie enden mal.
Drum sei dein Trost, was immer es sei :
»In fünfzig Jahren ist alles vorbei.«

Und ist alles teuer, dann murre nicht,
Und holt man die Steuer, dann knurre nicht.
Und nimmt man dir alles, dann klage nicht,
Und kriegst du den Dalles*, verzage nicht —
Nur der, der nichts hat, ist glücklich und frei,
Und in fünfzig Jahren ist alles vorbei.

Und ist auch ein andrer klüger als du,
Dann sei nicht dämlich — und lach’ dazu.
Was nützt sein Wissen — stirbt der vorher,
Bist du am nächsten Tag klüger als der.
Wer da weiß, daß er nichts weiß, weiß vielerlei —
Und in fünfzig Jahren ist alles vorbei.

Und geht zu ’nem andern dein Mägdelein,
Dann schick’ ihr noch ’s Reisegeld hinterdrein.
Und bist du traurig, denk’ in der Pein :
»Wie traurig wird bald der andere sein.«
Dem macht sie’s wie dir — die bleibt nicht treu
Und in fünfzig Jahren ist alles vorbei.

(…usw.; und noch 12 Strophen.)

**

„Dalles“ = Berliner Jargon. In etwa : psychotischer Schub, Rappel...

https://www.salmoxisbote.de/Bote11/reutter.htm

K.T. schrieb dazu: „“beinah etwas Fontanisches“. „Wie das sitzt! Wie das klappt! Wie das abläuft, wie Wasser einen Berg herunter, es kann gar nicht anders heißen, und das ist immer das Kennzeichen eines gut sitzenden Verses...“

Internet-Tipp: https://www.salmoxisbote.de/Bote11/reutter.htm


 Literaturfreund antwortete am 21.09.06 (17:23):

Aus dem Essay von K.T., den enigma gestern zitierte:

Da ist zu alleroberst jenes erhebende Lied "In fünfzig Jahren ist alles vorbei", die Musik blieb in der Terz hängen, und es hatte beinah etwas Fontanisches.

Und sitzt auf der Bahn du ganz eingezwängt,
Und dir wird noch ne Frau auf den Schoß gedrängt,
Und die hat noch ne Schachtel auf ihrem Schoß,
Und du wirst die beiden Schachteln nicht los,
Und die Füße werden dir schwer wie Blei:
In fünfzig Jahren ist alles vorbei!

Oder bist du beim Zahnarzt – wenn er dich greift,
Und dich mit dem Zahn durch die Zimmer schleift,
Und er zieht und zieht und bricht alles entzwei –
In fünfzig Jahren ist alles vorbei!

Wie das sitzt! Wie das klappt! Wie das abläuft, wie Wasser einen Berg herunter, es kann gar nicht anders heißen, und das ist immer das Kennzeichen eines gut sitzenden Verses. Das da ist, wie mir scheinen will, sein schönstes Lied (es hört ganz nachdenklich auf).
Das ist sein bestes, wenn man von ›Ick wunder mir über jahnischt mehr‹ absieht.


 Enigma antwortete am 22.09.06 (08:02):

@Literaturfreund
Danke für die weiteren Erinnerungen an Otto Reutter.
Die Rezension von Tucholsky finde ich einfach umwerfend.Wie er differenziert, wie er die Kunst/das Handwerk von Reutter schätzt, würdigt und erklärt, aber auch das beim Namen nennt, was ihm absolut nicht gefällt am Menschen Reutter, dessen politische Einstellung, den "Hurra-Patriotismus", den K.T. natürlich ablehnt.

Und nun muss er auch wieder herhalten, der Herr Tucholsky (alias Theobald Tiger), mit einem Gedicht zu Berlin:

Berliner Liebe
Steht dir der Sinn nach Liebe in den Orten
Westend bis Köpenick:
dann senk den Blick
und unterscheide im Objekte die drei Sorten:
Da gibt es Frauen mit den Scheitelhaaren,
gepunztes Silber auf dem falschen Busen,
teils im Reformkleid, teils in Eigenblusen,
die einmal – ach, wie weit! – fast reinlich waren
(jetzt dunkelweiß).
Bei Sturm und Regen
gehn diese gern durch Wald und Flur allein,
das Lodenhütchen keck auf einem Ohre,
und sprechen mit sich selbst und mit Tagore ...
Soll die es sein –?
Sie sagen Feuilletons, eh man sie legt.
Sie sind sehr edel.
Aber nicht gepflegt.

Da gibt es solche, unten rum aus Seide,
im samtnen Mantel mit dem Waschbärkragen –
nach ihren Eltern mußt du sie nicht fragen.
Sie ist euch treu – und so liebt ihr drei beide.
Groß ausgehn nennt der Fachmann dein Getue.
Führ sie ins Kino, ins Theater ein!
Sie tanzt den neusten Schritt, kennt alle Paare,
hat jeden Monat frisch gefärbte Haare ...
Soll die es sein –?
Sie spricht nicht viel.
Doch was sie spricht, ist Kitt.
Und sie nimmt alle süßen Ecken mit.

Willst du die Jüngerin Thaliens küren?
Sie offenbart, wenn sie mit dir im Bund ist,
was ihr Direktor für ein Schweinehund ist:
er wollt sie alle in Versuchung führen –
Das tät sie nie. (Fast nie.)
Es rinnt die Rede:
Von Proben, Premerieen, Klatscherein –
sie meistere Spiel und Sprache wie nur wenige,
sie spiele Olala und Iphigenie ...
Soll die es sein –?
Beim Papa Rickelt! Süß in allen Phasen:
Sie liebt.
Und bringt dich zeitig untern Rasen.

So geh, du Liebeswanderer, von Haus zu Haus.
Berlin ist groß.
Nun such dir eine aus!


Theobald Tiger
Die Weltbühne, 13.10.1921, Nr. 41, S. 385.


 Enigma antwortete am 22.09.06 (09:35):

Ja, heute bin ich nochmal fleißig. Wahrscheinlich hat das damit zu tun, dass ich morgen für zwei Wochen in die Niederlande fahre.
Aber, wenn irgendwie möglich, werde ich das Laptop mitnehmen, um zumindest lesen zu können, was hier im ST Neues geschrieben wird.
Vielleicht kann ich ja auch hin und wieder etwas schreiben, wenn das Wetter es zuläßt. :-)))

Aber noch etwas zu Berlin:
Es war ein eigenartiges Gefühl,das Denkmal zur Erinnerung an die Bücherverbrennung auf dem Bebel-Platz zu besuchen.
Ich habe mir inzwischen im Internet eine Seite herausgesucht über eine Ausstellung zum Holocaust, die 2002 im Deutschen Historischen Museum in Berlin stattgefunden hat.
In Raum 2 gab es Informationen u.a. über die Bücherverbrennung.
Es existiert auch eine Rundfunkreportage über die Bücherverbrennung auf dem Berliner Opernplatz in Form eines Tondokuments. Wenn man das Lautsprechersymbol anklickt, kann man hören, wie die Verbrennung rednerisch begleitet wurde, u.a. von Goebbels, im üblichen Ton (schreiend). Ein Foto über die Verbrennung gibt es auch.
She. Internet-Tipp!

Internet-Tipp: https://www.dhm.de/ausstellungen/holocaust/r2.htm


 Literaturfreund antwortete am 22.09.06 (12:50):

Da liegt es ja nah weiterzulesen: von K.T. über Mehring; es war nur eine kleine, große Truppe, die dichterisch und demokratisch auf dem "Feld der Ehre" (dem anderen, nicht dem des Totschießens) durchhielten, ... bis ihnen Exil, Tod oder erst Wirkung nach 45 beschieden waren.


K.T.s Würdigung:

"Die Gedichte, Lieder und Chansons des Walter Mehring"


Nun ist es spät, der Wind saust um das Haus, und obgleich ich nicht schwedisch kann, verstehe ich ihn ganz gut. Immer noch besser als das, was zur Zeit als Lyrik ausgeschrien wird – wer will denn das lesen! Große Generalausnahme, die nicht vom Nachttisch herunterkommt, die da wohnt, in der ich mich abends betrinke, eine ganze Bar voller Lyrik:

›Die Gedichte, Lieder und Chansons des Walter Mehring‹ (erschienen bei S. Fischer in Berlin). 252 Seiten – mir viel zu dünn.


Der Weg ist weit – wir haben Zeit

und:

Hallélujah! Wir Kinder der Chausseen

und:

Und eh wir unters Joch den Nacken biegen

Und eh sie uns zu einer Arbeit kriegen:

Da fressen wir gestoßenen Paprika

Hallélujah! Hallélujah!


Man sieht schon aus diesem Beispiel: das hat mit Naturalismus nichts zu tun. So spricht kein Tippelkunde – aber es ist, sagen wir mal, die platonische Idee des Tippelkunden ... Mehring, lach nicht! Wie soll ich den Leuten erklären, wie zauberhaft das alles ist! Laß mich mal blättern.

(...)

Forts.:
"Die Gedichte und Chansons von Walter Mehring"...

Internet-Tipp: https://www.textlog.de/tucholsky-gedichte-mehring.html


 Enigma antwortete am 12.10.06 (20:36):

Die Bücherverbrennung
Als das Regime befahl, Bücher mit schädlichem Wissen
Öffentlich zu verbrennen, und allenthalben
Ochsen gezwungen wurden, Karren mit Büchern
Zu den Scheiterhaufen zu ziehen, entdeckte
Ein verjagter Dichter, einer der besten, die Liste der
Verbrannten studierend, entsetzt, daß seine
Bücher vergessen waren. Er eilte zum Schreibtisch
Zornbeflügelt, und schrieb einen Brief an die Machthaber.
Verbrennt mich! schrieb er mit fliegender Feder, verbrennt
mich!
Tut mir das nicht an! Laßt mich nicht übrig! Habe ich nicht
Immer die Wahrheit berichtet in meinen Büchern? Und jetzt
Werd ich von euch wie ein Lügner behandelt! Ich befehle euch,
Verbrennt mich!
(Bertolt Brecht)