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THEMA:   Grass in Gedichten und Parodien

 41 Antwort(en).

Literaturfreund begann die Diskussion am 18.08.06 (09:57) :

Kropka ("Danke schön!"), die hier bei den Gedichten G.G. einstellte, hat mich auf die Idee gebracht zu einenm eigenen Grass-Kapitel: G.G. in eigenen - und kritischen Texten von anderen Autoren.

- Ich hatte diesen Text an anderer Stelle unvollständig eingeschrieben.


Günter Grass: Im Ei

Wir leben im Ei.
Die Innenseite der Schale
haben wir mit unanständigen Zeichnungen
und den Vornamen unserer Feinde bekritzelt.
Wir werden bebrütet.

Wer uns auch brütet,
unseren Bleistift brütet er mit.
Ausgeschlüpft eines Tages,
werden wir uns sofort
ein Bildnis des Brütenden machen.

Wir nehmen an, dass wir gebrütet werden. /
Wir stellen uns ein gutmütiges Geflügel vor /
und schreiben Schulaufsätze
über Farbe und Rasse
der uns brütenden Henne.

Wann schlüpfen wir aus?
Unsere Propheten im Ei
streiten sich für mittelmäßige Bezahlung
über die Dauer der Brutzeit.
Sie nehmen einen Tag X an.

Aus Langeweile und echtem Bedürfnis
haben wir Brutkästen erfunden.
Wir sorgen uns sehr um unseren Nachwuchs im Ei.
Gerne würden wir jener, die über uns wacht
unser Patent empfehlen.

Wir aber haben ein Dach überm Kopf.
Senile Küken,
Embryos mit Sprachkenntnissen
reden den ganzen Tag
und besprechen noch ihre Träume.

Und wenn wir nun nicht gebrütet werden?
Wenn diese Schale niemals ein Loch bekommt?
Wenn unser Horizont nur der Horizont
unser Kritzeleien ist und auch bleiben wird?
Wir hoffen, dass wir gebrütet werden.

Wenn wir auch nur noch vom Brüten reden,
bleibt doch zu befürchten, dass jemand,
außerhalb unserer Schale, Hunger verspürt,
uns in die Pfanne haut und mit Salz bestreut.-
Was machen wir dann, ihr Brüder im Ei?
*
(1958; In: G.G.: Gleisdreieck. Gedichte. 1960)
*
Diesen Text muss man nicht nur politisch verstehen, als Kritik an einer Gesellschaft, die ihre Kinder ausbrütet und auf das Ergebnis wartet, das sich in Gestalt der "Küken" noch entwickeln muss.

URL.: eine Deutung von Ursula Homann mit dem Titel „Günter Grass hat das christliche Erbe vielfältig verarbeitet“.

Internet-Tipp: /seniorentreff/de/eWp8iH0hw


 Marina antwortete am 18.08.06 (10:26):

Literaturfreund, ich finde deine Idee sehr gut, weil die meisten, die sich jetzt über Grass das Maul zerreißen, fast nichts von ihm kennen. Auch ich bin keine große Kennerin von seinen Werken. Nur: was ist mit dem Copyright? Ich glaube, wir (ich auch) sind langsam manchmal doch ein wenig leichtsinnig. :-)


 kropka antwortete am 18.08.06 (14:24):

Nächtliches Stadion
Von Günter Grass

Langsam ging der Fußball am Himmel auf.
Nun sah man, dass die Tribüne besetzt war.
Einsam stand der Dichter im Tor,
doch der Schiedsrichter pfiff: Abseits.


(Günter Grass, Werkausgabe in Einzelbänden.
Band 1: Gedichte und Kurzprosa.
Steidl Verlag, Göttingen 1998.)
© 2006 Deutschlandradio

Danke Literaturfreund! Danke Marina!
Ist es "OK so"? Gruß Ewa

https://www.dradio.de/dlf/sendungen/lyrikkalender/517364/

Internet-Tipp: https://www.dradio.de/dlf/sendungen/lyrikkalender/517364/


 Enigma antwortete am 18.08.06 (17:16):

Grass und sein Bekenntnis: Kurz möchte ich an dieser Stelle dazu Stellung nehmen,, da ich es bisher noch an keiner anderen Stelle im Netz“ getan habe.
Allerdings habe ich auch kein großes Problem damit, denn ich glaube Grass. Ich glaube ihm das, was er als Erklärung zu seinem bisherigen Schweigen gesagt hat, aufs Wort.
Das mag jetzt sehr vereinfacht klingen, möglicherweise fast naiv, aber niemand von den Zweiflern, die die Stellungnahme von Grass zu seiner SS-Vergangenheit im Hinblick auf seine Beweggründe völlig anders interpretieren, kann dies auch nur annähernd beweisen. Es ist alles Unterstellung. Nur Grass kennt die Wahrheit. Und aus meiner Sicht hat er sie gesagt.
Hat man ihm denn bisher schon einmal eine Lüge nachweisen können? Meines Wissens ist das nicht der Fall.

Dass der Kultur-/Literatur-Betrieb, sprich: „Berufskollegen“ oder auch Kritiker von Grass, zum Teil zu ganz anderen Ergebnissen kommen, ist doch normal und kommt häufig vor, wenn erst mal jemand unter Beschuss gerät.

Allen, die sich nicht vorstellen können, dass GG in seiner Vergangenheit Fehler gemacht hat, in jugendlichem Alter, die er später mit Sicherheit bereut und verdrängt hat, möchte ich gerne einmal die Frage stellen, ob es in ihrem Leben nicht auch Situationen, Geschehnisse, gegeben hat, in denen sie falsch gehandelt und das später bedauert haben, möglicherweise ebenso erfolgreich verdrängt, weil vielleicht überhaupt keine Korrektur mehr möglich war.
Wer aber aus den Fehlern seiner Vergangenheit lernen, sie aufarbeiten will, kommt nicht umhin, sich irgendwann selbst damit zu konfrontieren und sie einzusehen.
Bei Grass war es eben der Zeitpunkt, als er ein Buch über sich selbst in Angriff nahm und nun nicht mehr umhin konnte, seine Jugendsünden einzusehen und auch öffentlich zu machen. Dazu gehört Mut.
Und ich hoffe, dass er sich selbst verzeihen kann.
Verteidigen will ich ihn nicht, denn das hat er nicht nötig, wenn er die Wahrheit gesagt hat. Und er selbst kann sich bestimmt am besten verteidigen.
Aber vielleicht würde es ihn freuen, wenn einige von den „kleinen Leuten“, für die er (wie Brecht) viel geschrieben hat, ihm glauben können.

Zuletzt noch zu dem Vorwurf, dass Grass die Verkaufsförderung seines Buches durch sein spätes Bekenntnis ankurbeln wollte.
Das halte ich für das schwächste Argument überhaupt, denn er hat so viel geleistet und geschrieben, dass er mit Sicherheit keine wirklichen materiellen Sorgen hat. Und dass er extrem habgierig ist, kann ich auch nicht so recht glauben.
Und der Ruhm .... den hat er ja bereits. Ich kann mir vorstellen, dass es ihm selbst viel, viel mehr um seine Glaubwürdigkeit geht.

Fortsetzung!


 Enigma antwortete am 18.08.06 (17:18):

Fortsetzung!

Jetzt aber zu einem Gedicht, das zu meinen Lieblingsgedichten von GG gehört, weil es m.E. seine Beobachtungsgabe und sein sensibles Einfühlungsvermögen zeigt, wenn die großen Gefühle sich im ganz alltäglichen Leben etwas verschleißen.....


Ehe

Wir haben Kinder, das zählt bis zwei.
Meistens gehen wir in verschiedene Filme.
Vom Auseinanderleben sprechen die Freunde.
Doch meine und deine Interessen
berühren sich immer noch
an immer den gleichen Stellen.
Nicht nur die Frage nach den Manschettenknöpfen.
Auch Dienstleistungen:
Halt mal den Spiegel.
Glühbirnen auswechseln.
Etwas abholen.
Oder Gespräche, bis alles besprochen ist.
Zwei Sender, die manchmal gleichzeitig
auf Empfang gestellt sind.
Soll ich abschalten?
Erschöpfung lügt Harmonie.
Was sind wir uns schuldig? Das.
Ich mag das nicht: Deine Haare im Klo.
Aber nach elf Jahren noch Spaß an der Sache-
Ein Fleisch sein bei schwankenden Preisen.
Wir denken sparsam in Kleingeld.
Im Dunkeln glaubst du mir alles.
Aufribbeln und Neustricken.
Gedehnte Vorsicht.
Dankeschönsagen.
Nimm dich zusammen
Dein Rasen vor unserm Haus.
Jetzt bist du wieder ironisch.
Lach doch darüber.
Hau doch ab, wenn du kannst.
Unser Haß ist witterungsbeständig.
Doch manchmal, zerstreut, sind wir zärtlich.
Die Zeugnisse der Kinder
müssen unterschrieben werden.
Wir setzen uns von der Steuer ab.
Erst übermorgen ist Schluß.
Du. Ja Du. Rauch nicht soviel.

Ich bin überzeugt, dass Grass uns nicht regresspflichtig machen wird, wenn wir hier mal ein Gedicht einstellen... und dass der Verlag auch mal ein Auge zudrücken kann.
Wir wollen ja nicht einen halben Gedichtband hier veröffentlichen. :-))


 Literaturfreund antwortete am 18.08.06 (19:51):

"Die Zeugnisse der Kinder
müssen unterschrieben werden.
Wir setzen uns von der Steuer ab.
Erst übermorgen ist Schluß.
Du. Ja Du. Rauch nicht soviel."
*
Ja, wahrlich, das ist Klarheit, das ist Grassheit!
Danke für die Beiträge; "kropka" kannte ich als "Ewa" gar nicht - so habe ich Dich noch gar nicht wahr-genommen. Tut mir Leid!
*
Ich habe bei einer "Grass-Stiftung in Bremen" angefragt, ob ich für schulische Zwecke in einem Forum und beim ST G.G. zitieren darf. Na, werd' ich ja was zu hören kriegen!
(S., wer will: URL.)


*
Wer - wie ich - 1962 (drei Jahre vor dem Abi) aus einem katholischen Internat geschasst wurde, weil er zugab, Grass' "Blechtrommel" (als Fischer-TB 473/4; im September erschienen) gekauft zu haben - hat vielleicht Narrenfreiheit.
Oder darf im Narrenkleid dies sagen: "Beim Umlegen der Figur wurde der Heiligenschein abgerochen." (S. 313, in dieser alten Ausgabe.)
Als man mir den "Grass" beschlagnahmen wollte, hatte ich ihn schon vorher versteckt, hinter der Heizung. - Aber bei der Aktion in meinem Zimmer wurde mir Siegfried Lenz' "So zärtlich war Suleyken" weggenommen - das sei doch Pornografie! Und ich musste einen Deutschlehrer einschalten, der zwar auch Grass für "Jauche, eingeschenkt in eine schönen Vase" hielt; aber Lenz doch frei gab. - Das zu der Bildung von Deutschlehrern vor 1965; heute will oder soll jeder BILD-Leser mitkakeln - und M.R.-R.-Liebediener wie ein Karaseck mitjohlen.
*

Angebot:
Wie Kollegen sich schon immer über Grass "beschissen" haben:

Über Gunter Grass:

"Günter Grass hat mir sehr höflich den »Butt« versprochen, aber er hat ihn dann nie geschickt, also brauchte ich ihn auch nicht zu lesen. Der Grass ist mir einfach zu wenig intelligent, um so dicke Bücher zu schreiben." - Friedrich Dürrenmatt

"Günter Grass im Fernsehen. So ein bißchen wie Hitler im Bunker der Reichskanzlei sieht er jetzt aus." - Walter Kempowski

"Mein Kollege Günter Grass
der hat in einem Starfighter gesessen
im. Cockpit, auf dem Boden
van Associated Press fotografiert.
»Die Antworten der Piloten
waren farbig und widerspruchsvoll.«
Das hat ihn beruhigt
und mich
und die Bildzeitung.
Mein Kollege Günter Grass
dar hat die 4. Luftwaffendivision inspiziert,
der Realist,
wie Helmut Schmidt
Und Heinrich Lübke
und unser Kai-Uwe von Kassel.
Das hat ihm viel Mut gemacht
und mir
und unserem Nationalgefühl.
Da wird an seiner Tür nicht mehr gezündelt
werden." - Heinar Kipphardt

"Die Albernheit von Ralleys kennt keine Relais oder Grenzen, und die schönste Überraschung aus Danzig wird ranzig mit der Zeit." - Oskar Pastior

Wenn ich das Sieb der Zeit wäre, stünde Gerold Späth zwölfmal berühmter da als Günter Grass, und Botho Handke dreißigmal unbekannter als Eckhard Henscheid. - Ulrich Holbein

"Eine Seite Polgar für fünfhundert Seiten Grass!" - Hermann Hakel
*
Angaben zu den unbekannten Namen lasse ich mal weg. Die Männlein sind fast vergessen.

Internet-Tipp: https://f27.parsimony.net/forum66372/messages/3800.htm


 Marina antwortete am 18.08.06 (21:46):

Ich danke euch sehr für eure interessanten Texte und für deine, Enigmas, Stellungnnahme zu Grass, die mir ausgesprochen gut getan hat. "Wer unter euch ist ohne Schuld . . . . "
Bei euch muss ich mich wenigstens nicht ärgern, weil man da ein bestimmtes Niveau voraussetzen kann, ich sollte nur noch h i e r schreiben. :-)
Später mehr, bin gerade erst nach Hause gekommen.
Viele Grüße an Literaturfreund, Kropka und Enigma. :-)


 Literaturfreund antwortete am 18.08.06 (22:47):

Dann biete ich ncoh eine kleine Überraschung - und Freude, ob der humorvollen Bescheribungen:

Aus einem Bestimmungsbuch deutscher poetische Pflanzen:

Fritz Schönborn: Deutsche Dichterflora. Anweisungen zum Bestimmen von Stilblüten, poetischem Kraut und Unkraut. 1980. S. 109ff.
(Der Autor dieses literarischen Spaßes ist Herbert Heckmann, der schon verstorben ist.)

Trommelgrass, das:

das gemeine (Zwergenkraut, der neue Gerhart Hauptmann, Wiesenschnauz, des Spießers Wunderhorn, Wunder von Telgte etc. - Rolf Michaelis glaubt, daß an der Vielzahl der Bezeichnungen die Beliebtheit der Pflanze abzulesen sei.) ausdauernd. Familie der satirischen Importanzen. Heil- und Küchenkraut.

Dottergelbe Blüten in Pfannenform. Sehr ausgeprägte Griffel. Schnauzbartartige Blätter, die eine klebrige Substanz ausschwitzen. Insektenfalle. Große Kapselfrucht, die im Winde trommelähnliche Geräusche von sich gibt. Die Wurzeln lockern den Boden derart auf, daß schon mancher eingebrochen ist.

Das Trommelgrass war ursprünglich nur in der Gegend von Danzig anzutreffen. Seine Verbreitung nach Westen geschah lawinenartig. Der Pflanze haftet freilich noch immer der Kohlgeruch ihrer kaschubischen Heimat an, der Marienkäfer und Pfarrersköchinnen vertreibt. Heute findet man das Trommelgrass überall, und das soll etwas heißen. Keine Ausschmückung eines Festaktes ohne seine Blüten. Es ist landschaftsbestimmend und tritt meist derart massenhaft auf, daß die anderen Pflanzen ganz in den Hintergrund geraten. Die Pflanze liebt einen kleinbürgerlich durchsäuerten Boden, aus dem sie ihre reformerischen Blüten zieht. Diese stecken sich Politiker bei Wahlkampagnen an den Hut, um ihre Verbundenheit mit der Natur zu zeigen. Nachher werfen sie die Blüten wieder weg, was Willy Brandt mit der Bemerkung kommentierte: »Das Trommelgrass ist kein Schmuck für alte Hüte.«
*
Forts. folgt.

Internet-Tipp: https://www.garten-literatur.de/Leselaube/dichterf.htm


 Literaturfreund antwortete am 18.08.06 (22:49):

Das Trommelgrass

Forts.:

Die heilkräftigen Eigenschaften der Pflanze sind so vielfältig, daß Ärzte sie für und gegen alles empfehlen. In der deutschen Hausapotheke nimmt sie zweifellos den bedeutendsten Platz ein und fehlt in keiner Familie, die vom Puls der Zeit angeregt ist. Es werden mehr Dissertationen über sie geschrieben, als es zu ihrem besseren Verständnis dienlich ist.
Der Saft des Trommelgrass macht eine helle Stimme zum Mitreden und lindert reaktionäre Heiserkeit, treibt den Harn und laxiert. Auch beseitigt er bildungsbedingte Blähungen und die Fleischesunlust. Der Tee aus den Blüten soll das Wachsttum stoppen und Zwerge größenwahnsinnig machen.
Auf jeden Fall nimmt er die Ehrfurcht vor heiligen Dingen und drängt zu hemdsärmeliger Unmittelbarkeit, die sich auch nicht davor scheut, offene Türen einzurennen.
»Das Trommelgrass«, so schreibt Marcel Reich-Ranicki in seinem Buch "Kraut und Unkraut", »macht die Froschperspektive zum klassischen Ausgangspunkt. Da sitzen wir nun und warten auf den großen Sprung.«
Manche muß trauen der Heilwirkung der Pflanze. So bemerkt Dolf Sternberger in seinen botanischen Erinnerungen „Sternstunden eines Gärtners“: »Die Redensart geht „Vorne getrommelt und hinten keine Soldaten“.
Das scheint mir das Trommelgrass sehr gut zu charakterisieren. Eine gute Verdauung ist sicherlich eine wesentliche Grundlage der Gesundheit, aber schließlich leben wir nicht vom Bauch allein.«
Auch in der Küche ist die Pflanze nicht mehr wegzudenken. Sie ist der beste Fleischersatz. Kinder benutzen den mausdreckgroßen Samen als Juck- und Lachpulver. Er soll auch die Pubertät beschleunigen und die Masturbation in vernünftige Bahnen lenken. Während der Korrekturen erfahre ich, daß eine künstlerische Nachbildung des Trommelgrass in Bonn auf dem Marktplatz: aufgestellt wurde.
*
Viel Spaß!
(Fast) angekommen in Internet, s. URL.!
*
Ob das "Trommelgrass" noch umgenannt wird, weiß man heuer noch nicht. Die Verunzierung und die Herabwürdigung zum Unkraut - "Steißwaffentrommler" - würde von Schönborns Erbengemeinschaft "Die Grünen-Roten Wackeren" sicherlich abgelehnt.
*

Das Blech wartet noch auf seinen Trommelgrass.

Internet-Tipp: https://www.yoomcom.de/images/61001_gr.jpg


 Marina antwortete am 19.08.06 (11:13):

Könnt ihr euch an die Medienaufregung nach Grass' Friedenspreislaudatio auf Yasa Kemal erinnern? Es war mindestens so ein hysterisches Geschrei im Blätterwald wie jetzt, und ich war so beeindruckt davon, dass ich ihm damals tatsächlich einen Blumenstrauß mit einer Dankeskarte in die Glockengießergasse nach Lübeck geschickt habe. :-)
Außerdem habe ich auf diese Weise Yasar Kemal, einen wirklich sehr guten türkischen Autor, kennengelernt, habe gleich danach ein Buch von ihm regelrecht verschlungen.

Für meinen Blumengruß hat sich Grass natürlich nicht bedankt, aber ich nehme es ihm nicht übel, denn in der Zeit wird er haufenweise Post von bedeutenderen Leute als mir bekommen haben. :-)

Hier nochmal Auszüge aus dieser Rede:

1997-10-19
Günter Grass
"Ich schäme mich meines zum bloßen Wirtschaftsstandort verkommenen Landes"
Auszüge aus der Laudatio von Günter Grass anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an den türkischen Autor Yasar Kemal in der Frankfurter Paulskirche

"In einem vor wenigen Jahren im Spiegel veröffentlichten Artikel hat (Kemal) die Verfolgung der Kurden in seinem Land beklagt und zugleich die westlichen Demokratien an ihre Mitverantwortung erinnert. (...)
Dieser Appell, meine Damen und Herren, ist auch und aus besonderem Grund an die deutsche Adresse gerichtet. Wer immer hier, versammelt in der Paulskirche, die Interessen der Regierung Kohl/Kinkel vertritt, weiß, daß die Bundesrepublik Deutschland seit Jahren Waffenlieferungen an die gegen ihr eigenes Volk einen Vernichtungskrieg führende Türkische Republik duldet.
Nach 1990, als uns die Gunst der Stunde die Möglichkeiten einer deutschen Einigung eröffnete, sind sogar Panzer und gepanzerte Fahrzeuge aus den Beständen der ehemaligen Volksarmee der DDR in dieses kriegführende Land geliefert worden. Wir wurden und sind Mittäter. Wir duldeten ein so schnelles wie schmutziges Geschäft. Ich schäme mich meines zum bloßen Wirtschaftsstandort verkommenen Landes, dessen Regierung todbringenden Handel zuläßt und zudem den verfolgten Kurden das Recht auf Asyl verweigert.
Ein Friedenspreis wird vergeben. Wenn diese einen Schriftsteller von Rang ehrende Auszeichnung einen solchen Namen zu Recht trägt, wenn der Ort dieser Feier, die Paulskirche, nicht bloß Kulisse sein soll, wenn Literatur, wie die von mir gepriesene, noch einen Anstoß geben kann, dann sind alle hier heute versammelten Autoren, Verleger, Buchhändler, ein jeder, der sich politischer Verantwortung bewußt ist, ermahnt und aufgerufen, Yasar Kemals Appell zu folgen, ihn weiterzutragen und mit ihm dafür zu sorgen, daß in seinem Land endlich die Menschenrechte geachtet werden, keine Waffengewalt mehr wütet, sondern bis in die letzten Dörfer Frieden einkehrt."

TAZ Nr. 5360 vom 20.10.1997, Seite 3

Internet-Tipp: https://www.glasnost.de/db/DokZeit/9710grass.html


 Enigma antwortete am 19.08.06 (17:44):

Ja, Marina, an die Rede erinnere ich mich auch noch sehr gut, weil ich mich zu dieser Zeit noch mit meinem damaligen Kollegen, der geborener Kurde ist, gemeinsam über die Preisverleihung gefreut habe.

Aber jetzt wieder zu Grass. :
Ob Künstler, ob Schriftsteller oder Interpret, in der Regel ist es doch so, dass wir jemanden besser verstehen können als Person, wenn wir mehr von ihm wissen, ihn etwas besser kennenlernen, soweit das per Distanz überhaupt möglich ist.
Ich erinnere mich noch, wie erstaunt ich war zu erfahren, dass Grass durchaus ein sinnenfroher Mensch ist. Bis dahin hatte der Sprachakrobat doch immer etwas kühl und distanziert auf mich gewirkt.
Aber sein Gedichtband “Letzte Tänze” offenbarte ihn als Liebhaber des Tanzens.

"Früh gelernt

Ganz einfach der Schieber.
Der Herr greift die Dame,
sie zieht ihn sich über.
Er will, sie will noch nicht
und bleibt in der Klammer.
Er drängelt, drängt mittlings,
sein Knie – und sie spürt es –
tritt hinter sich schnell.

So einfach der Schieber.
Gelernt, als ich Kind noch,
weil Krieg war und Männer
in Stiefeln weit ostwärts,
so daß sich die Mädchen
aus Mangel und Tanzlust
uns Jungs von der Bank weg
mit Fingerschnalz holten.

Und noch einen Schieber.
Er vor- und sie rückwärts.
Im Takt ohne Zögern,
der Blick in die Ferne,
wo nichts ist, nichts dreht sich.
Das läuft wie am Schnürchen
querbeet und am Rand lang.
Vierkant das Podest.

Beim Schieber, da gibts nichts
zu lachen und zu weinen:
nicht traurig, nicht heiter,
in Schönheit stirbt niemand,
kein Hüpfer hebt ab.
Der Herr drängt die Dame,
fast fällt sie, er hält sie.
Sein Knie trifft ihr Glück.

Wie einst, als ich vierzehn,
und sie mich, war siebzehn,
freiweg in den Griff nahm,
daß ich ihr beim Schieber
mit halbstarkem Pimmel ...
Hieß Ilse, war Tippse,
die richtigen Männer
warn draußen im Krieg."
Gedicht aus: Grass, Günther: „Letzte Tänze“; 2. Aufl. September 2003; Druck und Lithographie: Steidl Verlag, Göttingen)

Hier handelt es sich wohl um die Situation eines Jungen, der die Mädchen während des Krieges mit dem Schieber „anmacht“ (würde man heute sagen), während die Männer alle im Krieg sind.

Auch eine Erinnerung, die Grass aus seiner Jugend geblieben ist? Wahrscheinlich!

Der Gedichtband „Letzte Tänze“ umfasst mehrere Gedichte über das Tanzen.
Das Buch ist auch von ihm selbst illustriert.

Ob jedoch die Illustrationen das Wohlwollen von Gernhardt gefunden hätten, muss bezweifelt werden, denn er hat seinen malenden Kollegen folgenden Rat gegeben:

„Poeten, die nicht zeichnen können,
sollten's besser lassen.
Das gilt für Günter Kunerten,
das gilt für Günter Grassen.
Das gilt für all die Kritzelnden,
die zagen wie die forschen,
für Friederike Mayröckern
als auch für Gerald Zschorschen.“
Robert Gernhardt :-))

Aus „Später Spagat“, Juli 2006, Fischer-Verlag

Grass muss wohl wirklich ein leidenschaftlicher Tänzer gewesen sein. Vielleicht ist er es noch hin und wieder?
Sogar in der Feier nach der Nobelpreisverleihung soll er „alles in Grund und Boden getanzt haben„.

Zu gerne hätte ich auch mal mit ihm ein Tänzchen gemacht...;-))

Mehr über die Tanzerei she. Internet-Tipp!

Internet-Tipp: https://www.philosophia-online.de/mafo/heft2004-4/Fuchs_Grass.htm


 NIL antwortete am 20.08.06 (09:17):

Umstritten ist er nun, der Grass,
bis beissen wird auch er ins Gras.
Er tanzt auch wie ein Lump am Stecken,
ob Blue Grass er wird noch entdecken?

;-)


 Literaturfreund antwortete am 20.08.06 (09:47):

Es ist immer typisch, wenn man Texte und Intentionen von Autoren, über die viel geredet wird (... weil auch die BILD seit dem Nobelpreis für G.G. mitquatschen will), also nur daherredet, aber ihn nicht kennt, sich nicht mit ihm auseinandersetzt - und ihn aus irgendeiner dumpfen Wut dann denunzieren will.
So steigert man sein eigenes Gefühl; aber keine sinnvolle Aussage.
Aber für Uninfomierte soll das schmähende Verfahren wichtig sein: zur Selbstüberschätzung.
So kenn ich was vom "Lumpen":
Ein wirkliches deutsches Sprichwort sagt:
"Der größte Lump im ganzen Land,
das ist und bleibt der Denunziant. "

*
Dieses Gerde vom "Lump am Stecken" - da weiß niemand, was es sagen soll, außer dass man jemanden zum "Lumpen" machen will.

G.G. hat in seiner "Blechtrommel" nur einmal das Wort "Lumpen" gebraucht; damit meinte er abgerissene Kleidungsstücke.

Oder weißt Du mehr, NIL?
*
Stänkereien werden hier nicht mehr beachtet.


 NIL antwortete am 20.08.06 (10:25):

hm, fühl mich nicht getroffen, ich weiss viel, aber mehr??

Ich weiss aber nicht, was du aus meinen Zeilen herausgelesen hast.


 Enigma antwortete am 20.08.06 (10:49):

Ich vermute mal, dass hier ein Missverständnis vorliegt und Grass nicht von NIL als "Lump" bezeichnet werden sollte.
So viel ich weiß ist "der Lump am Stecken" in Verbindung mit dem Tanzen ein süddeutscher Ausdruck, der so viel heißt wie "ausufernd tanzen". Bei uns im Ruhrgebiet würde man vielleicht "schwoofen" sagen.
Und Blue Grass ist evtl. ein Synonym für amerikanische Country-Musik (aber auch ein Parfum). :-))
NIL, jetzt kläre uns aber mal auf, ob ich das richtig verstanden habe! Oder ob Du doch was ganz anderes gemeint hast.....


 NIL antwortete am 20.08.06 (10:56):

Enigma, du hast es getroffen, exakt, und, es ist Satire, weil mir eben zu Grass bluegrass-Musik eingefallen ist.

:-)


 Enigma antwortete am 20.08.06 (11:34):

@NIL
Danke für Deine Antwort!


 Marina antwortete am 20.08.06 (14:24):

Wieder was gelernt. Ich kannte weder den "Schieber" als Tanz noch den "Lump am Stecken". Das Missverständnis und die Reaktion von Literaturfreund kann ich deshalb auch gut verstehen, zumal ja nun wirklich nicht nur BILD, sondern auch deren Leser, die vorher Grass für Bestandteile einer Wiese oder Parfüm gehalten haben, meinen, sich über ihn ein Urteil erlauben zu dürfen. Und wenn man diese Hetzjagd der Neider sieht, die außer von dieser Personengrupppe sogar von Karasek und Leuten dieses Schlages eifrig vorangetrieben wird, kann man schon langsam allergisch werden bei der Witterung neuen "Unheils". :-)

Aber dass dieses Walross (Grass) gerne tanzt - wer hätte das gedacht? Ich jedenfalls nicht.
Mit dem Urteil Gernhardts über Grass' Zeichnungen stimme ich aber nicht überein, ich finde die nämlich sehr gut. Ob hier Gernhardt irrt oder ich, weiß ich nicht. Manchmal ist das ja auch einfach Geschmacksache.


 Enigma antwortete am 20.08.06 (18:09):

Ja sicher, Marina, ich kann die Reaktion von Literaturfreund absolut verstehen, denn wenn ich nicht zufällig den Begriff "Lump am Stecken" gekannt hätte durch eine Freundin, die ihn wiederum von Freunden aus der Nähe von Karlsruhe "mitgebracht" hat, dann wäre ich auch darüber verwundert gewesen, was "der Lump" in diesem Zusammenhang sollte.
Ich habe noch ein weiteres Tanzgedicht von Grass, das mir fast am besten gefällt (obwohl ich sie alle gut finde). Es heißt: "Auf Tönernen Füßen" und ist auf der Site, die sich durch den Link erschließt, zum Schluß kurz angesprochen.
Aber ich traue mich nicht, noch ein Gedicht einzustellen.... :-))

Was den Rat an die zeichnenden Kollegen angeht, so hätte ich jetzt gedacht, dass Gernhardt das nicht so ernst gemeint, sondern sich eher mal einen verbalen Jux gemacht hat. Aber ich weiß natürlich nicht, ob ich mit dieser Einschätzung richtig liege.

Günter Grass befasst sich offenbar auch mit dem Essen und hat da einiges verewigt in seiner Literatur und den Skulpturen.
Und da bin ich heute auf folgendes gestoßen:

"Die Günter-Grass-Stiftung Bremen bietet in Zusammenarbeit mit der Deutschen Akademie für Kulinaristik eine Tagung und Ausstellung an vom 30.9.-1.10.2006.
Thema: “Günter Grass: Menschen sind Tiere, die kochen können”
U.a. heißt es da in der Ankündigung:
(....)
„Günter Grass hat das Essen immer wieder zum Gegenstand seiner künstlerischen Arbeit gemacht. Von Die Blechtrommel über Der Butt bis hin zu Gedichten wie Im Ei oder Die Schweinekopfsülze und zahlreichen Radierungen, Lithographien und Skulpturen hat Grass die anthropologische, kommunikative und symbolische Bedeutung des Essens ansichtig gemacht. „ (....)

Weiterlesen she. Internet-Tipp!


Internet-Tipp: https://www.guenter-grass.de/ggrass/


 Literaturfreund antwortete am 20.08.06 (18:59):

Als ich von „ins Gras beißen“ – und vom „Lump am Stecken“ las, wollte ich wissen, was das heißen sollte; wenn es nix – ist es ja auch keine Satire.
G. G. hat selber Satiren geschrieben, auch auf Adorno und Heidegger z.B. Er ist sich seiner Sprache bewusst, auch seiner Gegner, die dann häufig als Feinde zurückschlagen, mit ohnmächtiger Wut, mit Herabsetzung.

Parodien gegen G.G. sind häufig Glückssachen: Er hat viele Kritiker und Parodisten angezogen, wegen seiner literarischen Frechheit, wegen des politischen Engagements.
Ich wollte Beispiele bringen:

KURT BARTSCH: Aal grün

Oskar, der Matzerath hieß, Blech trommelte, Blech redete, Blech auch bedichten wollte auf frommem, unschuldsweißem Papier, das nachgab, die Tinte und Oskars Finger gewähren ließ, evangelisch wurde, dem Katholizismus wegen der fälligen Beichte abschwor, dann nicht mehr fromm war und unschuldsweiß nur am linken, unbeschriebenen Rand - Oskar hatte die Schreiblust gepackt. Er schrieb vielfingrig, tauchte erst fünf, dann zehn Finger in jene Öffnung, die, obwohl oft und ausgiebig berührt, unberührt blieb, seine Lust nicht erwidern wollte, bis Oskar sich seines elften, besonderen Fingers besann. Er knöpfte, riß an der Hose und holte hervor, was ihn zum Mann stempelt; einen Aal, Zitteraal, Aal von der Seeschlacht im Skagerrak, Aal von der Hafenmole Neufahrwasser, Karfreitagsaal, Leichenaal, Aal von deinem Aal: den man in Tinte taucht, um ihn auf weißem, unberührtem Papier laichen zu lassen.
Was Oskar, das Tintengefäß mit dem kalten lustlosen Loch in der linken, dem Aal in der rechten Hand, für weise Zurückhaltung hielt, füllte in einer Woche zweitausend Seiten, verlief sich, gab sich im Anfang als Handlung aus, wurde dann trocken und gebar immer von neuem Aale.
Man kann einen Roman, in dem es von Aalen wimmelt, Aale Gestalt annehmen und Briefträger werden, die statt der fälligen Amtsschreiben Aale in die Briefkästen werfen, nicht mit Romanen, die keine sind, weil in ihnen nur Möwen vorkommen, vergleichen oder ihm vorwerfen, daß Aale sich leichter in Fäden, Knäuel und später in eine Masche verwandeln lassen als etwa Flundern. Aale sind schleimiger als, haltloser als und verwandeln sich unter der Hand in Trommel - und Schlagstöcke, die auf Hinterköpfen taktloser Demonstranten, zwei links, zwei rechts, als äußerst musikliebend sich ausnehmen und gemeinsam mit anderen Aalen eine Partei gründeten: die Sozi-Aal-Demokraten.
Weil Oskar aalergisch war gegen alles was Netz hieß und nicht nach der eigenen, langläufigen Masche gestrickt war, schimpfte er Brecht einen Gemüsehändler, der weder an die Kartoffel noch an den Wirsingkohl glaubte und sich dennoch als Gärtner, Naturfreund und Vegetarier ausgab. Hinzu kam, daß er, Brecht, den dialektischen Materialismus nicht lassen konnte, was Oskar bewog, in die Re-Aal-Politik überzuwechseln und Blech gegen Rotkehlchen, Rotkäppchen und rote Grütze zu trommeln.
Natürlich war Brecht nicht auf Anhieb zu übertönen, aber Oskar, der indessen Aal grün speiste, um dem Rot aus dem Wege zu gehen, gab sich zuversichtlich, indem er meinte: eines Tages wächst Grass drüber.
(Aus: K.B.: Die Hölderlinie. Parodien. Berlin 1983. S. 77f.
Bartsch konnte kritisch erst auftreten, als er die DDR verlassen hatte.) - https://de.wikipedia.org/wiki/Kurt_Bartsch

Von Robert Neumann, dem virtuosen Meister aller deutscher Hoch- und Trivialliteraten, hätte ich gerne eine Grass-Parodie gelesen. Neumann lebte von 1897 – 1975; er hat sich m. W.s nicht mehr zu G.G. geäußert.
Weiß jemand was Anderes?
S.URL.:

Internet-Tipp: https://de.wikipedia.org/wiki/Robert_Neumann


 Literaturfreund antwortete am 20.08.06 (19:16):

Dieter Saupe: Die Literaten proben den Kopfstand (nach Günter Grass)

Eine Bühnenprobe. In der Mitte GRASSGESELLEN. Links LITERATEN. Später DER CHEF.

ERSTER GRASSGESELLE Sozialkulisse runter! Die grasse Stelle noch mal: Brecht gegen Galilei.
ZWEITER GRASSGESELLE Wann ändern wir den Chef?
ERSTER GRASSGESELLE Der ändert sich erst, wenn er nachweisen kann, daß Shakespeare im Auftrag Bonns gegen Moskau. Ein Chef ändert am besten nur die Fehler eines ändern Chefs, damit keiner die eigenen Fehler.
ZWEITER GRASSGESELLE Da kommt er.
DER CHEF Was wollt ihr?
ERSTER LITERAT Wir dachten, weil wir grad mal in der Nähe. Vietnam, Chef.
ZWEITER LITERAT Wir unterschreiben da nämlich alle, Chef, und wenn Sie vielleicht auch.
DER CHEF Das unterschreib ich nicht. Aus rein literarischen Gründen kann ich das nicht.
ERSTER LITERAT Verstehe: Ford Foundation und so. Berlin-Geisteshilfe. Aber was die dort drüben kaputtmachen, und wer da auf sozial macht, ich meine, was so links schreibt.
DER CHEF Habt ihr schon einmal gehört, wie der Brecht den Galilei auf den Kopf gestellt hat? Zwanzig Jahre geistige Folter, und dann den Widerruf einen Verrat nennen?
ZWEITER LITERAT Aber der Brechtchef konnte doch auch nicht auf die Barrikaden, wo doch die mit den Panzern.
VOLUPTIA (tritt auf.)
DER CHEF Was willst denn du? Mit dir hab ich doch schon mal?
VOLUPTIA Mit wem hast denn du noch nicht?
DER CHEF Und wann hatte ich die Voluptas mit dir?
VOLUPTIA Gleich nach dem Krieg, in den Hundejahren. Du sagtest: wenn einer, und er will nicht auf den Hund kommen, der muß schon auf die Hundejahre kommen, um über die Partei...
DER CHEF Schluß damit! Und was willst du?
VOLUPTIA Deine Unterschrift, Chef. Damals, ich mit dir im Kino, da hast du gesagt, sozial, das verlangt was von uns.
Mit Konsequenz oder so. Und du hast mir dein Blech ins Ohr
und dein einziges Sozialprodukt unters Hemde getrommelt.
Und nun unterschreib das. Denke dran: Zivilisten, und mit
Napalm und so.
DER CHEF (schreibt und liest dabei mit.) Ich bin gegen den Krieg.
ERSTER LITERAT Das ist bißchen, bißchen sehr dünn ist das
Chef. DER CHEF Engagement soll man vorsichtig betreiben. Wir alle
sind Deutsche, und jeder liebt sein bißchen Hummer.
DIE LITERATEN (ergreifen den CHEF und stellen ihn auf den Kopf.) Unterschreibst du jetzt?
Das Telefon läutet.
ERSTER GRASSGESELLE (Nimmt den Hörer ab.) Sozialbühne. Ja ?
… Frag ihn gleich ... Chef, ob die Rede für die SPD fertig ist, oder ob die erst das Honorar ...
ERSTER LITERAT Mann, was fällt dem da raus, dem Chef, aus
der Tasche?
ZWEITER LITERAT Lochkarte. Monatsgehalt für Rundfunkrat, was der Chef ist.
ERSTER LITERAT Und aus der linken Tasche? ZWEITER LITERAT Honorar für einen Katzensprung zum Hasensprung, was der Chef so nebenbei macht.
DER CHEF Was seht ihr mich so an? Das ist doch alles wegen
dem Antikapitalismus! Ihr werdet ja sehen, wenn ihr den
Sozialismus idealistisch!
DIE LITERATEN Chefsozi! Kaffsozi! (Lassen den CHEF zu Boden fallen.)
DER CHEF (steckt die herausgefallenen Schecks und Abrechnungen zurück in die Tasche.) Sozial engagiert klag ich dem Gelde verhaftet die Sozialisten und Kapitalisten an.
*
Hier muss man das Grass-Stück kennen, in dem Brecht eine Inszenierung um den 17. Juni 1953 herum leitet…

Internet-Tipp: https://de.wikipedia.org/wiki/Günter_Grass


 kropka antwortete am 20.08.06 (23:54):

»Das Gedicht ist immer noch das genaueste Instrument, mich neu kennenzulernen.« Günter Grass

https://wagenbach.txt.de/Wagenbach/TXTSIArtikel/3-8031-1208-7
https://www.dtv.de/_google/titel/titel12687.htm

Der Dichter

Böse,
wie nur eine Sütterlinschrift böse sein kann,
verbreitet er sich auf liniertem Papier.
Alle Kinder können ihn lesen
und laufen davon
und erzählen es den Kaninchen,
und die Kaninchen sterben, sterben aus -
für wen noch Tinte, wenn es keine Kaninchen mehr gibt!

aus: Gleisdreieck. Neuwied/Berlin 1960

https://www.radiobremen.de/online/grass/person/collage_manuskript.shtml


Wegzehrung

Mit einem Sack Nüsse
will ich begraben sein
und mit neuesten Zähnen.
Wenn es dann kracht,
wo ich liege,
kann vermutet werden;
Er ist das,
immer noch er.

aus: Fundsachen für Nichtleser. Göttingen 1997

Internet-Tipp: https://www.radiobremen.de/online/grass/person/collage_manuskript.shtml


 Literaturfreund antwortete am 21.08.06 (08:15):

Danke für die schönen, kreativ-mächtigen Gedichte! Man kann sich mit jedem Text erholen von den Dummheiten seiner Kritiker, die sprachlich nix leisten und kein Werk haben, das die BRD seit fast 50 Jahre genial-kritisch begleitetet hat.
Ja, G.G. hat bessere, geschichtstypische Gedichte geschrieben als die Parodien der anderen nachahmenden Kollegen, die an seinen Themen und an seiner Sprache partizipieren wollten, seinen Stil klauten und ihn "treffen" sollten.
Familie, Schule, Literatur, öffentliche Politik - diese Bereiche hat G.G. immer beobachtet...:

Günter Grass:
Auf eine Schiefertafel,

an der ein Schwamm hängt,
will ich erste Wörter
mit einem Griffel schreiben,
dann löschen,
nicht nur der Fehler wegen,
auch soll der Schulgeruch
früherer Ängste aufleben
und tadellos mit ihm
das erste Glück.
*
(G.G.: Mit Wasserfarben. Aquarelle: Göttingen: Steidl, 2001;wunderschöne Aquarelle zu Texten.

*

Marina, ich halte Grass' frühe Zeichnungen und Aquarelle für schöner, kräftiger als Gernhardt Strichwichsereien, mit den oll-sexuellen Wiederholungen.
Die späten Rötelzeichnungen (zur Alterliebe) von G.G. finde ich aber auch nicht mehr so kreativ, gestalterisch genial für frühere Grafik.
*
URL.: das Titelbild:

Internet-Tipp: /seniorentreff/de/zql3Mg9lS


 Enigma antwortete am 21.08.06 (09:38):

@Literaturfreund und kropka
Danke für die tollen Beiträge.

Sehr gut hat mir auch gefallen, was Grass selbst zum Ruhm sagt (erschließt sich über den von kropka eingegebenen Link von Radio Bremen online).
Da erkennt man, wie klar und realistisch er den Ruhm sieht, den er manchmal, wenn er es für wichtig hält, benutzt, um etwas zu erreichen, als “Begrüßungsgustav” (was für eine Bezeichnung...), dessen Wirkung er kennt und gezielt einsetzt, z.B. zur Erreichung politischer Ziele.

Aber genau so weiß er auch, dass er, der Ruhm, isoliert und ihm sogar (echte) Freunde stiehlt.

Ich finde, dass so kein eitler Mann spricht, der sich nur mit seinem Ruhm schmücken will.

Die Hörprobe klappt hervorragend (mit dem Real Player). Es ist mir auch immer wichtig, die Stimme eines Menschen zu seinen eigenen Texten zu hören. Und die von Grass finde ich gut - sie paßt zu ihm.

Alles in allem bin ich nach wie vor der Meinung,, dass , wenn man sich damit beschäftigt, was er selbst sagt, wie er Dinge, Situationen und sich und sein Leben beschreibt, man erkennen muss, was für ein Mensch er ist.
Jedenfalls einer, der auch sagen kann:
“Denn so viel läßt sich über mich sagen: Ich lebe gerne.”

Gut, wenn man das von sich sagen kann. Und so wirkt er auch auf mich; trotz der ganzen Unruhe und Hysterie in letzter Zeit zu seiner Jugendsünde empfinde ich ihn als in sich ruhend.

@Literaturfreund

Die Aquarelle sind natürlich völlig anders, wie z.B. die “Fundsachen für Nichtleser”(am besten auch dazu die Kurzbeschreibung lesen!). Die liebe ich auch in ihrer Farbigkeit. she. Internet-Tipp!

Aber die Rötelzeichnungen gefallen mir eigentlich genau so gut, sind aber natürlich nicht so plakativ wie Aquarelle, aber dafür sehr filigran.

Gernhardt und Grass lassen sich nicht vergleichen, der Meinung bin ich auch, weil Gernhardt ja eigentlich überwiegend Karikaturist war.

Internet-Tipp: https://www.booklooker.de/app/detail.php?id=182381112&setMediaType=0&pid=8


 Literaturfreund antwortete am 21.08.06 (14:31):

Eine Parodie von einem berühmten Mann:
GÜNTER DE BRUYN: Das Ding an sich
(Nach Günter Grass)

Wer steht da, hat sich erleuchten und betrachtet sein Produkt? Der Mensch, der hier die Feder führt - nicht mit der Hand, nicht mit den Zehen, nicht mit dem Mund, er hat weder noch -, blickt nachdenklich der Vergangenheit hinterdrein und sinnt neuen Überraschungen nach. Kann Hotten Sonntag durch Ohrenwackeln das Conradium in Langfuhr zum Einsturz bringen? War Himmlers in Westpreußen gezüchteter Wellensittich kriegsentscheidend?
Duft steigt auf, schlägt zu und gewinnt. Glibbrige Aale, Schaumzeug auf rostigem Wrack, rosige Puddinggebissse hatten wir schon. Doch jeder Mensch hat seinen eigenen Geburtsvorgang. Jedes Buch weiß warum. Jeder Leser will auch mal. Jeder Erfolg hat Gründe. Jeder Autor sein Ziel: Brechreiz oder Tränenfaß, Großauflage und Parnaß.

Es war einmal ein Hintergrund,
der war fix und fertig und kann hier wieder mal benutzt werden.
Es war einmal ein Zeitalter, das man die
Matzerath-Mahlke-Matern-Epoche nennt.
In der kam ich - Geschichte ereignet sich dauernd! – wie man so sagt zur Welt. Das war, als Tulla Pokriefke noch im Fruchtwasser schwamm.
Es war einmal eine Frau,
die unter Schmerzen gebar, was sie nachher in Entsetzen versetzte.

Die Weichsel mündet immerfort. Man sagt den Wehem nach, daß sie einsetzen. Also: die Wehen setzten ein. Die Weichsel mündet auch in diesem Buch. Die Frau schreit im Kindbett. In Danzig fahren die Straßenbahnlinien Zwei und Fünf:, Aber da ist kein Kindbett. Da ist auch keine Couch und keim Himmelbett und keine Hängematte: Da ist eine Straßenbahnbank. Die Bank ist hart hart hart. Aber die Frau will muß will das Kind. Aber so leicht kann man ein Kind nicht. Auch nicht ein so aufs Wesentlichste reduziertes. Dreh dich nicht um, der Mißwuchs geht um.
Der hier mit Weißnichtwas die Feder führt und zwecks Anregung ins Becken stiert, sieht (dabei deutlich das Menschenknäuel, das Kuddlmuddel in der Linie Fünf nach Oliva, langbehost, seidenbestrumpft, blechbetrommelt, hundebejahrt, wortzerspielt. Das rauft sich um die besten Plätze, das? sieht, schaut, blickt unter über durch nach auf vorbei. Das schreit schreit schreit: »Nu kick doch dem an!« Was da herauskommt ist kein Arm, kein Bein, kein Kopf, kein Steiß. Das alles fehlt an dieser originellsten Schöpfung. Warum? Darum.. Was da herauskommt ist rot, tomatenrot, ziegelrot, scharmrot, sozialistenrot, periodenrot, ordensbandrot, blutegellrot, abendrotrot, trommelrot, mülltonnenrot, frackrot, grassrot. Was da herauskommt ist groß, größer am größten. Großer als bei Mahlke? Als Shakespeare? Aber ja. Als Brecht? (Ohne Frage. Als ich? Der hier auf neuen siebenhundert Seiten weißen Papiers Artistik betreibt und eigentlich wie der Große Mahlke Clown dann Modeschöpfer werden wollte, weicht augenzwinkernd aus: »Am größten ist der hebe Gott.« Der schaut auch zu, als das Menschenstück geboren wird, diese endlich von allem unnötigen Ballast befreite literarische Gestalt, das Ding, an dessen Größe die Größe des Mannes gemessen wird, das Ding aller Dinge endlich ganz rein, dies Dingslamdei, dieser Artikel, der Magnet, das Gegenstück zur Schrippe, der Apparat, das Ding Ding Ding, das Ichsprerchesnichtaus. Der hier die Feder führt hat es wieder und wieder benannt, deutsch, lateinisch volkstümlich medizinisch direkt bildlich und sonstwie. Und jetzt weiß er keinen Namen. Aber braucht er einen? Er zieht die Wasserspülung, hebt dem Blick und hat sich, während er betrachtete, der Zeit erinnert, in der er noch nicht altersmüde die Feder führte, sondern in der Helene-Lange-Schule dann Gudrunschule, in Düsseldorf und am katholischen Kölner Hauptbahnhof - grassierte.
*

Eine Fassung mit Aufgaben und Klausurerwartungen an die Schüler werde ich noch in Dietrich Stahlbaums Forum veröffentlichen. Als Ergänzung zu:
URL.:

Internet-Tipp: https://f27.parsimony.net/forum66372/messages/3810.htm


 Literaturfreund antwortete am 21.08.06 (18:19):

1989: Grass als Zeit-Diagnostiker.

Aus einem Interview G.G.s mit Volker Hage („Das Mittelalter hat uns eingeholt“; in: DIE ZEIT. 1989)
(…)
V. H.: Wenn man daran denkt, kann man such der Flamme der Aufklärung nicht allzu sicher sein.
G. G.: Aber es gibt keine andere Lichtquelle. Um so sträflicher ist die Tendenz; die ich allerorts, auch in unseren Feuilletons, beobachte, mit welcher Leichtfertigkeit man diese dauernd gefährdete Flamme der Aufklärung zuzuschütten bereit ist. Aber diese Aufklärung ist nicht am Ende. Wenn sich ihr Vernunftbegriff verengt hat, muß man ihn mit den Mitteln der Aufklärung wieder erweitern.

V. H.: Fühlen Sie sich manchmal müde in der Rolle des Einzelkämpfers?
G. G.: Jeden Tag. Jeden Tag gibt es Momente, wo ich diese Müdigkeit spüre. Ich glaube nicht, daß sie altersbedingt ist. Aber ich habe bis jetzt jedenfalls für mich die Möglichkeit gefunden, diese Müdigkeit zu überwinden.

V. H.: Am Fall Rushdie zeigt sich, wie wichtig Autoren sind, die sich verstehen und verständigen können, von Lenz über Enzensberger bis eben zu Ihnen hin. Bedrückt es Sie, daß es in der jüngeren Generation kaum noch Schriftsteller gibt, die ähnlich handeln würden?' Gibt es eine Generationsschranke?
G. G.: Ich sehe das mit Entsetzen, weil unsere in diesem Jahrhundert mehrmals gewaltsam unterbrochene literarische Tradition schon wieder und ohne äußeren Druck einen Bruch erleidet. Es ist eine Frage, die ich an Sie richte. Fing das nicht an mit »Trau keinem über Dreißig«? Indem man sich von Leuten, die man zu Recht oder zu Unrecht als Väter erkannte, abkoppeln wollte? Wenn ich mir überlege, wie eine kämpferische oder im Sinn der Aufklärung polemische, nach den Ursachen forschende Stimme wie die von Dürrenmatt oder die von Frisch nutzlos beiseite liegt, wie wenig das aufgenommen wird! Ihre Generation, die sich so leichtfertig abgekoppelt hat, sollte sich überlegen, ob sie sich das leisten kann. In solchen Situationen wie jetzt wird das deutlich. Da werden die alten Namen quasi als Feuerwehr noch einmal bemüht, aber ansonsten möchte man damit nichts mehr am Hute haben. Grade in der letzten Ausgabe der „Zeit“ ist ja auch mein älter werdender Kollege Handke froh darüber, dass meine Meinung in politischen Dingen nicht mehr so gefragt ist.
(…)
(In: G.G.: Die Deutschen und ihre Dichter. Dtv 12027. 1995.S. 256f.)

URL.: G. und Rushdie, nach einer poln. Quelle)
(Handke oder andere unpolitische Krämer spare ich mir.)

Internet-Tipp: https://tvp.pl/images/2004/12/01/159582/img200.jpg


 Literaturfreund antwortete am 21.08.06 (19:56):

Als dritte Eingabe (Hoffentlich kommt G.G. mir jetzt zu Hilfe.)
Armin Eichholz: Gras, das ist der Wortschritt (Nach Günter Grass) (Ausschnitte)
»Ich glaube, ein Grashalm ist nicht geringer als das Tagwerk der Sterne.« (Walt Whitman)

Ja, Kinder, ich bin's. Berühmt. Mit ihm befreundet. Ihn auf Knien gefingert gezeugt geworfen gestillt gedrillt mit Olivetti. Lange bevor Behelfsmörder Kiesinger, die Feige im Ohr, in der Wahlnacht sein »Schnickschnack« nasrümpfte vonobenherabte landesvaterte burgtheaterte, mit Willy gemeinsam: Reizwörter gereiht. Habe ich. Glaubt mir, Kinder: Willys Sätze kauen Gras. Bläulichgrünes weißhäutiges oder violett überlaufenes stachelspitziges Knäuelgras. Zeigt gute Düngung an (auch bei Schuttstellen), gedeiht als Futtergras auf schwerem Lehmboden. Aber: wo ein Willy ist, ist jetzt ein Gras weg. »Und waas meenstä mit Gras?« Gras, das ist der Wort-Schritt.
»Und wasissen daas? Häm wä daas vädient häm wä daas?«
Ihr werdet verstehen, Kinder: Fortschritt ängstigt. Denn nach Marx (13, 640) ist der »Begriff des Fortschritts nicht in der gewöhnlichen Abstraktion zu fassen«. Daher zieht Gras sich nach vorwärts zurück ins Wort. Macht Wort-Schritte. Geht auf den - Gedankenstrich. Ain achtes Wiundä zwischen (alterskrummen) Parenthesen. Im vorgetäuschten Dreipunktesprung ... Mit Mutmacher-Bindestrichen. Hinter, jadoch ja?, hegelsicheren Fragezeichen. Auf mittvierziger Gänsefüßchen überall davonkommend. Und alles ohne Punkt und Komma.
Da hüpft die Silb dem Bebel .in den Schoß. Sie drummt Blech hetzt Hund kotzt an killt Mief protzt ab macht Stunk weist Weg ... - Ihr kehrt es, Kinder: das waagrecht abstehende Wegweisergras. Eine Charakterart unserer Edel-Laubwälder, stark variabel. Als Futtergras wertlos. Überzieht im Wald oft weite Streckern und ist dann als Unkraut lästig. Weist dann zuviel Weg.
»Und watisnu mitten Willy? Warum bistä weg? Hastäi dir öffenlich geekelt? Wolltstä nichmä so nahebei am Willy sein krächz glotz paus quetsch schwitz ächz heissa ...?«
Nicht außer der Reihe reihen, Kinder. Ein Schriftsteller, wißt Ihr, ist jemand, der gegen den Sog schreibt. Gegen die Sog-genannte Mährhait. Wißt Ihr noch, wie Hunds-Straußgras auf unseren Streuwiesen dem unterirdischen Wurzlfilz gebildet hat, unter dem die besseren Streupflanzen erstickten? Damals war Trügerischer Rot-Schwingel der beste Rasenbildner und Bodenfestiger, bis Graues Schillergras bastardisierte, Artbegrenzung schwierig machte. Seitdem, Kinder, wird nickendes Perlgras zur Charakterisierung von Gesellschaften innerhalb der Klasse herangezogen, gerade als wenn du gar nicht. Weil nämlich sonst Pfeifengras. (Und dahinter Fahnen-Hafer. Und vom Osten eingeschleppt die Blutrote Fingerhirse. Sodaß stellenweise nur noch Zittergras ... [...]
Wort und Gras, wie leicht bricht das - denkt daran, Kinder, wenn Ihr den Wortschritt übers Papier rascheln hört.
*
(A.E.: In flagranti. Parodien. 1973)

Internet-Tipp: https://www.schoener-leben-ohne-nazis.de/images/guentergrass.jpg


 Enigma antwortete am 21.08.06 (20:40):

Tolle Parodien sind das.
Ich habe auch immer noch ein Gedicht im Sinn und riskiere es doch, das hier einzustellen.
Karl wird es schon richten, wenn wir es herausnehmen müssen.
Aber wir machen ja auch mächtig Reklame für die neuen Bücher. :-))

Augenblickliches Glück

Wenn ich beim Kopfstand die Familie zähle
und weiß, daß kein Haupt fehlt,
denn alle bibbern ängstlich und geniert
im Halbkreis stumm,
weil Vater zeigt, was ihm als Greis
so grade noch gelingt –
mit siebzig, fünfundsiebzig
die Kiste hoch, die Beine krumm – ,
und ich aus Bodennähe seh,
wie alle Enkel wohlgeraten,
die Söhne, Töchter schön
in ihren Krisen und kopfoben alle,
scheint mir die Welt im Lot zu sein,
auch staunenswert,
solang ich mich kopfunten halte;
dann aber wankt, was nur Behauptung war
und – auf des Augenblickes Dauer –
mich glücklich machte aus verkehrtem Stand."

Gedicht aus: Grass, Günther: „Letzte Tänze“; 2. Aufl. September 2003; Druck und Lithographie: Steidl Verlag, Göttingen)


 kropka antwortete am 21.08.06 (23:53):

Glück

Ein leerer Autobus
stürzt durch die ausgesternte Nacht.
Vielleicht singt sein Chauffeur
und ist glücklich dabei.

Günter Grass
Werkausgabe in Einzelbänden. Band 1: Gedichte und Kurzprosa. Steidl Verlag, Göttingen 1998.

© 2006 Deutschlandradio

https://www.dradio.de/dlf/sendungen/lyrikkalender/461858/


 Marina antwortete am 22.08.06 (14:46):

Danke, ihr Oberfleißigen, für viele tolle Texte, jetzt bin ich aber auch mal wieder dran, habe schon ein schlechtes Gewissen. :-)

Kinderlied

Wer lacht hier, hat gelacht?
Hier hat sich’s ausgelacht.
Wer hier lacht, macht Verdacht,
daß er aus Gründen lacht.

Wer weint hier, hat geweint?
Hier wird nicht mehr geweint.
Wer hier weint, der auch meint,
daß er aus Gründen weint.

Wer spricht hier, spricht und schweigt?
Wer schweigt, wird angezeigt.
Wer hier spricht, hat verschwiegen,
wo seine Gründe liegen.

Wer spielt hier, spielt im Sand?
Wer spielt, muß an die Wand,
hat sich beim Spiel die Hand
gründlich verspielt, verbrannt.

Wer stirbt hier, ist gestorben?
Waer stirbt, ist abgeworben.
Wer hier stirbt, unverdorben
Ist ohne Grund verstorben.

Günter Grass

Ist die dritte Strophe nicht besonders interessant vor dem Hintergrund dessen, was wir vor kurzem erfahren haben?

Übrigens: Den „politisch korrekten“ Pharisäern, vor allem denen, die die „Gnade der späten Geburt“ hatten und nun meinen, diesen verdienten, aufrechten Demokraten jetzt in Grund und Boden stampfen zu dürfen, pflege ich inzwischen nur noch zu sagen: Wenn Grass gesagt hätte, er wäre bei der „Weißen Rose“ gewesen, könnte ich eure Aufregung verstehen. Er hat aber nie einen Hehl daraus gemacht, dass er ein überzeugter Nazi war. Was berechtigt euch Vereinfacher, sich über einen immer für soziale Gerechtigkeit kämpfenden großen Künstler zu erheben? Leistet erst einmal die Friedensarbeit, die Grass in seinem Leben danach geleistet hat und die alles überwiegt, was er in dieser Zeit vorher gemacht hat.
Und noch eine kleine Information für die Ignoranten und Obervereinfacher: Der Literatur-Nobelpreis wird nicht für eine politische Gesinnung mit 17, sondern für ein literarisches Werk verliehen. Dieses bleibt unberührt von einer jugendlichen Verirrung, denn sein künstlerisches Werk hat sich deshalb nicht geändert. So sieht das zum Glück auch das Nobelpreis-Komitee in Stockholm.

Interessant ist: Zum Teil die gleichen Leute, die Grass jetzt einstampfen wollen, haben sich vorher für die Verteidigung Handkes eingesetzt: eines Mannes, der heute die Kriegsverbrechen und den Völkermord eines ehemaligen serbischen Diktators relativiert und ansonsten verquasten Schwulst ablässt wie diesen:
„Manchmal fühle ich eine tiefe, perverse Sympathie für die faschistische Gewalt, die aus der Verzweiflung kommt, aber nicht für die linke Gewalt, die sich rechtfertigt mit Marxismus oder sonst einer Ideologie. . .
Dem Hitler als Mensch, dem fühle ich mich manchmal sehr nahe, aber ich möchte keine Geschichten über ihn hören, keinen Joachim Fest oder so was, das finde ich verwerflich.“ (Aus: André Müller im Gespräch mit Peter Handke. 1993)

Wären solche Äußerungen von Günter Grass denkbar?
Was zählt mehr: eine kurze Phase in der Jugend eines Menschen oder das gelebte Leben?


 Literaturfreund antwortete am 22.08.06 (15:29):

Gute Frage; eindrucksvolle Darstellung, Marina! -
Hier: nur eine Stilfrage? Ist dieses Liedchen ein echter Grass oder eine Parodie auf seine Gedichte, auf seinen früheren SPD-Wahlkampfreisen? Das Erscheinungsjahr - 1961 - könnte helfen – es stand auch in „konkret“, wie im Text erwähnt.

Autor…?
Frommes Wahllied für Katholiken, Schildbürger und Unentschiedene

Der Herr Jesus Christ
war einst Kommunist,
doch Sozi ist er heut',
hat von Herzen bereut,
hat SPD gewählt,
mit dem Himmel sich vermählt.

Bischöfe stehn links,
auch der Kardinal Frings
verkündet im Dom
einen Hirtenbrief aus Rom:
Vermehrt die SPD
mit katholischem Dreh

Ursulinen, Klarissen,
die fromme Äbtissin
hat fleißige Nonnen
für Willy Brandt gewonnen,
hat SPD gewählt,
mit dem Himmel sich vermählt.

O heiliger Franz,
erlöse uns ganz
von Strauß und Konsorten,
soldatischem Worten;
erst im himmlischen Saal
gewinnen wir die Wahl.

Und selbst die Jesuiten
woll'n die Bundeswehr verbieten.
Maria zu Ehren,
woll'n Mönche vermehren
die fromme SPD
mit katholischem Dreh.

Der Dichter Heinrich Böll
schickt Nazis in die Höll.
Die Hölle macht zu,
wählt wie immer CDU.
Wählt schnell SPD,
denn die Hölle tut sehr weh. ;

Es stürzen Erzengel
Hans Globke vom Stengel.
Von Engeln begleitet
zur Wahlurne schreitet.
Sozialistischer Brauch:
Die Engel wählen auch.

Als Schildbürger seht
die Jünger in „konkret“.
Ich, Du, Müllers Kuh
wählen die DFU,
wählen nicht SPD,
solang Schilda in der Näh'.

URL.: uraltes Bild: G.G. mit Brandt; und sogar Schmidt!!

Internet-Tipp: /seniorentreff/de/NdMBBsmEa


 Literaturfreund antwortete am 22.08.06 (21:08):

Morgen werde ich Auskunft geben - über das Wahlkampfliedchen.

*

Heute noch dieser Hinweis auf einen Text:

Ein interessantes, mitfühlendes Gedicht hat Robert Gernhardt geschrieben für G.G.:

Robert G e r n h a r d t:


Als er die ersten Kritiken nach dem Erscheinen des Romans "Ein weites Feld" las

Jetzt wäre ich ungern Günter Grass.
Dies meint der eine, der andere das,
Viel Honig fließt und Galle zuhauf,
Die rechte Begeisterung kommt nicht auf.


... Forts. des Textes, s. URL.:

Internet-Tipp: https://home.nordwest.net/toddy/Grassf.htm


 Marina antwortete am 25.08.06 (08:48):

"Wäre ich der Grass, ich könnte nicht vergessen:
Die haben mir doch mal aus der Hand gefressen"

Wi aktuell das alles wieder ist. :-)

Und wo bleibt jetzt die Auflösung von dem Wahlkampflied?


 Literaturfreund antwortete am 25.08.06 (09:07):

Gute Frage, Marina! Ich hatte es fast vergessen..

Grass: Frommes Wahllied für Katholiken, Schildbürger und Unentschiedene
-
Dieses etwa krampfige Liedchen ist ein echter Grass, aus einer frühen SPD-Wahlkampfreise.
Das Erscheinungsjahr: 1961; es stand in „konkret“, wie im Text erwähnt.
Autor war eben Günter Grass selbst.
*
Abgedruckt in: G.G.: Angestiftet, Partei zu ergreifen. Dtv 11938. München 1994. S. 15f.

S. URL.:

Internet-Tipp: https://bilder.buecher.de/produkte/000000254/000000254791n.jpg


 Marina antwortete am 25.08.06 (09:31):

Komisch, das hätte ich nicht gedacht, dass das von Grass ist. Obwohl ich das "Gebet"
"O heiliger Franz,
erlöse uns ganz
von Strauß und Konsorten"

kannte. Aber dass es von Grass war,wusste ich nicht oder nicht mehr. Das hätte ich in seiner Prägnanz eher dem Staeck oder Gernhardt zugetraut. :-)


 Literaturfreund antwortete am 26.08.06 (10:08):

Von Freunden des G.G. gibt es auch Gedichte, Widmungen. Bobrowski und Lettau sind schon tot. - Von Härtling habe ich nichts zu der Lebensbeichte von Grass gehört.


JOHANNES BOBROWSKI: Nußknacker
(Günter Grass)

Welch ein großmächtiger Kiefer! Und dieses Gehege; von Zähnen!
Zwischen die Backen herein nimmt er, was alles zur Hand,
und zerkracht es und weist schon die faul oder trockenen Kerne,
leere Schalen, den Wurm - flieht, hört ihr knirschen den Grass!


REINHARD LETTAU: Der Liebhaber von Originalsprachen
(Günter Grass)

»Daß ich«, ruft der
Schriftsteller Günter Grass, »mir
was andres
wünsche als
den Sieg des
Vietcong
hat folgenden Grund: ich
konnte über dien Vietcong
nichts in Erfahrung bringen. Zwar
es gibt
einige Schriften über diesen
Problemkreis, aber
sie sind alle im
chinesisch und ähnlichen
Sprachen, die ich
nicht kenne,
geschrieben, wie
Sie wissen. Übersetzungen
lese ich nicht. Ich
lese nur
Originalsprachen.
Soviel für
heute
zur
Politik.«


PETER HARTLING: Günter zum Fünfzigsten

Wir kommen in die Jahre
der Schattensammler.
Deine Sätze sind noch
hungrig,
deine Wörter satt
von Erfahrung;
alle deine Flüsse und Strande,
deine Kinderstraßen,
die nicht alt werden,
weil dein Gedächtnis
sie aufgenommen hat
in die größere
immerfort
beredete Landschaft;
die mitliefen und
mitlebten auch;
die Liebsten;
und die Stimmen der
Vergessenen vor dem Fenster,
für die du
eine neue Seite brauchst:
diese Schatten,
alle diese Schatten
werfen ja wir.
*
Informationen zu Grass Biografie:
s. URL.

Internet-Tipp: https://www.literaturkritik.de/public/Guenter_Grass.php


 Literaturfreund antwortete am 30.08.06 (11:27):

Eine Karikatur von einem Mann namens Horsch:

.. horch&kuck, was BILDet sich da einer ein und FAZt rum mit seinem Stift.

Internet-Tipp: https://www.cicero.de/pic_gal/1156261862.gif


 Literaturfreund antwortete am 30.08.06 (11:37):

Die Grass-Memoiren...

"Ist die schwarze Köchin da?"
Rezension von Hubert Spiegel - (dem bekannt guten Kritiker vom DLF, der FAZ, von ZEIT und dem SWF)


Alles erzählen heißt nicht alles erklären: Günter Grass
26. August 2006

Das Rätsel wird bis zum letzten Wort nicht gelöst, die Antwort bleiben diese 480 Seiten schuldig: Günter Grass erklärt uns nicht, warum er sechzig Jahre lang nicht bekannt hat, daß er als Siebzehnjähriger in der Waffen-SS gedient hat. Aber wäre überhaupt eine Erklärung vorstellbar, die dem Hagel der Reaktionen der letzten Wochen hätte Einhalt gebieten können? Nein, denn dieses Schweigen ist nicht schlüssig zu erklären.

Forts. s. URL.:

Internet-Tipp: /seniorentreff/de/Do9VVWzDq


 Literaturfreund antwortete am 30.08.06 (13:57):

Ein Cartoon von H. Sakurai:

"Audienz-Zwischenfall"

- Ich verstehe den "Witz" aber nicht; die Merkelin ist evangelisch, weiblich (jedenfalls so von außen betrachtet); sie hat genug Ritual und Gesang, wenn sie in Bayreuth sich zum Schwitzen niederläßt... - Was könnte sie im Amt eines Pontifex wollen? - Die weibliche Form gibt es nicht. Aber, sie brauchte nicht mit der SPD zu verhandeln. -

Internet-Tipp: https://www.sakurai-cartoons.de/images/g_angieundratzi.gif


 Literaturfreund antwortete am 31.08.06 (11:25):

Pardon - die vorige Eingabe war hier falsch; sie gehört zu einem anderen Beitrag.
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Heuer wieder zu Grass und seinen feindseligen Moral-Krakelern:

FESTes Supra-Moral! Obwohl er kein Wort in Grass Biografie gelesen hat:

Diesen u. g. Beitrag - ein Interview mit NS-Zeremonien-Meister Fest - kann jeder nachlesen – wenn er „Cicero“ kauft.

Damit der, der persönlich als Editor und Redakteur und Lektor und history-Panscher am dreist-fettesten von Speer-Lügen (außer dem Verleger Siedler) verdient hat, auch noch von Cicero-Honoraren profitieren kann:

„Moralische Selbstgefälligkeit“
von Joachim C. Fest

„Kein anderer saß auf einem so hohen moralischen Ross. Kein anderer fällt darum jetzt so tief“, kommentiert der Historiker Joachim Fest das späte Geständnis von Günter Grass. Mit Cicero sprach er über Vergangenheitsbewältigung und Moralisten.

S. URL.:

Internet-Tipp: https://www.cicero.de/page_print.php?ress_id=4&item=1289


 Literaturfreund antwortete am 01.09.06 (10:11):

Wer als geBILDeter oder WELT-getriebener oder FAZig kluger Mensch kein Geld für Grass und sein Millionengrass, - äh, -grab ausgeben will, um ihm mit seinem passgerecht geschäftstüchtigen Geständnis eins auszuwischen... - kann hier im Interview nachlesen, was ihn treibe, den Geschichts-Geschäftsmann:
s. URL.:

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Ich werde noch einen Auszug aus "Beim Häuten der Zwiebel" bringen; das Buch wird seit heute verkauft.

(Bei geschäftstüchtigen Buchhändler natürlich schon seit einigen Tagen. Sie sorgen ja für die Verbreitung der Wahrheit - als eignes Geschäft.)

Internet-Tipp: https://www.steidl.de/grass_neu/


 Literaturfreund antwortete am 15.09.06 (12:09):

Diktatoren-Knecht Handke pinkelt Grass an:

Internet-Tipp: /seniorentreff/de/LX2nMy58M