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THEMA:   Gernhardts Tod

 20 Antwort(en).

Literaturfreund begann die Diskussion am 01.07.06 (17:07) :

Den Tod Robert Gernhardts hat Marina schon gestern mit einem Gedicht vermeldet.
Ich wollte ihn hier zum Thema für weitere Notizen,Erinnerungen oder Gedenkartikel oder Gedichte machen:
*
In der FAZ steht heute (1.7.06) ein letztes Gedicht von Gernhardt:

Robert Gernhardt
Rückblick, Einsicht, Ausblick

Durch die Landschaft meiner Niederlagen
gehe ich in meinen alten Tagen:

Abends ist es am schlimmsten. Das Streiflicht
der nur langsam untergehenden Sonne
modelliert die fernen gefalteten Berge,
die nahen gespaltenen Steine, kurz alles,
was sich ihm in den Weg stellt.

Abends war es am schönsten. Den Lichtstreif
der untergehenden Junisonne
für immer festzuhalten, verbrachte
ich Stunden um Stunden vor Leinwand und Landschaft,
ein Weg ohne Ende.

Abends war er am stärksten, der Eindruck,
diesmal den treffenden Ausdruck zu finden
fürs glorreiche Ineinander der Lichter,
der Schatten, der Dinge, der Faben: Du bist
auf dem richtigen Wege!

Abends ist sie am stärksten, die Einsicht:
Du warst deiner Aufgabe niemals gewachsen.
Immer noch flüchtig das Licht. Nur ein Schatten
davon auf deiner Leinwand zu ahnen,
kein Weg, eine Sackgasse.

Abends ist es am schönsten. Der Streifzug
Rundum den Hügel von Montaio
Berückt und verzückt und beglückt wie damals.
Verrückter Gedanke, das halten zu wollne,
was nur Schein und dann weg ist:

Durch die Landschaft meiner Niederlagen
Geh ich wie in alten Tagen.
*

Einen Teil des Jahres lebte Gernhardt in Montaio, "am Rand des Chianti",...

URL.: Text von Hubert Spiegel, dem verlässlichen Kritiker, ob bei Handke oder anderen Poeten:

"Zum Tod Robert Gernhardts. Gevatter Tod war nur der Gehilfe dieses Dichters"

Internet-Tipp: /seniorentreff/de/Sy8URTdX5


 Literaturfreund antwortete am 01.07.06 (17:29):

KLAUS C. ZEHRER (in der "taz"):

Vorgezogenes Finale - Jeden schweren Brocken, den ihm das Schicksal in den Weg legte, verwandelte er mit leichter Hand in Kunst, und so war es kein leichtes Schicksal
für das Schicksal, es mit einem wie ihm aufnehmen zu wollen: ein Nachruf auf den großen Schriftsteller Robert Gernhardt

Als vor zwei Jahren sein Band "Die K-Gedichte" veröffentlicht wurde, Gedichte, in denen er seine Krebserkrankung aufarbeitete, bekam ich zahlreiche besorgte Anfragen: Ob es denn wirklich so schlimm um Robert Gernhardt stehe? Ich konnte beruhigen: Die Gedichte waren alle bereits 2002/2003 entstanden, in der Zwischenzeit hatte eine Chemotherapie gute Dienste geleistet, die Krankheit galt zwar nicht als besiegt, aber doch unter Kontrolle, der Patient nicht als geheilt, aber als stabilisiert. Es sah ganz danach aus, als ginge die Geschichte ähnlich aus wie damals, 1996, als Gernhardt sich einer schweren Herzoperation unterziehen musste - das Resultat war der preisgekrönte Gedichtzyklus "Herz in Not".

So war es immer mit Gernhardt: Jeden schweren Brocken, den ihm das Schicksal in den Weg legte, verwandelte er mit leichter Hand in Kunst, und das Schicksal musste sich eine neue Schikane ausdenken, die Gernhardt sofort wieder als Inspirationsquelle nutzte. Kein leichtes Schicksal für das Schicksal, es mit so einem aufnehmen zu wollen. Auch die in den K-Gedichten aufgeworfene Frage: "Packt Mann den Krebs? Packt Krebs den Mann?" schien vorentschieden: Gernhardt hatte es wohl wieder einmal gepackt. Einziges äußerliches Anzeichen der Chemo war eine beträchtliche Gewichtsabnahme, die zu der Erwägung führte, einen Artikel für die Brigitte zu schreiben: "Die Krebs-Diät - der schnellste Weg zur Traumfigur".
(...)
Vor ein paar Monaten änderte sich die Lage. Der Tumor hob den Waffenstillstand zwischen Krebs und Mann einseitig auf. Wieder Infusionen, mit wechselnden Mitteln, in zunehmender Frequenz und mit abnehmendem Erfolg. Gernhardt ertrug die Belastung mit bewundernswerter Gemütsruhe. Es bedeute ihm viel, sagte er, dass er sich nicht vorwerfen müsse, seine Zeit ohne Malaisen ungenutzt gelassen zu haben. In der Tat: Wer ein solches Werk vorzuweisen hat, kann Fragen der Sterblichkeit und Unsterblichkeit mit anderen Augen betrachten. Und als ihm seine Ärzte eröffneten, sie hätten nichts mehr in der Hinterhand, ihm blieben noch drei bis sechs Monate, dankte er ihnen für die klare Ansage. Immerhin konnte er damit rechnen, halbfertige Arbeiten abschließen, offene Projekte delegieren, einen geregelten Abschied nehmen zu können. Das war am 6. Juni.
In unseren letzten Telefonaten sprach er von seiner Unschlüssigkeit, wie er die verbleibende Zeit und die schwindenden Kräfte nutzen solle: Eigentlich sei jetzt jede Stunde kostbar und unwiederbringlich und müsse den letzten Dingen gewidmet werden- andererseits sei da ja noch die WM, die schließlich auch weggeguckt werden müsse. Ich berichtete ihm von der guten Stimmung auf der Berliner Fanmeile: Hunderttausende überwiegend junger Menschen, die sich in bester Feierlaune unter freiem Himmel versammeln - es sei quasi wie beim Weltjugendtag, nur mit Fußball und ohne Papst. Also viel besser als der Weltjugendtag, resümierte Gernhardt, und ich war erleichtert, dass er nicht noch auf den letzten Drücker katholisch wurde.
(...) Sein Staunen über die Wunder der Welt hörte nie auf. Nur, dass das bestaunte Wunder nicht mehr, wie in seinen strengchristlichen Kindertagen, aus Wasser bestand, das in Wein verwandelt wurde, sondern aus Wasser, das sich infolge Leberversagens in seinen Beinen sammelte.
(…)
"Der Kampf geht weiter, Robert."
- "Der Kampf geht weiter, Klaus - für das gute komische Gedicht in der Welt und gegen das schlechte."
*
Klaus Cäsar Zehrer, 36, hat gemeinsam mit Robert Gernhardt die Anthologie "Hell und Schnell. 555 komische Gedichte aus 5 Jahrhunderten" - taz Nr. 8010 vom 1.7.2006.

Internet-Tipp: https://www.taz.de/pt/2006/07/01/a0267.1/text


 Marina antwortete am 02.07.06 (10:40):

Danke, Literaturfreund. Die Würdigung von Zehrer hat mich besonders berührt, sie war so sehr persölich und liebevoll und hat mir den Verlust von diesem großen Humoristen noch mehr zu Bewusstsein gebracht. Typisch sein Galgenhumor, der in der Passage mit der „Krebs-Diät“ zum Ausdruck kommt, und absolut bewundernswert in einer solchen Lage.

Ich habe einen ähnlich persönlichen und liebevollen Artikel in der FR gelesen, von dem ich hier den Schluss einstelle, das vorherige kann man im Link-Tipp nachlesen, sollte man auch wirklich tun.

„Fritz J. Raddatz verunglimpfte Gernhardt in der Zeit als stillosen Klamauk-Dichter, woraufhin Harry Rowohlt in einem Leserbrief klar machte, dass Raddatz ein " dummes, unberatenes, abgebrochenes Ostzonen-Arschloch" sei. Spätestens da war klar: Robert Gernhardt hatte die richtigen Feinde. Und die richtigen Freunde.

Gernhardts letzte Jahre waren überschattet von seiner schweren Krebskrankheit. Immer öfter konnte er Termine nicht wahrnehmen, aber immer wieder berappelte er sich auch wieder. Jetzt starb Gernhardt in Frankfurt am Main. Er hinterlässt seine zweite Frau Almut, die er nach dem Tod seiner ersten Frau, der Malerin Almut Ullrich, geheiratet hatte. Und eine Welt, die ohne ihn weit weniger fröhlich sein wird.

Wir wünschen ihm, dass er den Titel seines Gedichtes "Bitte ausdrucken und bei Bedarf vorlegen" beherzigt hat:

"Leis öffnet sich das Tor zur Nacht,
es wird von einem Hund bewacht,
der stumm auf einen Stern starrt.
Der Hund lässt jeden durch das Tor,
legt er ihm diese Zeilen vor
gez. Robert Gernhardt"

Gute Reise! Und vielen Dank für alles - nicht nur für den Weinreinbringer“

Frankfurter Rundschau 1. Juli 2006

Internet-Tipp: /seniorentreff/de/O1sCr8xYf


 Literaturfreund antwortete am 02.07.06 (21:10):

Rede zur Lage der Bastion

von Robert J. Gernhardt und Peter Knorr

Liebe Landsläuse! Meine Rahmen und Sperren!

Ohrwurm geht es in diesen Runden? Warum: Anachronistische Säfte, Linksridiküle und ihre Lymphatisanzen schlucken sich an, unseren Spechtsrat zu hinterwandern! Nicht nur unsere freie Mißwirtschaft, nicht nur die Wiedervereisung Deutschlands in Friesen und Geilheit, nein, auch der innere Frieder unseres Geheimwesens ist verroht!
(…)

Forts.:

Internet-Tipp: https://www.mjucker.ch/literatur.html


 Marina antwortete am 03.07.06 (11:42):

Literaturfreund, vielleicht bin ich ja ein bisschen blöd, aber ich finde die "Rede zur Lage der Bastion" nicht. :-)


 Enigma antwortete am 03.07.06 (12:38):

Hallo, bin auch wieder da. :-)

Von Euch ist schon so viel gesagt worden zu Gernhardt bzw. auf so informative Links verwiesen, dass ich mich auf ein Gedicht beschränken, das in unserer Tageszeitung nach seinem Tode abgedruckt war:

Trost und Rat

Ja, wer wird denn gleich verzweifeln
weil er klein und laut und dumm ist?
Jedes Leben endet. Leb so,
dass du, wenn dein Leben um ist,

von dir sagen kannst: Na wenn schon!
Ist mein Leben jetzt auch um,
habe ich doch was geleistet:
ich war klein und laut und dumm.

aus: Robert Gernhardt: Über alles, Fischer 2002.
Das traf zwar absolut nicht auf ihn zu, außer, dass er mal klein war, ist aber wieder mal ein Beispiel für seinen Witz und seine Ironie.


Was mich, neben seinen Talenten, seinem umfangreichen Werk, ob lyrisch, satirisch oder zeichnerisch, so ganz besonders beeindruckt. das ist die Art und Weise, wie er mit seinen Krankheiten umgegangen ist.
Weil er alles so gemacht hat, wie ich mir wünschen würde, es auch zu können in vergleichbarer Situation, aber mir absolut nicht sicher bin, ob ich so stark wäre.
Er hat gekämpft, als es noch Sinn machte und sich ausgesöhnt mit seinem Ende, nachdem er wußte, dass der Kampf verloren war.

@Marina
Du findest den Beitrag, wenn Du auf "Index" klickst und dann auf G (Gernhardt).


 Marina antwortete am 03.07.06 (17:41):

Danke, Enigma, für deine Hilfe, jetzt habe ich es gefunden. :-) Das muss einem ja alles gesagt werden. :-)
Ich wäre übrigens in einer solchen Lage sicher nicht so stark wie er, da bin ich mir fast sicher. Er war eine tolle Persönlichkeit über seine künstlerische Begabung hinaus, das muss man wirklich sagen. :-)
Ich schreibe später wieder was. Gleich gehe ich nämlich weg und mach mir einen schönen Abend mit meinem Sohn. Ciao!
:-)


 Marina antwortete am 06.07.06 (09:17):

Heißer Tipp. Heute abend im WDR:

Schrill. Exzentrisch. Provokant.
Sendung vom 06.07.2006, 20:05 Uhr

Marcel Reich-Ranicki & Robert Gernhardt
Start der literarischen Sommerreihe

"Was ein Gedicht ist, das fühle ich!", so provoziert Marcel Reich-Ranicki den bekannten Lyriker Robert Gernhardt im Kölner Schauspielhaus. Doch der hakt nach, er will es im Austausch mit dem exzentrischen Literaturpapst genauer wissen. Marcel Reich-Ranicki bleibt ihm keine Antwort schuldig. Schon die Auswahl der Gedichte, die er in seinen gerade veröffentlichten Kanon der deutschen Lyrik aufgenommen hat, zeigt: Er legt die Messlatte ganz hoch und wie immer sehr subjektiv und eigenwillig an. Was genau ist ein gutes Gedicht? Und wozu sind Gedichte überhaupt da?
Diesen Fragen gehen die beiden Altmeister des Wortes an ihrem großen Lyrikabend nach. Und sie finden mal ungewöhnliche, mal schrille, nachdenkliche und viele witzige Antworten, die alle eines gemeinsam haben: Sie bieten allerbeste Unterhaltung.

Internet-Tipp: https://www.wdr5.de/index.phtml?beitrag=744734


 pilli antwortete am 06.07.06 (09:26):

danke für den tipp Marina!

nach wochen lautstarker und fussballgeprägter sendungen werde ich diesen abend mit den beiden wortgewaltigen geniessen!

:-)


 Marina antwortete am 06.07.06 (10:09):

Ja, ich freue mich auch drauf. Das ist besser als jeder Krimi im Fernsehen. :-)


 Enigma antwortete am 07.07.06 (07:53):

Danke auch nachträglich, Marina,
aber leider konnte ich gestern die Sendung nicht verfolgen.

Kann jemand etwas dazu sagen.?

Die Teilnahme an den Lesungen bei der Lit.COLOGNE 2006 muss ja einer der wenigen Termine gewesen sein, den Gernhardt unbedingt noch wahrnehmen wollte.

Inzwischen hat hr-online noch einmal die Rede veröffentlicht, die Gernhardt beim Neujahrsempfang der Stadt Frankfurt 2002 gehalten hat.
Bei diesem Anlass hat er auch drei Gedichte verlesen, die er schon 1962 verfasst und in “Pardon” veröffentlicht hatte. Dazu sagt er selbst folgendes:

(...)“Es handelt sich um drei sehr kurze, leichtfassliche Texte, und das hat seinen Grund. Vor vierzig Jahren hatten die Medien eine schon damals nicht mehr neue Klage angestimmt, die nämlich, die Leserbuchtexte der Grundschulen gäben die Wirklichkeit nicht korrekt wieder - :sie erhielten zuviel Mukuhs und Mähbähs und zuwenig Wrumm Wrumms und Töff Töffs. Das veranlaßte mich, unter dem Titel „Kinder mal herhören“ einige garantiert zeitgemäße Schulbuchtexte zu verfassen. Seither sind vierzig Jahre ins Land gegangen: Ich frage Sie und mich, ob Sie überhaupt ein Wort von dem zu verstehen in der Lage sind, was ich damals anzuprangern versuchte.“
(....)

Und jetzt eines der Gedichtchen

„Gastarbeiter – heute würden wir „AUSLÄNDISCHE MITBÜRGER“ sagen:

Michael und ich gehen zum Bahnhof.
In der Halle sind viele Männer.
Sie reden und singen.
Michael und ich verstehen kein Wort.
Vati sagt, daß das die Italiener sind.
Er sagt, daß sie klein, faul und dreckig sind.
Mutti sagt, daß sie aufdringlich sind.
Seit zwei Wochen ist ein Italiener bei Vati in der Firma.
Er ist sauber, fleißig und aus Spanien.
Mutti ist dreimal am Bahnhof gewesen.
Niemand hat sie belästigt.
Jetzt sind Vati und Mutti sauer.
Sie sagen: Das ist typisch für diese Italiener.
Sie verstellen sich alle. „
:-))

Einzug in die Schulbücher gehalten hat er auch...

She auch Internet-Tipp!


Internet-Tipp: https://www.hr-online.de/website/rubriken/kultur/index.jsp?rubrik=17958&key=standard_document_23843296


 Marina antwortete am 08.07.06 (10:50):

Hallo Enigma,
typisch Gernhardt, der Mann nimmt deutche Befindlichkeiten und Klischees aufs Korn, der Text erinnert mich so ein bisschen an manche Texte von Klaus Staeck, wie z. B. der bekannte: "Arbeiter, die SPD will euch eure Villen im Tessin wegnehmen". Das hat zwar inhaltlich nichts damit zu tun, ist aber von der Präzision her, mit der er die Verkehrtheit mancher Sichtweisen auf den Punkt bringt, ähnlich gelagert, meine ich. Ich weiß nicht, ob du verstehst, was ich meine, ich kann es schlecht erklären.

Von der Sendung mit Gernhardt und Reich-Ranicki war ich ein bisschen enttäscht, weil ich etwas anderes erwartet hatte: nämlich, dass der Schwerpunkt auf Gernhardt und seinen Gedichten liegt. Eigentlich lag er aber auf dem "Kanon", also diesem Buch von Reich-Ranicki, und Gernhardt hat ihn interviewt zu seinen Ansichten und Vorlieben und zu den Kriterien, nach denen er die Auswahl für den "Kanon" vorgenommen hat. Es wurden auch immer wieder einige Gedichte von Schauspielern gelesen, nur nicht die von Gernhardt.
Und das war es, was mich dabei wirklich furchtbar geärgert hat: dass Reich-Ranicki mehrmals betonte, die Aufgabe der Lyrik sei es in erster Linie, Freude zu bereiten, alle möglichen Lieblingsdichter wie Goethe und andere dabei anführt, und ausgerechnet die des Interviewers, Robert Gernhadt beharrlich unerwähnt läßt. Dabei finde ich, dass gerade die dazu angetan sind, Freude zu bereiten.
Gernhardt hat es sich dann nicht nehmen lassen, zwischendurch ein eigenes kleines Gedicht einzuflechten, wenn es in den Kontext passte, dazu hat dann Reich-Ranicki zwar höflich freundlich etwas Anerkennendes gesagt, aber im Großen und Ganzen hatte ich doch den Eindruck, dass er zu denen gehört, die Gernhardt unterschätzen. Leider gibt es ja deren einige, weil sie seine scheinbar leichte Hand nicht als große Kunst erkennen. Ein "Literaturpapst" sollte eigentlich dazu in der Lage sein. Na ja, auch ein Papst ist eben nicht unfehlbar, wie man mal wieder sieht.
Ich hatte des öfteren auch früher im "Literarischen Quartett" schon den Eindruck, dass manche anderen in der Runde viel besser argumentierten und mehr Durchblick hatten als er, aber er kommt eben mit seinen manchmal ganz witzigen Bonmots und sogar "Stammtischparolen" immer wieder ganz gut an.
Schade um das Gespräch. Mir wäre es umgekehrt lieber gewesen: Wenn Reich-Ranicki Gernhardt interviewt hätte.


 Enigma antwortete am 08.07.06 (11:31):

Danke Marina,

ich habe auch mehrfach schon den Eindruck gewonnen, dass Reich-Ranicki Gernhardt nicht so geschätzt hat, wie er es unserer Meinung nach verdient hätte.
Dafür hat aber jemand sehr viel von ihm gehalten, den Du schon mehrfach erwähnt hast und dessen Urteil mir auch wichtiger als das von RR ist, nämlich Peter Rühmkorf, der Gernhardt "Deutschlands erfolgreichsten lebenden Dichter" genannt hat.
Später mehr zum Thema.


 Enigma antwortete am 08.07.06 (12:24):

Marina,

das hier wird Dich vermutlich lachen machen und mir verschafft es auch eine gewisse Genugtuung, was unsere Einschätzung eines bekannten Kritikers angeht:


Auszug aus einem Artikel von Wiglaf Droste in „Junge Welt“ vom 3.7.2006:
(....)
„Der Irrtum ist indes weit verbreitet. Else Buschheuer berichtete im Mai 2006, wie sie in einer Sendung mit Marcel Reich-Ranicki über den »Elche / selber welche«-Reim sprach. »Der ist von Gernhardt!«, trompetete, ahnungslos wie fast immer, der Lauthals Reich-Ranicki. Buschheuer widersprach und korrigierte den FAZ- und Fernsehmann. »Das ist von F.W. Bernstein.« Reich-Ranicki beharrte auf seinem Irrtum und schnappschildkrötete brüsk: »Nein. Von Gernhardt! Bernstein ist ein Dirigent!« Sprach der berühmteste Literaturkritiker des Landes, der Erste seiner sinnlosen Zunft.“ (... )

Das ist eben der Unterschied. Nach eigener Darstellung hatte Droste auch einen Konflikt mit Gernhardt, aber er bleibt m.E. sachlich und objektiv.

Der Droste-Artikel ist abrufbar unter: she.Internet-Tipp!

Internet-Tipp: https://www.jungewelt.de/2006/07-03/049.php


 Marina antwortete am 10.07.06 (11:30):

Hallo Enigma,
gut, dass du mich aufgeklärt hast. Ich habe nämlich bisher auch immer geglaubt, der Elchspruch sei von Gernhardt. :-)Deshalb muss ich dem guten M. R.-R. auch diesen Irrtum verzeihen. Ich glaube, die Mehrheit der Deutschen denkt das sogar, wir hatten auch im ST mal einen Thread darüber zum Selber-Weiterreimen, den „Gruftnatter“, Gott hab ihn selig :-), mal eingestellt hatte. Auch da wurde unwidersprochen behauptet, der Spruch sei von Gernhardt.
So ganz abartig ist das aber nicht, denn Gernhardt hat ihn weitergereimt, nachzulesen im Link-Tipp, da wird Bernstein zitiert mit den Worten: „Ich hab zuerst den Elch gereimt. Gernhardt zog rasch nach mit
Die schärfsten Kritiker der Molche waren früher ebensolche“.
Bei besagtem Interview mit R.-R. hat Gernhard diesen Spruch auch gebracht und weitere Reime angefügt, die ich vergessen habe.

Internet-Tipp: https://www.alces-alces.com/amusantes/sprichwort/sprichworter.htm


 Marina antwortete am 10.07.06 (11:31):

P.S. Ich bin begeistert von Drostes Wortneuschöpfung "schnappschildkrötete" - wunderbar, werd ich mir merken. :-))


 Enigma antwortete am 10.07.06 (18:53):

Hallo Marina,

für mich ist es völlig unerheblich, ob und wann wir genau wussten, wer der eigentliche Urheber “der Elche” war.
Ich habe auch nicht gewußt, wer genau der “Elch-Vater” war, bis ich vor kurzem auf eine bestimmte Internet-Seite über F.W. Bernstein stieß.

Aber darüber, wie Droste RR beschrieb, hätte ich mich kringeln können, weil ich es oft ähnlich empfunden habe, ohne es so komprimiert ausdrücken zu können; z.B. in dem Zusammenhang des von Droste geschilderten Interviews von Bernstein als ....”das ist ein Dirigent”... zu sprechen, das hat schon was, wenn es der “Berühmteste Literaturkritiker des Landes” ausspricht.

Aber am allerschönsten fand ich - und da stimmen wir völlig überein - den Ausdruck “schnappschildkrötete”.
Da habe ich auch spontan beschlossen, den in mein Repertoire aufzunehmen, natürlich nur, wenn es passt. :-))

Und jetzt wieder ernsthaft:

Ich habe ein Gedicht von Gernhardt vom Tod gefunden und hoffe sehr, dass er ihn in seiner letzten Lebenszeit immer noch so sehen konnte, den Tod.:

ACH
Ach, noch in der letzten Stunde
Werde ich verbindlich sein.
Klopft der Tod an meine Türe,
ruf ich geschwind: Herein!
Woran soll es gehn? Ans Sterben?
Hab ich zwar noch nicht gemacht,
doch wir werd’n das Kind schon schaukeln —
na, das wäre ja gelacht!
Interessant so eine Sanduhr!
Ja, die halt ich gern mal fest.
Ach – und das ist Ihre Sense?
Und die gibt mir dann den Rest?
Wohin soll ich mich jetzt wenden?
Links? Von Ihnen aus gesehn?
Ach, von mir aus! Bis zur Grube?
Und wie soll es weitergehn?
Ja, die Uhr ist abgelaufen.
Wollen Sie die jetzt zurück?
Gibts die irgendwo zu kaufen?
Ein so ausgefall’nes Stück
Findet man nicht alle Tage,
womit ich nur sagen will
— ach, Ich soll hier nichts mehr sagen?
Geht in Ordnung! Bin schon still!

Robert Gernhardt

Internet-Tipp: https://www.fw-bernstein.de/?kritik=droste_elchundselberwelch


 Marina antwortete am 12.07.06 (19:05):

Danke Enigma, ja, kringeln kann man sich wirklich über den Artikel. Die Verwechslung mit dem "Dirigenten" ist wunderbar,gerade weil R.-R. immer so schrecklich belehrend und rechthaberisch auftritt. Also ein bisschen schadenfroh ist man schon, so etwas zu lesen, das geb ich wirklich auch zu. :-) Weniger kringeln kann man sich über Gernhardts Gedicht, obwohl es wieder sehr humorvoll ist und ich es wieder ganz toll und bewundernswert finde, wie er mit der ihm bevorstehenden Situation (die er sicher nicht verkannt hat) umgegangen ist.

Jetzt aber etwas anderes: Nicht, dass man etwa glaube, Gernhardt sei unpolitisch gewesen. Er hat auch einige politisch kritische Gedichte z.B. zum Irak-Krieg geschrieben. Anlässlich des Bush-Besuchs in Deutschland stelle ich hier eines ein, das sich auf Angies Besuch seinerzeit bei Bush bezieht, als sie unserer Regierung in den Rücken gefallen ist, indem sie deren Ablehnung zum Krieg kritisiert und Bush und seinen Helfershelfern ihr volles Vertrauen ausgesprochen hat mit den Worten: „Die Bedrohung durch Saddam Hussein und seine Massenvernichtungswaffen ist real.“
Inzwischen ist das in unserer umtriebigen Welt mit kurzlebigen Nachrichten ja wohl bei vielen weitgehend in Vergessenheit geraten, dem Gedicht ist eine Erklärung dazu(von ihm selbst) vorangestellt, damit man es trotzdem noch versteht. Hier ist es:

Sonett vom Schwächeln und Stärkeln

Einst einte den Atlantik helles Lächeln.
Nun liegt der Nato Zukunft ganz im Dunkeln.
Und aus dem State Department hört man’s munkeln,
das vormals starke Bündnis sei am Schwächeln.

Gewisse Deutsche wollten nicht mehr buckeln.
Anstatt vereint den Kriegsfall hochzuschaukeln,
versuchten sie dem Bürger vorzugaukeln,
auf deutschem Sonderweg dahinzuzuckeln.

Ist niemand da, mit denen anzubandeln?
O doch. Ein Frauenzimmer sieht man fuchteln,
sie wollt’ die Politik der Stärke stärkeln.

Wer die Frau sei? Was sie beweg’ zu handeln
nach Mannesart? Hört’s, Pazifistenschwuchteln!
Ihr solltet euch den Namen Merkel merkeln!

Robert Gernhardt

Hoffentlich trifft jetzt nicht wieder zu, dass sie „die Politik der Stärke stärkeln“ will.
Und woher wusste Gernhardt damals schon (2003 zu Beginn des Kriegs geschrieben), dass es ein Vorgaukeln war, „auf deutschem Sonderweg dahinzuzuckeln“? Denn ein Vorgaukeln war es ja wohl nach allem was, wir inzwischen wissen über CIA-Überflüge etc. etc.


 Marina antwortete am 12.07.06 (20:13):

Ich habe die Quelle vergessen anzugeben: R. Gernhardt, Gesammelte Gedichte. S. Fischer Verlag Frankfurt, 2. Aufl. 2006


 Enigma antwortete am 13.07.06 (09:37):

Danke Marina,

schön, dass Du uns erinnert hast!
Mit Sicherheit war Gernhardt auch ein politischer Dichter.
Und wer weiß, würde er noch leben, könnten wir vielleicht eine neues Gedicht erwarten über ein Treffeln in Mecklenburg-Vorpommern....

Gernhardt hat wohl kurz vor seinem Tode noch 2 Bücher fertiggestellt , darunter einen Gedichtband, in dem das folgende Gedicht enthalten sein soll, mit dem er sich von seinem Publikum verabschiedet.



ABSCHIED
Ich könnte mir vorstelln,
mich so zu empfehlen:
Die Zeit. Ich will sie euch
nicht länger stehlen.
Den Raum. Ich will ihn euch
nicht länger rauben.
Den Stuß. Ich will ihn euch
nicht länger glauben.
Das Ohr. Ich will es euch
nicht länger leihen.
Das Aug. Ich will es euch
nicht länger weihen.
Das Hirn. Ich will es euch
nicht länger mieten.
Die Stirn. Ich will sie euch
nicht länger bieten.
Das Herz. Ich will es euch
nicht länger borgen.
Den Rest? Den müßt ihr
schon selber entsorgen.

Robert Gernhardt

She. Auch Internet-Tipp!

Internet-Tipp: https://www.wissen.de/wde/generator/wissen/ressorts/unterhaltung/buecher/index,page=3502614.html


 kropka antwortete am 12.08.06 (09:54):

Natürlich,...
(mein Lieblingsgedicht)

NATÜRLICH

Natürlich ist mir auch manchmal zum Weinen
Natürlich weine ich manchmal auch

Ich wein
Weil: Plötzlich fällt mirs Lieben ein
Ich wein
Weil: Plötzlich fällt mirs Loben ein
Ich wein
Weil: Plötzlich fällt mirs Laben ein
Ich wein
Weil: Plötzlich fällt mirs Leben ein
Ich wein
Weil: Plötzlich fällt mir früher ein

Früher.


Robert Gernhardt
aus Später Spagat
S. Fischer Verlag Frankfurt, 2006