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THEMA: "Literatur über (gegen) Krieg, Unterdrückung, Heimatverlust ..."
81 Antwort(en).
Enigma
begann die Diskussion am 19.07.06 (08:04) :
"Jeder Krieg ist eine Niederlage. Denn Krieg vernichtet Leben." Kurt Tucholsky
Kurt Tucholsky, 1890 - 1935 Mutter, wozu hast Du Deinen aufgezogen, Hast Dich zwanzig Jahr' um ihn gequält? Wozu ist er Dir in Deinen Arm geflogen, Und Du hast ihm leise was erzählt? Bis sie ihn Dir weggenommen haben Für den Graben, Mutter, für den Graben! Junge, kannst Du noch an Vater denken? Vater nahm Dich oft auf seinen Arm, Und er wollt' Dir einen Groschen schenken, Und er spielte mit Dir Räuber und Gendarm Bis sie ihn Dir weggenommen haben Für den Graben, Junge, für den Graben!
Werft die Fahnen fort! Die Militärkapellen spielen auf Zu Eurem Todestanz!
Seid Ihr hin? Seid Ihr hin?
Ein Kranz von Immortellen, Das ist dann der Dank des Vaterlands!
Hört auf Todesröcheln und Gestöhne! Drüben stehen Väter, Mütter, Söhne, Schuften schwer, wie ihr, um's bißchen Leben. Wollt Ihr denen nicht die Hände geben? Reicht die Bruderhand als schönste aller Gaben Über'n Graben, Leute, über'n Graben!
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wanda
antwortete am 19.07.06 (08:18):
Für den Fall, dass es so gemeint ist: 3 sehr empfehlenswerte Bücher: WG. Sebald - Die Ausgewanderten und vom gleichen Autor - Austerlitz. Dann Stephan Wackwitz - ein unsichtbares Land. Allesamt bei - Fischer - erhältlich.
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Enigma
antwortete am 19.07.06 (08:42):
Ja, Wanda, so ist es auch gemeint. Literaturhinweise sind auch sinnvoll, dann kann sich, wer will, damit beschäftigen. Danke!
Aber jetzt noch ein Gedicht von Herrn Cumart, der mir erlaubt hat, seine Gedichte hier einzustellen:
Nevfel Cumart (1996) deutsche staatsbürgerschaft ein hektographiertes schreiben mit postzustellungsurkunde briefkopf bezirksregierung lüneburg eine anlage unterstrichen dreieinhalb zeilen rechtsbehelfsbelehrung darunter ein siegel hinzu eine beglaubigung zwischen all den sätzen paragraphen und abkürzungen inmitten der kästchen pünktchen klammern lücken binde- und querstrichen schließlich der lang ersehnte Satz unauffällig kurz fast versteckt: ihrem einbürgerungsbegehren ist stattgegeben worden nach neun erbärmlichen jahren fast auf den tag genau führt die odyssee endlich in einen sicheren hafen zumindest aufenthaltsrechtlich
Internet-Tipp: https://www.cumart.de/
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Medea.
antwortete am 19.07.06 (11:35):
"Mutter Courage und ihre Kinder" von Berthold Brecht möchte ich hier einbringen - unvergessen ist mir die Aufführung mit der Helene Weigel als Mutter Courage, die ich als Schülerin erleben durfte.
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Marina
antwortete am 19.07.06 (19:00):
Hallo Enigma, du wolltest Literatur gegen Krieg oder Berichte von Menschen, die unter Kriegen leiden? Ich kann im Moment an nichts anderes denken als an Israel-Gaza und Israel-Libanon, und es macht mich ganz krank, weil ich mich völlig ohnmächtig und hilflos fühle und außer Protestbriefen gegen diese schrecklichen Kriegsorgien nicht weiß, was ich dagegen tun kann. Ich stelle deshalb den Bericht eines Betroffenen ein, der seine Verzweiflung aus dem Libanon schildert:
„Bomben auf Beirut Es ist ein Konflikt ohne Sieger oder Verlierer. Der libanesische Filmemacher Ghassan Salhab schildert seine Eindrücke aus dem beschossenen Beirut. Unmöglich, sich nicht an die Invasion Israels und die Belagerung Beiruts vom Juni 1982 zu erinnern. Ich war damals in Paris. Es gab noch keine Handys und kein Internet, die terrestrischen Telefonverbindungen funktionierten nur gelegentlich. Kaum etwas versetzt einen in größere Angst, als wenn man nicht mit seinen Verwandten in Verbindung treten kann, die unter dem Bombardement leben. Auch der Flughafen wurde zerstört. Ich nahm damals ein Flugzeug nach Larnaca auf Zypern, dann das nächste Boot, das von dort nach Beirut auslief. Allein West-Beirut wurde damals belagert und bombardiert, weshalb ich vom Osten her kam, um in ein Gebiet vorzudringen, das einer Hölle glich. Ja, wie könnte man sich nicht mehr dieser Tage und Nächte entsinnen, als wir von der restlichen Welt abgeschnitten unter dem Feuer einer der stärksten Armeen lagen?
Jetzt, vierundzwanzig Jahre später, ist es erneut dieses Feuer, dem wir ausgesetzt sind, aber dieses Mal wird das ganze Land belagert. Wieder beschleicht uns das schreckliche Empfinden unserer Machtlosigkeit, diese Wut, die nicht weiß, wie sie sich artikulieren soll. Machtlosigkeit und Wut gegenüber den Politikern, die dafür verantwortlich sind.
Diese extremen Zeiten bringen einem ständig die eigene menschliche Ohnmacht zu Bewusstsein, mit der man unaufhörlich den Fortgang des Geschehens erleben muss. Diese Erfahrungen bringen es aber auch mit sich, dass sich die Belagerten eng zusammenschließen, dass sich eine wirkliche Solidarität unter ihnen entwickelt, die all jene zahlreichen Zwistigkeiten vergessen macht, die sonst die Gesellschaft kennzeichnen. So weit ist es jetzt aber noch nicht.
Zunächst ist es so, dass der Körper schrecklich schwer wird, fast das Gewicht eines Toten annimmt, und alle Überlegungen wie von einem starken Regen eingetrübt sind. Die Wut lässt einen verstummen, der Magen wird zu einem Knoten.
Jedes Wort ist sinnleer, aber dennoch hört man nicht auf zu sprechen, sich gegenseitig zu verständigen, sich Aufschluss über das Los der anderen zu verschaffen. Man beginnt, sich in einem Kreis zu drehen, dessen Durchmesser immer kleiner wird, den das feindliche Feuer stetig schrumpfen lässt.“
[. . . ]
Hier lasse ich etwas weg, sonst wird es zu lang, das kann man alles genau im Link-Tipp nachlesen.
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Marina
antwortete am 19.07.06 (19:01):
Der Artikel schließt so:
„Sprösslinge des Despotismus Bei all dem gibt es jedoch einen Unterschied: Wir befinden uns nicht mehr im Jahr 1982, und es ist nicht mehr die PLO, die die israelische Armee zu vernichten sucht, sondern es ist die Hisbollah, eben jene Hisbollah, die es damals noch nicht gab. Die Hisbollah ist das Kind der damaligen Invasion Israels, das Kind, das sich der Verblendung eines großen Teils der westlichen Welt gegenüber der israelischen Politik verdankt.
Die fast systematische Übereinstimmung mit den verschiedenen israelischen Aktionen, das unvermeidliche amerikanische Veto, mit dem jede Resolution des Weltsicherheitsrats zu Fall gebracht wurde, mit der die zahlreichen Übergriffe Israels verurteilt werden sollten, sind letzten Endes die Ursache dafür, dass so viele Menschen aus dieser Gegend in die Arme der unterschiedlichen islamischen Organisationen getrieben oder doch wenigstens zu deren Sympathisanten wurden. „
Alle diese, die Hisbollah, die Hamas und viele andere Parteien und Organisationen, sind aber auch Sprösslinge des schrankenlosen Despotismus der unterschiedlichen arabischen Regime.
Wir Libanesen sehen uns damit heute vor eine Wahl gestellt, wie man sie sich nicht schwieriger ausmalen kann: Entweder wir entscheiden uns für den Plan, der für den Nahen und Mittleren Osten eine Ordnung im Sinne der amerikanisch-israelischen Interessen vorsieht, oder wir entscheiden uns für die islamisch-arabische Option. Diese Alternative bedeutet jedoch, dass wir uns zwischen Pest und Cholera entscheiden sollen.
Ich kann hier aber nur für mich sprechen, denn es versteht sich von selbst, dass so gut wie jeder hier sich schon längst entschieden hat. Andere haben sich einfach auf die Flucht gemacht. Aber, wie sollen sich die verhalten, die sich wie ich weigern, ihre Wahl zu treffen, sich auf eine Seite zu schlagen?
Ich schreibe das am 16. Juli 2006, am fünften Tag dieser brutalen und maßlosen israelischen Operation, die den Namen „Gerechte Strafe“ – welcher Euphemismus! – trägt und, um ehrlich zu sein, möchte ich am liebsten mit aller Kraft den Israelis zubrüllen: Die Rechte der anderen haben dieselbe Geltung wie die euren, zumal dann, wenn ihr sie unablässig mit Füßen tretet.
Alles in allem genommen seid ihr wie wir die „Opfer“ einer Verblendung derer, die euch regieren und die wähnen, sich dabei auf Macht stützen zu können. Die Sieger schreiben, wie man sagt, die Geschichte. Das mag sein, aber in dieser Geschichte wird es nie Sieger oder Verlierer geben.“
Der Autor ist libanesischer Filmemacher („Phantom Beirut“, 1998, „Terra Incognita“, 2002). Er lebt in Beirut.
Internet-Tipp: https://www.sueddeutsche.de/,tt1l7/kultur/artikel/846/80766/
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serra
antwortete am 19.07.06 (23:07):
Henri Barbusse: Das Feuer Vielleicht der Klassiker unter den Antikriegsbüchern.
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Marina
antwortete am 20.07.06 (10:11):
Ich bin der Sieg mein Vater war der Krieg der Friede ist mein lieber Sohn der gleicht meinem Vater schon
Erich Fried
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Enigma
antwortete am 20.07.06 (14:22):
Danke für alle Beiträge! @Medea Ja, Helene Weigel, eine tolle Schauspielerin, ein markantes Gesicht, eine Frau, die die von ihrem Mann geschaffenen Frauenrollen mitgestaltet und gespielt hat. Hat sie nicht nach ihrem Exil in Berlin gelebt? In welcher Stadt hast Du sie denn gesehen?
@Marina Ich habe den Bericht von Ghassan Salhab gelesen und kann seine Verzweiflung , seine Zwiespältigkeit gut verstehen. Und ganz besonders berührt hat mich das, was er am Schluss seines Artikels förmlich herausschreit an die Irsaelis, wie Du es im letzten und vorletzten Absatz Deines Beitrags auch zitiert hast.
@serra Noch nie gehört von dem Buch von Henri Barbusse. Ich werde mich aber mal darüber informieren. Danke!
Und jetzt noch zwei Gedichte von George Ghannan:
Aus:Gedichte aus Palästina Von George Ghannam
STOLZ
Stolz seid ihr auf eure Flagge Ihr wollt sie überall aufhängen; für sie habt ihr alles getan: Menschen getötet, Häuser und Städte zerstört, Wälder in Asche verwandelt. Ihr seid stolz auf eure Flagge, die mit Blut verschmiert ist, Die Flagge weht, aber ihr seid tot. Stolz seid ihr auf eure Flagge. George Ghannam
AUSGANGSSPERRE Jedes Haus ist ein Gefängnis: Frauen und Männer, Kinder und Erwachsene, Junge und Alte, Kranke und Gesunde, sind im Gefängnis. Weh dem Menschen, der sein Gefängnis verlässt. Jeder Platz, an dem du stehst, hat seine Kette, die deine Füsse fesselt. Weh dem Menschen, der sich rührt und bewegt oder versucht zu gehen. Nicht einmal ein Vogel traut sich, sein Nestchen zu verlassen. Die Stadt, die einmal von Menschen wimmelte, ist leer. Die Glocken rufen die Menschen zum Gottlob zusammen, doch keiner kommt. Denn Jedes Haus Ist Ein Gefängnis. George Ghannam
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Medea.
antwortete am 20.07.06 (15:09):
Hallo Enigma,
Die Aufführung der "Mutter Courage und ihre Kinder" habe ich als Gastspiel im Bremer Theater gesehen, es muß in den Jahren 1952 oder 1953 gewesen sein. Ich habe dieses Brechtstück, das den Krieg (hier ist es der 30jährige) in all seinen schrecklichen Facetten anprangert, nie vergessen.
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Enigma
antwortete am 20.07.06 (18:03):
Danke Medea,
In den Fünfzigern ist meines Wissens auch einmal ein Film “Mutter Courage und ihre Kinder” geplant gewesen, mit Helene Weigel, Simone Signoret (die ich auch immer sehr bewundert habe) und mit Wolfgang Staudte als Regisseur. Es gab aber offenbar heftige Auseinandersetzungen zwischen Brecht und Staudte, woraufhin Brecht die Dreharbeiten platzen ließ. Aber ich hätte Helene Weigel gerne auch einmal im Theater erlebt. Ist aber nicht, schade!
Und jetzt noch ein Gedicht eines Roma-Intellektuellen, Sänger und Poet zugleich, der seit Jahren in Deutschland lebt.
Muharem Serbezovski Konzentrationslager
Weint Zigeuner Verdammt eure Mütter Fragt warum sie euch geboren haben Fragt warum ihr leidet Fragt warum sie euch töten Was für Sünden ihr vor dem Gott begangen habt Was ihr den Leuten angetan habt Euer Land suchtet ihr nicht Eure Identität suchtet ihr nicht Zigeunerfrieden suchtet ihr nicht Sie werfen euch in Gaskammern Ihr brennt wie Kohle und werdet zu Asche Sie wissen nicht warum Ihr wisst es auch nicht Weglaufen könnt ihr nicht Und wenn doch Ihr wüsstet nicht wohin Der Wind vergaß seinen Weg Die Wolke vergaß ihren Regen Sie wissen nicht warum Auch Gott vergaß die Zigeuner Sie wissen nicht warum Öffnet euren Mund einmal und sprecht Versteckt euer Herz einmal Jagt eure Angst einmal fort Ob du ein Brot stiehlst oder eine Million Dollar Du endest im Knast Ob du ein Land suchst oder die ganze Welt Du endest im Grab Alle Menschen haben ihre Tiere Nur die Tiere haben ihre Zigeuner
Mehr über das Leben und Werk von Muharem Serbezovski she. Internet-Tipp! Sein von Swetlana Maksimovic ins Deutsche übersetztes Buch „Zigeuner erster Klasse“ ist im Buchhandel zu beziehen.
Internet-Tipp: https://www.exil-archiv.de/html/biografien/serbezovski.htm
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serra
antwortete am 20.07.06 (22:20):
@Enigma zu Henri Barbusse "Das Feuer" aus Wikipedia:
Durch sein im Jahr 1916 erschienenes Kriegstagebuch Das Feuer, das im Laufe der Zeit in mehr als 60 Sprachen übersetzt wurde, wurde er weltberühmt und erhielt im selben Jahr dafür den Prix Goncourt, den angesehensten französischen Literaturpreis. Das Feuer, Tagebuch einer Korporalschaft, ist der bedeutendste Vorläufer von Im Westen nichts Neues von Erich Maria Remarque. Zitat aus Le Feu / Das Feuer: Deux armées qui se battent, c’est une grande armée qui se suicide. - Zwei Armeen, die sich bekämpfen, sind eine große Arme, die Selbstmord begeht.
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Enigma
antwortete am 21.07.06 (07:59):
Danke serra,
ich werde, wie gesagt, mich mehr über das Buch informieren bzw. - besser noch - es lesen. "Im Westen nichts Neues" sagt mir da schon viel mehr. :-))
Ein Problem für Menschen, die in der Fremde leben (müssen), ist häufig nicht nur der Druck der Anpassung an eine fremde Kultur, sondern auch die Notwendigkeit des Umgangs mit einer oft bis dahin völlig unbekannten Sprache.
Diesen Zwiespalt schildert m.E. glaubhaft das folgende Gedicht:
Mutter-Sprache In welcher Sprache soll ich zu dir sprechen?
Abends, wenn der Tag zu Ende geht, und träumeschwer dein Kopf in meine Arme fällt, steigt ein Wiegenlied aus meinem Herzen, blüht auf in meinem Mund – in meiner alten Sprache.
Das Holzpferd meiner Kindheit wiegt einen Mond für dich in meinen Armen: Wir gehen schlafen.
Morgens, noch voll von Träumen in der alten Sprache, hole ich die Herbstnachrichten. Die neue Sprache rüttelt mich jetzt wacht Machtwechsel über Nacht – Atomreaktoren – Ausländer rausl
Wo gehöre ich denn hin? Bin ich noch immer fremd in diesem Land? Eingelebt habe ich mich, um hier zu leben – gehört zu dem Entschluß nicht auch das Wort?
In welcher Sprache soll ich zu dir sprechen?
Ich begrüße den Nachbarn auf der Straße jeden Tag in dieser neuen Sprache, das Brot hole ich auf Deutsch in unser Haus, ... und du bist hier geboren! Hat das nicht Konsequenzen für die Seele?
In welcher Sprache soll ich zu dir sprechen?
Langsam stirbt der Herbst unter dem Kinderwagen. So zerfällt mir meine Kindheitssprache, sie ist alt geworden in dem neuen Land, während auf meinen Lippen die neue Sprache lebt.
Sie hat das Recht des Alltags sich erkämpft, und während selbstvergessen die alte schlummert, wacht aufmerksam die neue über die Gegenwart, und ungeduldig fällt sie mir ins Wort. Welche der beiden Sprachen wird die deine sein?
In welcher Sprache soll ich zu dir sprechen? Das Selbstverständliche ist in mir langsam strittig geworden. Was früher natürlich war, bleibt jetzt im Halse stecken.
Der Seiltanz zwischen beiden Welten will mir nicht mehr gelingen ... Ich verliere das Wort und falle ins Schweigen.
Guadalupe Bedregal aus: I. ACKERMANN (Hrsg.): In zwei Sprachen leben, 1983)
Das Bändchen gibt es meines Wissens aber nur noch antiquarisch. Ich habe es z.B. gebraucht von Amazon bekommen.
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mart
antwortete am 21.07.06 (15:26):
Mich beeindruckte in meiner Jugend das Buch "Im Westen nichts Neues" stark - ich weiß aber nicht, wie ich es jetzt empfinden würde.
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Marina
antwortete am 21.07.06 (19:06):
Erich Kurt Mühsam (* 6. April 1878 in Berlin; ermordet † 10. Juli 1934 im KZ Oranienburg) war politischer Aktivist, Anarchist, Publizist und Schriftsteller. Nach einflussreicher politischer und publizistischer Tätigkeit wurde er von den Nationalsozialisten ermordet.
Kreszentia Mühsams Schilderung eines Besuchs bei ihrem Mann im Konzentrationslager Oranienburg: "Er war schrecklich zugerichtet, ich hatte es schwer, mein Entsetzen zu verbergen. Er saß auf einem Stuhl, hatte keine Brille auf - man hatte sie ihm zerbrochen -, die Zähne waren ihm eingeschlagen, und sein Bart war von den Unmenschen so zugestutzt, dass der jüdische Typ zur Karikatur gewandelt war. Als er mich sah, stieß er hervor: „Warum bist Du in diese Hölle gekommen?“ Und beim Abschied: „Eins merke Dir Zenzl, ich werde ganz bestimmt niemals feige sein.“ Schilderung von Mithäftlingen: "Das Gesicht war feuerrot und vollkommen verschwollen, die Augen blutunterlaufen. Er fiel kraftlos auf seinen Strohsack. „Die Schweine“, stieß er hervor, „ haben mir in den Mund gerotzt.“ Am nächsten Tag war sein linkes Ohr wie ein Boxerohr ganz dick angeschwollen, und aus dem Gehörgang trat eine Blase heraus. Acht Tage ließ man ihn in diesem Zustand ohne Hilfe. Erich Mühsam sagte zu mir: „Weißt Du, vor dem Sterben habe ich keine Angst, aber dieses langsame Hinmorden, das ist das Grauenhafte.“
Noch an einem seiner letzten Abende sagte Erich Mühsam: „Wenn Ihr hört, daß ich Selbstmord begangen habe, so dürft Ihr es nicht glauben.“
Internet-Tipp: https://www.phil-fak.uni-duesseldorf.de/germ2/verboten/erm/muehsam_zeugen.html
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Enigma
antwortete am 22.07.06 (08:38):
@mart Das geht mir auch manchmal so. Um ein vor langer Zeit gelesenes Buch für mich persönlich aktuell einschätzen zu können, müsste ich es noch einmal lesen.
@Marina Die detaillierten Schilderungen, was da passiert ist, sind manchmal kaum zu ertragen. Und doch ist es wichtig, das auszuhalten, weil es so deutlich macht, was Menschen Menschen antun konnten. Aber die Mahnungen aus der Vergangenheit sind wohl nicht stark genug, weil heutzutage wieder neue Gräuel passieren, nur in veränderter Form.
Ilse Blumenthal-Weiss, die das Konzentrationslager überlebte, verarbeitete auch ihre Erlebnisse dort in einem Gedicht:
ILSE BLUMENTHAL-WEISS Konzentrationslager-Landschaft 1 Die Erde ist schwarz. Und der Himmel ist lauter Stahl. Alle Farben sind wie ausradiert. Nirgend ein Blühen. Grau und fahl Haben Baracken die Landschaft beschmiert. Menschen.mit abgestumpften Gebärden Schieben schweigend knarrende Karren mit Sand. Ganz in der Ferne treiben weidende Herden. Ganz in der Ferne .. in einem fremden Land. Ein Brunnen mit rostig vergriffenem Schwengel Spült braunes Wasser in dünnen Lagen Über zertretene Blumenstengel. Ein Schrei frißt Wunden in Erntewagen. Und Mauern gibt es und Bretterhaufen Und einen Galgen mit Haken und Strick, Fußspuren, die wie im Kreise laufen, Menschen, die noch um Brotreste raufen Mit dem Tod im Genick. 2 Das Fenster ist aus Stacheldraht, Das Bett aus feuchtem Stroh. Die Uhr läuft ohne Zifferblatt, Die Welt brennt lichterloh. Der graue Nebel klebt am Haus Und kriecht durch Ritz und Spalt. Ein Toter klopft den Schlaf heraus: »Mach auf! Ich friere! Es ist kalt.« - Die Lampen löschen aus. 3 Regentropfen; Ackerkrusten. Spinngewebe; Lungenhusten. Scheiterhaufen; Geierkrächzen. Aufruf; Angstschweiß; Fieberächzen. Brandgeruch und Essigknebel. Ordensband und Rasselsäbel. Würgehand um Hals und Nacken. Leichenschmaus und Herzattacken. Und zuweilen, wie Almosen, Sonnenschein und Heckenrosen. 4 Dort ist der Spürhund. Und dort ist die Meute, Auf Kranke und Greise und Kinder gehetzt. Dort ist die Kirche und Glockengeläute Und der Mord, der sich an Gebeten ergötzt. Dort ist der Kamin und die flatternden Schwaden. Und dort die offenen Grubenstellen. Dort sind Gewehre, mit Kugeln geladen. Und dort die blechernen Jammerschellen, Die Glocken und Rauch und Schüsse und Stöhnen Bei Tag und bei Nacht übertönen.
Internet-Tipp: https://dan4u.de/zuklampen/autorendetails.php4?wkid=1151526513&id=3&usess=
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Marina
antwortete am 22.07.06 (20:53):
Höre, Israel!
Als wir verfolgt wurden, war ich einer von euch. Wie kann ich das bleiben, wenn ihr Verfolger werdet?
Eure Sehnsucht war, wie die anderen Völker zu werden die euch mordeten. Nun seid ihr geworden wie sie.
Ihr habt überlebt die zu euch grausam waren. Lebt ihre Grausamkeit in euch jetzt weiter?
Den Geschlagenen habt ihr befohlen: "Zieht eure Schuhe aus". Wie den Sündenbock habt ihr sie in die Wüste getrieben
in die große Moschee des Todes deren Sandalen Sand sind doch sie nahmen die Sünde nicht an die ihr ihnen auflegen wolltet.
Der Eindruck der nackten Füße im Wüstensand überdauert die Spuren eurer Bomben und Panzer.
Erich Fried
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Enigma
antwortete am 25.07.06 (07:10):
Ein Tag im Exil
Ein Tag im Exil Haus ohne Türen und Fenster Auf weißer Tafel mit Kohle verzeichnet die Zeit Im Kasten die sterblichen Masken Adam Abraham Ahasver Wer kennt alle Namen Ein Tag im Exil wo die Stunden sich bücken um aus dem Keller ins Zimmer zu kommen Schatten versammelt um‘s Öllicht im ewigen Lämpchen erzählen ihre Geschichten mit zehn finstern Fingern die Wände entlang
Rose Ausländer
Internet-Tipp: https://www.litlinks.it/a/auslaender.htm
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Marina
antwortete am 25.07.06 (19:28):
„Wir leben nun mal in der Zeit der großen deutschen Denunziantenbewegung. Jeder hat jeden zu bewachen, jeder hat Macht über jeden. Jeder kann jeden einsperren lassen. Der Versuchung, die Macht auszuüben, können nur wenige widerstehen. Mütter zeigen ihre Schwiegertöchter an, Töchter ihre Schwiegerväter, Brüder ihre Schwestern, Schwestern ihre Brüder, Freunde ihre Freunde, Stammtischgenossen ihre Stammtischgenossen.“ [...]
„Dat de dat noch nit jemerkt hast“, sag ich ihm dann – „dat janze Volk sitzt im Konzentrationslager, nur die Regierung läuft frei herum.“
(Irmgard Keun „Nach Mitternacht“, 1937)
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Marina
antwortete am 25.07.06 (19:33):
Irmgard Keun, Emigrationsjahre 1936 - 1940:
„Ich verreiste nicht, ich wanderte aus, und ich war keineswegs sicher, daß ich noch einmal wiedersehen würde, was ich verließ. Gewiß eines Tages würde es keinen Nationalsozialismus mehr in Deutschland geben. Aber wie viele böse Jahre der Ewigkeit würden bis dahin vergehen?“ (in: Bilder und Gedichte aus der Emigration, 1947)
1936 In der Nacht zum 4. Mai verlässte sie Deutschland ohne ihren Mann und fährt nach Ostende, dem belgischen Seebad, das sie aus der Kindheit kannte.
Juni: Das Mädchen mit dem die Kinder nicht verkehren durften erscheint im Allert de Lange Verlag.
1937 Nach Mitternacht erscheint im Querido Verlag, Amsterdam
1938 April: Es erscheint der Roman D-Zug dritter Klasse Herbst: Kind aller Länder
31. Dezember: Auf der Jahresliste 1938 der schädlichen und unerwünschten Schrifttums stehend.
Internet-Tipp: https://www.phil-fak.uni-duesseldorf.de/germ2/verboten/ver/keun_emigration.html
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Enigma
antwortete am 26.07.06 (07:59):
Hallo Marina,
Ja, Irmgard Keun ist mir auch noch im Gedächtnis,besonders ihr Buch „Das kunstseidene Mädchen“, das ich vor vielen Jahren mal gelesen habe. Sie war, auch für heutige Begriffe, eine emanzipierte Frau, die für die Nazis nur Verachtung übrig hatte und das auch nicht verschwieg. Leider hat der Alkohol in ihrem wechselvollen Leben eine unheilvolle Rolle gespielt,ihr im Grunde Jahre ihres Lebens „gestohlen“.
In Köln, wo sie vor und nach ihrem Exil langjährig lebte, befinden sich übrigens auch ihr Elternhaus und die Grabstätten der Familie - she. Internet-Tipp!
Internet-Tipp: https://www2.altenforst.de/faecher/litera/keun/person/fotos.htm
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Enigma
antwortete am 26.07.06 (08:07):
Und noch ein Poet, der im Exil lebt:
Es ist der in Syrien geborene, später im Libanon lebende (er nahm auch die libanesische Staatsbürgerschaft an) Dichter Ali Ahmed Said oder auch „Adonis“. Um sein Pseudonym rankt sich eine nette Geschichte. Bereits als Jugendlicher schickte Said regelmäßig Gedichte an Zeitschriften und Zeitungen und hoffte auf deren Veröffentlichung. Aber genau so regelmäßig erhielt er Absagen. Bis er - ziemlich kess - sich für das Pseudonym „Adonis“ entschied. Und unter diesem Namen wurden sie angenommen. Aber nun das Gedicht:
Ich lebe in der Sehnsucht, im Feuer, in der Rebellion, im Zauber ihres schöpferischen Brandes. Meine Heimat ist dieser Funke, dieser Blitz in der Dunkelheit dieser Reste der Zeit. Adonis (Ali Ahmed Said)
Auch das ZDF hatte Said einmal vorgestellt in einer Reihe „Bedeutende arabische Autoren in Kurzporträts“
(....) „Ali Ahmed Said, Künstlername ADONIS (74), zählt zu den bedeutendsten arabischen Lyrikern des 20. Jahrhunderts. Die vielen unterschiedlichen Einflüsse von Nietzsche über den arabischen Sozialismus bis zum mystischen Sufismus, die Adonis im Laufe seines künstlerischen Schaffens in sich aufgesaugt hat, machen ihn zu einem leichtfüßigen Grenzgänger zwischen Orient und Okzident. Für ein Massenpublikum hat der hochgebildete Intellektuelle, der auch als Literaturwissenschaftler, Kritiker, Übersetzer und Arabisch-Professor tätig war, nie geschrieben. Adonis gilt als Wegbereiter einer modernen arabischen Dichtung, die sich in Form und Stil mutig weiter entwickelt, ohne dabei ihre Wurzeln zu vergessen. Zu seinen wichtigsten Werken zählt "Die Gesänge Mihyars des Damaszeners" (1961), das 1998 in deutscher Übersetzung erschien. Seit Jahren wird er als Kandidat für den Literatur-Nobelpreis gehandelt“. (....)
She. Auch Internet-Tipp!
Seit 1986 lebt Said überwiegend in Paris. Im Zürcher Amman-Verlag wurde neben „Die Gesänge Mihyars des Damaszeners“ auch der Gedichtband „Ein Grab für New York“ in deutscher Sprache veröffentlicht.
Internet-Tipp: https://www.heute.de/ZDFheute/inhalt/15/0,3672,2199759,00.html
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Literaturfreund
antwortete am 26.07.06 (09:42):
Pfüati Gott! Oder: Grüß Gott (ja, das schleift sich wieder ab...) - also: Guten Morgen!
Gruß und Dank für viele Texte und Überraschungen.
Vier einmfache Zeilen von Oskar Loerke, in extremst blutiger Zeit geschrieben, als dem Dichter selber Areiten und Leben zu Ende gingen.
Aber der Text gilt auch heute, wo friedliche UN-Bobachter auf ihrem Posten getroffen werden, die Zivilbevölkerung beschossen wird - und Krieg wegen der Verschleppung von zwei Soldaten geführt wird - aus Prestige- und atomar-gestützten Herrschaftsgelüsten.
Oskar Loerke: Leitspruch
Jedwedes blutgefügte Reich Sinkt ein, dem Maulwurfshügel gleich. Jedwedes lichtgeborne Wort Wirkt durch das Dunkel fort und fort.
(O.L.: Die Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1983)
"Das eben ist das Herrliche an der höchsten Dichtung, dass sie keine Sklavin der aktuellen Ereignisse ist, sondern selbst ein aktuelles Ereignis." Als der Dichter Oskar Loerke (1884-1941) diese Maxime seiner Arbeit formulierte, hatte er sich als Repräsentant der "naturmagischen Poesie" bereits etabliert. Er konnte aber nicht ahnen, wie tief aktuelle politische Erschütterungen ans Fundament seiner Dichtung rühren würden.
Loerke hatte sein Gedicht als "konstituierte Form" von der Politik freihalten wollen. Aber die Machtergreifung Hitlers zertrümmerte die alten Vorstellungen von autonomer Dichtung. Loerke wurde 1933 aus der Preußischen Akademie der Künste hinausgeekelt und zog sich zurück, blieb aber Lektor im S. Fischer Verlag. Drei Monate vor seinem Tod, im November 1940, verfasste er seinen "Leitspruch", ein Bekenntnis zur Wirkungsmacht des Geistes gegen die Tyrannei "blutgefügter Reiche".
Text und Kommentar (ohne meinen Vorspruch...) nach dem dradio-Lyrikkalender: s. URL.!
Internet-Tipp: https://www.dradio.de/dlf/sendungen/lyrikkalender/517373
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Literaturfreund
antwortete am 26.07.06 (09:46):
Nachtrag:
Der Loerke-Text steht schon im Archiv des dradio.de:
Man muss auf der "Lyrik-Kalender"-Seite rechts das „ARCHIV“ anklicken.
https://www.dradio.de/dlf/sendungen/lyrikkalender/517373/
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Enigma
antwortete am 27.07.06 (07:32):
Hallo Literaturfreund,
hoffentlich sinkt es ein, jedes "blutgefügte Reich", wie es Loerke so richtig sagt. Danke für den Beitrag!
Und jetzt kommt ich zu Sabri Cakir, zu ihrer Person und zwei Gedichten:
"Ich habe zwei Sprachen
Ich habe zwei Sprachen die eine spreche ich zu Hause Sie verstehen mich so besser meine Frau und mein Sohn Die andere spreche ich auf der Arbeit beim Einkaufen im Ausländeramt
Ich habe zwei Gesichter Das eine benütze ich für die Deutschen Dieses Gesicht kann alles lachen und weinen Das andere halte ich für meine Landsleute bereit
Ich habe zwei Heimatländer Eins in dem ich geboren wurde Das andere in dem ich satt werde Das Land meiner Väter liebe ich mehr Aber erdulden muss ich Die Schmerzen beider"
Sabri Cakir
"Was ich nicht verstehen kann
Wir sind beide Arbeiter in der Fabrik Acht Stunden bin ich dem anderen ein guter Kollege und er ist mir ein wirklicher Kamerad Aber die Arbeit endet und ich bin ihm fremd Er ist in einer anderen Welt Der Kollege und Arbeitskamerad kennt micht nicht mehr Wir sind wie die Pole des Magneten Wir finden zueinander und wir stoßen uns ab Die Frauen die Männer und die Kinder bleiben im Bus lieber stehen als sich neben mich zu setzen Ich bin Ausländer Ich fühle mich als ob die Last eines Felsens auf meinem Kopf ruhte Ich lernte ihre Sprache aber das änderte wenig Sind es meine dunklen Augen? Gefällt ihnen meine Kleidung nicht? Sie schauen mich an als wäre ich ein Stein oder ein Büschel Gras Kälte und Winter setzen ein In einer leeren Angst kommt mir meine Stimme vor wie eingefroren Ich rette mich in die gastliche Stätte eines Bahnhofes Ich vernehme die Stimmen meiner Landsleute höre ihre Grüße sehe unsere Zeitungen Bald geht es mir wieder gut und mein Kopf tut nicht mehr weh"
Sabri Cakir
Sabri Cakir kam als junge Erwachsene zu ihrer Familie nach Deutschland und arbeitete zunächst als Lehrerin für türkischstämmige Kinder im Ruhrgebiet. Als Pädagogin entwickelte sie im Schulbuchbereich Materialien zum Erlernen der türkischen Sprache. Als Lyrikerin drückte sie mit Gedichten wie den vorstehenden aber auch die Stimmung vieler Migranten zu diesem Zeitpunkt (in den siebziger und achtziger Jahren) aus, die zwar in der Regel beruflich integriert waren, jedoch sich nicht sozial zu Hause fühlten.
She. auch Internet-Tipp!
Internet-Tipp: https://de.wikipedia.org/wiki/Sabri_%C3%87ak%C4%B1r
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Literaturfreund
antwortete am 27.07.06 (18:54):
Ich hatte noch nicht alles nachgelesen...! Dank an Marina und enigma für ihr "Zusammenspiel im Geiste des Friedens und Frieds".
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Die URL führt zu einer Textcollage zur Würdigung Erich Frieds, zum 15. Todestag, von Detlef Berentzen: (Wie die Zeiten eilen...; und drei Jahre zuvor schleppte sich Erich Fried die Stufen zum Recklinghäuser Kunstbunker hoch und erzählte auch von seinen einsamen Gesprächen mit den damaligen Neonazis und Holocaust-Leugnern.)
Internet-Tipp: https://www.weberberg.de/skool/erich-fried.html
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Marina
antwortete am 28.07.06 (12:31):
Danke, Literaturfreund, für diese interessante Seite zu Erich Fried. Hier noch ein Gedicht von ihm:
Worauf es ankommt
Es kommt im Augenblick nicht darauf an wann es war daß die Unterdrückerregierung in Israel sich verwandelt hat in eine Verbrecherregierung
Aber es kommt darauf an zu erkennen daß sie jetzt eine Verbrecherregierung ist
Es kommt auch nicht mehr darauf an darüber zu streiten nach welchem Vorbild sie ihre Verbrechen begeht Diese verbrechen selbst tragen sichtbar die Spur ihres Vorbilds
Aber es kommt darauf an nicht nur klagend oder erstaunt den Kopf zu schütteln über diese Verbrechen sondern endlich etwas dagegen zu tun
Es kommt nicht darauf an was man ist Moslem, Christ, Jude, Freigeist: Ein Mensch der ein Mensch ist kann nicht schweigen zu dem was geschieht
Erich Fried
Internet-Tipp: https://www.arendt-art.de/deutsch/palestina/texte/erich_fried.htm
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Enigma
antwortete am 28.07.06 (12:38):
Ja, ich bedanke mich auch für die "Würdigung"von Fried mit den vielen Beiträgen. Und danke auch für das Gedicht von ihm.
Aber jetzt wieder was anderes:
Franco Biondi Nicht nur gastarbeiterdeutsch
IV. was mir bleibet
mein gastarbeiterdeutsch ist eng wie das ausländergesetz und tief wie die ausbeutung mein gastarbeiterdeutsch ist ein tiefdruck von Kiel bis Mazara del Vallo und wiegt wie Notierungen der DM mein gastarbeiterdeutsch ist ein stempel geworden darauf steht: Made in Westgermany mein gastarbeiterdeutsch hat sein nest in den furchen meines gehirns aufgebaut hat als wiege meine träume gewogen hat wie eine schmiede hoffnungen geformt mein gastarbeiterdeutsch ist eine hülse - innendrin nicht nur gastarbeiterdeutsch
Aus: In zwei Sprachen leben Berichte, Erzählungen, Gedichte von Ausländern dtv 10189 (wahrscheinlich nur noch antiquarisch zu beziehen)
Internet-Tipp: https://de.wikipedia.org/wiki/Franco_Biondi
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Marina
antwortete am 28.07.06 (23:15):
Oskar Maria Graf: „Verbrennt mich!“
Während meiner zufälligen Abwesenheit aus München erschien die Polizei in meiner dortigen Wohnung, um mich zu verhaften. Sie beschlagnahmte einen großen Teil unwiederbringlicher Manuskripte, mühsam zusammengetragenes Quellenstudienmaterial, meine sämtlichen Geschäftspapiere und einen großen Teil meiner Bücher. Das alles harrt nun der wahrscheinlichen Verbrennung. Ich habe also mein Heim, meine Arbeit und - was vielleicht am schlimmsten ist - die heimatliche Erde verlassen müssen, um dem Konzentrationslager zu entgehen. Die schönste Überraschung aber ist mir erst jetzt zuteil geworden. Laut „Berliner Börsencourier“ stehe ich auf der weißen Autorenliste des neuen Deutschland, und alle meine Bücher, mit Ausnahme meines Hauptwerkes „Wir sind Gefangene“, werden empfohlen! Ich bin also dazu berufen, einer der Exponenten des „neuen“ deutschen Geistes zu sein! Vergebens frage ich mich, womit ich diese Schmach verdient habe. Das Dritte Reich hat fast das ganze deutsche Schrifttum von Bedeutung ausgestoßen, hat sich losgesagt von der wirklichen deutschen Dichtung, hat die größte Zahl ihrer wesentlichen Schriftsteller ins Exil gejagt und das Erscheinen ihrer Werke in Deutschland unmöglich gemacht. Die Ahnungslosigkeit einiger wichtigtuerischer Konjunkturschreiber und der hemmungslose Vandalismus der augenblicklich herrschenden Gewalthaber versuchen all das, was von unserer Dichtung und Kunst Weltgeltung hat, auszurotten und den Begriff „deutsch“ durch engstirnigen Nationalismus zu ersetzen. Ein Nationalismus, auf dessen Eingebung selbst die geringste freiheitliche Regung unterdrückt wird, ein Nationalismus, auf dessen Befehl alle meine aufrechten sozialistischen Genossen verfolgt, eingekerkert, ermordet oder aus Verzweiflung in den Freitod getrieben werden! Und die Vertreter dieses barbarischen Nationalismus, der mit Deutschsein nichts, aber auch gar nichts zu tun hat, unterstehen sich, mich als einen ihrer „Geistigen“ zu beanspruchen, mich auf ihre sogenannte weiße Liste zu setzen, die vor dem Weltgewissen nur eine schwarze Liste sein kann! Diese Unehre habe ich nicht verdient! Nach meinem ganzen Leben und nach meinem ganzen Schreiben habe ich das Recht, zu verlangen, daß meine Bücher der reinen Flamme des Scheiterhaufens überantwortet werden und nicht in die blutigen Hände und die verdorbenen Hirne der braunen Mordbanden gelangen! Verbrennt die Werke des deutschen Geistes! Er selber wird unauslöschlich sein, wie eure Schmach! (Alle anständigen Zeitungen werden um Abdruck dieses Protestes ersucht.)
Oskar Maria Graf
(aus: Joseph Wulf: Literatur und Dichtung im Dritten Reich. Eine Dokumentation. Berlin 1989, S. 66f.)
Internet-Tipp: /seniorentreff/de/9uN8JMlbN
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Enigma
antwortete am 29.07.06 (07:36):
Hallo Marina,
das ist ein Witz. Genau das habe ich kürzlich gelesen. Und ergänzend dazu das Gedicht, das Brecht über die "Situation Graf" geschrieben hat:
Die Bücherverbrennung Als das Regime befahl, Bücher mit schädlichem Wissen Öffentlich zu verbrennen, und allenthalben Ochsen gezwungen wurden, Karren mit Büchern Zu den Scheiterhaufen zu ziehen, entdeckte Ein verjagter Dichter, einer der besten, die Liste der Verbrannten studierend, entsetzt, daß seine Bücher vergessen waren. Er eilte zum Schreibtisch Zornbeflügelt, und schrieb einen Brief an die Machthaber. Verbrennt mich! schrieb er mit fliegender Feder, verbrennt mich! Tut mir das nicht an! Laßt mich nicht übrig! Habe ich nicht Immer die Wahrheit berichtet in meinen Büchern? Und jetzt Werd ich von euch wie ein Lügner behandelt! Ich befehle euch, Verbrennt mich! (Bertolt Brecht)
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Marina
antwortete am 29.07.06 (12:05):
Hallo Enigma, es ist schon toll, dass du den Brecht gefunden hast, der genau dazu passt. Danke!
Hier noch ein anderer Exilant, der vielleicht nicht mehr so bekannt und trotzdem wichtig ist:
„Wir sind die Letzten. Fragt uns aus. Wir sind zuständig. Wir tragen den Zettelkasten. Mit den Steckbriefen unserer Freunde wie einen Bauchladen vor uns her. Forschungsinstitute bewerben sich Um Wäscherechnungen Verschollener, Museen bewahren die Stichworte unserer Agonie wie Reliquien unter Glas auf. Wir, die wir unsere Zeit vertrödelten, aus begreiflichen Gründen, sind zu Trödlern des Unbegreiflichen geworden. Unser Schicksal steht unter Denkmalschutz. Unser bester Kunde ist das schlechte Gewissen der Nachwelt. Greift zu, bedient euch. Wir sind die Letzten. Fragt uns aus. Wir sind zuständig.“ Hans Sahl Geb. 20. 5. 1902 in Dresden Gest. 26.4. 1993 in Tübingen
Internet-Tipp: https://www.exil-archiv.de/html/biografien/sahl.htm
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Enigma
antwortete am 29.07.06 (18:26):
Hans Sahl kannte ich nur dem Namen nach. Aber der Beitrag und auch sein Lebenslauf sind sehr interessant. Danke!
Da ich etwas in Eile bin, fällt der folgende Beitrag entsprechend kurz aus. Aber auch mit Fried hat er etwas zu tun. :-)
Sklavensprache
Mit mir willst du reden und ich soll deine sprache sprechen.
GINO CHIELLINO
Internet-Tipp: https://www.fask.uni-mainz.de/user/molsak/Molsak3_2/Chiellino.html
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Marina
antwortete am 30.07.06 (21:18):
Enigma, du machst mich dauernd mit neuer Gastarbeiterliteratur bekannt. Das finde ich gut, die kenne ich kaum. Jetzt habe ich ein Gedicht gefunden, das eigentlich zum 11. September geschrieben war. Ich finde es sehr wichtig, weil es zeitlos gültig für alle Anschläge oder Kriege, auch für den aktuellen Israel-Libanon-Krieg, ist. Und so lese i c h es zur Zeit. Da ich von dir, Enigma, gelernt habe, habe ich den Autor um Genehmigung gebeten, er hat sie mir freundlicherweise sofort erteilt. Danke an Reinhard Lehmitz.
Ewige Anklage und ewige Hoffnung
Menschen beschließen Dass Menschen sterben müssen Weil sie anders sind Der Wahnsinn wird zum Sinn
Auch Andersdenkende müssen sterben
Und wieder beschließen Menschen Dass Menschen sterben müssen Weil sie anders sind Und wieder grinst der Wahnsinn
Wieder sterben auch Andersdenkende
Gibt es Hoffnung? Die Andersdenkenden hätten ja gesagt!
Reinhard Lehmitz
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Enigma
antwortete am 31.07.06 (11:07):
Hallo Marina,
der Lehmitz gefällt mir auch sehr. Dem war ich mal bei onlinekunst.de "begegnet". Und was ich da von ihm gelesen habe, gefiel mir!
Jetzt bist Du mit gutem Beispiel vorangegangen bei der Einholung der Genehmigung. Ich habe das zum Teil versäumt, nicht absichtlich, sondern weil ich so viel diesem Bändchen "In zwei Sprachen leben" entnommen habe und nicht weiß, wie ich an die Leute herankomme. Das Bändchen habe ich, wie schon mal erwähnt, nur noch antiquarisch bekommen. Aber für die paar € hat sich das unglaublich gelohnt. Es könnte ruhig mal zu einer Neuauflage kommen, finde ich. Und darum gebe ich auch noch mal das Taschenbuch ein: "In zwei Sprachen leben" Berichte, Erzählungen, Gedichte von Ausländern. Herausgegeben von Irmgard Ackermann Erschienen im November 1983: dtv - 10189
In der Hoffnung, dass die Autoren denken, dass wir nur ihrer Sache dienen wollen in diesem Thread, gebe ich noch ein Gedicht ein (und erkläre mich sofort bereit, mit Hilfe von Karl alles wieder zu entfernen, wenn es verlangt wird):
Julie Redner Der Duden ist dein Malkasten
Zuerst bist du ein Außenseiter der Ungebetene und darfst nur durch das Fenster schauen Nase ans Glas gepreßt allein in der Kälte.
Dann stehst du vor der Tür und klopfst schüchtern, dann kräftiger, aber niemand kommt.
Nein, es ist keine Frage von Klopfen, Klingeln oder einem Losungswort, das du dir merken mußt: die Sprache ist die Farbe womit du selbst eine Eintrittskarte malst.
Wähl dir ein Wort. Dann noch eins. So viel wie du willst: der Duden ist dein Malkasten.
Du überwindest die Sprachbarriere nur wenn du den Mut zum Versuchen hast.
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Marina
antwortete am 01.08.06 (20:53):
Enigma, ich hatte den Lehmitz auch bei onlinekunst entdeckt. :-)
Hier noch ein Gedicht zur Gegenwart von Ellen Rohlfs. (Sie ist die Übersetzerin von dem israelischen Friedensaktivisten Uri Avnery)
Bushs Kinder
Nicht seine Töchter, die wohlbehütet und gesund in Texas , sich in der Aura des Präsidentenvaters sonnen, ein vergnügliches Leben im Überfluss , kein schlechtes Gewissen – und von Folgendem sicher keine Ahnung haben .
Ich meine Kinder Afghanistans, die nach Bushs „Kreuzzug gegen das Böse“ nun in den Dörfern um Jalalabad das „Licht der Welt erblicken“ sollten deren Gestalt ..unaussprechlich ... Die Mütter ahnen nicht, was auf sie zukommt. Sie glaubten, dem Krieg lebend entronnen zu sein. Sie glaubten, das Leben ginge weiter wie vorher – Es war so schon hart genug.
Doch Bushs Uran-Munition gegen angebliche Terroristennester Wirkt teuflisch weiter – unspürbar, unsichtbar als Phantom zerstörend durch die Gegend geisternd - unvorstellbar - noch Ewigkeiten lang - entlädt es in monströs wirkenden Strahlen ominöse Energien auf alles Lebendige - verstört werdendes Leben im Mutterleib ....
Dann die Geburt -- entsetzt starren Mütter auf ihr Neugeborenes Was ist das? Ein Mensch? Fassungslos steh’n sie vor dem Wesen, das in ihnen wurde:
Riesig rote Flecken anstelle von Augen, die nicht sehen, Rote Wülste um offenen Mund Ohren, die nicht hören Und die Nase ?. Verkrüppelte Gliedmaßen – Fleischklumpen anstelle von Händen und Füßen Riesiger Doppelkopf auf winzigem, aufgeblähtem Leib ...
lebensfähig ? die Zukunft eines Volkes in Kriegszonen von heute? Die Zukunft der Menschheit? Selbstzerstörung !
Ich frage: Wer denkt sich solche Waffen aus? Wer lässt solche Waffen anwenden? Wer lässt weiter solche Waffen auf angebliche Feinde los – Nachdem die Folgen bekannt sind – Nicht nur an Neugeborenen,
auch an Erwachsenen ja, an den eigenen Soldaten, die seit Jahren elendiglich zu Grunde gehen.
Wer kann behaupten, Im Namen seines Gottes gegen „Schurkenstaaten“ einen „Kreuzzug“ führen zu müssen ... Und Europa macht mit --- auch unsere Regierung
Bushs Kinder – nicht die in Texas – Die in Afghanistan, im Irak und überall dort Wo Bush’s Armee gegen „das Böse“ und den angeblichen Terror vorgeht Anscheinend nicht ahnend, dass sie „das Böse“ verkörpert, dass sie den Terror schürt. Was haben diese Kinder und ihre Mütter getan?
Wer macht diesem mörderischen Tun ein Ende?
Ellen Rohlfs
(Seit 1991 hat nach Anwendung durch die USA von mit Uran abgereicherter Munition die Häufigkeit der Missbildung an Neugeborenen in Afghanistan und im Irak um 400-600 % zugenommen. Hier wüten auch Krebs und Leukämie, auch unter US-Veteranen, was aber verheimlicht wird)
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Enigma
antwortete am 02.08.06 (08:14):
Das ist toll, Marina!
So ist es heute noch. Und so war es einmal: Und beides sollten wir nicht vergessen:
DAS LIED VOM LETZTEN JUDEN Nicht einer blieb verschont, war das gerecht, ihr Himmel? Sagt, und wenn gerecht für wen? Für wen? Für uns? Gesteht: Wofür? Wir schämen uns für euch. Und für die Schuld der Welt. Taub war die Erde. Stumm. Sie schloß die Augen. Doch ihr Himmel. Hell seid ihr. Und schön. Von eurer Höhe aus habt ihr herabgeblickt - Geblickt! Und nicht seid ihr zerschellt. Euch glaubte ich, ihr Himmel. Und ich weihte euch die schönsten Lieder, die ich sang. Euch liebte ich, wie ich nur noch mein Weib, ihr Himmel, liebe. Sie ist tot. Rauch. Schaum In meiner Jugend schon verglich ich meine Hoffnung mit dem Sonnenuntergang. Und meine Seele weinte: So entschwindet meine Hoffnung; so verlischt mein Traum. Erkennt ihr uns nicht mehr? Sind wir verändert? Oder seid ihr selbst veränderlich? Wir sind das Volk, das Gottes Wort verbreitet hat, ein Volk, das Gottes Zeuge ist, Und unsre Väter waren Heilige. Und wir sind besser noch. Nicht ich! Nicht ich Bin ein Prophet! doch: heilig ist am Kreuz mein Volk, das für die Schuld der Erde büßt. Wenn je mein Volk ein auserwähltes war, weil es für andre litt, dann jetzt, dann jetzt, Weil niemals noch ein Jude starb, geläutert so wie jeder, der uns klein erscheint In Warschau, Wilna oder in Wolhynien. Denn: Aus jedem Juden schreit, entsetzt, Ein Jeremia. Jeder ist ein König an Enttäuschung, der für alle weint. Ihr kennt, erkennt uns nicht. Seid ihr verwandelt? Oder hat sich unser Volk verstellt? Die sind wir, die wir waren. Und wir freveln, wenn wir freveln, gegen uns allein. Und wir verzichten, so wie einst, auf Glück. Doch: Retten wollen wir, wie einst, die Welt. Warum gestrahlt ihr, blaue Himmel, da wir sterben, unser Weh mit blauem Schein? Kein Gott, ihr Himmel, lebt in euch. Die Tore auf, ihr Himmel - Himmel, auf,auf,auf! Die Kinder meines ausgerotteten, zerquälten Volkes kommen. Hört den Spott Der Welt: Welch große Himmelfahrt! Ein ganzes Volk, gekreuzigt, fährt zu euch hinauf. Und Christus gleicht ein jedes Kind; denn jedes hat gelitten wie ein Christengott.
JIZCHAK KATZNELSON geschrieben ca. 1943 nach der Teilnahme am Ghettokampf in Warschau. Gekürzter Text. Aus dem Jiddischen übertragen von Hermann Adler; Oprecht-Verlag, Zürich, 1951, S. 59 ff. Vgl. die Interpretation dieses Gedichtes bei Friedrich Heer, Gottes erste Liebe, München, 1967.
Mehr Literatur zu unsere Thema ist noch dem Link - she. Internet-Tipp! - zu entnehmen.
Internet-Tipp: https://www.karfreitagsgottesdienste.de/jes52lit.html#galgen
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Marina
antwortete am 03.08.06 (16:53):
Enigma, das Gedicht ist sehr beeindruckend, eigentlich erschütternd, danke. Und die von dir eingestellte Seite ist sowieso auch sonst interessant, ich habe mal ein bisschen auch die anderen Texte angesehen.
Jetzt noch etwas, worüber ich mich sehr gefreut habe: Reinhard Lehmitz hat mir zwei weitere Gedichte zugesandt, eins davon stelle ich gleich wieder hier ein:
Was tun!
Täglich stehen wir unter Dauerbeschuss durch Kriegshandlungen mit unendlichem Leid
Hass und Selbstjustiz haben Hochkonjunktur Der Terror rückt näher Intoleranz regiert
Erträgt unser innerer Frieden dieses Trommelfeuer aus Kriegsmeldungen? Reicht unsere Kraft?
Trotz des Kugelhagels dürfen wir uns nicht in inneren Schützengräben verschanzen
Wir müssen aufrecht die Friedenstaube tragen im Namen der Opfer der Kriegsbestie
Reinhard Lehmitz
Außerdem hat der Verfasser mir zwei Buchtitel angegeben, die man in Buchhandlungen bestellen kann, dann werden sie "auf Bedarf gedruckt", wie er schreibt. Hier sind die Titel:
Reinhard Lehmitz Ein offenes Wort - Wahrnehmungen Engelsdorfer Verlag (2004) ISBN 3-938288-22-1 9,95 Euro Reinhard Lehmitz Kontraste - Aufgegriffen Engelsdorfer Verlag (2005) ISBN 3-938607-46-7 9.20 Euro
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Enigma
antwortete am 05.08.06 (08:50):
Hallo Marina,
ja, darüber kann ich mich auch immer freuen, wenn die von mir angeschriebenen Poeten so freundlich reagieren. Und es ist mir auch schon passiert, dass jemand (z.B. Herr Cumart) mir noch nachträglich etwas geschickt hat. Das ist dann doppelte Freude.
Und jetzt ein Gedicht, das überhaupt nicht neu ist, aber immer noch aktuell:
Kriegslied 's ist Krieg! 's ist Krieg! O Gottes Engel wehre, Und rede du darein! 's ist leider Krieg - und ich begehre Nicht schuld daran zu sein! Was sollt ich machen, wenn im Schlaf mit Grämen Und blutig, bleich und blaß, Die Geister der Erschlagenen zu mir kämen, Und vor mir weinten, was? Wenn wackre Männer, die sich Ehre suchten, Verstümmelt und halb tot Im Staub sich vor mir wälzten und mir fluchten In ihrer Todesnot? Wenn tausend tausend Väter, Mütter, Bräute, So glücklich vor dem Krieg, Nun alle elend, alle arme Leute, Wehklagten über mich? Wenn Hunger, böse Seuch und ihre Nöten Freund, Freund und Feind ins Grab Versammelten und mir zu Ehren krähten Von einer Leich herab? Was hülf mir Kron und Land und Gold und Ehre? Die könnten mich nicht freun! 's ist leider Krieg - und ich begehre Nicht schuld daran zu sein!
Matthias Claudius veröffentlicht 1779 im "Voßischen Musenalmanach"
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Marina
antwortete am 07.08.06 (12:32):
Hallo Enigma, dieses Gedicht finde ich immer gut, danke. Jetzt poste ich noch das zweite neue von Reinhard Lehmitz, man soll ja nicht das ganze Füllhorn auf einmal ausschütten. :-)
Harlekine Du schreibst über Elend Über Hunger und Krieg Forderst den Frieden Und glaubst an den Sieg
Du erhebst die Stimme Mit all deiner Kraft Zeigst ein inniges Lächeln Wenn Gutes geschafft
So war es schon immer Auch vor hunderten Jahren Doch hat die Welt Einen Wandel erfahren?
Du denkst darüber nach Mit kritischer Miene Und kommst zu dem Schluss Wir sind Harlekine...
Reinhard Lehmitz
Das finde ich allerdings ein bisschen resignativ. Ich gebe zu, die anderen haben mir besser gefallen.
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Enigma
antwortete am 09.08.06 (08:56):
Hallo Marina,
ja, es ist immer schöner, dass man denken (und hoffen) kann, dass etwas veränderbar ist.
Und manche geben dieser Hoffnung auf besondere Weise Ausdruck, wie der hier folgende Interpret, den wir alle kennen. Immerhin erreichte er auf diese Weise, dass er auftreten durfte in der damaligen DDR. Wie sich oft gezeigt hat, kann auch mit künstlerischen Mitteln etwas gegen Willkür und Intoleranz erreicht werden.
Sonderzug nach Pankow
( Aufgenommen 1983 zur LP „Odyssee“) Udo Lindenberg
Entschuldigen Sie, ist das der Sonderzug nach Pankow ich muß mal eben dahin, mal eben nach Ost-Berlin ich muß da was klären, mit eurem Oberindianer ich bin ein Jodeltalent, und will da spielen mit ner Band
Ich hab'n Fläschen Cognac mit, und das schmeckt sehr lecker das schlürf ich dann ganz locker mit dem Erich Honecker und ich sag: Ey, Honey, ich sing für wenig Money im Republik-Palast, wenn ihr mich laßt all die ganzen Schlageraffen dürfen da singen dürfen ihren ganzen Schrott zum Vortrage bringen nur der kleine Udo - nur der kleine Udo der darf das nicht - und das verstehen wir nicht
Ich weiß genau, ich habe furchtbar viele Freunde in der DDR, und stündlich werden es mehr och, Erich ey, bist du denn wirklich so ein sturer Schrat warum läßt du mich nicht singen im Arbeiter- und Bauernstaat?
Ist das der Sonderzug nach Pankow
Ich hab'n Fläschen Cognac mit, und das schmeckt sehr lecker das schlürf ich dann ganz locker mit dem Erich Honecker und ich sag: Ey, Honey . . .
Honey, ich glaub, du bist doch eigentlich auch ganz locker ich weiß, tief in dir drin, bist du doch eigentlich auch 'n Rocker du ziehst dir doch heimlich auch gerne mal die Lederjacke an und schließt dich ein auf'm Klo und hörst West-Radio
Hallo, Erich, kannst mich hören Hallölöchen - Hallo Hallo, Honey, kannst mich hören Hallo Halli, Halli Hallo joddelido
Genau so locker hat er mir auch erlaubt, von seinen Songtexten was einzustellen. :-)
she. auch Internet-Tipp!
Internet-Tipp: https://www.jochenscheytt.de/popsongs/sonderzug.html
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kropka
antwortete am 10.08.06 (12:47):
Heute in meiner Email Box gefunden:
------------------------------ Lyrikmail Nr. 1347 10.08.2006 ------------------------------
Kriegsrecht
Wir bekriegen einander, wir suchen einander zu tödten, Aber, wer sagt denn vom Feind, daß er den Tod auch verdient?
Friedrich Hebbel (1813-1863)
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Marina
antwortete am 10.08.06 (14:27):
Soldat, wach auf!
Soldat, wach auf! Der Krieg brach los! Die Hybris der Regenten! Sie provozierten gnadenlos - die irren Präsidenten!
Soldat, pass auf! Die werden sich die Hände nicht beschmutzen. Die Präsidenten wollen dich zum Totmachen benutzen!
Soldat, dein Blut! Sie lassen es durch dich für sich vergießen. Sie sind ganz sicher ohne Stress, wenn sie befehlen: »Schießen!«
Soldat, steh auf! Dein Kriegsherr drängt zum gottgewollten Morden. Wer bombend das Zerstören lenkt, verleiht den Mördern Orden.
Soldat, hör zu! Dein Kriegsherr will dich stolz als Sieger sehen. Er schenkte dir den Overkill - sollst über Leichen gehen!
Soldat, denk nach! Du wirst verheizt für Öl, »in Gottes Namen!« Die Allmacht, die den Kriegsherrn reizt, verzockt dein Leben - ! Amen.
Soldat, gib auf! Du wirst doch nur getäuscht, missbraucht, betrogen! Dein Kriegsherr hat, rund um die Uhr, Gott und die Welt belogen!
Soldat, kehr um! Brich deinen Eid, sonst ist der Kampf verloren! Entwaffne dich! Besieg das Leid! Du wurdest frei geboren! Soldat, halt ein! Die Frau, das Kind - die Menschen wollen leben! Ahnst du, wer ihre Feinde sind? Dann - mag es Frieden geben!
Claus Günther
Internet-Tipp: https://www.tdh.de/kinderseiten/worte/texte/claus_guenther_01.htm
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Enigma
antwortete am 10.08.06 (17:18):
@kropka Danke! Ich bekomme sie auch, die tägliche Lyrikmail, und freue mich immer schon auf das morgendliche Bonbon.
@Marina Ein sehr schönes Gedicht von der tdh-Seite. Und mit Kindern kann man ja auch nicht früh genug anfangen, über solche Themen zu sprechen. Die einigen Kindern evtl. unverständlichen Fremdwörter werden sie schon nachfragen.
Traumstadt eines Emigranten
Ja, ich bin recht, es ist die alte Gasse. Hier wohn ich dreißig Jahr ohn Unterlaß . . . Bin ich hier recht?? Mich treibt ein Irgendwas, Das mich nicht losläßt, mit der Menschenmasse. Da, eine Sperre starrt . . . Eh ich mich fasse, Packt's meine Arme: »Bitte, Ihren Paß!« Mein Paß? Wo ist mein Paß!? Von Hohn und Haß Bin ich umzingelt, wanke und erblasse . . . Kann soviel Angst ein Menschenmut ertragen? Stahlruten pfeifen, die mich werden schlagen, Ich fühl noch, daß ich in die Kniee brach . . . Und während Unsichtbare mich bespeien: »Ich hab ja nichts getan«, - hör ich mich schreien, »Als daß ich eure, meine Sprache sprach.«
Franz Werfel (1890-1945) (Das Lyrische Werk. Hrsg. v. Adolf I. Klarmann. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1967)
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Marina
antwortete am 11.08.06 (12:28):
Bitten der Kinder
Die Häuser sollen nicht brennen. Bomber sollt man nicht kennen. Die Nacht soll für den Schlaf sein. Leben soll keine Straf sein. Die Mütter sollen nicht weinen. Keiner sollt müssen töten einen. Alle sollen was bauen Da kann man allen trauen. Die Jungen sollen's erreichen. Die Alten desgleichen.
BERTOLT BRECHT
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Enigma
antwortete am 12.08.06 (08:02):
Politische Disticha Viele verloren Gedächtnis und Sprache, so dringt es aus allen Landen, in denen der Krieg schon seine Schauer entrollt. Sind das nicht himmlische Zeichen? - Die Menschheit, die diesen Krieg führt, Ist des Gedächtnisses nicht, ist auch der Sprache nicht wert. Menschliche Schwächen, nicht himmlische Zeichen sind's. Ihrem Gedächtnis Hat noch die Menschheit nie so Gewaltiges erkämpft. Und die Sprache der Feldpostbriefe, klingt sie nicht golden Gegen das donnernde Blech, das aus den Zeitungen dröhnt? Ein vollständiges Verzeichnis der Ortschaften, die in dem Kriege Ganz oder teilweise zerstört, gibt es bis heute noch nicht. Dringend herrscht ein Bedürfnis danach, denn viele schon zogen In die Heimat zurück und sie gelangten ins Nichts. Frank Wedekind
(1864-1918)
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kropka
antwortete am 13.08.06 (08:25):
Wenn jeder eine Blume pflanzte, jeder Mensch auf dieser Welt, und, anstatt zu schießen, tanzte und mit Lächeln zahlte statt mit Geld — wenn ein jeder einen andern wärmte, keiner mehr von seiner Stärke schwärmte, keiner mehr den andern schlüge, keiner sich verstrickte in der Lüge, wenn die Alten wie die Kinder würden, sie sich teilten in den Bürden, wenn dies WENN sich leben ließ, wär‘s noch lang kein Paradies — bloß die Menschenzeit hätt‘ angefangen, die in Streit und Krieg uns beinah ist vergangen.
Peter Härtling
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Marina
antwortete am 14.08.06 (13:04):
An alle, an alle!
Das Gedächtnis der Menschheit für erduldete Leiden ist erstaunlich kurz. Ihre Vorstellungsgabe für kommende Leiden ist fast noch geringer . . . Diese Abgestumpftheit ist es, die wir zu bekämpfen haben, ihr äußerster Grad ist der Tod. Allzuviele kommen uns schon heute vor wie Tote, wie Leute, die schon hinter sich haben, was sie vor sich haben, so wenig tun sie dagegen. Laßt uns das tausendmal Gesagte immer wieder sagen, damit es nicht einmal zuwenig gesagt wurde! Laßt uns die Warnungen erneuern, und wenn sie schon wie Asche in unserem Mund sind! Denn der Menschheit drohen Kriege, gegen welche die vergangenen wie armselige Versuche sind, und sie werden kommen ohne jeden Zweifel, wenn denen, die sie in aller Öffentlichkeit vorbereiten nicht die Hände zerschlagen werden.
Bertold Brecht (1952 geschrieben)
Ich finde es unglaublich, wie prophetisch dieses Gedicht ist. (Heute ist sein 50. Todestag)
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kropka
antwortete am 14.08.06 (21:59):
Aus dem Anlass noch ein Gedicht von Brecht:
Kinderhymne (1949)
Anmut sparet nicht noch Mühe Leidenschaft nicht noch Verstand Daß ein gutes Deutschland blühe Wie ein andres gutes Land
Daß die Völker nicht erbleichen Wie vor einer Räuberin Sondern ihre Hände reichen Uns wie andern Völkern hin.
Und nicht über und nicht unter Andern Völkern wolln wir sein Von der See bis zu den Alpen Von der Oder bis zum Rhein.
Und weil wir dies Land verbessern Lieben und beschirmen wir's Und das liebste mag's uns scheinen So wie andern Völkern ihrs.
Bertolt Brecht
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Enigma
antwortete am 15.08.06 (09:17):
Nachfolgend ein "Soldatenlied" von Mühsam, ja, von dem Erich Mühsam, der, wie von Marina am 21.7.2006,19.06 Uhr, eingestellt, gequält, gefoltert und ermordet wurde:
Soldatenlied Wir lernten in der Schlacht zu stehn bei Sturm und Höllenglut. Wir lernten in den Tod zu gehn, nicht achtend unser Blut. Und wenn sich einst die Waffe kehrt auf die, die uns den Kampf gelehrt, sie werden uns nicht feige sehn. Ihr Unterricht war gut. Wir töten, wie man uns befahl, mit Blei und Dynamit, für Vaterland und Kapital, für Kaiser und Profit. Doch wenn erfüllt die Tage sind, dann stehn wir auf für Weib und Kind und kämpfen, bis durch Dunst und Qual die lichte Sonne sieht. Soldaten! Ruft's von Front zu Front: Es ruhe das Gewehr! Wer für die Reichen bluten konnt, kann für die Seinen mehr. Ihr drüben! Auf zur gleichen Pflicht! Vergeßt den Freund im Feinde nicht! In Flammen ruft der Horizont nach Hause jedes Heer. Lebt wohl, ihr Brüder! Unsre Hand, daß ferner Friede sei! Nie wieder reiß das Völkerband in rohem Krieg entzwei. Sieg allen in der Heimatschlacht! Dann sinken Grenzen, stürzt die Macht, und alle Welt ist Vaterland, und alle Welt ist frei!
Erich Mühsam Aus: Der neue Conrady. Das große deutsche Gedichtbuch. Von den Anfängen bis zur Gegenwart
Er kam nicht mehr dazu, für die Seinen mehr zu können ....
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Marina
antwortete am 16.08.06 (11:24):
Dementis zur Zeit
Nein: Ein Krieg ist das nicht es ist ein Angriff. Nein: Ein Angriff ist das nicht es ist ein Gegenschlag. Nein: Ein Gegenschlag ist das nicht es ist ein langer Kampf. Nein: Ein langer Kampf ist das nicht es ist eine Mission. Nein: Eine Mission ist das nicht es ist eine Militäraktion. Nein: Eine Militäraktion ist das nicht es ist ein Kreuzzug. Nein: Ein Kreuzzug ist das nicht es ist eine weitere Front. Nein: Eine weitere Front ist das nicht es sind Luftschläge. Nein: Luftschläge sind das nicht es ist ein Krieg. Nein: Ein Krieg ist das nicht es ist eine humanitäre Aktion ein Wesenszug unserer Art zu leben über andere Leben.
Peter Maiwald
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Marina
antwortete am 19.08.06 (11:24):
"Ich selber bin überzeugt, daß die ungeheure, blutige Groteske, die sich in uns und an uns austobt, enden wird mit dem Sieg der Vernunft über die Dummheit. Darum setze ich auch kein "finis" unter diesen dritten Teil des Roman-Zyklus "Der Wartesaal", Ich rechne damit, daß ich das Werk mit dem Epilog "Rückkehr" werde schließen können.
Zuversicht solcher Art war es, die mich das letzte Kapitel dieses Romans Exil schreiben hieß, und ich hoffe, diese Zuversicht überträgt sich auf den Leser."
(Lion Feuchtwanger, Sanary/ Var/ Frankreich, Oktober 1939) Geb. am 7. 7. 1884 in München Gest. am 21. 12. 1958 in Los Angeles/ USA
Ich habe gerade "Exil" von Feuchtwanger gelesen, ein wirklich tolles Buch, unglaublich wichtig zum Verständnis dessen, was die Juden im Exil durchmachen mussten. Und es ist psychologisch einfach großartig in seiner Menschenkenntnis. Obendrein wahnsinnig spannend. Ich kann es nur jedem empfehlen.
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Enigma
antwortete am 19.08.06 (16:15):
Danke für den Tipp, Marina. Ich habe mir schon so lange vorgenommen, das Buch zu lesen. Jetzt muss es aber bald mal was werden!
Und hier noch etwas von einem Mann, der nach anfänglicher Sympathie für die NSDAP mehr und mehr mit ihr in Konflikt geriet und schließlich im Konzentrationslager landete.
"Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich nicht protestiert; ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestierte."
(Pastor Martin Niemöller, von 1938-45 in KZ-Haft)
Mehr über Martin Niemöller she.Internet-Tipp!
Internet-Tipp: https://www.dhm.de/lemo/html/biografien/NiemoellerMartin/
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Enigma
antwortete am 19.08.06 (16:24):
Auch das ist von Martin Niemöller, der sich nach dem Kriege immer für die Abrüstung einsetzte:
„Wer den Frieden will, muss mit dem Gegner gemeinsam leben wollen. Wir müssen Vertrauen wagen. Darum Schluss mit dem Rüsten.“
Es ist sogar ein Plakat mit dieser Forderung gedruckt worden - she. Internet-Tipp!
Internet-Tipp: https://www.dhm.de/lemo/objekte/pict/BiographieNiemoeller_photoNiemoeller1984/
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Marina
antwortete am 22.08.06 (13:11):
Enigma, vielen Dank für den Text von Niemöller, den ich als sehr eindringlich und zeitlos empfinde, auch angesichts der jetzt wieder aktuellen Kriege, bei denen wieder viel zu viele schweigen und die Nichtschweiger oft wenig Verständnis bis Ablehnung ernten. Auch die Informationen zu Niemöller und „Bekennende Kirche“, zu der auch mein Vater gehörte (worauf ich ein bisschen stolz bin), waren für mich sehr interessant.
Jetzt möchte ich an dieser Stelle von einem mich sehr beeindruckenden Erlebnis erzählen mit einem anderen Menschen, der auch nicht schweigt und dafür vielfach angegriffen wird, wie es leider üblich ist bei „Dissidenten“, als solcher bezeichnet er sich. Es handelt sich um ein Treffen mit Reuven Moskovitz, einem jüdischen Friedensaktivisten, der ähnlich wie Uri Avnery seit langem immer wieder Kritik übt an der Politik Israels und das Friedensdorf „Neve Shalom“ (auf Deutsch: Oase des Friedens) im Jahr 1970 mitbegründet hat. Dieses Dorf wird von jüdischen und palästinensischen Bürgern bewohnt, die sich zusammen für Gleichberechtigung und Verständigung zwischen beiden Völkern einsetzen. Ich habe Reuven Moskovitz am Sonntag privat bei Freunden persönlich kennengelernt, wo er vor einer kleinen eingeladenen Gruppe einen Vortrag gehalten hat, und ich hatte Gelegenheit, mit ihm zu sprechen. Er hat sich äußerst kritisch geäußert zu der israelischen Politik in den besetzten Gebieten und zum Libanon-Krieg, und er geht so weit zu behaupten, dass Israel den Opferstatus des Holocaust benutzt, um seine aggressive Vertreibungspolitik gegenüber den Palästinensern und seine Kriege (von denen er behauptet, dass sie alle nicht nötig waren) durchzuführen. Mit einem Gleichnis hat er die falsche Richtung der israelischen Politik dargestellt. Ich versuche es einmal kurz wiederzugeben: Es sitzt jemand in einem Zug und beobachtet einen Mann, der beim ersten Halt im nächsten Ort laut aufstöhnt. Bei der nächsten Haltestelle wird sein Stöhnen lauter und wieder bei der nächsten noch lauter und intensiver, und so weiter. Der Beobachter fragt ihn, warum er so stöhne, und der Mann antwortet: „Weil ich bei jeder Haltestelle mehr merke, dass ich in die falsche Richtung fahre.“ Moskovitz fragt: Aber warum steigt der Mann nicht aus? Seine Antwort: Weil er gerade so einen bequemen Sitzplatz hat und es ihm zu mühsam ist, diesen zu verlassen. Das ist auch Moskovitz’ Bild von der israelischen Politik (er hat in diesem Zusammenhang übrigens wortwörtlich tatsächlich das Gleiche gesagt wie ich an anderer Stelle, wofür ich von Mart heftig kritisiert wurde: dass die Opfer zu Tätern geworden sind). Und er vergleicht das Nichtwahrhabenwollen der Mehrheit tatsächlich mit dem Nichtwahrhabenwollen der falschen Richtung in unserer NS-Zeit. Er sagt: Auch da war die Mehrheit auf dem falschen Weg, und nur eine Minderheit sah es. Genauso ist es jetzt in Israel. Wenn 80-90% der Israelis für den Libanon-Krieg sind, sind eben 80-90% auf dem falschen Weg. Und wenn die Mehrheit der Israelis für die Besatzungspolitik ist, ist die Mehrheit auf dem falschen Weg. Moskovitz ist auch ausgesprochen kritisch gegenüber der Haltung Deutschlands in dieser Frage, weil er sagt, Deutschland verstecke sich hinter seinen Schuldgefühlen, um diese Politik Israels zu rechtfertigen und mit Waffenlieferungen zu unterstützen.
Hier stelle ich einen Link ein mit einem Interview, aus dem man seine Haltung zum Krieg entnehmen kann:
Internet-Tipp: https://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/520534/
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Marina
antwortete am 22.08.06 (13:13):
Fortsetzung:
Dabei ist Moskovitz sonst überzeugt davon, dass Deutschland seine Lehre aus der Vergangenheit gezogen hat und ein vorbildlicher Staat geworden ist, der gelernt hat, Frieden mit den Feinden zu schließen. Das sollte sich seiner Meinung nach Israel zum Vorbild nehmen. Natürlich ist er auch nicht unkritisch mit den Feinden Israels. Auch sie sind auf dem falschen Weg, nicht, dass er da nur einseitig Israel die Schuld gibt. Aber er sieht die größere Schuld bei der israelischen Regierung, weil sie vor lauter Absicherung die feindlichen Nachbarn immer mehr unterdrückt und in Gefängnissen leben lässt.
Du, Enigma, hast Niemöller zitiert mit den Worten: „Wer den Frieden will, muss mit dem Gegner gemeinsam leben wollen. Wir müssen Vertrauen wagen“. Genau das hat Moskovitz real auch praktisch bewiesen mit der Gründung von „Neve Shalom“ und so drückt er sich auch aus, wenn es um die Verweigerung Israels, mit der neugewählten Hamas-Regierung oder mit der Hisbollah zu reden, geht. Er sagt: „Frieden kann man nur mit Feinden schließen“ und hält diese Gesprächsverweigerung für ausgesprochen kontraproduktiv.
Übrigens ist er auch ein Künstler, er spielt wunderbar Mundharmonika, hat seinen Vortrag zwischendurch mit Improvisationen begleitet, und er ist ein überaus liebenswerter, charmanter, humorvoller und durch und durch humaner Mensch, das strahlt er aus, obwohl er sich sehr pessimistisch gibt im Hinblick auf eine Friedenshoffnung im Nahen Osten.
Ich habe mir sein Buch „Der lange Weg zum Frieden“ gekauft, das sehr lebendig und spannend geschrieben ist, wie man gleich beim Blättern merkt. Ich glaube, dass man nicht nur viel daraus lernen kann, was die Geschichte Israels betrifft. Auf dem Klappentext steht: „Der lange Weg zum Frieden ist der Weg eines Mannes, der erkannt hat, daß das Böse potentiell in jedem Menschen wohnt und nicht auf einzelne Völker beschränkt ist. Für die Überwindung des Bösen, für Toleranz und die Akzeptanz des anderen, die den Weg zum Frieden sowohl in den persönlichen als auch in den Beziehungen zwischen Staaten und Völkern überhaupt erst ermöglichen, setzt sich der charismatische Israeli seit Jahrzehnten ein.“
Hier noch ein Link für ganz viele Informationen zu Moskovitz:
Internet-Tipp: /seniorentreff/de/yHtmvpMfn
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Enigma
antwortete am 24.08.06 (09:03):
Hallo Marina,
da kannst Du aber auch stolz sein, besonders darauf, dass Dein Vater den Mut hatte, zu der Zeit zur "Bekennenden Kirche" zu gehören.So etwas stärkt wahrscheinlich auch das Gerechtigkeitsgefühl der Kinder, weil das Beispiel immer noch die beste Erziehung ist.:-) Zum andern verstehe ich auch Deine Begeisterung zur Begegnung mit Moskovitz (danke für den Link). Denn wahrscheinlich hat auch er das Charisma des lebenden Beispiels, wie es gehen kann... Da ich gestern mit anderen Dingen beschäftigt war und heute raus muss, um einiges zu erledigen, jetzt erst einmal "nur" ein Gedicht von einem Mann, den ich nicht persönlich kenne, der mich aber auch durch seine Lebensgeschichte und deren Bewältigung beeindruckt:
Abdolreza Madjderey Emigration
In den Hinterhöfen der deutschen Sprache habe ich die Werkstatt meiner Träume untergebracht, untergetaucht als Emigrant, höre nur ferne Bratschen, die der Wind bringt zwischen Blättern meines Traumbaumes und die Worte bleiben im Käfig des Fernseins. Niemand käfigt sich freiwillig. Niemand ist als Emigrant geboren.
Internet-Tipp: https://www.borsuye.de/gruender.html
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Marina
antwortete am 28.08.06 (12:28):
Danke, Enigma, wenn man seinen Lebenslauf liest, ist man wirklich schwer beeindruckt, da hast du recht. Dabei ist sein Gedicht trotzdem so einfach und sensibel, ganz ungewöhnlich für solche "Koryphäen".
Jetzt habe ich gerade heute eine Rede von Moskovitz, die er anlässlich eines Barenboim-Konzertes gehalten hat, zugeschickt bekommen. Sie hat mit meinem Erlebnis nichts zu tun, kam aus einer anderen Quelle, von der ich laufend Texte bekomme, also purer Zufall. Ich möchte sie noch einstellen, weil ich gerade von ihm berichtet hatte. Hier ist sie.
Reuven Moskovitz, Jerusalem: Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Friedensfreunde,
ich bin Jude und Israeli aus Jerusalem, der sein ganzes Leben dem Frieden, der Versöhnung und der Vergebung widmet. Ich begrüße Sie als Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieses Konzertes. Dieses Konzert ist nicht nur ein hervorragendes Kultur-Kunst- oder musikalisches Ereignis, sondern beinhaltet auch ein tiefsinniges politisches Symbol. Es ist ein Beweis, dass es nicht Krieg zwischen Juden und Arabern gibt, sondern dass es Juden und Araber gibt, die auf Konflikt, Krieg und Hass gerichtet sind und Juden und Araber, die sich der Liebe, dem Frieden und der versöhnenden Kunst verpflichtet fühlen. Als Überlebender und Opfer von Krieg, Hass, Verfolgung und rassistischer Vorurteile beschäftigt mich mein ganzes Leben die Frage wie man den Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt überwinden kann. Eine der überzeugenden Antworten erleben wir an diesem Abend. Ein Spruch der jüdischen Weisen heißt: Ein Held ist, wer seinen Feind zum Freund macht. Daniel Barenboim und sein zusammen gestelltes Orchester, das West-Eastern-Divan Orchestra, sind die Helden unserer Zeiten und nicht diejenigen, die sich gegenseitig in hoffnungs- und sinnlosen Kriegen umbringen, diejenigen, die Teile unserer Welt in Brand gesetzt haben, wie im Libanon, in Israel, Palästina, Afghanistan und im Irak.
Vor 32 Jahren habe ich mich überwunden nach Deutschland zu fahren um den Weg Deutschlands von der Weimarer Republik zum Nationalsozialismus zu studieren. Ich habe mir die schmerzhafte Frage gestellt: Ob nicht auch wir Juden, ein Volk das Jahrtausende durch die Macht des Geistes und der Gewaltlosigkeit überlebte, als Anbeter der Gewalt nicht auch gefährdet sind, daran zugrunde zu gehen. Zutiefst überrascht habe ich nicht nur die zerstörerischen Denk- und Handelsstrukturen des Dritten Reiches erkannt, von denen auch unsere Machthaber schwer kontaminiert sind. Ich habe auch eine neue deutsche Identität entdeckt: Die erstaunliche Fähigkeit des Übergangs von tief eingeprägtem rassistischem Vernichtungswahn zu einer erfolgreichen Friedens- und Versöhnungspolitik, die zu einer Friedensidentität geführt hat. Diese Tatsache hat mich 1974 dazu bewegt, einen Brief an deutsche Freundinnen und Freunde unter dem Titel „Es gibt ein Deutschland, das ich liebe“ zu schreiben.
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Marina
antwortete am 28.08.06 (12:30):
Fortsetzung
Bewegt und berauscht von dieser neuen deutschen Identität hat sich bei mir die Hoffnung entwickelt, dass von Deutschland aus die aktivsten und unablässigsten Versuche kommen könnten und müssten, um zu Frieden und Versöhnung zwischen uns Juden und den Palästinensern zu gelangen. Zu meinem tiefsten Bedauern musste ich auch die deutsche „Schuldidentität“ wahrnehmen. Diese Identität als Ergebnis von Reue und Scham kann ich verstehen und achten. Nicht nachvollziehen kann ich, wenn diese Identität für deutsche Menschen bedeutet, mit zweierlei Maß zu handeln, wenn es um den tragischen jüdisch-palästinensischen Konflikt geht. Denn dieser Konflikt ist nicht wenig von der deutschen Vergangenheit geprägt und mit verursacht worden. Ich wage zu denken, dass, wenn sich die deutsche Außenpolitik mit derselben Entschlossenheit und Gründlichkeit, mit denen es sich alle ehemaligen Feinde zu Freunden gemacht hat, sich für einen Frieden zwischen Israel und Palästina eingesetzt hätte, wäre es nicht zu diesem dramatischen Wirbel von Gewalt und Gegengewalt gekommen. Leider hat die Schuldidentität, bewusst oder manipuliert durch unsere „Meinungsgestalter“, die deutsche Politik und die meisten Deutschen dazu geführt, sich verlegen und gelähmt ziemlich einseitig in eine falsche bedingungslose Solidarität mit Israel zu begeben. Bedingungslose Solidarität mit dem Existenzrecht Israels muss selbstverständlich sein. Nicht aber mit dem Recht Israels seinen Nachbarn durch Gewalt Annexionsansprüche aufzuzwingen und Selbstbestimmung zu verweigern. Im Vorwort zu der fünften Auflage meines Buches: Der lange Weg zum Frieden schrieb ich: „Ausgerechnet bei mir, dem verfolgten Juden, hat sich die Vision eines überwältigenden, von Deutschland ausgehenden Aktes entwickelt. Dieser Akt sollte so einmalig aufbauend sein, wie der Holocaust einmalig und zerstörerisch war“. Daniel Barenboim zeigt seine Größe nicht nur als Dirigent und Pianist sondern seine politische Einsicht: „Jeder militärische Sieg lässt Israel politisch schwächer und den Gegner immer radikaler werden. Israel wird nur Sicherheit haben, wenn es wirklich ein Teil der Familie der Nationen im Nahen Osten wird. Schafft es das nicht, wird es nicht weiter existieren. Aber das muss man sagen, dass ist unsere jüdische, unsere israelische Verantwortung…….. Alles ist möglich und nur eines nicht: Und das ist eine militärische Lösung“.
Ich wage Sie aufzurufen die aus der Vergangenheit entstandene Verantwortung zu übernehmen. Bitte setzen Sie sich mit der Kraft, die Ihnen aus dem sechzigjährigen Frieden und Versöhnungserfahrung erwachsen ist, für eine friedensfähige und menschenwürdige Lösung im Nahen Osten ein. Es gibt keinen Frieden und keine Sicherheit für Israel Ohne Freiheit und Frieden für die Palästinenser.
Zur Person
Reuven Moskovitz ist Historiker und seit Jahren in der israelischen Friedensbewegung aktiv. Er ist Mitbegründer des Friedensdorfes Neve Shalom/Wahat Al Salam , in dem israelische Juden und Palästinenser zusammen leben. Er kämpft für die Verständigung und Aussöhnung zwischen Palästinensern und Israelis und bemüht sich auch um die deutsch-israelische Versöhnung. Er ist Preisträger des Mount Sion Award 2001 und des Aachener Friedenspreises 2003.
Sein 1996 erschienenes Buch „Der lange Weg zum Frieden - Deutschland-Israel-Palästina“ gibt es jetzt in 5. Auflage. Es ist zum Preis von 13 EU (zzgl. Portokosten) zu beziehen über: Adalbert Janssen, Klunderburglohne 1, 26736 Krummhörn (Tel. 04923/ 200).
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Marina
antwortete am 28.08.06 (16:24):
Kleine Anmerkung noch von mir: Ich glaube, Moskovitz hat diese Rede anlässlich seines Deutschland-Besuchs vor kurzem (einige Tage, nachdem ich ihn erlebt habe) in Berlin gehalten, wo es ein Barenboim-Konzert gab.
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Enigma
antwortete am 29.08.06 (08:27):
Hallo Marina,
eine tolle Rede von Moskovitz. Ich greife mal diesen Teil seiner Rede heraus:
(...) „Zu meinem tiefsten Bedauern musste ich auch die deutsche „Schuldidentität“ wahrnehmen. Diese Identität als Ergebnis von Reue und Scham kann ich verstehen und achten. Nicht nachvollziehen kann ich, wenn diese Identität für deutsche Menschen bedeutet, mit zweierlei Maß zu handeln, wenn es um den tragischen jüdisch-palästinensischen Konflikt geht. Denn dieser Konflikt ist nicht wenig von der deutschen Vergangenheit geprägt und mit verursacht worden.“ (...)
Trifft das nicht genau die Situation von uns Deutschen, dass wir diese „Schuldidentität“ verständlicherweise entwickelt haben? Aber wenn dieses Gefühl des Belastetseins aus der Vergangenheit heraus dazu führt, dass wir unkritisch-solidarisch „mit zweierlei Maß“ in dem derzeitigen jüdisch-palästinensischen Konflikt denken oder handeln, dann kritisiert Moskovitz das zu Recht. Und das sollten wir uns bewußt machen!
Aber jetzt zu Barenboim:
Er beeindruckt mich gleichermaßen als Pianist, Dirigent und als um den Frieden in Nahost bemühter Mensch. Zum Glück gibt es solche Menschen, die differenziert denken und handeln können und sich nicht nur an Schwarz-Weiß-Bildern orientieren.
Und nun noch etwas, das vielleicht (wahrscheinlich) auch Barenboim gefallen würde:
In den letzten Tagen gab es Informationen in den Medien über ein Festival in Deutschland, das ich beachtenswert finde, weil es Verständnis wecken kann für orientalische Kultur. Es handelt sich um das sogenannte „Morgenland-Festival“ und findet in Osnabrück statt Besonders werden Musikaufführungen und bildende Kunst angeboten. U.a. hat der NDR darüber berichtet. Hier ein Auszug:
(...) “In diesem Sinne war bereits das Eröffnungskonzert eine kulturpolitische Sensation: Erstmals in Deutschland gastierte am 20. August das Tehran Symphony Orchestra unter der Leitung von Nader Mashayekhi in der Stadthalle Osnabrück. Auf dem Programm standen Werke iranischer Komponisten, Beethovens siebte Sinfonie und eine Komposition der US-amerikanischen Rock-Ikone Frank Zappa.“ (...) Eine tolle Bandbreite hat dieses Orchester.
Aber auch Künstler aus Nahost präsentieren dort ihre Kompositionen oder Interpretationen. Ein guter Ansatz, denke ich, denn eine Mentalität verstehen lernen bedeutet vielleicht auch, etwas mehr Freund sein zu können...
Und hier kann, wer Lust hat, den ganzen Artikel lesen - she. Internet-Tipp!
Internet-Tipp: https://www1.ndr.de/ndr_pages_std/0,2570,OID2985616_REF894_SPC2397136,00.html
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Marina
antwortete am 29.08.06 (11:59):
Danke Enigma, du bringst immer wieder tolle Anregungen. Trotzdem werde ich mich jetzt erst mal für eine Zeitlang verabschieden. Vielleicht nur vorübergehend, ich weiß es noch nicht. Aber wir bleiben ja auf alle Fälle privat in Kontakt. :-)
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kropka
antwortete am 29.08.06 (13:17):
Privat ist privat ich brauche Dich aber hier, liebe Marinna. Und nicht nur ich. Ich lese Euch Alle sehr gerne und Enigma herzlichen Dank für vieles. Auch für das wunderschöne Abdolreza Madjderey "Emigration" Gedicht. Herzliche Grüße von kropka!
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kropka
antwortete am 29.08.06 (13:27):
Verzeih Marina, Dich meine ich natürlich, MARINA, ein "n". Das ging jetzt wieder zu schnell.. :-((
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Enigma
antwortete am 29.08.06 (15:54):
@Marina Ja, wir bleiben auf jeden Fall in Kontakt. Aber die Entscheidung über Deine weitere Mitwirkung (oder Nicht-Mitwirkung) im ST ist ja noch nicht endgültig gefallen, wenn ich das richtig verstanden habe. Es gibt also noch Hoffnung.... :-)
@kropka Ja, richtig, wir brauchen Marina auch hier - und Dich auch! Aber es muss nun mal jede(r) selbst entscheiden.
Grüße an Euch
Phil Bosmans Selig sind die Gewaltlosen
Selig sind die Gewaltlosen, die nicht nach Macht hungern. Sie wissen, dass am Menschen Hände wachsen, um zu vergeben, und keine Fäuste, um zu schlagen.
Selig sind die Gewaltlosen, die dort stehen, wo die Schwachen sind, wo Menschen Opfer von Menschen werden, und die unermüdlich eintreten gegen den Missbrauch der Macht.
Selig sind die Gewaltlosen, die die Herzen der Menschen erobern und die Spirale der Gewalt umbiegen zu einer Spirale der Freundschaft und Liebe.
Internet-Tipp: https://www.zitante.de/Autoren_suchen/ausg_autoren.php?n_id=5
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Literaturfreund
antwortete am 08.09.06 (09:21):
Werner Finck: An meinen Sohn Hans Werner
Du brauchst dich deines Vaters nicht zu schämen, Mein Sohn. Und wenn sie dich einmal beiseite nehmen Und dann auf mancherlei zu sprechen kämen, Sei stolz, mein Sohn.
Sie haben deinem Vater reichlich zugesetzt, Mein Sohn. Ihn ein- und ausgesperrt und abgesetzt, Sie haben manchen Hund auf ihn gehetzt – Paß auf, mein Sohn:
Dein Vater hat gestohlen nicht und nicht betrogen, Er ist nur gern mit Pfeil und Bogen Als Freischütz auf die Phrasenjagd gezogen – Und so, mein Sohn,
Kannst du den Leuten ruhig in die Augen gucken, Mein Sohn. Brauchst, wenn sie fragen, nicht zusammenzucken. Ich ließ mir ungern in die Suppe spucken, Das war's mein Sohn.
Wie vieles hat der Wind nun schon verweht, Mein Sohn. Der Wind, nach dem ich mich noch nie gedreht – Daß dir mein Name einmal nicht im Wege steht, Gib Gott, mein Sohn! * 1942, als Finck im Gefängnis saß, schmuggelte ein gebildeter Unteroffizier dieses Gedicht für den Sohn Hans Werner Finck hinaus.
Wer in der „Frankfurter Anthologie“ nachkucken und die Interpretation von Matthias Wegner („Frommer Wunsch“) nachlesen will, findet den Text in der FAZ vom 02.09.06). * W.F.: „Alter Narr – was nun?“ ist wieder mal vergriffen; als Hörbuch aber noch lieferbar:
Internet-Tipp: /seniorentreff/de/kMVHCzJna
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kropka
antwortete am 10.09.06 (11:31):
So müde, matt, kapude Von Peter Rühmkorf
So müde, matt, kapude, dem Abtritt nicht mehr fern - Da steht der Abendjude mit seinem goldnen Stern
Von seinem Schächerorden fällt ihm ein Licht voraus: Auf Erden nichts geworden, im Himmel nicht zuhaus.
Uns Um-und-Umgescheuchten scheint das vertrauter Schein - Im Dunkel ist gut leuchten, am Morgen - was wird sein?
Da ziehen die Sprücheklopfer zu Felde wie gewohnt, da sagen die Täter, die Opfer hätten sich doch gelohnt.
Kommt, laßt uns an den Särgen die Wahrheit messen bis sie paßt - Was du hierzuland zu verbergen ist was du zum Rausschreien hast.
(Einmalig wie wir alle. Rowohlt Verlag, Reinbek 1989.)
© 2006 Deutschlandradio
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Enigma
antwortete am 12.09.06 (08:33):
(Stief-) Muttersprache
Als Sprachsäugling der deutschen Zunge habe ich gelitten. Die schöne Lehrerin hat mich nie berührt. Das habe ich meiner Mutter geschrieben.
Die Lehrerin sprach mit mir mit dir mit ihr mit ihm mit uns mit euch mit ihnen.
Sie versteckte die schöne "Liebe" zwischen "Hiebe", "Diebe" und "Getriebe" ließ "Mutter" mit "Futter" und "Butter" benennen Und Herz mit "Nerz" und "Scherz" erkennen.
Ich mußte suchen die schöne "Treue" zwischen "Reue", "Scheue" und "Säue" gab uns "Vater" mit "Kater" nach Hause, unterbrach "Küssen" und "Nüssen" durch "Müssen" die Pause.
(Abdolerza Madjderey)
Aus: In zwei Sprachen leben dtv 10189 1983
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Enigma
antwortete am 12.09.06 (08:38):
...sorry, fast unverzeihlich:
Der Dichter heißt natürlich Abdolreza Madjderey.
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Literaturfreund
antwortete am 13.09.06 (07:16):
Thomas Rosenlöcher (geb. 1947): Der Engel mit der Eisenbahnermütze
Er steht im Schnee, wo alle Züge enden. Und zählt die Toten, die man, Stück für Stück, an ihm vorüberträgt, von links nach rechts.
Doch schon bei sieben weiß er nicht mehr weiter.
Daß man die Toten, die von links nach rechts an ihm vorbeigetragen worden waren, erneut vorüberträgt, von rechts nach links.
Doch schon bei sieben weiß er nicht mehr weiter.
So zählt er immer noch am letzten Krieg, obwohl der nächste schon gesichert ist und wieder Tote angeliefert werden.
(T. R.: Ich sitze in Sachsen und schau in den Schnee. Suhrkamp Verlag. 1998)
* Erläuternde Hinweise bei dradio.de; s. URL.
Internet-Tipp: https://www.dradio.de/dlf/sendungen/lyrikkalender/538571
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Enigma
antwortete am 19.09.06 (10:01):
Händchen halten
Händchen haltend mit dem Heimweh meist am Sonntagnachmittag spazieren Gastarbeiter aus allen Ländern am Nürnberger Hauptbahnhof herum Mit ihren Augen streicheln sie die Strenge der Gleise lassen auf ihnen ihr Herz rollen bis Ankara, Palermo und Zagreb um mich gleich darauf zu befragen Wie hat’n heut der Club gespielt Walter Zahorka
Autodidaktisch ausgebildet in meiner Heimat bin ich heute als Poesie-Pilot Fremdenlegionär der Kunst in Deutschland
Mein Sold ist Freude meiner Leser
Genug für mich um glücklich zu sein Walter Zahorka
https://www.geest-verlag.de/lyrik/zahorka-landschaften.html
She. auch Internet-Tipp!
Internet-Tipp: https://www.geest-verlag.de/autorenbios/zahorka-walter-vita.html
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Enigma
antwortete am 22.09.06 (08:27):
Im Zusammenhang mit meinem Berlin-Besuch habe ich mich u.a. auch etwas mit Walter Mehring, seinem Leben und einem kleinen Teil seines Werks beschäftigt. Und da habe ich ein erschütterndes Gedicht gefunden, das mich sehr berührt hat. Es ist einer der „Mitternachtsbriefe“(in Versform) von Walter Mehring. Diese Briefe hat er, selbst auf der Flucht vor den Nazis im besetzten Frankreich, seinen im Exil lebenden oder bereits umgekommenen Freunden gewidmet. Aber urteilt selbst:
Fortsetzung!
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Enigma
antwortete am 22.09.06 (08:34):
10. Mitternachtsbrief Silvester 1940/41 Marseille
An meine Kammer, wo ich welk, Pocht zwölfmal an das Neue Jahr, Spricht zugig hohl: Es war...es war... Hängt seinen Jahrkranz ans Gebälk, Verblüht – von Lügenluft erstickt – Erschlagen – von der Not geknickt:
Der beste Jahrgang deutscher Reben Ließ vor der Ernte so sein Leben...
MÜHSAM: Poet und Promethid, Erdrosselt wie ein räudiger Hund – OSSIETZKY, den man so zerschund, Daß er voltairisch lächelnd schied... Als man den Friedenspreis ihm bot, Schloß er grad Frieden mit dem Tod...
Der beste Jahrgang deutscher Reben Ließ vor der Ernte so sein Leben...
Es weht ein Blatt – kaum leserlich: „Die Dummheit, die wir persifliert... Die macht Geschichte. Die regiert... Herzlichst TUCHOLSKY ... Ohne mich!...“ In Schweden, krank, doch unbekehrt, Hat er den Schierlingstrank geleert...
Der beste Jahrgang deutscher Reben Ließ vor der Ernte so sein Leben...
ERNST TOLLER, Freund aus Jugendland, Bestimmt, um Bühnen, Meetings, Zelln Mit ernster Tollheit zu erhelln, Löschte sich aus mit eigner Hand... In Übersee, weitab der Schlacht – Warum hat er sich umgebracht...!
Der beste Jahrgang deutscher Reben Ließ vor der Ernte so sein Leben...
Wo in der Welt wächst nun die Art Von Stammtisch, nah dem Luxembourg Rechtspolitik und Linkskultur, Die JOSEPH ROTH um sich geschart...? Von dessen Bart Weissagung troff, Sich weise drum zu Tode soff...
Welch edler Jahrgang deutscher Reben Ließ vor der Ernte so sein Leben...
Kurz vor dem Fall der Stadt Paris, Wo ich nach langer Haft Dich fand, Besucht uns oft der Emigrant ERNST WEISS, der dort sein Leben ließ... Arzt, Dichter: mischt er Giftarznei, Nahm sie beim ersten Hunnenschrei...
Der beste Jahrgang deutscher Reben Ließ vor der Ernte so sein Leben...
Lessing, der Denker, Fehm-gekillt... Und HASENCLEVER, einst vernarrt In den esprit – im Camp verscharrt Von Frankreich... Welch Komödienbild! CARL EINSTEIN: Auf der Flucht erhenkt... OLDEN vor Kanada versenkt...
Ein edler Jahrgang deutscher Reben Nutzlos verschüttet, ließ sein Leben.
Doch HORVATH, den ein Baum erschlug, Damit solch Kleinod im Exil Den Säuen nicht zum Fraße fiel, Starb ganz er selbst: ein Satyr-Spuk... Die Türe knarrt...zwölfmal pocht’s an: Die tote Elf – der Sensenmann...
Der beste Jahrgang deutscher Reben Ließ vor der Ernte so sein Leben...
In dieser Kammer, wo ich welk, - ich in Marseille, Du in New York - Wo ausgejätet und auf Borg Und fruchtlos in Erinnerung schwelg Drauf wartend, daß die Freundes-Elf Gelinde mit hinüberhelf...
Der beste Jahrgang deutscher Reben Ließ vor der Ernte so sein Leben...
...wär mir ein Etwas noch vergönnt, Weil Neu-Jahr ist, so sei’s: ich könnt, Sturmläutend jeden Nervenstrang Dich hautdicht, duftnah herbeschwörn, Dich atmen, tasten, schauen, hörn Dank einem rauschhaft heilenden Trank...
Aber der Wein, daß ich genese, Reift nicht, zerstört längst vor der Lese...
Aus: Mehring, Walter: Briefe aus der Mitternacht 1937-1941
Dieser „Mitternachtsbrief“ ist von der „Gruppe Liederschlag“ vertont und unter dem Titel „Der beste Jahrgang deutscher Reben“ auf einer LP veröffentlicht worden. Ihr könnt ihn hören, wenn Ihr nach Öffnung des Internet-Tipps auf „Gruppe Liederschlag“ klickt.
Internet-Tipp: https://www.in-sel.com/noroadback/htm/start_mehring.htm
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Enigma
antwortete am 22.09.06 (08:43):
Und dieses hier gefällt mir auch so gut, dass ich es ebenfalls einstellen möchte:
Walter Mehring Der Emigrantenchoral
Werft eure Herzen über alle Grenzen, Und wo ein Blick grüßt, werft die Anker aus! Zählt auf der Wanderung nicht nach Monden, Wintern, Lenzen - Starb eine Welt - ihr sollt sie nicht bekränzen!
Schärft das euch ein und sagt: Wir sind zu Haus! Baut euch ein Nest! Vergeßt - Vergeßt Was man euch aberkannt und euch gestohln! Kommt ihr von der Isar, Spree und Waterkant: Was gibt‘s da heut zu holn? Die ganze Heimat Und das bißchen Vaterland Die trägt der Emigrant Von Mensch zu Mensch - von Ort zu Ort An seinen Sohl‘n, in seinem Sacktuch mit sich fort.
Tarnt euch mit Scheuklappen - mit Mönchskapuzen: Ihr werdet euch doch die Schädel drunter beuln! Ihr seid gewarnt: das Schicksal läßt sich da nicht uzen - Wir wolln uns lieber mit Hyänen duzen Als drüben mit den Volksgenossen heuln! Wo ihr auch seid: Das gleiche Leid Auf‘ ner Wildwestfarm - einem Nest in Poln Die Stadt, der Strand, von denen ihr verbannt: Was gibt es da noch zu holn? Die ganze Heimat und das bißchen Vaterland Die trägt der Emigrant Von Mensch zu Mensch - von Ort zu Ort An seinen Sohl‘n, in seinem Sacktuch mit sich fort.
Werft eure Hoffnung über neue Grenzen- Reißt euch die alte aus wie en holen Zahn! Es ist nicht alles Gold, wo Uniformen glänzen! Solln sie verleumden- sich vor Wut besprenzen - Sie spucken Haß in einen Ozean! Laßt sie allein Beim Rachespein Bis sie erbrechen, was sie euch gestohln Das Haus, den Acker- Berg und Waterkant. Der Teufel mag sie holn! Die ganze Heimat und das bißchen Vaterland Die trägt der Emigrant Von Mensch zu Mensch - landauf landab Und wenn sein Lebensvisum abläuft mit ins Grab. (1934)
Quelle: https://www.litlinks.it/m/mehring_w.htm
Mehr über Walter Mehring - she. Internet-Tipp!
Internet-Tipp: https://de.wikipedia.org/wiki/Walter_Mehring
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Enigma
antwortete am 11.10.06 (08:47):
Sergio L. Amado Monroy Ausländerkind
Bin stumm geworden durch den Zwang, anders zu sprechen. Ihr habt mich noch nicht verstanden und wollt mich auch nicht verstehen. Anpassung, magisches Wort: die Fata Morgana löst sich auf und verlässt mich nüchterner, isolierter, noch einsamer. Keine Sprache erlebe ich ganz: meine Kultur bleibt ein Rätsel in den Pfützen meiner Seele. Eure Sitten sind für mich zerbrechliche Pusteblumen, die nur den Windhauch erwarten, um woanders hinzufliegen. Ich besitze zwei Sprachen, aber dafür keine Heimat. Eure Welt ist nicht die meine, da ihr mich nicht annehmt. Meine Welt ist Dunkelheit, ein trübes Bild, nur ein Schatten.
Aus: Ackermann, Irmgard (Hg.): In zwei Sprachen leben. Berichte, Erzählungen, Gedichte von Ausländern. München: dtv, 199
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kropka
antwortete am 11.10.06 (23:47):
In meinem Kopf haben sich die Grenzen zweier Sprachen verwischt
doch zwischen mir und mir verläuft noch der Trennzaun, der Wunden zurücklässt
jedesmal wenn ich ihn öffne.
Franco Biondi
(Sprachfelder, in: Irmgard Ackermann, Harald Weinrich (Hg.), Eine nicht nur deutsche Literatur, S. 115)
Internet-Tipp: https://www.iablis.de/iablis_t/2002/schmitz-emans.htm
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Enigma
antwortete am 15.10.06 (10:02):
Danke kropka,
Biondi war ja, wie auch Jusuf Naoum, von dem das folgende Gedicht stammt, Gründungsmitglied der Literaturgruppe "Südwind".Der 1980 ins Leben gerufenen Gruppe gehörten auch Rafik Schami und Suleman Taufik an.
Jusuf Naoum ist Buchautor und „der einzige Kaffeehausgeschichtenerzähler Deutschlands“ und hat es mir sehr freundlich und schnell erlaubt, hier ein Gedicht zu veröffentlichen:
Jusuf Naoum Das gelobte Land
Vor einigen Jahren ging Mansur aus der Heimat weg. Er zog ins gelobte Land. Das sollte weder Hunger noch Knechte und Mägde kennen. Die Versprechungen waren flüchtiger als der Wind. Geblieben sind die Schmerzen wunde Knochen und das Fieber unter der Haut.
Aus: Schaffernicht, Christian (Hg.): Zu Hause in der Fremde. Ein Ausländer-Lesebuch. Reinbeck: RoRoRo,
Näheres zu Herrn Naoum ist seiner Homepage zu entnehmen. - she. Internet-Tipp!
Internet-Tipp: https://www.jusuf-naoum.de
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Enigma
antwortete am 30.10.06 (07:45):
Pogrom
Am Sonntag fällt ein kleines Wort im Dom, Am Montag rollt es wachsend durch die Gasse, Am Dienstag spricht man schon vom Rassenhasse, Am Mittwoch rauscht und raschelt es: Pogrom!
Am Donnerstag weiß man es ganz bestimmt: Die Juden sind an Rußlands Elend schuldig! Wir waren nur bis dato zu geduldig. (Worauf man einige Schlucke Wodka nimmt...)
Der Freitag bringt die rituelle Leiche, Man stößt den Juden Flüche in die Rippen Mit festen Messern, daß sie rückwärts kippen. Die Frauen wirft man in diverse Teiche.
Am Samstag liest man in der "guten" Presse: Die kleine Rauferei sei schon behoben, Man müsse Gott und die Regierung loben... (Denn andernfalls kriegt man eins in die Fresse.)
Klabund
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Engelchen
antwortete am 01.11.06 (10:43):
Barbara Köhler: Rondeau Allemagne
Ich harre aus im Land und geh, ihm fremd, Mit einer Liebe, die mich über Grenzen treibt, Zwischen den Himmeln. Sehe jeder, wo er bleibt; Ich harre aus im Land und geh ihm fremd.
Mit einer Liebe, die mich über Grenzen treibt, Will ich die Übereinkünfte verletzen Und lachen, reiß ich mir das Herz in Fetzen Mit jener Liebe, die mich über Grenzen treibt.
Zwischen den Himmeln sehe jeder, wo er bleibt: Ein blutig Lappen wird gehißt, das Luftschiff fällt. Kein Land in Sicht; vielleicht ein Seil, das hält Zwischen den Himmeln. Sehe jeder, wo er bleibt.
(B.K.: Deutsches Roulette. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1991) * Ein Gedicht aus der Endphase der DDR.
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Enigma
antwortete am 02.11.06 (18:57):
Karl Kraus Der sterbende Soldat
Hauptmann, hol her das Standgericht! Ich sterb' für keinen Kaiser nicht! Hauptmann, du bist des Kaisers Wicht! Bin tot ich, salutier' ich nicht!
Wenn ich bei meinem Herren wohn', ist unter mir des Kaisers Thron, und hab' für sein Geheiß nur Hohn! Wo ist mein Dorf? Dort spielt mein Sohn.
Wenn ich in meinem Herrn entschlief, kommt an mein letzter Feldpostbrief. Es rief, es rief, es rief, es rief! Oh, wie ist meine Liebe tief!
Hauptmann, du bist nicht bei Verstand, daß du mich hast hier gesandt. Im Feuer ist mein Herz verbrannt. Ich sterbe für kein Vaterland!
Ihr zwingt mich nicht, ihr zwingt mich nicht! Seht, wie der Tod die Fessel bricht! So stellt den Tod vors Standgericht! Ich sterb', doch für den Kaiser nicht.
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kropka
antwortete am 26.11.06 (20:55):
Wann ist denn endlich Frieden In dieser irren Zeit Das große Waffenschmieden Bringt nichts als großes Leid.
Die Welt ist so zerrissen Und ist im Grund so klein Wir werden sterben müssen Dann kann wohl Friede sein.
Wolf Biermann DDR 1967
https://www.adf-berlin.de/html_docs/berichte_deutschland/biermann_spiegel.html
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Ecci
antwortete am 26.11.06 (22:37):
Vielleicht mal was Uraltes gefällig zum Thema Krieg, an dem immer Niemand oder auch Der Andere schuld sind?
Kriegslied von Matthias Claudius
's ist Krieg! 's ist Krieg! O Gottes Engel wehre, Und rede du darein! 's ist leider Krieg – und ich begehre Nicht schuld daran zu sein!
Was sollt ich machen, wenn im Schlaf mit Grämen Und blutig, bleich und blaß, Die Geister der Erschlagnen zu mir kämen, Und vor mir weinten, was?
Wenn wackre Männer, die sich Ehre suchten, Verstümmelt und halb tot Im Staub sich vor mir wälzten, und mir fluchten In ihrer Todesnot?
Wenn tausend tausend Väter, Mütter, Bräute, So glücklich vor dem Krieg, Nun alle elend, alle arme Leute, Wehklagten über mich?
Wenn Hunger, böse Seuch und ihre Nöten Freund, Freund und Feind ins Grab Versammleten, und mir zu Ehren krähten Von einer Leich herab?
Was hülf mir Kron und Land und Gold und Ehre? Die könnten mich nicht freun! 's ist leider Krieg – und ich begehre Nicht schuld daran zu sein!
Zur Ergänzung könnte man noch darunter setzen: *ironie an* ich bin nur ein kleines Zwiebelchen, nimm mir das bitte nicht übelchen! *ironie aus*
Liebe Grüße Ecci
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Enigma
antwortete am 29.11.06 (07:49):
Uralt, aber immer noch gut und vor allem gültig. Danke,Ecci!
Ferdinand Freiligrath: Freie Presse Festen Tons zu seinen Leuten spricht der Herr der Druckerei: "Morgen, wißt ihr, soll es losgeh'n, und zum Schießen braucht man Blei! Wohl, wir haben unsre Schriften: - Morgen in die Reih'n getreten! Heute Munition gegossen aus metall'nen Alphabeten! ,,Hier die Formen, hier die Tiegel! auch die Kohlen facht' ich an! Und die Pforten sind verrammelt, daß uns Niemand stören kann! An die Arbeit denn, ihr Herren! Alle, die ihr setzt und preßt! Helft mir auf die Beine bringen dieses Freiheitsmanifest!" Spricht's, und wirft die ersten Lettern in den Tiegel frischer Hand. Von der Hitze bald geschmolzen, brodeln Perl und Diamant; Brodeln Colonel und Corpus; hier Antiqua, dort Fraktur Werfen radikale Blasen, dreist umgehend die Zensur. Dampfend in die Kugelformen zischt die glüh'nde Masse dann: - So die ganze lange Herbstnacht schaffen diese zwanzig Mann; Atmen rüstig in die Kohlen; schüren, schmelzen unverdrossen, Bis in runde, blanke Kugeln Schrift und Zeug sie umgegossen! Wohl verpackt in grauen Beuteln liegt der Vorrat an der Erde, Fertig, daß er mit der Frühe brühwarm ausgegeben werde! Eine dreiste Morgenzeitung! Wahrlich, gleich beherzt und kühn Sah man keine noch entschwirren dieser alten Offizin! Und der Meister sieht es düster, legt die Rechte auf sein Herz: "Daß es also mußte kommen, mir und Vielen macht es Schmerz! Doch - welch Mittel noch ist übrig, und wie kann es anders sein? – Nur als Kugel mag die Type dieser Tage sich befrei'n! "Wohl soll der Gedanke siegen - nicht des Stoffes rohe Kraft! Doch man band ihn, man zertrat ihn, doch man warf ihn schnöd in Haft! Sei es denn! In die Muskete mit dem Ladstock laßt euch rammen! Auch in solchem Winkelhacken steht als Kämpfer treu beisammen! "Auch aus ihm bis in die Hofburg fliegt und schwingt euch, trotzige Schriften! Jauchzt ein rauhes Lied der Freiheit, jauchzt und pfeift es hoch in Lüften! Schlagt die Knechte, schlagt die Söldner, schlagt den allerhöchsten Thoren, Der sich d i e s e freie Presse selber auf den Hals beschworen! "Für die r e c h t e freie Presse kehrt ihr heim aus diesem Strauß: Bald aus Leichen und aus Trümmern graben wir euch wieder aus! Gießen euch aus stumpfen Kugeln wieder um in scharfe Lettern – Horch! ein Pochen an der Haustür! und Trompeten hör' ich schmettern! "Jetzt ein Schuß! - Und wieder einer! - Die Signale sind's, Gesellen! Hallender Schritt erfüllt die Gassen, Hufe dröhnen, Hörner gellen! Hier die Kugeln! hier die Büchsen! Rasch hinab! - Da sind wir schon!" Und die erste Salve prasselt! - Das ist Revolution!
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