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THEMA:   Alterserscheinungen

 41 Antwort(en).

Literaturfreund begann die Diskussion am 06.08.06 (23:19) :

Gestern ist hier ein Märchen verschwunden, über den Menschen und seine Erscheinungsformen in den Lebensstufen, ohne das der Verschwinder etwas von seiner Absicht, seinem Urteil, seinen alterstypischen Verhaltensweisen erkennen ließ...

Die Lebenszeit - Märchen von den Brüdern Grimm
Ausgabe letzter Hand von 1857

Als Gott die Welt geschaffen hatte und allen Kreaturen ihre Lebenszeit bestimmen wollte, kam der Esel und fragte: "Herr, wie lange soll ich leben?" "Dreißig Jahre", antwortete Gott, "ist dir das recht?" "Ach Herr", erwiderte der Esel, "das ist eine lange Zeit. Bedenke mein mühseliges Dasein: von Morgen bis in die Nacht schwere Lasten tragen, Kornsäcke in die Mühle schleppen, damit andere das Brot essen, mit nichts als mit Schlägen und Fußtritten ermuntert und aufgefrischt zu werden! Erlaß mir einen Teil der langen Zeit." Da erbarmte sich Gott und schenkte ihm achtzehn Jahre. Der Esel ging getröstet weg, und der Hund erschien. "Wie lange willst du leben?" sprach Gott zu ihm. "Dem Esel sind dreißig Jahre zu viel, du aber wirst damit zufrieden sein." "Herr", antwortete der Hund, "ist das dein Wille? Bedenke, was ich laufen muß, das halten meine Füße so lange nicht aus; und habe ich erst die Stimme zum Bellen verloren und die Zähne zum Beißen, was bleibt mir übrig, als aus einer Ecke in die andere zu laufen und zu knurren?" Gott sah, daß er recht hatte, und erließ ihm zwölf Jahre. Darauf kam der Affe. "Du willst wohl gerne dreißig Jahre leben?" sprach der Herr zu ihm. "Du brauchst nicht zu arbeiten, wie der Esel und der Hund, und bist immer guter Dinge." "Ach Herr", antwortete er, "das sieht so aus, ist aber anders. Wenn's Hirsenbrei regnet, habe ich keinen Löffel. Ich soll immer lustige Streiche machen, Gesichter schneiden, damit die Leute lachen, und wenn sie mir einen Apfel reichen und ich beiße hinein, so ist er sauer. Wie oft steckt die Traurigkeit hinter dem Spaß! Dreißig Jahre halte ich das nicht aus." Gott war gnädig und schenkte ihm zehn Jahre.

Endlich erschien der Mensch, war freudig, gesund und frisch und bat Gott, ihm seine Zeit zu bestimmen. "Dreißig Jahre sollst du leben", sprach der Herr, "ist dir das genug?" "Welch eine kurze Zeit!" rief der Mensch. "Wenn ich mein Haus gebaut habe und das Feuer auf meinem eigenen Herde brennt; wenn ich Bäume gepflanzt habe, die blühen und Früchte tragen, und ich meines Lebens froh zu werden gedenke, so soll ich sterben! O Herr, verlängere meine Zeit." "Ich will dir die achtzehn Jahre des Esels zulegen", sagte Gott. "Das ist nicht genug", erwiderte der Mensch. "Du sollst auch die zwölf Jahre des Hundes haben." "Immer noch zu wenig." "Wohlan", sagte Gott, "ich will dir noch die zehn Jahre des Affen geben, aber mehr erhältst du nicht." Der Mensch ging fort, war aber nicht zufriedengestellt.

Also lebt der Mensch siebenzig Jahr. Die ersten dreißig sind seine menschlichen Jahre, die gehen schnell dahin; da ist er gesund, heiter, arbeitet mit Lust und freut sich seines Daseins. Hierauf folgen die achtzehn Jahre des Esels, da wird ihm eine Last nach der andern aufgelegt: er muß das Korn tragen, das andere nährt, und Schläge und Tritte sind der Lohn seiner treuen Dienste. Dann kommen die zwölf Jahre des Hundes, da liegt er in den Ecken, knurrt und hat keine Zähne mehr zum Beißen. Und wenn diese Zeit vorüber ist, so machen die zehn Jahre des Affen den Beschluß. Da ist der Mensch schwachköpfig und närrisch, treibt alberne Dinge und wird ein Spott der Kinder.
(KHM 176)


 wanda antwortete am 07.08.06 (08:34):

dieses Märchen ist schön - aber ein Märchen, das vor 150 Jahren geschrieben wurde.
Eine neue Version wäre angebracht - wer schreibt sie ?


 schorsch antwortete am 07.08.06 (09:43):

Warum sollte dieses Märchen denn neu geschrieben werden? Es hat doch heute noch genau die gleiche Gültigkeit!


 Karl antwortete am 07.08.06 (10:18):

@ schorsch,


aber es fehlen doch die nächsten 30 Jahre! Von wem wohl hat der Mensch sich diese ausgeborgt? Ideen erwünscht.


 Marina antwortete am 07.08.06 (12:24):

Das Märchen ist ja schön, die Jahre muss man der Evolution gemäß einfach alle ein bisschen aufstocken. :-)
Aber wenn ich nur die Einleitung von Literaturfreund verstehen würde. Komisch - bin ich die einzige, die sie nicht verstanden hat? Dann bewundere ich euch ob eurer Intelligenz.


 wanda antwortete am 07.08.06 (15:43):

nein, verstanden habe ich das auch nicht, denn der Verschwinder müsste ja eigentlich das Märchen sein - aber es ist schön zu lesen und stört niemanden.......

Karl schreibt, die letzten 30 Jahre fehlen, nicht nur das, denn als die kommende Passage anfängt, ist der Mensch 48 und so habe ich nicht gelebt,

"Dann kommen die zwölf Jahre des Hundes, da liegt er in den Ecken, knurrt und hat keine Zähne mehr zum Beißen. Und wenn diese Zeit vorüber ist, so machen die zehn Jahre des Affen den Beschluß. Da ist der Mensch schwachköpfig und närrisch, treibt alberne Dinge und wird ein Spott der Kinder."

Ein Märchen, gut, hatte aber auch vor 150 Jahren schon was bissiges.....


 Marina antwortete am 07.08.06 (16:02):

"aber es ist schön zu lesen und stört niemanden......."

Wanda, da kannst du nur für dich selbst sprechen. Mich stört es durchaus, wenn ich etwas scheinbar Bedeutungsvolles nicht verstehe.

Literaturfreund, würdest du mich bitte darüber aufklären, wieso und warum "gestern hier ein Märchen verschwunden ist, über den Menschen und seine Erscheinungsformen in den Lebensstufen, ohne das der Verschwinder etwas von seiner Absicht, seinem Urteil, seinen alterstypischen Verhaltensweisen erkennen ließ..." ???
Wieso ist es verschwunden, warum gerade gestern, wer ist der Verschwinder, wieso ließ er nichts von seiner Absicht, seinem Urteil, seinen alterstypischen Verhaltensweisen erkennen???

Bitte kläre mich über dieses Geheimnis auf, aber bitte so, dass auch ein einfaches Gemüt wie ich es versteht. Ich bleibe nicht gerne doof. :-)
Danke im voraus für deine Mühe.


 Karl antwortete am 07.08.06 (16:39):

@ marina,


diese Fragen habe ich in meiner Funktion als Webmaster Literaturfreund schon in einer privaten Mail gestellt, denn ich vermute, er hat das Thema schon einmal versucht einzustellen, was aber nicht gelungen ist. Der "Verschwinder" jedenfalls - versichere ich - war nicht der Webmaster ;-)


 schorsch antwortete am 07.08.06 (17:21):

....und ICH habe mich nicht getraut zuzugeben, dass auch ich die Einleitung nicht verstanden hatte.....


 Marina antwortete am 07.08.06 (18:32):

Welch ein Rätsel. Dass der "Verschwinder" jedenfalls nicht der Webmaster war, dachte ich mir fast :-)
Ob das Geheimnis dermaleinst gelüftet wird? Das ist ja fast wie ein Krimi.
Wir alle sind gespannt und harren der Auflösung dieses Rätsels. Wer war der Verbrecher, äh, Verschwinder? Warum hat er den Mord begangen, äh, das Märchen verschwinden lassen?
Warum hat der verflixte Märchenverschwindenlasser nichts von seiner Absicht, seinem Urteil, seinen alterstypischen Verhaltensweisen erkennen lassen?
Und warum gerade gestern?
Bitte, sehr geehrter Herr Krimi-Autor, in unserer Polizeidienststelle herrscht gerade Urlaubsflaute, will sagen, viele Beamte sind nicht im Dienst und können sich deshalb um die Aufklärung dieses rätselhaften Verbrechens nicht kümmern.
Seien Sie doch so gut und spannen Sie uns nicht länger auf die Folter. Lassen Sie uns an Ihrem Wissen teilhaben. Erzählen Sie uns mehr über diesen Märchenverschwindenlasser! Unser Dank sei Ihnen gewiss.

Mit freundlichen Grüßen
Eine treue Leserin :-)


 wanda antwortete am 08.08.06 (08:19):

@Marina - Du hast recht, ich kann nur für mich selbst sprechen - und das tue ich jetzt noch einmal:

Für mich ist diese Einleitung Poesie und als solche darf sie sich den Luxus erlauben, nicht erschlüsselt zu werden...


 kropka antwortete am 08.08.06 (08:56):

Aber natürlich Wanda, es ist reine P o e s i e!.. Ohne dieser "Einleitung".. wäre für mich das Märchen häßlich. Wie der "Verschwinder", der... jetzt einfach frech weg ist ;-)))


 Literaturfreund antwortete am 08.08.06 (09:05):

Niemand darf wissen, was da Bedeutendes steht, zu lesen ist und geraten werden soll von den versammelten Daseinsdeutern und -lyrikern.
So will es dekonstruktivistische moderne Poesie (oder auch vulgo „Affentheater“ genannt). (Wanda hat Recht! Ach, alle haben es!)
Bevor die Einsendungen als Literaturwettbewerb ausarten - hier die maximale Originalbedeutung.

Das verschwundene Märchen

Es hatte eine Mutter ein Märchen, geschrieben in sieben, langen Jahren, das war so schön und lieblich, daß es niemand ansehen konnte, ohne mit ihm gut zu sein; und sie hatte es auch lieber als alles auf der Welt.
Nun geschah es, daß es veröffentlicht werden sollte; da wurde es plötzlich siech und krank, und die Mutter hatte kein rechtes Wohlgefallen mehr an ihrem Kinde; und – unverhofft kommt oft – es ging verloren in den Weiten des Internets; doch einer weiß es besser: Das liebe Nichts nahm es zu sich.
Doch konnte sich die Mutter nicht trösten und weinte Tränen der Wehmut auf ihre Tastatur Tag und Nacht.
Bald darauf aber, nachdem es verschwunden war, zeigte sich das Kind nachts über den Tasten, in einer verstümmelten Datei, wo es sonst frisch, fröhlich und selig im Leben gesessen und gespielt hatte; und weinte die Mutter, so weinte es auch, und erst wenn der Morgen kam, war es verschwunden.
Als aber die Mutter gar nicht aufhören wollte zu weinen, erschien es in einer Nacht mit einem weisen Märchen vom Bruno, in welchem der Bär in einen sarggerechten Papierkorb gelegt war, und mit dem Kränzchen auf dem Kopf, setzte sich das Märchen zu des Bären Füßen auf das Bett und sprach: „Ach Mütterchen, höre doch auf zu weinen, sonst kann ich in meinem Sarge nicht einschlafen, denn mein Gesicht wird nicht trocken von deinen Tränen, die alle darauf fallen."
Da erschrak die Mutter, als sie das hörte, und weinte nicht mehr.
Und in der andern Nacht kam das Kindchen wieder, hielt in der Hand die blakende Schnuppe eines Lichtleins und sagte: "Siehst du, nun ist meine Datei wieder da, und mein Gesichtchen ist bald trocken, und ich habe Ruhe in meinem Verschwundensein."
„Aber, Kindchen, bist du auch nunmehr behütet vor dem Verschwinder?“ doch da linkte der Morgenstern schon.
„Ist denn schon Affenzeit?“ fragte sich besorgt das Mütterchen und beschloss bei einem Lebensabschnittspsychologen um Rat zu fragen.

Abends jedoch befahl die Mutter dem lieben Gott ihr Leid und ertrug es still und geduldig, und das Märchen kam wieder und ruhte wohlbehütet in seinem Dateibettchen wohl hundert Jahre.
Und am nächsten Tag griff sie wieder frohgemut zum Kalenderblatt: „Ich habe noch manches Jahr, bis die Vertreter der Affenzeit bei mir anklopfen; na, wenn ich nicht bis dahin blöde geworden bin, ohne es zu merken. Aber bis Weihnachten reicht es wohl noch.“
*

Internet-Tipp: /seniorentreff/de/8jPWzZzXP


 Literaturfreund antwortete am 08.08.06 (09:14):

Wie jede Mär ihr Märchen hat, so hat auch hier das nicht ultimative Märchen vom Märtyrer Bruno noch Platz.

»Eau de Miel«

Dieser Text ist dem Andenken Brunos gewidmet, der in Frieden kam und nur spielen wollte. Und er beginnt so: Im Land, wo Milch und Honig fließen, ist immer Kindheit. Hier hört der schönste Tag des Jahres nie auf. Wer einmal genau hinschaut, bemerkt, dass außer Kindern dort nur Bären, Bienen und Vögel wohnen. Was für ein herrlicher Tag! Überall brummt es sanft in der warmen Luft. Das sind die Bienen, die bereits vom Jasmin weiter zu den Blüten der Orangenbäume fliegen. Die Bienenkönigin nimmt zufrieden ein Glas Gelée Royale zu sich. Der Bär nascht mit seiner Tatze Honig, direkt aus dem Topf. Und was ist mit den Kindern? Für sie gibt es hier ein eigenes Parfum. Bevor sie spielen gehen, nehmen sie etwas von dem »Eau de Miel« (»Eau de Miel« für poetische Deuter von L’Poetica, 100 ml um 270 Euro) oder pures Honigwasser, das man selber anrührt in Märchen.
Wie das duftet! Also dichten sie, den Boeten, den Bienen und Bruno zur Feier:

Dem Könige der Bienen
im Traume sind erschienen
Ideen rein und forenweit:
Wenn Bären mächtig weinen
sie um Mitleid greinen
schon vor der Affenzeit.

Von: DeCKelHART Bear-Nickel
*
URL.: Husch, ein zauberhaftes Bildchen; bis zur nächsten Bären- oder Affenstory. (Mäßiger Beifall soll belohnt werden.)

Internet-Tipp: https://www.loccitane.com/img/lib/product/215/15ET100M3.jpg


 Literaturfreund antwortete am 08.08.06 (09:17):

Zur Ablenkung:

Hit the bear!

(Hier ist der Bär blau, komisch, so ein italienischer Kerl!)

Internet-Tipp: https://www.spinchat.de/zidane


 kropka antwortete am 08.08.06 (10:11):


Du bist g e n i a l! .. und so phantasievoll!
Und das alles meine ich nicht ironisch.
Leider intolerant und gelegentlich zu schnell :-)
ZB im schreiben. Oder/und beleidigen.

Was aber bitte hat Zidane, du, Literaturfreund, wir, deine treuen Leser... und das hässliche, hoffnungslose Märchen...?
Ich muss jetzt leider weg. Lasse dir Zeit. Lese dich morgen. Vielleicht.


 Marina antwortete am 08.08.06 (12:25):

Und um die Story zu vervollständigen, fehlt jetzt noch (m)eine Literaturempfehlung von "Pu der Bär", ein wirklich wunderbares Buch, auch für Erwachsene. :-)

Internet-Tipp: https://www.eltern.de/urlaub_freizeit/freizeit/rowohlt_pu.html


 wanda antwortete am 09.08.06 (08:25):

mit dem "verschwundenen Märchen" bin ich sehr zufrieden und mein Lebensabschnittspsychologe hat mir geraten, unbedingt bis Weihnachten zu warten, denn dann wird sich auch der Bär verflüchtigt haben. Im Moment versteckt er sich noch hinter der Speicherkarte und man hört ihn nur brummen, wenn man Steuerungstaste und Mausklick auf einmal hinkriegt......


 Enigma antwortete am 09.08.06 (09:09):

Da muss ich mich aber erstmal einarbeiten... ;-)))

@kropka

Der Bär ist doch nur "zur Ablenkung"... :-))


 Enigma antwortete am 09.08.06 (09:13):

...sorry,der Bär (alias der Zidane) ..... ;-))


 kropka antwortete am 09.08.06 (11:07):

Aha.

pilliiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii?! wo steckst du???
Ich liebe dich auch.

;-)))


 Marina antwortete am 09.08.06 (13:02):

????????????

"Alterserscheinungen" ?


 Enigma antwortete am 09.08.06 (14:20):

... Ist aber kein Widerspruch in sich, Marina... :-)))

Sonett von Michelangelo

Hätt ich geahnt, als ich zuerst Dich schaute
daß mich die warme Sonne Deiner Blicke
Verjüngen würde und mit dem Geschicke
Feuriger Glut im Alter noch betraute,
Ich wäre, wie der Hirsch, der Luchs, der Panther
Entflohen jeder schnöden Schicksalstücke
und wäre hingeeilt zu meinem Glücke,
Längst wären wir begegnet dann einander!
Doch warum gräm ich mich, wo ich nun finde
In Deinen Engelsaugen meinen Frieden,
All meine Ruhe und mein ganzes Heil?
Vielleicht wär damals mir dies Angebinde
noch nicht geworden, das mir nun beschieden,
Seit Deiner Tugend Fittich ward mein Teil

Michelangelo an Tommaso Cavalieri 1532
Übersetzung von Rainer Maria Rilke


 Literaturfreund antwortete am 09.08.06 (18:23):

Der Text passt natürlich in das Thema "Gernhardts Abschied".
Hier, als Gegensatz zu märchenhaften Altersvorstellungen, meine ich die besondere Form, Alterweisheit zu zeigen; geistig präsent zu bleiben, literarisch zu überleben, als Ersatz für jegliche Auferstehungs- oder leibliche Weiterlebensidee:

Robert Gernhardt: Abschied

Ich könnte mir vorstelln,
mich so zu empfehlen:

Die Zeit. Ich will sie euch
nicht länger stehlen.

Den Raum. Ich will ihn euch
nicht länger rauben.

Den Stuß. Ich will ihn euch
nicht länger glauben.

Das Ohr. Ich will es euch
nicht länger leihen.

Das Aug. Ich will es euch
nicht länger weihen.

Das Hirn. Ich will es euch
nicht länger mieten.

Die Stirn. Ich will sie euch
nicht länger bieten.

Das Herz. Ich will es euch
nicht länger borgen.

Den Rest? Den müßt ihr
schon selber entsorgen.
*
Aus Robert Gernhardts letztem Gedichtband „Später Spagat", der nach seinem Tod im S. Fischer Verlag erschien.

URL.: ein Rezension bei dradio

Internet-Tipp: https://www.dradio.de/dkultur/sendungen/kritik/521537


 Literaturfreund antwortete am 09.08.06 (18:40):

Heimfahrt
- Herrn Brauns Alltagsmärchen -

Es hatte einmal ein Herr namens Braun einen feinen kleinen Lieferwagen, der mit Wein und leckeren Spezereien beladen war, auf einem Waldweg festgefahren, so daß er ihn trotz aller Mühe nicht wieder flottkriegen konnte.
In der Woche vor seiner Verrentung war er noch, an einem „Ruhetag“, bei der „Lindtchen-Wirtin“ Bärbel eingekehrt und war schon allseitig harmonisiert auf der letzten Heimfahrt: ‚Für immer fort aus dieser gottverlassenen, umsatzschwachen waldreichen Gegend! Es reicht!'
Es wurde Abend, die rotgoldne Sonne leuchtete noch funkelnd - aber plötzlich versagte alles, der Motor, das Handy – und fast die Nerven. Aussteigen, ratlos kucken!

Nun kam gerade der Jungbär Bruno des Weges daher, und als er die Not des armen Mannes sah, sprach er zu ihm: „Ich hab prima geruht heutigen Tags; ich bin tatendurstig und hungrig."
Keine Reaktion.
"Ach, was heißt da denn ‚Braun’ – und was besagt denn die Aufschrift auf deinem Lieferwagen?“
Der kaufmännische Repräsentant wunderte sich ob der Lesekunst, wagte aber nicht zu lügen und stotterte: „Bbbraums Wwwein & Wwwellness“!
„Und was ist das Braune da auf dem Bild?“
„Was?“
„Ja, nun denn, gib mir mal ab von den – den – wie riecht denn das - ah, nach schokoladig duftenden Leckersachen.“
Der Mann zauderte.
„Ach was, aber zuerst ein Gläschen Wein. Meine Mama hat mir das immer vorenthalten, wenn sie und der Brummbär tafelten. Okay, okay, keine Angst! Da will ich dir auch deinen Wagen flott machen und bis zur Bundesstraße schieben.“
*
Forts. folgt.

URL.: Die Bärenfalle verschmähte Jungherr B.
*
© www.anton-reyntjes.de

Internet-Tipp: /seniorentreff/de/oHAYTVUi1


 Literaturfreund antwortete am 09.08.06 (18:45):

Fortsetzung:
„Heimfahrt“ – Herrn Brauns Alltagsmärchen

„Gut-gut!“, antwortete der Händler. „Wein? Mhm, aber ich habe kein Glas, worin ich dir den Wein geben könnte.“
Da brach der Bär vom Wegesrain ein weißes Blümchen mit roten Streifen ab, Ackerwinde genannt, das einem Glase recht ähnlich sieht, und reichte es dem Weinhändler.
Der füllte es eifrig jovial mit Wein, und der Jungbär trank ihn, und schon – nein, der Wagen war nicht flott gemacht; weil Bruno den seltenen Mann so schnell nicht wegfahren lassen wollte.
„Potztrunk! Das schmeckt ja besser als aller Honig im Allgäu! Na, dann machen wir es uns bequem – und picknicken gemütlich! Dann werde ich deine Blechschaukel – huijbuij – mit einer Tatze weiterschieben.“
Nach wenigen Prösterchen verlangte es den Bruno nach der ganzen Flasche. Und dann nach der nächsten, die der Mann ihm alle öffnete und ihm in den Rachen schütten musste.
„Na, endlich!“ Schleckend und brummend legte sich Bruno ins Gras und streichelte die Ackerwinde: „Das Blümchen könnte heißen, äh, … - Brunogläschen.“ Darauf versank Jungherr Bruno in Schlaf und Traum.

‚Na, Glück gehabt’, brummte der Weinhändler, auch ein wenig beschwipst, „aus Bärlapp hätte er nix trinken können – oder Bärlauch, Bärmoos oder – ach – Bärbel. Nein, was Füreinbärauch! Es muss schon was Weibliches sein, auch für mich alten Affen! Das ist eben die Natur - Retter des Menschen! – Aber was tun?“
Er rettete sich in den Wagen. Zum Nachdenken. ‚Auf meine alten Tage – mein Gott – was einem da passieren kann', und sprach wie in Kindertagen ein Notgebet, „Mutter Maria…!“ (Da blieb er stecken.) Ddann fummelte er am Zündschlüssel. Toll! Der Motor sprang wieder an, und Herr Brauns Vertreter kurvte rasch dorthin, wo er Hilfe finden konnte.

Der nächste Autofahrer, der sein Handy rüberreichte, riet: „Rufen Sie schnell den Bärenjäger an. Das kann man ja keinem zumuten! “
„Ja, ja, und wer hat schon viel Wein und Schokos parat!“

Der Bär erwachte spät aus einem traumlosen Rausch. Der erste Schuss peitschte neben seine Pranke ins Moos; da sprang er hoch, torkelte und erinnerte sich schmatzend: „Tttoll dieser Wwwein. Ppprrima Erfinder diese Menschen! Aber, doch noch ein bisschen Honig dazu -“ da fühlte er die heiß brennende Kugel der Überraschung in seiner Brust.
*
Ackerwinde:
https://www.pflanzenliebe.de/innen/floragalerie_mittel/wiese/ackerwinde_0705/ackerwinde4.jpg

Bärlauch:
https://de.wikipedia.org/wiki/Bärlauch#Etymologie

URL.: Trauerstätte für B.

Internet-Tipp: /seniorentreff/de/6XpVFZg3h


 Enigma antwortete am 10.08.06 (09:15):

Schöne Geschichten, aber ich liebe auch die Märchen, die wahr werden. :-))


Darum möchte ich noch eines hinzufügen, eines, das - wie man so sagt - das Leben schrieb.
Es sollte eine Geschichte sein, die auch Glück und Lebensfreude von alten Menschen zeigt, weil es das - hoffentlich - überhaupt nicht so selten gibt, immer vorausgesetzt, der Körper (die Gesundheit) spielt mit.. Aber häufig ist das ja auch eine Wechselbeziehung, dass Lebensfreude und Aktivität im Alter auch der Gesundheit sehr gut tun.

Es ist die Geschichte von Menschen, die Musik machten.
Die begeistert Musik machten,

Und - das Schöne daran: Sie waren alle alt, als sie so richtig berühmt wurden.

Hier ein Auszug aus Wikipedia:
„Im Jahr 1996 reiste der amerikanische Musiker Ry Cooder nach Kuba. Er fand dort Kontakt zu einer Reihe von Musikern. Juan de Marcos Gonzáles, ein Kenner der Son-Musikszene, stellte für ihn eine Gruppe von Musikern zusammen. Es handelte sich zu einem größeren Teil um Musiker, die vom Alter her bereits die 70 oder sogar die 80 überschritten hatten. Mit Ry Cooder als Produzenten spielte die Gruppe Musikstücke für eine CD ein.
Der Name für das Projekt, „Buena Vista Social Club“, leitet sich von einem Veranstaltungsort ab, der in den 40ern und 50ern unter diesem Namen sehr populär gewesen ist. Einige der Musiker des Ry-Cooder-Projekts von 1996 waren in den alten Zeiten im „Buena Vista Social Club“ aufgetreten.“......

Bereits 2 Jahre später, 1998, reiste Cooder erneut nach Kuba, um eine weitere CD aufzunehmen, Und mit ihm kamen Wim Wenders, eine Freund von Cooder, und ein Film-Team.
Dieser Film machte das Projekt in der Welt, auch in Europa, bekannt, so dass sich das bereits veröffentlichte Album „Buena Vista Social Clubs Presents...„ weltweit über 5 Millionen Mal verkaufte und den „Grammy“ erhielt.

Und um das Happy-End komplett zu machen, starteten nach diesem Erfolg einige der betagten Band-Mitglieder eine Solo-Karriere.

Ist das nicht ein schönes und wahres Märchen?

PS
Es gibt übrigens Hörproben von einigen Tracks im Netz.


Und wer noch mehr wissen will über die „Glückspilze im Alter „ - she. Inernet-Tipp!

.

Internet-Tipp: https://de.wikipedia.org/wiki/Buena_Vista_Social_Club


 Enigma antwortete am 10.08.06 (09:44):

Die Geschichte vom beschwipsten Bruno hat ja auch ein reales Ende gefunden - nur ein nicht so schönes...

Aber immerhin - vielleicht? - starb er mit einem Glücksgefühl über weinselige Genüsse, einem Glauben an den Erfindungsgeist der Menschen und der Lust und Hoffnung auf noch ein bisschen Honig.
Und das ist doch schon mal was..... :-)


 Literaturfreund antwortete am 10.08.06 (11:24):

Dank für die Ergänzungen und Ermunterungen: an marina; besonders auch an enimga, von der ich gerne Nachrichten und Neues über Musik höre.

*
Wg. des Themas vom Leben und Sterben, nicht so sehr wg. des absolut überschätzten Jandl, dessen Typ "Lautgedichte" von Kindern oder Kindergedichtautoren (z.B. Guggenmos, Hacks oder G.B. Fuchs) viel naiver, frecher und poetischer geschaffen werden können:

Ernst Jandl (1925-2000):
Sommerliedl

Wir sind die menschen
auf den wiesen
bald sind wir menschen
unter den wiesen
und werden wiesen,
und werden wald
das wird ein heiterer
landaufenthalt
14.6.1954
*

Fast jedes Tiroler Martel, die man heute in Heimatmuseen suchen muss, sind erfrischender, "komischer" als Jandl und seine Lautgedichte, äh, Maulereien. Wer mal ein öffentliches Spektakel von ihm gehört hat, weiß, dass dort nicht Dichtung, Einsicht, Kritik oder Aufklärung erlebt wurden - sondern Klamauk; besonders von Leuten, die in der Schule schlecht und unerbittlich auf "hohe Literatur" und deren "eindeutige Interpretation" vorbereitet worden sind, zu ihrem Schaden.

*

Kästner überlieferte den wirklich erschütternden Typ des Epigramms so:

„Es ist nicht weit
zur Ewigkeit.
Um acht ging Bruno fort,
um zehn war er dort."
(Aus der Vorrede zu Kästners "Kurz und bündig".)

*

Okay, bei E.K. steht natürlich nicht "Bruno", sondern "Martin"... - aber ein Bildchen, auf dem jemand (ob Mensch, ob Tier, ob unbelebte Natur) getötet wird, kann sich jeder Wanderer des Lebens und zeitweiliger, staunender Leser selber ausmalen, ob vor Wiesen oder Marterln; wobei man manchmal - zur Probe - "ruhen" kann, auf des Lebens Wiese oder im oder vor dem Wald.
*
Zur URL.: Die Seite zu Jandl stammt von Bertelsmann, versteckt als "Randomhouse", die die zehnbändige Ausgabe Jandls verkaufen wollen. Die betrachten Jandl also als verkäufliches "Entertainment", wie Bohlen oder so...

Internet-Tipp: https://www.randomhouse.de/dynamicspecials/jandl/


 Enigma antwortete am 10.08.06 (17:40):

Einen interessanten Artikel möchte ich präsentieren über die Schauspielerin Geena Davis, die ich seinerzeit einfach umwerfend in „Thelma und Louise“ fand, obwohl der Film selbst m.E. eher feministisch orientierte Klischees bediente.
Davis war - und ist - nicht nur schön (das sind andere auch) sondern ebenso intelligent (sie ist u.a. Mensa-Mitglied) und witzig.
Nachdem sie nun die 50 überschritten hat, gibt es auch bei ihr die bekannten Probleme, andere reizvolle Rollenangebote als die der jugendlichen Liebhaberin zu bekommen.
Und so entschloss sie sich zu einem ungewöhnlichen und vielleicht auch nicht „alterstypischen“ Schritt, sehr zu meiner Freude!

Auszug Stern-Artikel aus Heft 31/2006 , veröffentlicht in www.stern.de:


"Geena Davis
Geena for President


Von Christine Kruttschnitt

Zu schlau, zu alt: Hollywood fürchtet Frauen wie den früheren "Thelma & Louise"-Star Geena Davis. In der TV-Serie "Welcome, Mrs. President" feiert sie als US-Staatschefin ein famoses Comeback.

Im reifen Alter von knapp 50 Jahren wurde Geena Davis zum Pornostar. Das geschah, nachdem sie schon fast zehn Jahre lang keine anständigen Angebote mehr bekommen hatte; das klassische Schicksal von Hollywood-Schauspielerinnen, deren Blicke für die Liebhaberinnenrolle einfach nicht mehr blank genug sind. Früher, da konnte Geena Davis ihre Filmpartner noch richtig anhimmeln. Aber mit der Zeit verliert sich das. Und dann bleibt nur das harte, das schmutzige Geschäft

Die Politik.
Als "Polit-Porno" haben Fans die Serie "Commander in Chief" bezeichnet, die ab 15. August unter dem leicht doofen Titel "Welcome, Mrs. President" bei Sat 1 (dienstags 22.15 Uhr) läuft. Geena Davis spielt darin Amerikas Regierungschefin - jawohl, eine Frau im Weißen Haus: Fleisch gewordene Feministinnenfantasie, drastische Ausreizung konservativer Lustängste. Der TV-Sender ABC war von der Kuriosität seiner Idee so berauscht, dass für den US-Start mit dem Spruch geworben wurde: "In diesem Herbst wird eine Frau Präsident!", als flögen damit gleichzeitig Schweine ins Weltall und lernten alle Eichhörnchen Wasserski.“ (....)

Recht so!
Leider hat das Studio die Serie schon nach einer Saison eingestellt. :-(

Aber erstmal muss ich zu Beginn der Ausstrahlung gucken, wie Davis Georgie den Rang abläuft. ;-))

Alles nachzulesen - she. Internet-Tipp!

Internet-Tipp: https://www.stern.de/lifestyle/leute/:Geena-Davis-Geena-President/566940.html


 Enigma antwortete am 10.08.06 (17:54):

Ergänzung:
Es geht natürlich, wie auch aus dem Text ersichtlich, um Polit-Porno. :-))


 Literaturfreund antwortete am 13.08.06 (09:52):

Danke, enigma. Auch solche Beiträge spiegeln "Leben" in Liebe und Trauer...

*

Heute:

Ein wundervoll ernstes, fast schauriges Epigramm:
Ich stelle es mal als Rätsel für Leser-innen und Erdenwanderer hier ein (ohne dass ich nachgekuckt habe, ob es schon im Internet zu finden ist; Elke Heidenreich trug den Spruch vor kurzem im Radio vor; so könnte man bei derem Sender den Text recherchieren... (Mhm!) - Klar, die Initialen kann man natürlich erkennen; „deshalb“ habe ich sie nur umgedreht, und den Originaltitel habe ich weggelassen; wird aber am Montag nachgetragen. Versprochen!)


K.M.: MEIN GRABSPRUCH:

Hier liegt K. M., umrauscht von einer Linde.
Ihr »letzter Wunsch«: Daß jeglicher was finde.
- Der Wandrer: Schatten, und der Erdwurm: Futter.

Ihr Lebenslauf: Kind, Weib, Geliebte, Mutter.
Poet dazu. In Mußestunden: Denker.
An Leib gesund. An Seele sichtlich kränker.
Als sie verschied, verhältnismäßig jung,
Glaubte sie fest an Seelenwanderung.

- Das erste Dasein ist die Skizze nur.
Nun kommt die Reinschrift und die Korrektur. -
Sie hatte wenig, aber treue Feinde.
Das gleiche, wörtlich, gilt für ihre Freunde.

- Das letzte Wort behaltend, bis ans Ende,
Schrieb sie die Grabschrift selber. Das spricht Bände.

*

Der Text so schön und ergreifend ist, dass ich ihn in mein eigenes Testament eingetragen habe. (Neben den Verfügungen über Reichtümer, die ich nicht habe… - und wg. der Bücher müssen sich die Kinder „streiten.“)

*
Auch die URL gibt, versteckt, Auskunft!

Internet-Tipp: https://www.deutsche-liebeslyrik.de/die12/april9.JPG


 kropka antwortete am 13.08.06 (10:13):

Mascha?
Mascha K.?
Mascha Kaleko?

Ich liebe Deine Texte! Viele. Manchmal. Oft...


 kropka antwortete am 13.08.06 (10:45):

(gelesen im Literaturblatt, Ausgabe: Mai/Juni 2004:
Chrüz und quer
Literarische durch Zürich und Basel
Von Ute Harbusch
https://www.literaturblatt.de/)


 Literaturfreund antwortete am 13.08.06 (10:47):

Ja, natürlich, kropka!

Mascha Kaléko:
"EPITAPH AUF DIE VERFASSERIN", heißt das Gedicht.

Aus: In meinen Träumen läutet es Sturm. dtv 1294. S. 137.
*
Als Zugabe, mit richtigem Titel:

Mascha Kaléko:
Lob des Nutzlosen

Am Sirius bemängeln die irdischen Kinder:
Er eigne sich nicht zum Zigarrenanzünder!
Und lobt man den Falter, so sagen sie gar:
»Den kannt’ ich noch, wie er ne Raupe war!«
Und dennoch (so träum ich am Hudson und Rhein):
Wie schön wär’s, ein Stern oder Falter zu sein!

*

Zu diesem Epigramm fällt mir immer ein, wie komisch ich Menschen finde, die sich mit einem zwar auf-, aber in der Konstellation völlig zufälligen und zeitgebundenen "Sternbild" identifizieren wollen: mit etwas kulturell-Stereotypischem, das in den Möglichkeiten fast nur albern-mythologisch-altertumsmäßig geprägt ist; was alles nur Männermacht spiegelt (im glanz der angelbichen Götter); kriegsbereit, lüstern, unpsychologisch, schicksalshaft-zwingend...

Ich sage dazu gerne: mein Sternbild ist eine gebundene Sammlung von Blättern, in denen ich meine und anderer Geschichten eintrage: ein Buch, in das schon meine Groß-Eltern eingetragen haben. Manche Blätter verwehen, andere kommen neu hinzu, fast alles geschenkte.

*

Vgl. den Spruch von Rosegger:

Ein Kind ist ein Buch; aus dem wir lesen und in das wir schreiben sollen.

*

Noch was Humorvolles, Selbstkritisches von

M.K.: Im Telegrammstil:

Langschweifig lamentieren Philosophen.
Ein Lyriker stirbt oft schon in drei Strophen.
*
Im ST-Archiv gibt es viel Kaléko-Gedichte.

*
URL.: - das ganze Kaleko-Bild, mit Gedicht:

Internet-Tipp: https://www.deutsche-liebeslyrik.de/die12/april9.htm


 hl antwortete am 13.08.06 (13:51):

Aus dem Archiv: Mascha Kaleko:

Worte in den Wind

Du zahlst für jedes kleine Wort auf Erden,
für jedes Mal, da du das Schweigen brichst.
So tief du liebst, wirst du verwundet werden
und mißverstanden, fast sooft du sprichst.



"Mein schönstes Gedicht?
Ich schrieb es nicht.
Aus tiefsten Tiefen stieg es.
Ich schwieg es."

aus "In meinen Träumen läutet es Sturm"
dtv 1977


 kropka antwortete am 13.08.06 (15:26):

Als ich zum ersten Male starb,
- Ich weiß noch, wie es war.
Ich starb so ganz für mich und still,
Das war zu Hamburg, im April,
Und ich war achtzehn Jahr.

Und als ich starb zum zweiten Mal,
Das Sterben tat so weh.
Gar wenig hinterließ ich dir:
Mein klopfend Herz vor deiner Tür,
Die Fußspur rot im Schnee.

Doch als ich starb zum dritten Mal,
Da schmerzte es nicht sehr.
So altvertraut wie Bett und Brot
Und Kleid und Schuh war mir der Tod.
Nun sterbe ich nicht mehr.

Das berühmte Gefühl
Von Mascha Kaléko
(Der Stern, auf dem wir leben. Verse für Zeitgenossen. Rowohlt Verlag, Reinbek 1984)

Hallo liebe Heidi hl
Ich bin glücklich dass Du wieder da bist!
Und ich hoffe du bleibst...
...was für ein Tag! :-))


 Marina antwortete am 14.08.06 (12:56):

Vielen Dank für viel Kaleko, die ist doch wirklich immmer wieder schön. :-)
Hier kommt etwas, das viele kennen werden. Meine Oma hat Teile immer daraus zitiert, wenn ich als Kind böse zu meinen Angehörigen war, um mich damit zu ermahnen. :-)

Der Liebe Dauer

O lieb, solang du lieben kannst!
Die Stunde kommt, die Stunde kommt,
wo du an Gräbern stehst und klagst!

Und sorge, dass dein Herze glüht
und Liebe hegt und Liebe trägt,
solang ihm noch ein ander Herz
in Liebe warm entgegenschlägt!

Und wer die seine Brust erschließt,
o tu ihm, was du kannst, zulieb!
Und mach ihm jede Stunde froh,
und mach ihm keine Stunde trüb!

Und hüte deine Zunge wohl,
bald ist ein böses Wort gesagt!
O Gott, es war nicht bös gemeint -
der andre aber geht und klagt.

O lieb, solang du lieben kannst!
O lieb, solang du lieben magst!
Die Stunde kommt, die Stunde kommt,
wo du an Gräbern stehst und klagst!

Dann kniest du nieder an der Gruft,
und birgst die Augen, trüb und nass,
- sie sehn den andern nimmermehr-
ins lange, feuchte Kirchhofsgras.

Und sprichst: O schau auf mich herab,
der hier an deinem Grabe weint!
Vergib, dass ich gekränkt dich hab'!
O Gott, es war nicht bös gemeint!

Er aber sieht und hört dich nicht,
kommt nicht, dass du ihn froh umfängst;
der Mund, der oft dich küsste, spricht
nie wieder: ich vergab dir längst!

Er tat's, vergab dir lange schon,
doch manche heiße Träne fiel
um dich und um dein herbes Wort.
Doch still - er ruht, er ist am Ziel!

O lieb, solang du lieben kannst!
O lieb, solang du lieben magst!
Die Stunde kommt, die Stunde kommt,
wo du an Gräbern stehst und klagst!

Ferdinand Freiligrath


 Enigma antwortete am 15.08.06 (09:45):

Unter dem Titel "Sterbensworte eines Virtuosen" hat Dieter Hildebrandt Robert Gernhardt und seinen Kampf, sein Anschreiben gegen den Tod, gewürdigt.

Eines der späten Gedichte von Gernhardt ist dort auch veröffentlicht:

Trägst den Tod in dir?
Trägst schwer.
Tod ist nicht irgendwer:
Wiegt.
Stirbst wie nur je ein Tier?
Nimms leicht.
Tod wird durch nichts erweicht:
Siegt.

Veröffentlicht in :
© DIE ZEIT, 10.08.2006
Sterbensworte eines Virtuosen

Bitte weiterlesen - she. Internet-Tipp! Es lohnt sich. :-)

Internet-Tipp: https://www.zeit.de/2006/33/L-Gernhardt


 Literaturfreund antwortete am 16.08.06 (10:53):

Altbekanntes, hier aus dem Barock (um 1600 –1720):
Christian Hofmann von Hofmannswaldau: Die Welt (1679)

Was ist die Welt / und ihr berühmtes gläntzen?
Was ist die Welt und ihre gantze Pracht?
Ein schnöder Schein in kurtzgefasten Gräntzen /
Ein schneller Blitz bey schwartzgewölckter Nacht.
Ein buntes Feld / da Kummerdisteln grünen:
Ein schön Spital / so voller Kranckheit steckt.
Ein Sclavenhauß / da alle Menschen dienen /
Ein faules Grab / so Alabaster 1 deckt.
Das ist der Grund / darauff wir Menschen bauen /
Und was das Fleisch für einen Abgott hält.
Komm Seele / komm / und lerne weiter schauen /
Als sich erstreckt der Zirckel dieser Welt.
Streich ab von dir derselben kurtzes Prangen /
Halt ihre Lust vor eine schwere Last.
So wirstu leicht in diesen Port gelangen /
Da Ewigkeit und Schönheit sich umbfast.
*
1 Alabaster: feiner Gips, der zu Kunstwerken verarbeitet wurde
*
Aus einem Lesebuch:
https://www.cornelsen.de/nlw/1.c.123572.de?sf1=1.c.423335.de&sf3=1.c.424142.de&uf3=1.c.62.de&bl=1.c.107.de&dlurl=%2Fsixcms%2Fmedia.php%2F386%2F410048%2520S199-201.pdf&dlfn=410048+S199-201.pdf&dlfe=.pdf&dltitle=Literatur+des+Barock&dlicon=%3Cimg+src%3D%22%2Ffm%2F332%2Ficon_format_pdf.gif%22+width%3D%2218%22+height%3D%2216%22+border%3D%220%22+class%3D%22linkarrow+mar3%22%3E&dlft=PDF&dlfs=454.3%26nbsp%3BKB&dlnew=&dlmt=application%2Fpdf&dlbfs=465247&dlgsid=1.c.123565.de
*
Dazu: Hans Baldung, genannt Grien: „Die drei Lebensalter des Weibes und der Tod“ (um 1510)
[Gibt's solche Radikalität auch in der Darstellung des männlichen Körpers...? - Damals gab es keine malenden Frauen, deren Werk erhalten wäre.]

Internet-Tipp: /seniorentreff/de/gzSbb3g1W


 Marina antwortete am 16.08.06 (12:41):

Die letzte Ruhestätte

Wo wird Einst des Wandermühen
letzte Ruhestätte sein?
Unter Palmen in dem Süden?
Unter Linden an dem Rhein?

Werd ich wo in einer Wüste
eingescharrt von fremder Hand?
Oder ruh ich an der Küste
eines Meeres in dem Sand?

Immerhin! Mich wird umgeben
Gotteshimmel, dort wie hier,
und als Totenlampen schweben
nachts die Sterne über mir.

(Heinrich Heine)


 Enigma antwortete am 19.08.06 (15:51):

Von viel zu viel

Ich bin viel krank.
Ich lieg viel wach.
Ich hab viel Furcht.
Ich denk viel nach:
Tu nur viel klug!
Bringt nicht viel ein.
Warst einst viel groß.
Bist jetzt viel klein.
War einst viel Glück.
Ist jetzt viel Not.
Bist jetzt viel schwach.
Wirst bald viel tot.

Robert Gernhardt
aus: “Später Spagat, Gedichte aus den letzten drei Jahren”, erschienen Juli 2006 bei S. Fischer
ISBN 3-10-025509-7