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THEMA:   Gedichte Kapitel 38

 200 Antwort(en).

Heidi_hl begann die Diskussion am 05.04.06 (16:25) :

Friedrich Rückert

Der Jasminstrauch

Grün ist der Jasminenstrauch
abends eingeschlafen.
Als ihn, mit des Morgens Hauch,
Sonnenlichter trafen,
ist er schneeweiss aufgewacht,
"Wie geschah mir in der Nacht?"
Seht, so geht es Bäumen,
die im Frühling träumen!


 maedel antwortete am 05.04.06 (17:39):

Das Gänseblümchen

von Heinz Erhardt

Ein Gänseblümchen liebte sehr
ein zweites gegenüber,
drum rief's: "Ich schicke mit 'nem Gruß
dir eine Biene 'rüber !"
Da rief das andere: "Du weißt,
ich liebe dich nicht minder,
doch mit der Biene, das laß sein,
sonst kriegen wir noch Kinder !"


 Roby antwortete am 05.04.06 (17:40):

Hallo Friedrich – das hast du nett gesagt.

Nicht nur Bäume haben Träume

Braun war mein Haar, als mein Herz nicht mehr mitgemacht
Nur Sekunden war ich am anderen Ufer der Nacht
Ich hab ihn angeschrien, den Sensenmann
„Hau ab, verschwinde! Ich bin noch nicht dran!“
Dann war alles weiß wie Schnee
als ich aufwachte, nach der OP

Siehst du Friedrich... nicht nur Bäume werden
über Nacht weiß...

zwinkert
Roby


 Enigma antwortete am 06.04.06 (08:01):

Mit deinen Augen

Einmal war ich dir nah.
Ich durchwuchs dein Fleisch.
Ich legte meine Lider
genau unter deine.
Zusammen schlugen wir die Augen auf
und ich sah:
drei Schritte weiter ein Korbstuhl,
darin ein Mann,
der Zeitung las.

Rainer Malkowski

Aus:Die Herkunft der Uhr, Gedichte (2004, Hanser).

Internet-Tipp: https://www.lyrikwelt.de/autoren/malkowski.htm


 Lollipop antwortete am 06.04.06 (11:55):

Me no worry, me no care!
Me go marry millionaire.
When he die,
me no cry.
Me go marry other guy.

Verf. mir unbekannt


 Heidi_hl antwortete am 06.04.06 (12:02):

Quelle des obigen englischen Textes:

Schiff, (Friedrich). Maskee. A Shanghai Sketchbook. (Shanghai, Privatdruck, um 1940). 4°, 24 nn. Kartontafeln (= Leporello), grüner OSeidenbezug mit fleuralem Muster, stellenweise berieben, papierbed. etw. gebräunt; insges. jed. schönes Expl. 800,00 EUR
Sehr seltenes Leporello mit (21) montierten gedruckten Zeichnungen, die Schiff farbenprächtig handkoloriert hat. Am Impressum vom Künstler numeriert, am Titel signiert. Der österreichische jüdische Künstler (1908-1968) floh rechtzeitig vor den Nazis nach Asien, wo er im kosmopolitischen Shanghai Aufnahme fand und mit seinen karikaturalen Zeichnungen der Demi-Monde, der Seeleute und High Society Erfolg hatte. Seine scharfen Beobachtungen von Alltagsszenen sind mit witzigen Kommentaren versehen "Miss Shanghai: Me no worry, me no care! Me go marry millionaire! If he die - me no cry! Me go marry other guy!!" ('Maskee' bedeutet übrigens im Huang-Chinesisch "Never mind!").

www.abooks.de/TL05/deu/Ant/Roedner843.shtml


 mea antwortete am 06.04.06 (23:04):


Annegret Kronenberg
Gedichte-Garten

Er ist da !

Leise haucht der Frühlingswind
"Ich bin angekommen "
Und schon haben tausend Blumen ,
tausend Vögel ihn vernommen.

Sie schmücken sich mit bunten Kleidern ,
singen froh , man hört es weit.
Der kalte Winter ist vergangen ,
nun beginnt die schönste Zeit.

Süße Düfte sich verbreiten ,
zieh'n geheimnisvoll ins Land.
Liebe quillt aus allen Herzen ,
raubt so manchem den Verstand.


 Enigma antwortete am 07.04.06 (08:33):

Zitronenfalter im April

Grausame Frühlingssonne,
Du weckst mich vor der Zeit,
Dem nur in Maienwonne
Die zarte Kost gedeiht!
Ist nicht ein liebes Mädchen hier,
Das auf der Rosenlippe mir
Ein Tröpfchen Honig beut,
So muss ich jämmerlich vergehn
Und wird der Mai mich nimmer sehn
In meinem gelben Kleid.

Eduard Mörike


 maedel antwortete am 07.04.06 (17:30):

Das erste Veilchen

von Karl Egon Ebert

Als ich das erste Veilchen erblickt,
Wie war ich von Farben und Duft entzückt!
Die Botin des Lenzes drückt' ich voll Lust
An meine schwellende, hoffende Brust.

Der Lenz ist vorüber, das Veilchen ist todt;
Rings steh'n viel Blumen blau und roth,
Ich stehe inmitten, und sehe sie kaum,
Das Veilchen erscheint mir im Frühlingstraum.


(vertont von Mendelsohn-Bartholdy)


 Enigma antwortete am 08.04.06 (08:04):

Meine Liebe gleicht der Schwalbe

Meine Liebe gleicht der Schwalbe,
die zwar ihre Wohnung flieht,
aber immer wiederkehret
und von neuem ungestöret
ihr gewohntes Nest bezieht.

Meine Liebe gleicht der Blume
unbeständig grünem Haupt.
Hat der Frost es gleich entblößet -
wenn der Mai das Eis zerflößet,
steht es wieder schön belaubt.

Meine Liebe gleicht dem Schatten,
der sich auf den Boden malt,
mit dem Schein des Lichts entweicht,
aber schnell sich wieder zeigt,
wenn das Licht aufs Neue strahlt.

Johann Elias Schlegel


 maedel antwortete am 08.04.06 (12:13):

Zum Palmsonntag

Die Weidenkätzchen

von Christian Morgenstern


Kätzchen ihr der Weide,
wie aus grauer Seide,
wie aus grauem Samt!
O ihr Silberkätzchen,
sagt mir doch, ihr Schätzchen,
sagt, woher ihr stammt.

Wollen´s gern dir sagen:
Wir sind ausgeschlagen
aus dem Weidenbaum,
haben winterüber
drin geschlafen, Lieber,
in tieftiefem Traum.

In dem dürren Baume
in tieftiefem Traume
habt geschlafen ihr?
In dem Holz, dem harten
war, ihr weichen, zarten,
euer Nachtquartier?

Musst dich recht besinnen:
Was da träumte drinnen,
waren wir noch nicht,
wie wir jetzt im Kleide
blüh´n von Samt und Seide
hell im Sonnenlicht.

Nur als wie Gedanken
lagen wir im schlanken
grauen Baumgeäst;
unsichtbare Geister,
die der Weltbaumeister
dort verweilen lässt.

Kätzchen ihr der Weide,
wie aus grauer Seide,
wie aus grauem Samt!
O ihr Silberkätzchen,
ja nun weiß, ihr Schätzchen,
ich, woher ihr stammt.


 Enigma antwortete am 09.04.06 (07:34):

Altersstarrsinn

Altersstarrsinn. Der Umgang. Mit Durststrecke.
Und Nachsicht. Der Brückenschlag.
Gemeinsam.

Alterswehwehchen. Die Pflegehaft. Mit Grenzbäumen.
Und Strafpunkten. Die Menschlichkeit.
Einsam.

Die Hilflosigkeit. Die Schwäche. Auf Raten.
Und Ausgeliefertsein. Das Mitgefühl.
Aus Mitleid.

Die Ausgeschlossenheit. Der Ausstieg. Aus Umwelt.
Und Bevormundung. Ein Wärmeverlust.
Zur Unzeit.

Das Abstellgleis. Der Zwangskontakt. Mit Altenteilen.
Und Belanglosigkeit. Ein Urteilsspruch.
Zum Abgang.

Der Wegwerfdruck. Der Alleingang. Mit Beschwerden.
Und Lustverlust. Die Rückschau.
Ein Ausklang.

Die Bindungslosigkeit. Die Entfernung. Mit Nachdruck.
Und Vorwand. Die Beziehungskiste.
Umgeschrieben.

Die Abschiebehaft. Die Kündigung. Mit Dauerfolgen.
Und Wegwurf. Das Ausgehverbot.
Hintertrieben.




Internet-Tipp: https://www.gedichte-brie.de/index.htm


 Enigma antwortete am 09.04.06 (07:37):

Nachtrag:
Der Autor ist Hartmut Brie - she. Internet-Tipp!


 nopi antwortete am 09.04.06 (10:52):

Mitleidstour

Alt sein, ist der Faulheit Lust,
nicht alleine der Gebrechen,
Folge ist nicht selten Frust,
großes Blatt mit weißen Flächen.

Wer sich aufgibt, hängen läßt,
leitet ein den Untergang,
übrig bleibt ein kläglich Rest,
und ein stotternder Gesang.

Angelastet wird es denen,
wie's im Leben nun mal ist,
die aktiv sind und nicht gähnen,
und das Lernen nicht vergißt.

Mitleid, mit der faulen Brut,
wird gefordert für und für,
doch ich finde das nicht gut,
leb mit so was Tür an Tür.

G. Nopens


 Enigma antwortete am 09.04.06 (11:00):

:-)
Ferdinand von Saar
Alter



Das aber ist des Alters Schöne,
daß es die Saiten reiner stimmt,
daß es der Lust die grellen Töne,
dem Schmerz den herbsten Stachel nimmt.

Ermessen läßt sich und verstehen
die eigne mit der fremden Schuld,
und wie auch rings die Dinge gehen,
du lernst dich fassen in Geduld.

Die Ruhe kommt erfüllten Strebens,
es schwindet des Verfehlten Pein -
und also wird der Rest des Lebens
ein sanftes Rückerinnern sein.


 maedel antwortete am 09.04.06 (11:55):

*grübelgrübel*

Themenwechsel ?

heidi_hl begann mit dem "Jasminstrauch" von Friedrich Rückert.

Warum schreibt man jetzt übers Alter und seine evtl. Folgen ?


 Heidi_hl antwortete am 09.04.06 (12:05):

Wir 'Senioren' sind halt flexibel :-))

rückblick einer greisin

einst war ich klein
war traumgewaltig, voller glauben
dann wurd ich gross
liess alles, nur den traum nicht rauben

einst war ich gross
das leben war ein karussell
nun bin ich klein
die zeit verging sehr schnell

einst war ich klein, einst war ich gross
man sagt: ich sei debil
es lebt sich jetzt so hemmungslos
jedoch, es lebt sich nicht mehr viel

einst war ich leben, bald bin ich tot
werd teil der erde sein, im morgenrot
.. im morgenrot


 Enigma antwortete am 09.04.06 (12:11):

Mögliche Antworten (nicht erschöpfend):

Weil dies kein Themenzentrierter Thread ist (jedenfalls ist er nicht als solcher gekennzeichnet), also alle Themen eingebracht werden können?

Weil wir uns immerhin in einem Seniorenforum befinden und dieses Thema vielleicht auch nicht ausgeklammert werden sollte?

Weil es manchmal vielleicht reizt, mehrere Facetten eines Themas in einer Art von Antwort zu beleuchten?

Außerdem sind wir ja flexibel, wie hl gerade gezeigt hat, und können zu neuen Taten übergehen.
:-))

Gruß Enigma


 maedel antwortete am 09.04.06 (12:36):

na gut ...

Das Alter

Ewig fliegt man nicht als Falter,
Eines Tages kommt das Alter.
Aus dem Falter wird der Falke,
Aus dem Schnucki wird die Alte.
Aus dem Jüngling wird der Greis,
Ewig ist nur der Verschleiß.
Gestern noch mit flotten Flügeln,
Heute sind die Runzeln da.
Da hilft kein kosmetisch bügeln,

Da hilft auch keine AOK.
Wer mit flinkem Fuß gewippt hat,
Schlurft nun - mit knarrendem Gelenk.
Und Du merkst auf einmal deutlich:
Man ist älter als man denkt.
Auf des Lebens grüner Wiese
Ist das duft'ge Gras gemäht,
Abseits jeder Jugendkrise
Lebt man funkstill und Diät.

Soll man flennen nun und jammern,
Weil man nun mehr ausgeschirrt,
Soll man sich an früher klammern,
Weil man klammer wird?
Ist in dieser engen Runde
Auch die Welt nicht mehr so bunt,
Freundchen auch die Abendstunde
Hat noch manchmal Gold im Mund.
Sei vor'm Alter nicht so feige,
Ändre einfach dein Programm.
Spielt man nicht mehr erste Geige,
Bläst man eben auf dem Kamm.

Verfasser: unbekannt


 nopi antwortete am 09.04.06 (12:52):

Der Blick zurück

Alter ist Zeit, in Bildern gebunden,
zerhackt und geschnitten in Tagen in Stunden,
in Frohsinn, in Trauer, im Werden im Sterben,
um alles was Wert ist, zum Schluß zu vererben.

Die Pappel, sie raschelt und singt mir ihr Lied,
sonnendurchflutet und warm ihre Rinde,
alles zu seiner Zeit nur geschieht,
und Bilder zerfließen wie Worte im Winde.

Das dunkle Wasser glänzt im Mond wie ein Spiegel,
dein Antlitz schaut mir entgegen so rein,
doch schon schlägt die Tür zu, im eisernen Riegel,
und die Stimmen von damals, so winzig und klein.

Mein Tor nun so weit, erbarmungslos offen,
und Schritte hallen durch endlose Gassen,
begleiten mein Weg im Bangen im Hoffen,
und Wünsche von einst, zerfließen verblassen.

Jetzt ist meine Zeit, sie auch zu erkennen,
war wert sie, ein Leben mir zu bescheren,
mich ständig gegen das Wahre zu stemmen,
um am Ende, wies sei, mich selbst zu belehren.

G. Nopens


 Heidi_hl antwortete am 09.04.06 (12:59):

Der Blick zurück ;-)
(entschuldigt, wenn ich auch hier 'eigenes' bringe)

eingebrannt

wenn ich so zurück schaue
sehe ich Bilder
wie auf einem alten Bildschirm
fest eingebrannt
in vielen Schichten aufeinander
schöne, traurige, böse und gute
die traurigen und die bösen sind
kaum zu erkennen
nur ein leichtes graues Flimmern
im Hintergrund des Schönen
das dadurch immer
schöner wird


 Enigma antwortete am 09.04.06 (13:21):

"Eigenes" ist doch immer gut.

Aber jetzt hätten wir wirklich schon einen Themen-Thread halb gefüllt. :-))

Jugend ruft das Alter


Auch Du sahst den Sonnenfeuervogel
auf den Wolken über goldene Himmel schreiten,
Kennst Menschenschwächen, Menschenneid,
Hast geliebt und verloren.
Du, der Du alt bist, hast geliebt und verloren wie ich
Alles was schön ist, doch dem Tod geboren,
Bist gefolgt Deiner Fährte im eilenden Frost.
Hast erwandert die Hügel bei Nacht,
Hast Deinen Kopf entblösst dem lebendigen Himmel,
Bist, als der Mittag kam, ins Licht gegangen,
Verspürtest Freude wie ich.
Obwohl uns Jahre scheiden, sind sie nichts;
Jugend ruft das Alter, durch müde Jahre:
"Was hast Du gefunden", ruft sie, "Wonach gesucht?"
"Was Du gefunden", erwiedert das Alter in Tränen,
"Wonach Du gesucht."

Übersetzung nach Dylan Thomas


 Heidi_hl antwortete am 09.04.06 (14:43):

Meine Antwort:

Leben scheint eine einzige Anstrengung, etwas zu erreichen, dass nicht definiert ist

;-))

Internet-Tipp: https://www.hl-extra.de/gedanken.html#fragmente


 Enigma antwortete am 09.04.06 (15:40):

... also definieren wir selbst. :-))
Danke für den Link.


Gerechtigkeit

Wenn alle je vier Äpfel hätten,
wenn alle gesund und stark wären wie ein Roß,
wenn alle gleich wehrlos wären in der Liebe,
wenn jeder dasselbe hätte,
dann brauchte keiner den andern.
Ich danke DIR, daß DEINE
Gerechtigkeit Ungleichheit ist;
was ich habe und was ich nicht habe,
sogar wofür es keine Abnehmer gibt,
all das kann doch jemand nötig sein.
Es gibt die Nacht, damit es den Tag gibt,
es ist dunkel, damit die Sterne leuchten,
es gibt die letzte Begegnung und die erste Trennung,
wir beten, weil andere nicht beten,
wir glauben, weil andere nicht glauben,
wir sterben für die, die nicht sterben wollen,
wir lieben, weil anderen das Herz erkaltet ist,
ein Brief nähert, weil ein anderer entfernt...
Ungleiche brauchen einander,
sie verstehen am besten,
daß alle auf alle angewiesen sind,
und ahnen das Ganze.


Jan Twardowski (1915-2006)


 eleisa antwortete am 09.04.06 (17:28):

Noch einmal ein Frühlingsgedicht.

Jeden Morgen in meinem Garten,
öffnen neue Blüten sich dem Tag.
Überall ein herrliches Erwarten,
das nun länger nicht mehr zögern mag.

Matthias Claudius


 Joan antwortete am 09.04.06 (18:33):

Auszug aus Madame Chatelets "Rede vom Glück"
(Freundin Voltaires) 1747 Zwei Jahe vor ihem Tod

"Versuchen wir also,es uns gutgehn zu lassen,keinerlei Vorurteile zu haben,unsere Pläne zu verwirklichen und sie unserem Glück dienlich zu machen,unsere Leidenschaften durch Neigung zu ersetzen,mit größter Sorgfalt unsere Träume zu bewahren,niemals zu bereuen ,uns von traurigen Vorstellungen fernzuhalten und unseren Herzen nie zu erlauben ,auch nur ein Fünkchen Neigung für jemanden zu bewahren,dessen Nähe schwindet und der aufhört,uns zu lieben.Wenn man alt wird,muß man auf die Liebe eines Tages verzichten, und der Tag sollte der sein,an dem sie uns nicht mehr glücklich macht.Denken wir schliesslich daran, für alles Neue aufgeschlossen zu bleiben und durch geistiges Wachsein ein Glück zu empfinden,das in unseren Händen liegt.Nehmen wir uns vor dem Ehrgeiz in acht und vor allem seien wir uns im Klaren darüber,wo unsere Grenzen sind.Entscheiden wir uns für den Weg,den unser Leben einzuschlagen beliebte und versuchen wir ihn mit Blumen zu säumen ."....


 Enigma antwortete am 10.04.06 (07:58):

Im Gepäck

Ich habe mitgenommen
An den Schuhsohlen
Der Kindheit enge Gassen
Die sich festklammem an des Berges
Grauen Zöpfen

In den Augen
Die kleine Minze am Bach
Vor dem Olivenbaum

Und im Haar
Den zärtlichen Windhauch
Damaszener Abende

Ich habe mitgenommen
Auf dem nackten Arm
Der Sonnenkarawane Spuren
Beladen mit der Sehnsucht meiner Urahnen
Nach den kühlenden Schatten
Friedlicher Oasen

In der Seele
Die Reinheit der Propheten
Wie sie im Buche steht
Und die Wildheit kahler Berge

Ich habe mitgenommen
Auf meinen Lippen von Mutter
Die Melancholie
Und den Durst vom Vater
Nach dem Quellfeuer aller Fraun


Adel Karasholi
Aus: Wenn Damaskus nicht wäre. Gedichte

Internet-Tipp: https://www.arte-tv.com/de/kunst-musik/buchtipps/Alle_20Rezensionen/A-C/Buchmesse_20Leipzig_202005/811486,CmC=811480.html


 mea antwortete am 10.04.06 (11:44):


Schneeregen und Kälte hier an der schwäbischen Alb , da braucht man was zum Aufmuntern und schmunzeln .

Ostergedicht !

Wenn die Hasen
nicht mehr grasen ,

Denn wer mag schon grüne Eier?

Und stattdessen
Ganz besessen

Weinbrand trinken und Liköre ,

Wenn der Krokus
Einfach raus muß

Das die Biene ihn betöre ,

Und die Sonne
Strahlt mit Wonne ,

Dann naht bald die Osterfeier!

Fridolin Wasserberg


 Enigma antwortete am 10.04.06 (19:53):

Hallo mea,

ich mag seine Sachen auch sehr gerne.

Veilleicht je noch jemand außer uns? :-)

Fridolin Wasserburg
Der Faltenbauch

Im Geäst des Haselstrauchs,
Abseits aller Industrie,
Ist das Nest des Faltenbauchs,
Der in unsre Theorie
Vom Entstehen neuer Arten
Schwerlich einzufügen ist,
Denn er lebt vom silberzarten
Lichte, das der Mond ergießt.
Ist er prall und voll des Lichtes,
Legt er seinen Bauch in Falten,
Und als Schlußsatz des Gedichtes
Sieht man ihn Siesta halten.

Internet-Tipp: https://www.werle.com/homepage/wasserbg/seite4.htm


 maedel antwortete am 10.04.06 (22:04):

Arm Kräutchen

Ein Sauerampfer auf dem Damm
stand zwischen Bahngeleisen,
machte vor jedem D-Zug stramm,
sah viele Menschen reisen.

Und stand verstaubt und schluckte Qualm,
schwindsüchtig und verloren,
ein armes Kraut, ein schwacher Halm,
mit Augen, Herz und Ohren.

Sah Züge schwinden, Züge nahen.
Der arme Sauerampfer
sah Eisenbahn um Eisenbahn,
sah niemals einen Dampfer.


das stammt aus der Feder von Joachim Ringelnatz

Internet-Tipp: https://www.ringelnatz.net/index.html


 mea antwortete am 10.04.06 (23:23):


Zum Wetter passend...

Frühlinter

Wer im April
spazieren will,
was tut er ? Was beginnt er ?
Er jubelt : Frühl...Dann schweigt er still
und murmelt matt :
Frühlinter !
Sein Schuh im Matsch
macht quitsch und quatsch ,
halb Frühling ist's ,halb Winter.
Ein bißchen plitsch , ein bißchen platsch,
von jedem was :
Frühlinter !
Wohin das zielt ?
Was das bezweckt ?
Es kommt kein Mensch dahinter.
Wenn sich ein Kind mit Lust bedreckt ,
dann frag nicht ,was dahintersteckt.
Es ist April :
Frühlinter

James Krüss


 mea antwortete am 10.04.06 (23:54):


Hallo Enigma

Ich sehe grad ,dass ich Fridolin Wasserberg statt Fridolin Wasserburg geschrieben hab ,ein Versehen ,aber seine Gedichte sind einfach gut.

Jetzt wünsche ich allen eine gute Nacht ,träumt was Schönes !

Liebe Grüsse

Mea


 Enigma antwortete am 11.04.06 (07:30):

April
Georg Heym
Das erste Grün der Saat, von Regen feucht,
Zieht weit sich hin an niedrer Hügel Flucht.
Zwei große Krähen flattern aufgescheucht
Zu braunem Dorngebüsch in grüner Schlucht.

Wie auf der stillen See ein Wölkchen steht,
So ruhn die Berge hinten in dem Blau,
Auf die ein feiner Regen niedergeht,
Wie Silberschleier, dünn und zitternd grau.

Internet-Tipp: https://gutenberg.spiegel.de/autoren/heym.htm


 Marieke antwortete am 11.04.06 (21:02):

mea,
Grüße an Dich, bevor ich schlafen gehe...ich wohne auch auf der Schwäbischen Alb!
Aber der Schnee schmilzt schneller, als das im tiefen Winter der Fall wäre...
Einen guten Frühling!


 mea antwortete am 12.04.06 (09:14):


Guten Morgen

Marieke , ich denke , daß es noch mehr STler hier im Ländle gibt , schön daß man sich hier treffen kann .
Ja ,der Frühling...keine Jahreszeit sehne ich so herbei !
Später nochmal ein Gedicht ,wir sind ja hier bei "Gedichte", jetzt gehts zum Einkaufen.

Tschüss sagt
Mea


 maedel antwortete am 12.04.06 (11:10):

Butterblumengelbe Wiesen

Butterblumengelbe Wiesen,
sauerampferrot getönt, -
o du überreiches Sprießen,
wie das Aug dich nie gewöhnt!

Wohlgesangdurchschwellte Bäume,
wunderblütenschneebereift -
ja, fürwahr, ihr zeigt uns Träume,
wie die Brust sie kaum begreift.

Christian Morgenstern


 Enigma antwortete am 12.04.06 (19:54):




Wohin nach dem letzten Himmel?

Die Erde fasst uns nicht mehr.

Sie pfercht uns in den letzten Durchgang,
wir reißen uns die Glieder ab,
um hindurchzukommen.
Wohin sollen wir geh’n
nach den letzten Grenzen?
Wohin sollen die Vögel fliegen
nach dem letzten Himmel?

Mahmoud Darwish

https://www.lyrikwelt.de/autoren/darwish.htm

She. Auch Internet-Tipp!




Internet-Tipp: https://www.raied.com/lit/darwish.htm


 Enigma antwortete am 14.04.06 (07:52):


Der Ölbaumgarten
Gedicht zum Gründonnerstag/Karfreitag

Er ging hinauf unter dem grauen Laub
ganz grau und aufgelöst im Ölgelände
und legte seine Stirne voller Staub
tief in das Staubigsein der heißen Hände.


Nach allem dies. Und dieses war der Schluß..
Jetzt soll ich gehen, während ich erblinde,
und warum willst Du, daß ich sagen muß
Du seist, wenn ich Dich selber nicht mehr finde.


Ich finde Dich nicht mehr. Nicht in mir, nein.
Nicht in den andern. Nicht in diesem Stein.
Ich finde Dich nicht mehr. Ich bin allein.


Ich bin allein mit aller Menschen Gram,
den ich durch Dich zu lindern unternahm,
der Du nicht bist. O namenlose Scham...


Später erzählte man: ein Engel kam -.


Warum ein Engel? Ach es kam die Nacht
und blätterte gleichgültig in den Bäumen.
Die Jünger rührten sich in ihren Träumen.
Warum ein Engel? Ach es kam die Nacht.


Die Nacht, die kam, war keine ungemeine;
so gehen hunderte vorbei.
Da schlafen Hunde und da liegen Steine.
Ach eine traurige, ach irgendeine,
die wartet, bis es wieder Morgen sei.


Denn Engel kommen nicht zu solchen Betern,
und Nächte werden nicht um solche groß.
Die Sich-Verlierenden läßt alles los,
und sie sind preisgegeben von den Vätern
und ausgeschlossen aus der Mütter Schooß..

Rainer Maria Rilke
Aus: Neue Gedichte (1907)


 Heidi_hl antwortete am 16.04.06 (12:22):


Rainer Maria Rilke (1875-1926)

Aus: Das Stundenbuch / Buch vom Mönchischen Leben (1899)



Mit einem Ast, der jenem niemals glich,
wird Gott, der Baum, auch einmal sommerlich
verkündend werden und aus Reife rauschen;
in einem Lande, wo die Menschen lauschen,
wo jeder ähnlich einsam ist wie ich.

Denn nur dem Einsamen wird offenbart,
und vielen Einsamen der gleichen Art
wird mehr gegeben als dem schmalen Einen.
Denn jedem wird ein andrer Gott erscheinen,
bis sie erkennen, nah am Weinen,
dass durch ihr meilenweites Meinen,
durch ihr Vernehmen und Verneinen,
verschieden nur in hundert Seinen
ein Gott wie eine Welle geht.

Das ist das endlichste Gebet,
das dann die Sehenden sich sagen:
Die Wurzel Gott hat Frucht getragen,
geht hin, die Glocken zu zerschlagen;
wir kommen zu den stillern Tagen,
in denen reif die Stunde steht.
Die Wurzel Gott hat Frucht getragen.
Seid ernst und seht.


 kropka antwortete am 18.04.06 (21:16):

Die Engel

Sie haben alle müde Münde
und helle Seelen ohne Saum.
Und eine Sehnsucht (wie nach Sünde)
geht ihnen manchmal durch den Traum.

Fast gleichen sie einander alle;
in Gottes Gärten schweigen sie,
wie viele, viele Intervalle
in seiner Macht und Melodie.

Nur wenn sie ihre Flügel breiten,
sind sie die Wecker eines Winds:
als ginge Gott mit seinen weiten
Bildhauerhänden durch die Seiten
im dunklen Buch des Anbeginns

Rainer Maria Rilke
aus dem "Buch der Bilder"

Internet-Tipp: https://www.onlinekunst.de/rilke/engel.html


 kropka antwortete am 18.04.06 (21:20):

Die Visite

Als ich aufsah von meinem leeren Blatt,
stand der Engel im Zimmer.

Ein ganz gemeiner Engel,
vermutlich unterste Charge.

Sie können sich gar nicht vorstellen,
sagte er, wie entbehrlich Sie sind.

Eine einzige unter fünfzehntausend Schattierungen
der Farbe Blau, sagte er,

fällt mehr ins Gewicht der Welt
als alles, was Sie tun oder lassen,

gar nicht zu reden vom Feldspat
und von der Großen Magellanschen Wolke.

Sogar der gemeine Froschlöffel, unscheinbar wie er ist,
hinterließe eine Lücke, Sie nicht.

Ich sah es an seinen hellen Augen, er hoffte
auf Widerspruch, auf ein langes Ringen.

Ich rührte mich nicht. lch wartete,
bis er verschwunden war, schweigend.

Hans Magnus Enzensberger


ach, wanda,
danke für deine empfehlung! köstlich!!
https://kartki.onet.pl/931,kartki.html?&OKA=6


 Enigma antwortete am 19.04.06 (09:13):


DIE AMSELN HABEN SONNE GETRUNKEN
Die Amseln haben Sonne getrunken,
Aus allen Gärten strahlen die Lieder,
In allen Herzen nisten die Amseln,
Und alle Herzen werden zu Gärten
Und blühen wieder.
Nun wachsen der Erde die großen Flügel,
Und allen Träumen neues Gefieder,
Alle Menschen werden wie Vögel
Und bauen Nester im Blauen.
Nun sprechen die Bäume in grünem Gedränge,
Und rauschen Gesänge zur hohen Sonne,
In allen Seelen badet die Sonne,
Alle Wasser stehen in Flammen,
Frühling Bringt Wasser und Feuer
Liebend zusammen.
Max Dauthendey
Aus: Der Garten der Poesie. Gedichte


 Literaturfreund antwortete am 19.04.06 (09:19):

dradio.de
URL: https://www.dradio.de/dlf/sendungen/lyrikkalender/486897/

LYRIK-KALENDER vom 19.04.2006

Mitte der 1970er Jahre geschrieben, antizipiert dieses Gedicht über alte Männer ein demografisches Phänomen der Gegenwart des 21. Jahrhunderts. Den Alten, dem dominanten soziologische Milieu der Zukunft, wird ein Gruppenbild gewidmet. Eine Spezies, die funktionslos geworden zu sein scheint, sieht sich bei ihrem eigenen Verschwinden zu.

Karl Krolow
Diese alten Männer

Diese alten Männer, die niemand
mehr ansieht, Hausierer mit Phantasie,
reale Nullen, bei Abschaffung ihres Lebens,
unter Bäumen im Park wartend
auf nichts anderes als auf Vergangenheit -
eine Landkarte aus Staub.
Versteckte Sätze leben in ihnen weiter
im trockenen Mund.
Einige haben ein schönes Gesicht
für Augenblicke. Beinahe körperlos,
sagt man. Wer weiß etwas
von diesen schmalen Figuren,
die sich entfernen?

(K.K.: Der Einfachheit halber. Suhrkamp Verlag. 1977)

Der Dichter Karl Krolow (1915-1999), der bei Abfassung des Gedichts kurz vor Vollendung seines siebzigsten Lebensjahrs stand, wirbt um Verständnis für jene Einzelgänger, die in privat-lebensweltlicher wie auch metaphysischer Hinsicht obdachlos geworden sind. Die "versteckten Sätze" in ihrem Mund deuten auf ein Geschehen in der Vergangenheit, das unausgesprochen geblieben ist. Am Ende wird den Wartenden im Park eine Art Grazie zugeschrieben. Die "schmalen Figuren, / die sich entfernen", erhalten im Medium des Gedichts ihre Würde zurück.
© 2006 Deutschlandradio

URL.:
ein anderes Krolow-Gedicht von der eigenen Freizeit...

Internet-Tipp: https://www.hoelderlin.de/kritik/krolow.jpg


 Enigma antwortete am 20.04.06 (17:08):

Glaubensbekenntnis

ich glaube an gott
der die welt nicht fertig geschaffen hat
wie ein ding das immer so bleiben muß
der nicht nach ewigen gesetzen regiert
die unabänderlich gelten
nicht nach natürlichen ordnungen
von armen und reichen
sachverständigen und uniformierten
ich glaube an gott
der den widerspruch des lebendigen will
und die veränderung aller zustände
durch unsere arbeit
durch unsere politik
ich glaube an jesus christus,
der recht hatte als er
"ein einzelner der nichts machen kann"
genau wie wir
an der veränderung aller zustände arbeitete
und darüber zugrunde ging
an ihm messend erkenne ich
wie unsere intelligenz verkrüppelt
unsere phantasie erstickt
unsere anstrengung vertan ist
weil wir nicht leben wie er lebte
jeden tag habe ich angst
daß er umsonst gestorben ist
weil er in unseren kirchen verscharrt ist
weil wir seine revolution verraten haben
in gehorsam und angst
vor den behörden
ich glaube an jesus christus
der aufersteht in unser leben
daß wir frei werden
von vorurteilen und anmaßung
von angst und haß
und seine revolution weitertreiben
auf sein reich hin
ich glaube an den heiligen geist
der mit jesus christus in die welt gekommen ist
an die gemeinschaft aller völker
und unserer verantwortung für das
was aus unserer erde wird-
ein tal voll jammer hunger und gewalt
oder die stadt gottes
ich glaube an den gerechten frieden
der herstellbar ist,
an die möglichkeit eines sinnvolleren lebens
für alle menschen
an die zukunft dieser welt Gottes

Dorothee Sölle

Internet-Tipp: https://de.wikipedia.org/wiki/Dorothee_S%C3%B6lle


 Marina antwortete am 20.04.06 (19:14):

Mein Atem geht

Mein Atem geht -
was will er sagen?

Vielleicht:
Schau! Hör! Riech! Schmeck! Greif! Lebe!
Vielleicht:
Gott atmet in dir mehr als du selbst.
Und auch:
In allen Menschen, Tieren, Pflanzen atmet Er
wie in dir.
Und so:
Freude den Sinnen!
Lust den Geschöpfen!
Friede den Seelen!

Kurt Marti


 Enigma antwortete am 21.04.06 (08:23):

Hallo Marina,

schön, von Dir und auch von Marti zu lesen. :-)

Ich habe noch zwei von Zenetti gefunden, die mir auch was sagen:

Lothar Zenetti: Einmal

Einmal wird uns gewiss die Rechnung präsentiert
für den Sonnenschein und das Rauschen der Blätter
die sanften Maiglöckchen und die dunklen Tannen
für den Schnee und den Wind, den Vogelflug und das Gras
und die Schmetterlinge, für die Luft, die wir geatmet haben,
und den Blick auf die Sterne und für alle die Tage, die Abende und die Nächte.

Einmal wird es Zeit, dass wir aufbrechen und bezahlen.
Bitte die Rechnung.
Doch wir haben sie ohne den Wirt gemacht:
Ich habe Euch eingeladen, sagt der und lacht,
soweit die Erde reicht: Es war mir ein Vergnügen!




Hier wird gebaut: Eine Kirche.
Baustelle der Zukunft.
Schauplatz kommender Ereignisse.
Unbefugte haben Zutritt.
Niemand ist an der Leine zu führen.
Spielende Kinder sind erwünscht.
Es darf gelacht werden.
Bürger, entfaltet eure Anlagen.
Das Betreten des Rasens ist angeboten.
Hier wird gebaut: eine Kirche.
Baustelle der Zukunft.
Schauplatz kommender Ereignisse.
Lothar Zenetti


 Enigma antwortete am 21.04.06 (09:41):

Ich kann nicht widerstehen.Er muss hier auch noch rein, zumal er wohl auch ein Freund von Dorothee Sölle war, mit ihr korrespondiert hat:

Ernesto Cardenal

Hört mich, ihr Weltbewohner
nach Psalm 49

Hört mich, alle Völker,
merkt auf, ihr Weltbewohner,
Plebejer und Adlige,
Proletarier und Millionäre,
ihr Leute aller sozialen Klassen,
ich will in Sprüchen reden,
in weisen Worten,
begleitet von Harfenspiel:
»Weshalb sollte ich mich vor jenen fürchten,
die ihr Vertrauen in Banken setzen
und Sicherheit von Versicherungspolicen erhoffen?

Das Leben läßt sich nicht mit einem Scheck kaufen,
seine Aktien stehen so hoch,
daß sie für Geld nicht zu haben sind.

Immer leben und niemals das Grab sehen –
diese Police kann niemand kaufen!

Sie glaubten, sie lebten ewig und wären immer an der Macht.
Alle Länder und allen Besitz,
den sie zusammengeraubt, versahen sie mit ihren Namen,
sie nahmen den Städten die Namen
und gaben ihnen ihre eigenen.

Ihre Denkmäler standen auf allen Plätzen,
aber wer erwähnt sie heute noch?
Ihre Denkmäler wurden umgestürzt
und die Bronzetafeln herausgerissen.
Ihr Palast ist jetzt ein MausoIeum.
Verlier nicht die Geduld, wenn du jemanden reich werden siehst,
wenn er viele Millionen besitzt,
den Ruhm seines Hauses vermehrt
und ein »starker Mann« genannt wird:
Im Tode wird er keine Macht mehr haben
und keine Parteien.
Selbst wenn zu seinen Lebzeiten die amtliche Presse verkündet:
»Dich wird man ewig rühmen, denn du bist glückselig«,
so wird er trotzdem sterben
und das Licht nicht mehr sehen.

Aber der Mensch auf der Höhe seines Ruhmes,
der alle Macht in Händen hat,
der dicke, ordenbehängte Bonze
sieht nicht, war los ist,
er lacht und glaubt, er würde niemals sterben;
er weiß nicht, daß er jenen Tieren gleicht,
die zu sterben verurteilt sind
am Tag des Festes.

Aus: Ernesto Cardenal
Das Buch der Liebe, Lateinamerikanische Psalmen, Wuppertal, 1981, 10.Auflage

Mehr über Ernesto Cardenal:

https://www.nicaraguaportal.de/index.php?id=cardenal

Man muss ich vorstellen, dass dieser Mann, inzwischen 81jährig, im März 2006 noch unterwegs war mit der Grupo Sal zu einer Konzertlesung - she. Internet-Tipp:

Internet-Tipp: https://www.grupo-sal.de/cont_programm07.html


 Marina antwortete am 22.04.06 (12:08):

Ja, liebe Enigma, das sind Leute, die etwas bewirkt haben auf der Welt und vor denen wir uns nur noch ziemlich klein fühlen, ich jedenfalls. Erich Fried gehört auch dazu, meine ich. :-)

Zu guter Letzt

Als Kind wußte ich:
Jeder Schmetterling
den ich rette
jede Schnecke
und jede Spinne
und jede Mücke
jeder Ohrwurm
und jeder Regenwurm
wird kommen und weinen
wenn ich begraben werde

Einmal von mir gerettet
muß keines mehr sterben
Alle werden sie kommen
zu meinem Begräbnis

Als ich dann groß wurde
erkannte ich:
Das ist Unsinn
Keines wird kommen
ich überlebe sie alle

Jetzt im Alter
frage ich: Wenn ich sie aber
rette bis ganz zuletzt
kommen doch vielleicht zwei oder drei?

Erich Fried


 mea antwortete am 23.04.06 (06:39):

Was es ist

Es ist Unsinn
sagt die Vernunft
Es ist was es ist
sagt die Liebe

Es ist Unglück
sagt die Berechnung
Es ist nichts als Schmerz
sagt die Angst
Es ist aussichtslos
sagt die Einsicht
Es ist was es ist
sagt die Liebe

Es ist lächerlich
sagt der Stolz
Es ist leichtsinnig
sagt die Vorsicht
Es ist unmöglich
sagt die Erfahrung
Es ist was es ist
sagt die Liebe

Erich Fried


 Heidi_hl antwortete am 23.04.06 (10:04):

Letzte Warnung

Wenn wir nicht aufhören
uns mit unseren kleinen
täglichen Sorgen
und Hoffnungen
unserer Liebe
unseren Ängsten
unserem Kummer
und unserer Sehnsucht
zu beschäftigen
dann geht die Welt unter.

Und wenn wir aufhören
uns mit unseren kleinen
täglichen Sorgen und Hoffnungen
unserer Liebe
unseren Ängsten
unserem Kummer
und unserer Sehnsucht
zu beschäftigen
dann ist die Welt untergegangen

(Erich Fried)


 gardy antwortete am 23.04.06 (12:27):

Holder Lenz

Nun ist sie wieder da, die schöne Zeit,
die ich so innig liebe.
Ach, wenn die bunte Herrlichkeit
doch unvergänglich bliebe!

Zu wenig ist ein Augenpaar,
um alles Glück zu sehen.
Wo gestern Trieb und Knospe war,
heut zarte Blumen stehen.

Warum nur eilt im schönen Mai
nach vielen dunklen Tagen,
der Lenz an uns so schnell vorbei,
willst du ihn nicht mal fragen?

Heinz Schulte


 mea antwortete am 23.04.06 (13:14):

Liebe gibt es umsonst

Ich muß es nochmals sagen :
Das Glück hat nicht viel zu tun
mit Reichtum und Besitz .
Das Glück kommt niemals
per Postscheck und Girokonto .
Kaufen kannst du Unterhaltung
und Freizeitgestaltung ,
aber ein zufriedenes , freies Herz ,
das erst Freude an dem schenkt ,
was du alles hast ,
das kannst du nicht kaufen ,
niemals und nirgendwo .

Es ist unbezahlbar !

********************************

"Frühling " rufen .
"Sonne " rufen .
Sich fangen lassen
vom Licht , diesem Wunder ,
und vom Leben .

Sieh die Lerche ,
wie sie hoch am Himmel singt .
Weißt du warum ?
Weil sie keine Miete zahlen muß .

Sieh in den Himmel und singe ,
weil dir die Sonne umsonst scheint .

Aus "Vergiß die Freude nicht "
von Phil Bosmans


 mea antwortete am 23.04.06 (23:48):

Möchte noch empfehlen , mal googeln : Phil Bosmans ,
er schreibt wunderschöne Verse .

Liebe Grüsse
Mea


 Enigma antwortete am 24.04.06 (07:40):

Guten Morgen und
@mea
Ja, Glück (was immer das auch für das Individuum bedeutet, denn das definiert ja jeder für sich) ist häufig nicht an materielle Werte gebunden, ähnlich wie ein anderes wichtiges Gut, die Gesundheit.

Was sagt Karl Krolow dazu?

Karl Krolow
Ziemlich viel Glück

Ziemlich viel Glück
Gehört dazu,
Daß ein Körper auf der Luft
Zu schweben beginne
Mit Brust, Achsel und Knie
Und auf dieser Luft
einem anderen Körper begegne,
Wie er
Unterwegs.

Die Atmosphäre macht
Zwei innige Torsen aus ihnen.
Unbemerkt beschreibt ihr Entzücken
Zärtliche Linien in Baumkronen.
Eine ganze Zeit noch
Ist Ihr Flüstern zu vernehmen,
Und wie sie einander
Das schenken,
Was leicht an Ihnen ist.


Glücklichsein beginnt immer
Ein wenig über der Erde.



Und Eva Strittmatter?

Strittmatter, Eva
Werte

Die guten Dinge des Lebens
Sind alle kostenlos:
Die Luft, das Wasser, die Liebe.
Wie machen wir das bloß,
das Leben für teuer zu halten
Wenn die Hauptsachen kostenlos sind?
Das kommt vom zu frühen Erkalten.
Wir genossen nur damals als Kind
Die Luft nach ihrem Werte
Und Wasser als Lebensgewinn,
Und Liebe, die unbegehrte,
Nahmen wir leichtherzig hin.
Nur selten noch atmen wir richtig
Und atmen zeit mit ein.
Wir leben eilig und wichtig
Und trinken statt Wasser Wein.
Und aus der Liebe machen
Wir eine Pflicht und Last.
Und das Leben kommt dem zu teuer,
Der es zu billig auffaßt.


She. auch Internet-Tipp!

Internet-Tipp: https://www.mdr.de/doku/archiv/232389.html


 Enigma antwortete am 24.04.06 (07:52):

Bei mir selbst

Die meisten Menschen wollen die Welt verändern,
nur nicht sich selbst. Die anderen müssen sich verändern.
Die da oben, sagen die unten.
Die da unten, sagen die oben.
Die Männer, sagen die Frauen.
Die Frauen, sagen die Männer.
Wir fangen an zu drohen und Druck zu machen.
Wir begreifen so schwer, dass keiner ein Recht hat,
andere zur Änderung zu zwingen.
Nur Überzeugung, Freundschaft, Vorbild und Einsicht
kann andere zur Änderung bringen.
Der Mensch ist das einzige Wesen,
das sich selbst bewusst zu verändern vermag.
Wenn sich die Menschen nicht ändern, ändert sich nichts.
Die Welt verändern?
Das fang' ich immer wieder an - bei mir selbst.

Phil Bosmans


 Marina antwortete am 24.04.06 (10:46):

Hier noch einmal Erich Fried:

Was mich mutlos macht
ist daß es so schwer ist
zu sehen wohin ein Weg geht
zum Recht und zur sicheren Zukunft
aber was mir dann wieder Mut macht
ist daß es so leicht ist
zu sehen wo Unrecht geschieht
und das Unrecht zu hassen

Und auch wenn es nicht leicht ist
gegen das Unrecht zu kämpfen
so verliert man dabei
doch nicht so leicht seine Richtung
denn das Unrecht leuchtet so grell
und verbreitet so starken Geruch
daß keiner die Spur des Unrechts verlieren muß

Wenn der Weg zum Recht und zur Zukunft
dunkel ist und verborgen
dann halte ich mich an das Unrecht
das liegt sichtbar mitten im Weg
und vielleicht wenn ich noch da bin
nach meinem Kampf mit dem Unrecht
werde ich dann ein Stück
vom Weg zum Recht erkennen

Quelle: Erich Fried "Gesammelte Werke",
Gedichte 2, Berlin 1993


 Enigma antwortete am 25.04.06 (08:35):

Danke Marina!

Und von mir auch noch einmal Mahmud Darwish „... die wichtigste poetische Stimme Palästinas..“):

Wir lieben das Leben

Auch wir lieben das Leben, wo wir nur können.
Wir tanzen zwischen zwei Märtyrergräbern, zwischen ihnen pflanzen wir
Für die Veilchen Palmen oder errichten ein Minarett.
Wir lieben das Leben, wo wir nur können,
Und stehlen dem Seidenwurm einen Faden, um einen
Himmel uns aufzuspannen und die Abreise einzuzäunen.
Wir öffnen das Gartentor, damit der Jasmin als schöner
Tag auf die Straßen hinausgeht.
Wir lieben das Leben, wo wir nur können.
Wenn immer wir uns niederlassen, säen wir rasch wachsende Pflanzen,
Wenn immer wir uns niederlassen, ernten wir einen Toten.
Wir blasen auf der Flöte die Farbe der fernen Ferne,
malen auf den Staub des Weges ein Wiehern
Und schreiben unseren Namen Stein für Stein
Blitz, erhelle die Nacht für uns, erhell sie ein wenig.
Wir lieben das Leben, wo wir nur können.
Mahmud Darwish

Aus: Die Farbe der Ferne. Moderne arabische Dichtung

Darwish hat zeitweise in Israel gelebt und auch in Ramallah.
Er grenzt nicht aus!
She. auch Internet-Tipp!

Internet-Tipp: https://www.osnabrueck.de/politik/22873.html


 Marina antwortete am 25.04.06 (09:16):

Enigma, ich danke Dir sehr für dieses Gedicht, aber wenn Du so etwas postest,
zwingst Du mich, bei Fried zu bleiben. :-)

Ein Jude an die
zionistischen Kämpfer - 1988

was wollt ihr eigentlich?
Wollt ihr wirklich die übertreffen
die euch niedergetreten haben
vor einem Menschenalter
in euer eigenes Blut
und in euren eigenen Kot?

Wollt ihr die alten Foltern
jetzt an die anderen weitergeben
mit allen blutigen
dreckigen Einzelheiten
mit allem brutalen Genuss
der Folterknechte
wie unsere Väter sie damals
erlitten haben?

Wollt jetzt wirklich ihr
die neue Gestapo sein
die neue Wehrmacht
die neue SA und S.S.
und aus den Palästinensern
die neuen Juden machen?

Aber dann will auch ich
weil ich damals vor fünfzig Jahren
selbst als ein Judenkind
gepeinigt wurde
von euren Peinigern
ein neuer Jude sein
mit diesen neuen Juden
zu denen ihr
die Palästinenser macht

Und ich will sie zurückführen helfen
als freie Menschen
in ihr eigenes Land Palästina
aus dem ihr sie vertrieben habt
oder in dem ihr sie quält
ihr Hakenkreuzlehrlinge
ihr Narren und Wechselbälge
der Weltgeschichte
denen der Davidstern
auf euren Fahnen
sich immer schneller verwandelt
in das verfluchte Zeichen
mit den vier Füßen das
ihr nun nicht sehen wollt
aber dessen Weg ihr heut geht!

Erich Fried


 Enigma antwortete am 26.04.06 (07:22):

Hallo Marina,

wenn so etwas Gutes dabei herauskommt, lohnt es sich ja direkt, sich zu "zwingen". :-))

Aber jetzt mal wieder anders. Das hier fiel mir in die Hände:

Heimweh

Ich hörte heute morgen
am Klippenhang die Stare schon.
Sie sangen wie daheim,
und doch war es ein andrer Ton.
Und blaue Veilchen blühten
auf allen Hügeln bis zur See.
In meiner Heimat Feldern
liegt in den Furchen noch der Schnee.
In meiner Stadt im Norden
stehn sieben Brücken, grau und greis,
an ihre morschen Pfähle
treibt dumpf und schütternd jetzt das Eis.
Und über grauen Wolken
es fein und engelslieblich klingt -
und meiner Heimat Kinder
verstehen, was die erste Lerche singt.

Agnes Miegel


 burlala antwortete am 26.04.06 (09:32):

Liebe/r Enigma,
die »schönen Worte« von Agnes Miegel glorifizierten einst in einem Poem den »größten Mörder« aller Zeiten, den sogenannten, frei gewählten, dann selbsternannten Führer des »Dritten Reiches«. Viele Menschen wissen das nicht und befördern diese »Poetin« in eine Region, wo sie eigentlich nicht hingehört. Doch Jene, die es wissen, die immer noch im Geiste, des oben erwähnten denken, fühlen sich bestätigt.
Recherchiere bitte einmal in die Richtung von 1930 - 1945 über Agnes M.
Sonst mag ich Deine Beiträge.
Liebe Grüße
Richard


 Enigma antwortete am 26.04.06 (09:58):

Hallo burlala,

das war mir tatsächlich nicht bekannt. Ich werde, wie von Dir vorgeschlagen, recherchieren.
Dadurch sehe ich sie natürlich auch "mit neuen Augen".
Danke für den Hinweis.
Auch liebe Grüße
Helga


 burlala antwortete am 26.04.06 (10:10):

Antrag: Umbenennung der Agnes Miegel-Straße

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,

wir beantragen:

Die Agnes-Miegel-Straße wird umbenannt. Vorschlag: Lilli Bechmann-Rahn-Straße. Lilli Bechmann-Rahn stammte aus einer alteingesessenen jüdischen Fürther Familie. Im Nationalsozialismus wurde ihr von der Erlanger Philosophischen Fakultät der Doktortitel aberkannt.

Begründung:

Die besonders in Vertriebenenkreisen hoch angesehene Agnes Miegel, "Mutter Ostpreußens" genannt, wurde u.a. in die "Sektion für Dichtung"der "Preußischen Akademie der Künste" berufen. In der Folge wurden der Schriftstellerin zahlreiche Preise und Auszeichnungen verliehen, so u.a. 1939 das "Ehrenzeichen der Hitlerjugend". Die NS-Frauenschaftlerin bedankte sich auf ihre Weise: 1940 trat Miegel der NSDAP bei.

Aus Miegels Feder stammen auch Hymnen auf Adolf Hitler: "Neid hat er und Bruderhaß gestillt. Unsere Herzen, hart von Not und Krieg, hat mit seinen glühenden, glaubensvollen Worten er durchpflügt wie Ackerschollen, bis ein neuer Frühling auf uns stieg".

Die Popularität der Schriftstellerin wurde auch durch die Befreiung vom NS-Faschismus nicht gebrochen. In Bad Nenndorf, wo Agnes Miegel nach Krieg und Faschismus lebte, wurde sie zur Ehrenbürgerin ernannt. Zahlreiche Straßen und Schulen erhielten den Namen der mit dem Naziregime eng verstrickten Ostpreußin. Nicht nur in der einschlägigen neofaschistischen Presse wird die Miegel heute noch geehrt. Die im Umfeld der "Landsmannschaft Ostpreußen"beheimatete "Agnes-Miegel-Gesellschaft" führt regelmäßig ihre "Agnes-Miegel-Tage" durch. Ein in Münster beheimatetes "Agnes-Miegel-Kuratorium" verleiht regelmäßig eine "Agnes-Miegel-Plakette".

Eine jährlich an ostdeutsche Dichter zu verleihende Plakette gleichen Namens war während des Nazi-Regimes von der "NS-Kulturgemeinde" gestiftet worden.

Im "Biographischen Lexikon zum Dritten Reich" (Hermann Weiß, Hg., Fischer-Verlag 1998) heißt es über Agnes Miegel u.a.: Für die Nazis war es "ein Gewinn", diese "seit über dreißig Jahren etablierte und bekannte Heimatdichterin“ in der Deutschen Dichterakademie als Aushängeschild präsentieren zu können. In der Folge zeigten sich in den Werken der ,Mutter Ostpreußens’ "Elemente einer mythologisierenden Blut-und-Boden-Romantik, die eine Affinität zu nationalsozialistischen Ideen erkennen lassen".

Mit freundlichen Grüßen

gez. Bußmann


 burlala antwortete am 26.04.06 (10:12):

»Agnes Miegel«

Internet-Tipp: https://gruene-liste-erlangen.de-antrag


 Marina antwortete am 26.04.06 (12:07):

Burlala, danke für deinen interessanten Beitrag und Deine Aufklärung. Ich habe daraufhin mal in meiner Literaturgeschichte nachgesehen, wie sie da beschrieben wird. Es gibt nur einen einzigen Satz über sie, ansonsten wird sie einfach übergangen und Deine Kritik voll bestätigt. Der Satz lautet: „Ein besonders trauriges Kapitel stellt das literarische Schaffen von Autorinnen wie Agnes Miegel, Gertrud von Le Fort und Ina Seidel dar, deren Werke zahlreiche Berührungspunkte mit dem Nationalsozialismus aufweisen.“
Aus: Deutsche Literaturgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart. Metzler Verlag 2001, S. 446


 Enigma antwortete am 26.04.06 (12:11):

@burlala

Danke für die Informationen.
Ich kannte Agnes Miegel bisher eigentlich nur durch das Gedicht "Die Frauen von Nidden". Ihre NS-Vergangenheit war mir nicht bekannt.
Umso wichtiger, das jetzt zu erfahren.
Wieder jemand, der zwar schöne Worte findet, aber die falsche Überzeugung gelebt hat. Sehr traurig!
Damit ist sie für mich aber auch als Dichterin erledigt.

Wurde dem Antrag eigentlich stattgegeben?



Der letzte Link funktioniert nicht bei mir.


 Marina antwortete am 26.04.06 (12:28):

Hallo Enigma, ich habe mich auf die Suche begeben, weil der Link mich sehr interessiert hat. Hier ist der richtige:

Internet-Tipp: https://www.gruene-liste-erlangen.de/antrag/2001/miegel.htm


 hanscastorp antwortete am 26.04.06 (13:45):

Mit Respekt vor den vielen Gedichtseiten, in denen ich auch manches mir noch Unbekannte fand, werde ich künftig ab und an eine Gedicht beisteuern, das mir gut gefiel.

Zum Einstieg:

Zwiesprache mit Rabbi Nachmann

1
Komm und schau,
Denken ist der Anfang
aller Dinge.

2
Um im Kampfe zu bestehen,
dachte er an jedem Morgen:
nur dieser eine Tag
sei ihm noch gegeben.

3
Kundig des Flüsterns,
vernahm er die Gesänge der Kräuter,
die Rede des Feldes
ging ein in die seine.

4
Das Jenseits nahm er herüber
ins Diesseits,
ließ es in ihm walten,
sein größerer Teil war schon dort.

5
Gott hatte Verlangen
nach der Wildnis des Herzens
wie nach einer Oase,
die den Durst stillt.

6
Er wohnte in einem Haus,
dessen Fenster auf den Friedhof gingen,
das Haus des Lebens,
wie ihn die Juden nennen.

7
Nichts fällt ins Leere,
auch nicht die Worte
und die Stimme des Menschen.

Cyrus Atabay


 Marina antwortete am 26.04.06 (15:08):

Sehr schön Dein Gedicht. Hier noch etwas aus dem Persischen:

Komm, o Frühling meiner Seele, Welten wieder mache neu!
Licht am Himmel, Glanz auf Erden, hoch und nieder mache neu!
Setze mit dem Sonnenknaufe blau der Lüfte Turban auf,
Und der Fluren grünen Kaftan, holder Chidher, mache neu.
Mache Wiesen frisch von Kräutern und von Sprossen Haine jung,
Rosen-Schnürbrust und der Lilie schlankes Mieder mache neu.
Schmelze mit dem Hauch des Winters Helm und Panzer, mit dem Blick
Brich den Frostspeer; unsern Frieden, Weltbefrieder, mache neu.
Ohne Ostwind ist die Luft tot und der Rosen Odem stockt.
Aus dem Schlummer weck' den Ostwind, sein Gefieder mache neu!
Roll' in Donnern, geuß aus Wolken auf die Erde Moschusflut,
Laß von Kopf zu Fuß uns baden, alle Glieder mache neu!
Pinie schlägt im Winde Pauken, Platanus mit Händen Takt.
Hauch der Liebe, deine Traumdüft' unterm Flieder mache neu!
Reben ringeln sich an Ulmen zur Verehrung Gottes auf,
Veilchen küssen Staub; Lenzandacht, o Gebieter. mache neu!
Hyanzinthe kost mit Tulpen, und von Rosen Nachtigall,
Turtel girret süße Weisen; Parsilieder mache neu!
Zünd' in Blüten Opferfeuer, Weihrauchglut in Düften an,
Und als Flöten alle Gräser, Rohr' und Rieder mache neu!
Laß die Blätter Zungen spitzen, Liebesfragen auf der Flur
Zu verhandeln, ihren Scharfsinn für und wider mache neu!
Hörst du? Frühluft, Frühroth, Frühlicht ruft: Steh früh im Frühling auf,
Freund, mit Frühtau deines Geistes Augenlider mache neu,
Daß du Lenzgeheimnis schauest! Blumenschmelz ist Alchimie:
Festgeschmeid' im bunten Feuer, rüst'ger Schmieder, mache neu!

Mewlana Dschelaleddin Rumi.
(Übersetzt von Friedrich Rückert)

Internet-Tipp: https://gutenberg.spiegel.de/rueckert/mewlana/mewlana.htm


 Enigma antwortete am 26.04.06 (16:44):

Bin wieder da. :-)
@Marina
Danke für Link und Gedicht.
@hanscastorp
Ja bitte, wenn Du kannst, wäre es schön, mehr von Dir zu lesen.
Ich hatte übrigens auch einzelne Gedichte von Atabay gelesen. Eines, das mir auch gut gefallen hatte, stelle ich jetzt ein:

Schutzfarben

Da habe ich mich verstellt
um meine Verfolger zu täuschen
da habe ich mich totgestellt
um dem Henker zu entkommen
da habe ich mir die Gedanken
meiner Häscher geborgt:
und doch war in all der Zeit
der Traum, den ich träumte, unversehrt,
in all der Zeit
in der ich die Schäden litt
so weit, daß ich mir selbst
unkenntlich wurde,
indes mein Traum
mich erkannte.
- Cyrus Atabay -


 hanscastorp antwortete am 26.04.06 (17:28):

Risse des Himmels

Im Labor der Träume
Wird das Lied dieser Stunde gehämmert

Stunde des flüchtigen Doms
Stunde der Zahlenkette
Auf die alle Sterne gereiht sind

Einsame Stunde der Stirn
Unter dem nächtlichen Messer
Das aus den Rissen des Himmels ragt

Im Labor der Träume
Stirbt der Tod

Johannes Poethen 1956


 Enigma antwortete am 26.04.06 (19:29):

Gefällt mir.


FLÜSTERNDE DÖRFER

Obwohl unsere Städte ständig versuchen
uns den Himmel vertrauter zu machen
indem sie Aussichtspunkte
Balkone Terrassen bereitstellen
Obwohl sie behaupten man sehe von oben
den womöglich zärtlichsten
Punkt im All
eine übergroße Murmel mit blauem Zentrum
und sie uns Treppen und Aufzüge hochlocken
uns die Sicherheiten zeigen
Geländer und Netze
die Schönheit
der Leuchtreklamen
Laster so klein dass wir uns selber
riesig vorkommen
Obwohl wir vom Lärm da unten
fast schon betört sind
hören wir manchmal das Flüstern der Dörfer
und manchmal glauben wir etwas davon
und springen
wie Supermann

Silke Scheuermann
Aus: Der zärtlichste Punkt im All. Gedichte
She. auch Internet-Tipp!

PS
Bist Du Fan vom "Zauberberg"?

Internet-Tipp: https://www.hugendubel.de/Detail.aspx?gid=1467748


 burlala antwortete am 27.04.06 (09:07):

Liebe Enigma (alias Helga)
auf deine Frage, ob die
Agnes-Miegel-Straße in Erlangen umbenannt wurde?
Die Antwort aus Erlangen:
STADT ERLANGEN
Bürgermeister und Presseamt
Büro für aktive Bürgerinnen und Bürger
Brigitte Bänsch
Schuhstraße 30
D-91052 Erlangen




Sehr geehrter Herr Eickstädt,
hiermit komme ich zurück auf meine E-Mail vom 26.04.06, in der ich Ihnen den Eingang Ihres Anliegens bestätigt hatte. Mir liegt nun die Stellungnahme des Fachbereiches vor und ich möchte Sie darüber informieren. Frau Jacobsen vom Amt für Stadtentwicklung und Stadtplanung teilte mir mit, dass die Agnes-Miegel-Straße mit Beschluss des Umwelt-, Verkehrs- und Planungsausschusses vom 05.02.2002 NICHT umbenannt wird. Für Fragen steht Ihnen Frau Jacobsen unter der Rufnummer 86-13 11 gerne zur Verfügung.
Sehr geehrter Herr Eickstädt, ich bedauere Ihnen keine andere Antwort geben zu können.

Mit freundlichen Grüßen
I. A.

Brigitte Bänsch

Liebe Grüße
Richard (alias burlala)


 Enigma antwortete am 27.04.06 (14:02):

Hallo burlala (Richard),

das tut mir leid, dass die Initiative keinen Erfolg hatte.
Da ist bei uns (ich wohne in einer Stadt im Ruhrgebiet) eine ähnliche Sache anders, nämlich mit Erfolg, gelaufen.
Als durch einen Zeitungsartikel über die nationalsozialistische Vergangenheit des Namensgebers der Schule berichtet wurde, haben die Gremien beschlossen, die Schule umzubenennen. Heute trägt sie den Namen von Anne Frank.
Das passierte in den Neunziger Jahren.

Vielleicht probiert Ihr es noch einmal?

Auch liebe Grüße
Helga


 Marina antwortete am 27.04.06 (15:18):

Natureingang
(frei nach Geoffrey Chaucer)

Ach wenn April mit milden Schauern
des Lebens dürre Adern bis zur Wurzel badet
und Zephyrs süßer Atemhauch die Triebe all
in Wald und Feld zu kurzem Dauern ladet
und schon die junge Sonne halb den Bogen
vom Widder bis zum Stiergehörn durchzogen
und wenn Erinnerung aus fließendem Verfall
den Blick erhebt:
wie Vögel nachts mit offnen Augen schlafen –
o dann beginnt die Zeit auch mir den Sinn zu weiten:
Vergangenheit die nicht gelebt
Winter da wir uns nicht trafen
sind nichtig wenn ein altes Herz sich neu erhebt.

Noch mit gebrochnen Lyren und vom Frost verstimmten Saiten:
auf deinem Ufer
blumenreich
entfaltet von Gezeiten
muss ich mit Sonnenlicht gerüstet dir entgegenreiten.

© Wolfgang Hilbig
Entstanden: 2001
Aus: unveröffentlichtem Manuskript

Internet-Tipp: /seniorentreff/de/J2dCscDWw


 Enigma antwortete am 29.04.06 (18:38):

Hallo Marina,
sorry, ich konnte nicht eher.
Gefällt mir sehr gut: "(frei nach Geoffrey Chaucer)".

Ich stelle jetzt ein Gedicht von Robert Frost in Übersetzung ein.
Der Originaltext kann dem Internet-Tipp entnommen werden.
Es soll eine Übersetzung von Paul Celan geben. Ich weiß aber nicht genau, wer die nachfolgende Version übersetzt hat.
Vielleicht gibt es jemanden, der das weiß und uns mitteilen kann. :-))

Robert Frost
Die verpasste Straße

Zwei Straßen gingen ab im gelben Wald,
Und leider konnte ich nicht beide reisen,
Da ich nur einer war; ich stand noch lang
Und sah noch nach, so weit es ging, der einen
Bis sie im Unterholz verschwand;

Und nahm die andre, grad so schön gelegen,
Die vielleicht einen bessern Weg versprach,
Denn grasbewachsen kam sie mir entgegen;
Jedoch, so weit es den Verkehr betraf,
So schienen beide gleichsam ausgetreten,

An jenem Morgen lagen beide da
Mit frischen Blättern, noch nicht schwarz getreten.
Hob mir die eine auf für'n andern Tag!
Doch wusste ich, wie's meist so geht mit Wegen,
Ob ich je wiederkäm, war zweifelhaft.

Es könnte sein, dass ich dies seufzend sag,
Wenn Jahre und Jahrzehnte fortgeschritten:
Zwei Straßen gingen ab im Wald, und da –
Wählt' ich jene, die nicht oft beschritten,
Und das hat allen Unterschied gemacht.

Internet-Tipp: https://www.ottosell.de/pynchon/frost.htm


 dirgni antwortete am 29.04.06 (22:11):

Hallo Enigma,

ich hab mich im Netz ein wenig umgesehen:

obige Überseztung ist von Eric Boerner.
https://home.arcor.de/berick/illeguan/english2.htm

von Walter A. Aue findest Du eine Übersetzung auf Seite
https://myweb.dal.ca/waue/Trans/Frost-Road.html

und von Paul Celan:
https://www.geocities.com/Athens/Chariot/3474/trans/trans_en.htm#page15


 Enigma antwortete am 30.04.06 (08:23):

Hallo dirgni,

da hätte ich ja auch fleißiger suchen können. :-))
Danke, dass Du das freundlicherweise für mich besorgt hast.
So kann ich dann auch noch die Übersetzung von Celan einstellen:

Robert Frost
DER UNBEGANGENE WEG

In einem gelben Wald, da lief die Straße auseinander,
und ich, betrübt, daß ich, ein Wandrer bleibend, nicht
die beiden Wege gehen konnte, stand
und sah dem einen nach so weit es ging:
bis dorthin, wo er sich im Unterholz verlor.

Und schlug den andern ein, nicht minder schön als jener,
und schritt damit auf dem vielleicht, der höher galt,
denn er war grasig und er wollt begangen sein,
obgleich, was dies betraf, die dort zu gehen pflegten,
sie beide, den und jenen, gleich begangen hatten.

Und beide lagen sie an jenem Morgen gleicherweise
voll Laubes, das kein Schritt noch schwarzgetreten hatte.
Oh, für ein andermal hob ich mir jenen ersten auf!
Doch wissend, wie's mit Wegen ist, wie Weg zu Weg führt,
erschien mir zweifelhaft, daß ich je wiederkommen würde.

Dies alles sage ich, mit einem Ach darin, dereinst
und irgendwo nach Jahr und Jahr und Jahr:
Im Wald, da war ein Weg, der Weg lief auseinander,
und ich - ich schlug den einen ein, den weniger begangnen,
und dieses war der ganze Unterschied.

Übersetzung: Paul Celan


 mea antwortete am 01.05.06 (08:04):


Ich wünsche allen einen wunderschönen
"Guten Morgen im Wonnemonat Mai "
Die Sonne lacht vom blauen Himmel
was wollen wir mehr !

Mailied

Wie herrlich leuchtet
Mir die Natur!
Wie glänzt die Sonne !
Wie lacht die Flur !

Es dringen Blüten
Aus jedem Zweig
Und tausend Stimmen
Aus dem Gesträuch ,

Und Freud und Wonne
Aus jeder Brust .
O Erd , o Sonne !
O Glück , o Lust !

O Lieb , o Liebe ,
So golden schön ,
Wie Morgenwolken
Auf jenen Höhn !

Du segnest herrlich
Das frische Feld ,
Im Blütendampfe
Die volle Welt .

Johann Wolfgang von Goethe


 Enigma antwortete am 01.05.06 (10:29):

Hallo mea,

Dir und den anderen Foristen auch einen schönen "Maientag". :-)

Keine Chance

Sechs Meter Asphalt,
zwanzig Autos in einer Minute,
ein Pferdefuhrwerk.
Die Bärenraupe weiß nichts von Autos,
sie weiß nicht, wie breit der Asphalt ist,
weiß nichts von Fußgängern, Radfahrern, Mopeds.
Die Bärenraupe weiß nur, dass jenseits Grün wächst.
Sie hat Lust auf Grün.
Man müßte hinüber.
Keine Chance.
Sechs Meter Asphalt.
Sie geht los,
geht los auf Stummelfüßen,
zwanzig Autos in der Minute,
geht los ohne Hast, ohne Furcht, ohne Taktik.
Fünf Laster, ein Schlepper, ein Pferdefuhrwerk,
geht los, und geht und geht
und geht und kommt an.

Rudolf Otto Wiemer

Die Nachkommen von Wiemer haben für ihn eine schöne Homepage eingerichtet.
Und wenn auch kommerzielle Interessen dabei sicher nicht ausgeschlossen sind (was ich für legitim halte), so zeigt es doch m.E. auch, dass sie ihm ein ehrendes Gedenken bewahren wollen - she. Internet-Tipp! -





Internet-Tipp: https://www.rudolf-otto-wiemer.de/14201.html


 Marina antwortete am 01.05.06 (11:07):

Danke für die schönen Gedichte. Das von Robert Frost fand ich besonders schön, sogar philosophisch, einerseits fast existentialistisch, andererseits erinnerte es mich an „Herkules auf dem Scheideweg“. Deshalb hier noch ein kleines Gedicht mit der Thematik und ein Link zu dem Mythos von Herkules. Mit einem schönen Bild.

Am Scheideweg
Ich wollt dir die Stirn küssen
und dir sagen: hab Dank!
Aber da war ein Licht in deinen Augen
wie Morgenglut auf unerklommenen Bergwäldern;
und dem haben wir folgen müssen,
schweigend.

Richard Dehmel

Internet-Tipp: https://www.unet.univie.ac.at/~a9725261/Scheideweg.htm


 Marina antwortete am 01.05.06 (11:08):

Und ein besonders schönes Mai-Gedicht schenke ich Euch auch: -:)

Lyrisches Intermezzo I

Im wunderschönen Monat Mai,
Als alle Knospen sprangen,
Da ist in meinem Herzen
Die Liebe aufgegangen.
Im wunderschönen Monat Mai,
Als alle Vögel sangen,
Da hab ich ihr gestanden
Mein Sehnen und Verlangen.

Heinrich Heine


 hanscastorp antwortete am 01.05.06 (12:20):

WIE TRIFFT ES DEIN HERZ

Immer ist von den Veilchen die Rede,
Die der blaue Frühling bringt,
Und nicht von den Gräsern, die der späte
Donauwind in einander verschlingt
Im März.
Kelche, o, blasse, entblühen dem Rasen -
Wie trifft es dein Herz!
Und die ersten mageren Bienen
Suchen nach ihnen und blasen
Ihren Gesang noch ganz still,
Anfang April.

Dann wird es lauter,
Dann strotzt es im Licht.
Grün rauschen die Bäume,
Die Wasser an schwellenden Ufern vorbei.
Hell tönt das Geschrei
Der Sumpfdotterblumen
Im Donaudickicht
Im Mai.

Georg Britting


 Marina antwortete am 01.05.06 (12:55):

Lieber Hans Castorp, Deine Texte sind sehr schön, aber Du solltest bei modernen Autoren unbedingt immer die Quelle angeben, sonst könntest Du Probleme mit den Urheberrechtsbestimmungen kriegen. Selbst mit Quellenangabe ist das nicht so ganz ohne, ich bin da auch manchmal etwas unvorsichtig. :-)

Guck mal im untenstehenden Link:
"Zitate von Autoren sind bis 70 Jahre nach deren Ableben urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung/ Veröffentlichung kann also Unterlassungs- und Schadenersatz-Ansprüche zur Folge haben."

Internet-Tipp: https://www.rettet-das-internet.de/zitate.htm


 Enigma antwortete am 01.05.06 (14:08):

Hallo Marina,
schönen Dank für das Gedicht, den Link und das wirklich noch schönere Bild.
Der arme Herakles: Vor solch eine Wahl gestellt... :-))

Sehr schön, das Maigedicht von Heine.
Ich habe auch eines, mit einem hochwirksamen Zauber, allerdings nicht so ganz ernst zu nehmen, eher etwas ironisch:

Hermann Löns
Liebeszauber

Und willst und willst du mich nicht lieben,
O Maienzeit, o Süßigkeit,
Das soll und soll mich nicht betrüben,
O Maienzeit, o Bitterkeit;
Ich weiß das edle Kräutlein blühn,
Habmichlieb, das Kräutlein grün,
Kräutlein grün, Blümlein rot
Hilft bei Liebesnot.
Zur Liebe will ich dich bekehren
O Maienzeit, o Süßigkeit,
Du kannst und kannst es mir nicht wehren,
O Maienzeit, o Bitterkeit;
Ich weiß das edle Kräutlein blühn,
Habmichlieb, das Kräutlein grün,
Kräutlein grün, Blümlein rot
Hilft bei Liebesnot.
Und hab’ und hab’ ich es gefunden,
O Maienzeit, o Süßigkeit,
So bleibst und bleibst du mir verbunden,
O Maienzeit, o Bitterkeit;
Ich weiß das edle Kräutlein blühn,
Habmichlieb, das Kräutlein grün,
Kräutlein grün, Blümlein rot
Hilft bei Liebesnot.

So, jetzt wißt Ihr Bescheid, mit den Kräutlein...:-)))


 mea antwortete am 02.05.06 (00:17):

Zum Lieben sind wir nie zu alt

Zum Lieben sind wir nie zu alt !
Wohl dem , der drob nicht streitet .
Und solang er durchs Dasein wallt ,
Von Liebe ist geleitet !

Ob jünger , älter um manch Jahr !
Wird Lieb' um das sich kümmern ?!
Was tut's , ob hier und dort ein Haar
Am Scheitel grau mag schimmern?!

Frägt Liebeslust , frägt Liebesleid ,
Ob Kümmernisse haben
In's Antlitz mit dem Pflug der Zeit
Manch Furche schon gegraben ?!

Ohn' Liebe leben wäre arg !
Drum altert nicht die Liebe !
Und so lang Kraft noch webt im Mark ,
Besel'gen ihre Triebe !

Es liebt der Mensch , so lang er leibt
Und gleicht darin der Linde ,
Die immer junge Triebe treibt
Trotz - tausendjähr'ger Rinde !


Sidonie Grünwald-Zerkowitz (1852-1907)

Aus " Das Gretchen von heute "


 mea antwortete am 02.05.06 (10:12):

Hallo Marina ,als ich gestern deinen Link las (01.05.06.12.55 )bin ich etwas erschrocken.....
Heute kommt in " Plusminus " dazu vielleicht Interessantes , Thema : Internet...Dubiose Abmahnungen....Urheber-und Lizenzrechte....mal sehen , ob es auch uns betrifft ?

LG
Mea


 hema antwortete am 02.05.06 (10:46):

Das Veilchen

Ei Veilchen, liebes Veilchen
so sag doch endlich an
warum gehst du ein Weilchen
den Blumen all voran?

Weil ich bin gar so kleine
drum komm ich vor dem Mai.
Denn käm ich nicht alleine,
gingst du an mir vorbei !

Quelle: ???


 Marina antwortete am 02.05.06 (11:01):

Frühlingsglaube

Die linden Lüfte sind erwacht,
Sie säuseln und weben Tag und Nacht,
Sie schaffen an allen Enden.
O frischer Duft, o neuer Klang!
Nun, armes Herze, sei nicht bang!
Nun muß sich alles, alles wenden.

Die Welt wird schöner mit jedem Tag,
Man weiß nicht, was noch werden mag,
Das Blühen will nicht enden.
Es blüht das fernste, tiefste Tal:
Nun, armes Herz, vergiß der Qual!
Nun muß sich alles, alles wenden.

Ludwig Uhland


 Enigma antwortete am 02.05.06 (13:39):

Jetzt schwelgen wir aber...:-)

Hölty, Ludwig Christian (1748-1776)
Mailied

Der Anger steht so grün, so grün,
die blauen Veilchenglocken blühn
und Schlüsselblumen drunter.
Der Wiesengrund ist schon so bunt,
und färbt sich täglich bunter.
Drum, komme, wem der Mai gefälllt,
und freue sich der schönen Welt
und Gottes Vatergüte,
die diese Pracht hervorgebracht,
den Baum und seine Blüte.

vertont von Schubert


 Marina antwortete am 06.05.06 (09:40):

Siehe, auch ich - lebe

Also ihr lebt noch, alle, alle, ihr,
am Bach ihr Weiden und am Hang ihr Birken,
und fangt von neuem an, euch auszuwirken,
und wart so lang nur Schlummernde, gleich - mir.

Siehe, du Blume hier, du Vogel dort,
sieh, wie auch ich von neuem mich erhebe...
Voll innern Jubels treib ich Wort auf Wort...
Siehe, auch ich, ich schien nur tot. Ich lebe!

Christian Morgenstern


 Enigma antwortete am 06.05.06 (16:18):

Kurt Tucholsky, 1890 - 1935

Erst wollte ich mich dir in Keuschheit nahn.
Die Kette schmolz.
Ich bin doch schließlich, schließlich auch ein Mann,
Und nicht aus Holz.

Der Mai ist da. Der Vogel Pirol pfeift.
Es geht was um.
Und wer sich dies und wer sich das verkneift,
Der ist schön dumm.

Denn mit der Seelenfreundschaft ? liebste Frau,
Hier dies Gedicht
Zeigt mir und Ihnen treffend und genau:
Es geht ja nicht.

Es geht nicht, wenn die linde Luft weht und
Die Amsel singt ?
Wir brauchen alle einen roten Mund,
Der uns beschwingt.

Wir brauchen alle etwas, das das Blut
Rasch vorwärtstreibt ?
Es dichtet sich doch noch einmal so gut,
Wenn man beweibt.

Doch heller noch tönt meiner Leier Klang,
Wenn du versagst,
Was ich entbehrte öde Jahre lang ?
Wenn du nicht magst.

So süß ist keine Liebesmelodie,
So frisch kein Bad,
So freundlich keine kleine Brust wie die,
Die man nicht hat.

Die Wirklichkeit hat es noch nie gekonnt,
Weil sie nichts hält.
Und strahlend überschleiert mir dein Blond
Die ganze Welt.

:-))


 Marina antwortete am 07.05.06 (10:35):

Frühling

Über Hecken schaun bunte Sträuße
Apfelblüten, Schneeball und Syringen.
Blonde Mädels bummeln singend durch den Frühling.
Mit dem Goldstaub eines frühen Schmetterlings
spielt die Sonne.
Lerchen steigen jubelnd in den Äther.
In die Einsamkeit der Höhen flüchte ich
vor diesem lauten Feiern.
Unter mir im Glanz der Sonne
weitet sich das buntgeschmückte Land.
Doch bis zum höchsten Gipfel dringt ein Klingen,
leises Flüstern.
Immer stärker wird das Raunen
und zum Jauchzen wächst der Ruf
Frühling, Frühling!
Kehre traurig diesem Feste Pans den Rücken
und verkrieche mich im Dunkel schwarzer Tannen.

Hermann Harry Schmitz

Internet-Tipp: https://de.wikipedia.org/wiki/Hermann_Harry_Schmitz


 Enigma antwortete am 07.05.06 (16:51):

Ja Marina, den mag ich auch, den Hermann Harry Schmitz.
:-)

Und den hier kennt wahrscheinlich jeder:

Wilhelm Busch
Wer sich der Poesie vermählt...

Wie wohl ist dem, der dann und wann
Sich etwas Schönes dichten kann!
Der Mensch, durchtrieben und gescheit,
Bemerkte schon seit alter Zeit,
Daß ihm hienieden allerlei
Verdrießlich und zuwider sei...
Im Durchschnitt ist man kummervoll
Und weiß nicht, was man machen soll.-
Nicht so der Dichter.
Kaum mißfällt Ihm diese altgebackne Welt,
So knetet er aus weicher Kleie
Für sich privatim eine neue
Und zieht als freier Musensohn
In die Poetendimension,
Die fünfte, da die vierte jetzt
Von Geistern ohnehin besetzt.
Hier ist es luftig, duftig, schön,
Hier hat er nichts mehr auszustehn...
So auch der Dichter.- Stillbeglückt
Hat er sich was zurechtgerdrückt
und fühlt sich nun in jeder Richtung
Befriedigt durch die eigne Dichtung.
Doch guter Menschen Hauptbestreben
Ist, andern auch was abzugeben.
Der Dichter, dem sein Fabrikat
Soviel Genuß bereitet hat.
Er sehnt sich sehr, er kann nicht ruhn,
Auch andern damit wohlzutun;
Und muß er sich auch recht bemühn,
Er sucht sich wen und findet ihn;
Und sträubt sich der vor solchen Freuden,
Er kann sein Glück mal nicht vermeiden...
Und rauschend öffnen sich die Spalten
Des Manuskripts, die viel enthalten.
Die Lippe sprüht, das Auge leuchtet...
"Vortrefflich!" ruft des Dichters Freund;
Dasselbe, was der Dichter meint;
Und, was er sicher weiß zu glauben,
Darf sich doch jeder wohl erlauben.
Wie schön, wenn dann, was er erdacht,
Empfunden und zurechtgemacht...
Oh, wie beglückt ist doch ein Mann,
Wenn er Gedichte machen kann!


Vorausgesetzt, dass sie sich trauen,
wären sicher auch beglückt die Frauen. :-))


 Marina antwortete am 07.05.06 (23:24):

Ja, und das Copyrightgesetz
und Geldabschneider hier im Netz
macht Frauen wieder kreativ,
so dass der Musenkuss sie rief
zu finden selber einen Reim,
und holde Dichtkunst, oh wie fein,
erblühet neu aus ihrer Feder
und drängt hinaus aus dem Katheder,
will sich entfalten wie die Blüte
des Frühlings, dienen dem Gemüte,
auf dass es fröhlich darf genesen
von deutschem Abmahnerunwesen.
Denn merke: eigner Dichtung Kunst
versagt dem Abmahner die Gunst.
Nicht möglich ist’s dem Beutelschneider
zu schröpfen mich für Werke meiner
Hirnwindungen, dortselbst entsprungen,
und mühsam daraus abgerungen.
Drum freut euch, denn das Abmahnwesen
kann gerne meine Werke lesen,
verdient nichts an dem eignen Geist,
der größte Ärger hier ist meist,
dass es vergeblich sucht nach Beute,
denn im ST die böse Meute
versagt ihm unehrlichen Lohn
und überschüttet es mit Hohn.

:-)))


 mea antwortete am 08.05.06 (00:05):


Hallo Marina !

Super !! Dein Gedicht ! richtig so !

Ich bringe hier ein's von meinem Mann ,
da hab ich ja das Urheberrecht .

Frühlingserwachen !

Das Land ist wie mit grünem Flaum bezogen .
Die leichte Briese ist schon richtig lau .
Und hat mein Blick mich nicht getrogen
Seh' ich dazwischen Farben , gelb und blau .
Die ganze Scala seh' ich schon ,
Wie zufällig mit leichter Hand gemacht .
Ich sehe Farben hier in jedem Ton ,
Ein Anblick , daß mein Herz vor Freude lacht .
Vom Himmelsdom hör' ich es zart ertönen ,
Noch etwas zaghaft ist der Lerche Sang ,
Ich muß mich erst daran gewöhnen ,
Ein Falter taumelt dort die Wiese lang .
Glückstrunken werf' ich mich in die Arme
Der grad' erwachten Mutter Erde
Und blinzle in die Sonn' , die warme ,
Hoffend , daß endlich Frühling werde .


 Enigma antwortete am 08.05.06 (08:54):

Na also!

Aber Ihr habt vergessen, Euer Copyright-Zeichen anzugeben. :-)))

Joachim Ringelnatz
Zu einem Geschenk

Ich wollte Dir was dedizieren
Nein, schenken; was nicht zuviel kostet,
Aber was aus Blech ist, rostet
Und die Messinggegenstände oxydieren.
Und was kosten soll es eben doch.
Denn aus Mühe mach ich extra noch
Was auch hinzu, auch kleine Witze.
Wär' bei dem, was ich besitze,
Etwas Altertümliches dabei
Doch was nützt Dir meine Lanzenspitze!
An dem Bierkrug sind die beiden
Löwenköpfe schon entzwei
Und den Buddha mag ich selber leiden.
Und du sammelst keine Schmetterlinge
Die mein Freund aus China mitgebracht.
Nein das Sofa und so große Dinge
Kommen überhaupt nicht in Betracht.
Außerdem gehören sie nicht mir.
Ach, ich hab' die ganze letzte Nacht
Rumgegrübelt, was ich Dir
Geben könnte. Schlief deshalb nur eine
Allerhöchstens zwei von sieben Stunden,
Und zum Schluß hab' ich doch nur dies kleine
Lumpige beschißne Ding gefunden.
Aber gern hab ich für dich gewacht.
Was ich nicht vermochte, tu du's: Drücke du
Nun ein Auge zu.
Und bedenke
Daß ich Dir fünf Stunden Wache schenke.
Laß mich auch in Zukunft nicht in Ruh


 Marina antwortete am 08.05.06 (19:14):


Frühling der Seele

Aufschrei im Schlaf; durch schwarze Gassen stürzt der Wind,
Das Blau des Frühlings winkt durch brechendes Geäst,
Purpurner Nachttau und es erlöschen rings die Sterne.
Grünlich dämmert der Fluß, silbern die alten Alleen
Und die Türme der Stadt. O sanfte Trunkenheit
Im gleitenden Kahn und die dunklen Rufe der Amsel
In kindlichen Gärten. Schon lichtet sich der rosige Flor.

Feierlich rauschen die Wasser. O die feuchten Schatten der Au,
Das schreitende Tier; Grünendes, Blütengezweig
Rührt die kristallene Stirne; schimmernder Schaukelkahn.
Leise tönt die Sonne im Rosengewölk am Hügel.
Groß ist die Stille des Tannenwalds, die ernsten Schatten am Fluß.

Reinheit! Reinheit! Wo sind die furchtbaren Pfade des Todes,
Des grauen steinernen Schweigens, die Felsen der Nacht
Und die friedlosen Schatten? Strahlender Sonnenabgrund.

Schwester, da ich dich fand an einsamer Lichtung
Des Waldes und Mittag war und groß das Schweigen des Tiers;
Weiße unter wilder Eiche, und es blühte silbern der Dorn.
Gewaltiges Sterben und die singende Flamme im Herzen.

Dunkler umfließen die Wasser die schönen Spiele der Fische.
Stunde der Trauer, schweigender Anblick der Sonne;
Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden. Geistlich dämmert
Bläue über dem verhauenen Wald und es läutet
Lange eine dunkle Glocke im Dorf; friedlich Geleit.
Stille blüht die Myrthe über den weißen Lidern des Toten.

Leise tönen die Wasser im sinkenden Nachmittag
Und es grünet dunkler die Wildnis am Ufer, Freude im rosigen Wind;
Der sanfte Gesang des Bruders am Abendhügel.

Georg Trakl


 Enigma antwortete am 09.05.06 (17:54):

Danke, Marina

Und jetzt komme ich auch mit einer Mehrfachbegabung, die nicht neu ist, aber für mich doch interessant:

William Blake:

The Garden of Love
I went to the Garden of Love,
And saw what I never had seen;
A Chapel was built in the midst,
Where I used to play on the green.
And the gates of this Chapel were shut
And "Thou shalt not," writ over the door;
So I turned to the Garden of Love
That so many sweet flowers bore.
And I saw it was filled with graves,
And tombstones where flowers should be;
And priests in black gowns
were walking their rounds,
And binding with briars
my joys and desires.



William Blake:
Der Garten der Liebe

Ich begab mich zum Garten der Liebe
und sah, was noch nie ich gesehn:
Eine Kirche gebaut in der Mitte,
wo ich pflegte zum Spielen zu gehn.
Und die Pforte der Kirch' war verschlossen
und "Du Sollst Nicht" graviert überm Tor;
So ging ich zum Garten der Liebe,
wo Blumen blühten zuvor.
Und ich sah ihn gefüllt mit Gräbern
und statt Blumen Grabsteine nur,
wo schwarze Pastoren,
dem Rundgang verschworen,
mit Dornen verstricken
mein Lust und Entzücken.
Übersetzt von Walter A. Aue

Hier kann man etwas mehr über den Übersetzer erfahren:
https://myweb.dal.ca/waue/index.html

Und hier sind Kopien des Malers (und auch Kupferstechers) Blake zu bewundern:
https://www.reproarte.com/K%c3%bcnstler/William_Blake/index.html
Davon gefallen mir schon einige, und nicht nur wegen des materiellen Wertes.

Wer noch mehr über Blake wissen will - she. Internet-Tipp! -

Internet-Tipp: https://www.william-blake.de/


 Marina antwortete am 15.05.06 (18:17):

In einem anderen Thread ist von Flüchtlingen, Asylanten und der "Saat des Fremdenhasses" die Rede. Aus diesem Anlass möchte ich ein Gedicht von Brecht einstellen. Auch er war im Exil wie viele andere Deutsche, die in unseligen Zeiten in anderen Ländern ihre Zuflucht fanden.

Über die Bezeichnung Emigranten (1937)

Immer fand ich den Namen falsch, den man uns gab: Emigranten.
Daß heißt doch Auswanderer. Aber wir
Wanderten doch nicht aus, nach freiem Entschluß
Wählend ein anderes Land. Wanderten wir doch auch nicht
Ein in ein Land, dort zu bleiben, womöglich für immer.
Sondern wir flohen. Vertriebene sind wir, Verbannte.
Und kein Heim, ein Exil soll das Land sein, das uns aufnahm.
Unruhig sitzen wir so, möglichst nahe den Grenzen
Warten des Tags der Rückkehr, jede kleinste
Veränderung
Jenseits der Grenze beobachtend, jeden Ankömmling
Eifrig befragend, nichts vergessend und nicht aufgebend
Und auch verzeihend nichts, was geschah, nichts verzeihend.
Ach, die Stille der Stunde täuscht uns nicht! Wir hören die Schreie
Aus ihren Lagern bis hierher. Sind wir doch selber
Fast wie Gerüchte von Untaten, die da entkamen
Über die Grenzen. Jeder von uns
Der mit zerissenen Schuhn durch die Menge geht
Zeugt von der Schande, die jetzt unser Land befleckt.
Aber keiner von uns
Wird hier bleiben. Das letzte Wort
ist noch nicht gesprochen.

Bertolt Brecht


 Enigma antwortete am 15.05.06 (18:56):

Da passen auch diese Überlegungen:

Brecht:
GEDANKEN ÜBER DIE DAUER DES EXILS

I

Schlage keinen Nagel in die Wand
Wirf den Rock auf den Stuhl
Warum vorsorgen für vier Tage?
Du kehrst morgen zurück.

Laß den kleinen Baum ohne Wasser.
Wozu noch einen Baum pflanzen?
Bevor er so hoch wie eine Stufe ist
Gehst du froh weg von hier.

Zieh die Mütze ins Gesicht, wenn Leute vorbeigehn!
Wozu in einer fremden Grammatik blättern?
Die Nachricht, die dich heimruft
Ist in bekannter Sprache geschrieben

So wie der Kalk vom Gebälk blättert
(Tue nichts dagegen!)
Wir der Zaun der Gewalt zermorschen
Der an der Grenze aufgerichtet ist
gegen die Gerechtigkeit.

II

Sieh den Nagel in der Wand, den du eingeschlagen hast:
Wann, glaubst du, wirst du zurückkehren?
Willst du wissen, was du im Innersten glaubst?

Tag um Tag
Arbeitest du an der Befreiung
Sitzend in der Kammer schreibst du.

Willst du wissen, was du von deiner Arbeit hältst?
Sieh den kleinen Kastanienbaum im Eck des Hofes
Zu dem du die Kanne voll Wasser schlepptest!


 Marina antwortete am 16.05.06 (19:15):

Danke Enigma, zwischen diesen beiden Gedichten hatte ich geschwankt, welches ich einstellen soll. So haben wir sie nun beide. :-)
Hier kommt noch ein Exilautor:

Kleines Gespräch
mit unerwartetem Ausgang

"Der Herrgott saß auf Wolkenkissen
und sah sich seine Erde an.
Was braust herauf? Sieh da, das is'n
Aeroplan.

Ein Offzier grüßt freundlich lächelnd.
'Gestatten! Schwaben Nummer Vier!'
- und die Propeller surren fächeln -
'Wir sind nu hier!'

Was sagen Sie zu unserm Siege?
Wir brachen spielend den Rekord.
Wozu? Wir brauchen das zum Kriege...'
'Zum Krieg? Zum Mord!'

'Erlauben Sie, Sie sind zu schwächlich...'
'Und wer gab euch das viele Geld -?'
'Das Volk! Das Volk war es hauptsächlich
Vom Rhein zum Belt.'

'Das Volk? Hat es so krumme Nacken?
Ist denn bei euch das Volk so dumm?'
Hier lachte Gott aus vollen Backen.
Man kippte um."

Kurt Tucholsky


 Enigma antwortete am 17.05.06 (08:19):

Danke Marina,

auch vor 1933- 1945 haben ja Deutsche ihr Land verlassen (müssen), u.a. Georg Herwegh und auch sein ursprüngliches Vorbild Heinrich Heine, mit dem die Herweghs später in Paris soziale Kontakte pflegten.
Von Heine haben wir hier schon viel gelesen.
Von Herwegh möchte ich das folgende Gedicht einstellen:

O Freiheit, Freiheit
Freiheit, Freiheit! Nicht wo Hymnen schallen,
In reichgeschmückten fürstlichen Arkaden -
Freiheit! Du wohnst an einsamen Gestaden
Und liebst die Stille, wie die Nachtigallen.
Du fliehest das Geräusch der Marmorhallen,
Wo trunkne Schlemmer sich im Weine baden,
Du läßt in Hütten dich zu Gaste laden,
Wo Tränen in die leeren Becher fallen.
Ein Engel nahst du bei verschlossnen Türen,
Stellst lächelnd dich an deiner Treuen Bette
Und horchst der himmlischen Musik der Kette.
Nicht stolze Tempel wollen dir gebühren,
Drin wir als Opfer unsern Stolz dir bieten -
Wärst du die Freiheit, wenn wir vor dir knieten?

Georg Herwegh

Mehr über das Leben und Wirken von Herwegh she. Internet-Tipp!

Internet-Tipp: https://www.schule.de/schulen/GHO/fachbereiche/deutsch/herwegh.htm


 Marina antwortete am 17.05.06 (10:45):

Ja Enigma, gut, dass Du darauf hinweist, dass es Verfolgung und Gründe zur Flucht schon vorher gab. Dann stelle ich noch ein Gedicht von Georg Weerth ein, der wie Herwegh und Heine zu den Dichtern des Vormärz gehörte und vorübergehend wegen seines sozialistischen Engagements inhaftiert wurde.

Die deutschen Verbannten in Brüssel

Und in den Kaffeehäusern von Brüssel,
Da saßen sie und weinten
Und hingen die Paletots an die Wände
Und tranken Mokka mit Zucker und Kognak
Und seufzten und jammerten sehr - wenn
Dein sie gedachten, germanische Heimat!

Verbannte waren's. Der Zorn des
Sechsunddreißigeinigen deutschen
Bundestag-Gottes verstieß sie -
Stieß sie hinaus, die Geächteten,
Lieblos hinaus in des Auslands
Weiche, sammetgepolsterte Sessel.

Sinnend schaut ich sie oft; und entsetzt dann
Hört ich, wie laut sie zu klagen
Erhoben: "O weh uns! Nimmer
Essen wir jetzt mehr deinen
Pumpernickel, Westfalen! und
Posen, deine Kapusta!

Nicht mehr rauschen die Fichten uns deiner
Seligen Steppen, o Uckermark! Nicht mehr
Fühlen den Biß wir deiner
Kasernen-Wanzen, o Preußen! Und nicht mehr
Sinken entzückt wir an deine
Gänsebrüste, ambrosisches Pommern!

Nicht mehr tönet der Männer der
Bernsteinküst liberales Gejammer
Erfreulich ins Ohr uns! - Nicht mehr
Werden wir Dome erbaun und
Betrinken mit euch uns, ihr
Heiligen Kölner!

Ferne die Heimat! Ferne ja alles, was
Reiz noch dem Leben verlieh und das Dasein
Köstlich machte - und traurig
Sitzen wir, ach, wir großen, blonden
Teutonen nun unter den kleinen
Bräunlichen Belgiern!

Müssen Burgunder trinken und
Leid'gen Champagner und Austern
Essen, Ostender, Fasanen und tête de
Veau en tortue und was sonst noch
Bietet die Fremde an kaum wohl
Genießbaren Sachen!

Müssen statt lieblich deutscher
Vergißmeinnicht-Kinder des Auslands
Schwarzumlockte brennende
Rosen jetzt küssen und
Tanzen Cancan am Sabbat, wo sonst wir
Brünstig gebetet in Odins ragenden Tempeln.

Müssen allein jetzt wandern den dorn'gen
Lebensweg, nicht länger bewacht von
Väterlichen Gendarmen, die gern uns
Stets daheim geschützt vor der Pest
Moderner Ideen und
Hochverrätrischer Tollheit!

Ach! Verlassen sind wir; und ihr nur
Nehmet noch Anteil an uns, ihr teuren
Vaterländ'schen Spione und du, o
Repräsentant der preuß'schen Nation, du
Hehrer, gewaltiger Graf, du
Henckel von Donnersmarck!!" -

Also sangen sie wohl in Brüssel, die
Deutschen Verbannten; - ich hört sie
Klagen im Café des Arts und
Im Café Suisse und im Café der Tausend
Säulen - und Wehmut
Drang durch die liebende Brust mir.

Georg Weerth (1822-1856)

Mehr über ihn hier:

Internet-Tipp: https://de.wikipedia.org/wiki/Georg_Weerth


 Enigma antwortete am 17.05.06 (16:56):

Gefällt mir gut, Marina, sowohl das Gedicht als auch die Information per Internet-Tipp!


Jetzt komme ich aber wieder auf eine ganz andere Schiene.
Der Name Fritz Eckenga ist sicher ziemlich bekannt.
Mir gefallen einige seiner Gedichte sehr gut.
Und nachdem ich heute um 10.50 Uhr im Radio (WDR 2 - Kabarett) ihn und seinen “Fußballmanager A” hören konnte, kam ich auf die Idee, Herrn Eckenga anzuschreiben und ihn um Erlaubnis zum Einstellen von Gedichten hier im Seniorentreff zu bitten.
Ich schrieb um 11.08 Uhr und um 12.54 hatte ich seine Antwort und die Erlaubnis, die übrigens sehr, sehr nett formuliert war .
Er schickte mir zwei Gedichte mit.
Das erste passt in ein Seniorenforum sicher besonders gut, stammt aus seinem neuesten Buch und heißt: “Das Methusalem-Kompott” :-)):

Das Methusalem-Kompott

Wer wird warten, wenn ich gehe?
Wer wird gehen, wenn ich bleib?
Wer wird schieben, wenn ich stehe?
Wer wird lesen, wenn ich schreib?

Wer wird mich im Knast besuchen,
respektiv Seniorenstift?
Wer backt mir nen Marmorkuchen?
Wer hilft mir in‘ Treppenlift?

Wer reicht mir die Schnabeltasse?
Wer spielt mit mir dressed to kill?
Wer schiebt mich auf die Terrasse,
wenn ich eine rauchen will?

Wer bringt mir den Stuhl mit Pfanne,
hebt mich trotz der Flatulenz,
samstags in die Badewanne,
für die Fußballkonferenz?

Sechzehn Zeilen letzte Fragen.
Och, das ging ja ganz schön flott.
Muss noch einen Titel tragen:
Das Methusalem-Kompott.

So – jetzt noch die Rechnung schicken:
info@imalterfit.
Macht dreihundert schlanke Mücken,
speichern, senden, weg damit!

Honorar – und niemals Rente!
Bis zum letzten Altersreim!
Nichts Püriertes! Nur al dente!
Kommt mir nicht mit Haferschleim!

Fritz Eckenga




Das zweite hat mit Fußball zu tun (ich hatte um ein Fußballgedicht gebeten):
Und das geht so:

Herrgott, hilf Horst!

Lass uns tiefe Räume finden,
lass uns eng und sicher stehn,
lass die Kräfte uns nicht schwinden,
lass uns freie Männer sehn.

Lass uns hinten keinen kriegen,
mach, dass uns das Glück mal lacht,
lass uns heute vorne liegen,
mach, dass Horst heut einen macht.

Horst traf sonst aus allen Lagen,
links wie rechts und früh wie spät.
Trifft heut keinen Möbelwagen,
wenn er direkt vor ihm steht.

Horst hat jetzt seit dreizehn Wochen,
keinen für uns reingehaun,
Horst hat voll die Pest am Knochen,
ist nur noch am Scheiße baun.

Herrgott, Horst darf nicht versieben!
Gib ihm eine Möglichkeit!
Loben wolln wir Dich und lieben:
Hoch die Tür, das Tor mach weit!

Fritz Eckenga


Beide Gedichte aus::
"Du bist Deutschland? Ich bin einkaufen", Edition Tiamat, Berlin 2006.

Und hier kann, wer will, hören, was er heute in der “Westzeit” zu sagen hatte:
https://www.wdr.de/radio/wdr2/westzeit/kabarett/151942.phtml


Internet-Tipp:

Internet-Tipp: https://www.eckenga.de/


 Marina antwortete am 18.05.06 (15:50):

Wunderbar, danke Enigma. Köstlich auch der Titel seines neuen Buches „Du bist Deutschland? Ich bin Einkaufen“. Immer am Puls der Zeit. :-)

Und dass Du Dir die Mühe machst, die Leute anzuschreiben, finde ich wirklich sehr verdienstvoll. Da ich mich dazu nicht aufraffe, muss ich wegen der Abmahnhaie wieder etwas Gesetzteres einstellen. :-) Hier etwas von Johann Christian Günther, das, wie ich meine, auch schon fast satirische Qualitäten hat:


Auf die Verstellung derer Frauenzimmer

Mädchen, stellt euch nicht so spröde
Und entflieht uns nicht so fern!
Scheint gleich euer Antlitz blöde,
Hat es doch das Herze gern.
Küßt man euch, so heißt es dahlenTändeln, albern sein;
Ich versteh wohl, das sind Schalen,
Darum wollt ihr nur den Kern.

Wenn wir etwan Rosen brechen
Und in Busen stehlen gehn,
Wollt ihr flugs mit Nadeln stechen
Und den Galgen gleich erhöhn;
Ja, ihr flucht wohl um die Wette
Und entlauft uns bis zum Bette,
Nur damit wir schärfer stehn.

Meint nicht, daß es niemand merke,
Wie es euch geheim verdreußt,
Wenn man zu dem süßen Werke
Gar zu fromm und christlich heißt;
Denn da könnt ihr bei den Schwestern
Dessen Einfalt gut verlästern,
Der sich gar zu feig erweist.

Wenn ihr uns den Mund entrücket,
Wollt ihr nur gezwungen sein,
Wenn man den nun ernstlich drücket,
Hört man keine Feuer schrein.
Kurz, ihr pfleget in dem Lieben
Nie kein Wasser zu betrüben,
Sondern plumpt mit uns hinein.

Johann Christian Günther (1695-1723)


 Enigma antwortete am 19.05.06 (07:28):

Liebe Marina,

ich stelle gerne auch etwas "Gesetzteres" ein, besonders, wenn es so nett ist wie das Gedicht von Johann Christian Günther. Glücklicherweise finde ich auch viele Sachen schön von Dichtern, die nicht (mehr) dem Urheberrecht unterliegen. :-)

Und so antworte ich Günther jetzt mit Günther: :-))

Die verworfene Liebe
Ich habe genug.
Lust, Flammen und Küße
Sind giftig und süße
Und machen nicht klug.
Komm, selige Freyheit und dämpfe den Brand,
Der meinem Gemüte die Weisheit entwand.
Was hab ich getan!
Jetzt seh ich die Triebe
Der törichten Liebe
Vernünftiger an;
Ich breche die Fessel, ich löse mein Herz
Und hasse mit Vorsatz den zärtlichen Schmerz.
Was quält mich vor Reu?
Was stört mir vor Kummer
Den nächtlichen Schlummer?
Die Zeit ist vorbei.
O köstliches Kleinod, o teurer Verlust!
O hätt ich die Falschheit nur eher gewußt!
Geh, Schönheit, und fleuch!
Die artigsten Blicke
Sind schmerzliche Stricke;
Ich mercke den Streich.
Es lodern die Briefe, der Ring bricht entzwei
Und zeigt meiner Schönen: Nun leb ich recht frei.
Nun leb ich recht frei
Und schwöre von Herzen,
Daß Küssen und Scherzen
Ein Narrenspiel sei;
Denn wer sich verliebet, der ist wohl nicht klug.
Geh, falsche Syrene, ich habe genug!
Johann Christian Günther
(1695-1723)


 Marina antwortete am 20.05.06 (13:32):

Seepferdchen

Als ich noch ein Seepferdchen war,
Im vorigen Leben,
Wie war das wonnig, wunderbar
Unter Wasser zu schweben.
In den träumenden Fluten
Wogte, wie Güte, das Haar
Der zierlichsten aller Seestuten
Die meine Geliebte war.
Wir senkten uns still oder stiegen,
Tanzten harmonisch umeinand,
Ohne Arm, ohne Bein, ohne Hand,
Wie Wolken sich in Wolken wiegen.
Sie spielte manchmal graziöses Entfliehn
Auf dass ich ihr folge, sie hasche,
Und legte mir einmal im Ansichziehn
Eierchen in die Tasche.
Sie blickte traurig und stellte sich froh,
Schnappte nach einem Wasserfloh,
Und ringelte sich
An einem Stengelchen fest und sprach so:
Ich liebe dich!
Du wieherst nicht, du äpfelst nicht,
Du trägst ein farbloses Panzerkleid
Und hast ein bekümmertes altes Gesicht,
Als wüsstest du um kommendes Leid.
Seestütchen! Schnörkelchen! Ringelnass!
Wann war wohl das?
Und wer bedauert wohl später meine restlichen Knochen?
Es ist beinahe so, dass ich weine -
Lollo hat das vertrocknete, kleine
Schmerzverkrümmte Seepferd zerbrochen.

Joachim Ringelnatz: (1883 - 1934)


 Enigma antwortete am 22.05.06 (08:59):

Antonin Sova (1864-1928)
Teiche

Die Teiche Böhmens sind wie Silberschalen,
Gebettet in das satte Grün der Auen,
Auf ihre Spiegel Wolkenschatten fallen.
Wie traumverschleiert sanfte Augen schauen
Die Schnepfe klagt im Röhricht nah dem Rande,
Und Enten Regenbogenflügel breiten,
Gereckt den Hals mit kupfergrünem Bande,
Entflirrt der Zug in sonndurchglühte Weiten.
Der Kalmus atmet: lau und linde steigen
Die Grummetdüfte nach dem heißen Tage,
In sanftgekühlten Wellen schwingt das Schweigen.
Und etwas seufzt darin wie die ewige Klage.

(Ü.: Paul Eisner)


 Literaturfreund antwortete am 22.05.06 (09:41):

Enigma: Dank für den Hinweis auf Antonín Sova.
Ich fand eine reimlose Übersetzung der „Teiche“.

Antonín Sova: Teiche
(Übersetzung von Josef Mühlberger)

Die Teiche Böhmens sind geschmolznes Silber,
das aus den Schatten unter Wolken funkelt;
gebettet in das satte Grün der Wiesen,
sind sie der Landschaft friedvoll stille Augen.
Die Schnepfe wehklagt aus dem Schilf des Ufers,
die Wasserente tändelt mit den Regenbogenfarben
in ihrem grünlich schimmernden Gefieder
und schwingt sich in den glühnden Sonnenstaub der Weite;
im herben Duft des Kalmus steigt die Kühle,
weht mit dem süßen Hauch des Grummets übers Land,
der kühle Frieden atmet in den Wellen,
und etwas steigt daraus wie ew'ge Wehmut.
*
(Aus: Linde und Mohn. Tschechische Lyrik aus 1000 Jahren. Übertragen von Josef Mühlberger. Nürnberg 1962. S. 41)


 Enigma antwortete am 22.05.06 (10:25):

Hallo Literaturfreund,

die von Dir eingestellte Übersetzung ist auch sehr, sehr schön.
Hast Du zufällig auch ein Gedicht von Jan Neruda (nach dem Pablo Neruda sich benannt hat)?
Leider ist es mir bisher nicht gelungen, im "Netz" etwas zu finden.

Danke und Gruß
Enigma


 Literaturfreund antwortete am 22.05.06 (12:59):

JAN NERUDA: IM LAND DES KELCHES
(Übersetzt von Josef Mühlberger)

Anderswo scheint die Sonne - bei uns ist's kalt.
Anderswo weht ein Wind - bei uns ist Sturm erwacht.
Anderswo ist man fröhlich und wird gelacht,
unserem Herzen tut das Leid Gewalt.

O Gott, wie herb schufst da unser Land!
Herb ist der Acker, hart des Bauern Hand,
herb die Berge, die Täler können nie fröhlich sein,'
herb sind die Felder, herb unser Wein,
herb was gewesen, erinnern fällt schwer,
herb die Zukunft, hoffnungsleer,
herb das Lied des Volkes, herb unsre Rede geht,
herb unsrer Lippen Fluch, und bitter das Gebet.

Nirgendwo anders konnte die wunderliche Legende entstehn:
Zur weißen Kapelle im Waldtal siehst du Herrn Jesus gehn,
täglich liest er dort die heilige Messe allein.
Die Glocke klingt von selbst. Die Winde singen.
Täglich opfert sich Herr Jesus aufs neue in Brot und Wein.

Nirgendwo anders konnte diese Legende entstehn
als im Land, wo Tod und Hoffnung sich vereinten,
in dem herben Land, wo ringsum die Höhn
zum Kelch der Bitternis versteinten.
*
Jan Nerudas (1834-1891) Gedicht »Im Land des Kelches« steht in dem Gedichtband »Friedhofsblumen« (1858) und ist der Ausdruck des Schmerzes über die nationale Unfreiheit.
Das Sinnbild des Kelches ist ein religiöses und politisches Symbol: es ist der husitischen Bewegung entnommen, der Antwort auf die größte tschechische Demütigung; doch wird es zugleich Sinnbild des Leidens schlechthin. Traditionell Volkstümliches verbindet sich hier wie so oft bei den Tschechen mit Religiösem und Sozialem.
*
Man findet tatsächlich keine Gedichte vom Neruda im Netz!


 Enigma antwortete am 22.05.06 (16:25):

Danke, Literaturfreund!

Ein ehemaliger Chef war immer der Ansicht, dass man nicht alles wissen könnte, aber wissen müßte, wer es weiß.....:-))
Das hat sich mal wieder bewahrheitet!

Jetzt kenne ich zumindest ein Gedicht von Jan Neruda,dessen Kurzbiografie ich vorher gelesen hatte.

Das Gedicht klingt schon sehr resigniert oder schicksalsergeben für mich. Was für eine Formulierung:"...
Nirgendwo anders konnte diese Legende entstehn als im Land, wo Tod und Hoffnung sich vereinten....".
Danke noch einmal!

Und jetzt komme ich - herum um die Tschechen - :-)) zurück auf das schöne Gedicht, das Marina eingestellt hat, und in Anbetracht der kommenden Weltmeisterschaft lasse ich Ringelnatz auch was zum Thema Fußball sagen:

Ringelnatz, Joachim (1883-1934)
Fußball

Wo sind die Beine von Schulze?
Wem gehört denn das Knie?
Wirr wie lebendige Sulze
Mengt sich die Anatomie.
Ist das ein Kopf aus Australien?
Oder Gesäß aus Berlin?
Jeder versucht Repressalien,
Jeder läßt keinen entfliehn.
Hat sich der Schiedsrichter bemeistert,
Lange parteilos zu sein;
Aber nun brüllt er begeistert:
"Schulze, stell ihm ein Bein!"
Kannst du dich über ihn werfen
Just wie im Koi, dann tu's.


 Marina antwortete am 23.05.06 (15:09):

Wieder etwas gelernt. Jan Neruda kannte ich nicht.
Sehr witzig, das Fußball-Gedicht. ob das der Lehmann vor kurzem gelesen hat? :-)

Hier ein Gedicht, das ich zufällig beim Googeln auf der Suche nach Gedichten entdeckt habe, vielleicht ähnlich melancholisch wie Jan Neruda:

Schwarzer Stein auf weißem Stein

Ich werde sterben in Paris, mit Wolkenbrüchen,
schon heut erinnre ich mich jenes Tages.
Ich werde sterben in Paris, warum auch nicht,
an einem Donnerstag vielleicht, wie heut, im Herbst.

Ein Donnerstag wird sein; denn heut, am Donnerstag,
da ich dies sage, tun mir meine Knochen weh;
noch nie wie heute hab ich mich allein
und meinen Weg erblickt von unserm Ende her.

Tot ist César Vallejo. Eingeschlagen
habt ihr auf ihn. Er hat euch nichts getan.
Mit einem Stock gabt ihr ihm Saures, Saures

mit einem Tau. Die Donnerstage
sind seine Zeugen, Zeugen seine Knochen,
der Regen, die Verlassenheit, die Strassen ...

César Vallejo
(übersetzt von H.M. Enzensberger)

Und hier noch ein Artikel über Vallejo:

Internet-Tipp: https://www.matices.de/22/22rvalle.htm


 Enigma antwortete am 23.05.06 (17:00):

Hallo Marina,

nicht nur der Jens Lehmann hat das gelesen, sondern wahrscheinlich auch viele andere Fußballer! Aber der Lehman sicher auch.;-))

Da hast du aber gut gesucht!
Ein oder zwei Gedichte von César Vallejo kannte ich von einer Seite von J. Beilharz, einem Deutschen, der selbst schreibt und auch übersetzt. Ich suche mal den Link.
Der von Dir eingegebene ist wirklich sehr informativ.
Danke!
Ja, Du hast recht. Das Gedicht ist sehr melancholisch.....

In der Zwischenzeit habe ich noch einmal über Jan Neruda nachgedacht und möchte noch einmal kurz auf ihn zurückkommen.
Inzwischen denke ich nämlich, dass, wenn er auch sein Land und dessen Situation nicht idealisierte, sondern realistisch beschrieb, er doch, als Person, als Literat, als Journalist, nicht resignierte, sondern - ganz im Gegenteil - versuchte, den Menschen immer nahe zu sein, wie seine folgende Aussage zeigt:
"Es ist vor allem notwendig, daß wir lernen, die Menschen zu verstehen, daß wir ihre Nöte, Ihre Freuden und Leiden studieren, wir brauchen also z.B. in der Hauptsache getreue Erzählungen aus dem Leben, Bilder von Menschen aller Schichten, Sammlungen wahrhaftiger Beispiele einer nicht erdachten und wirklichen Erfahrung."
(Diesen Satz habe ich natürlich irgendwo abgeschrieben).:-))
War es so, dass ihn also das wirklich leidvolle Schicksal seines Landes mit den ständig wechselnden Machtverhältnissen traurig machte, nicht aber „das Leben und die Menschen an sich“?
Ich weiß es natürlich auch nicht, und er kann es uns nicht mehr sagen....

Seine'Kleinseitner Geschichten' habe ich mir inzwischen bestellt (gab`s gebraucht und günstig bei Amazon), weil ich sehr neugierig bin auf diese Schilderungen ,die eine liebevolle Beschreibung des Alltags von Prager Bürgern sein sollen.

Und damit hier auch ein Gedicht steht, stelle ich eines von Jiri Wolker ein, dessen Werke nicht mehr dem Urheberrechtsschutz unterliegen, weil er - leider - früh verstorben ist.:

Der Briefkasten

Der Briefkasten an der Straßenecke
ist nicht einfach irgendein Ding.
Er blüht blau,
und alle Leute sind ihm zugetan,
vertrauen sich ihm gänzlich an,
werfen Briefe hinein von zwei Seiten,
von der einen die traurigen, von der andern die heitren.
Die Briefe sind weiß wie Blütenstaub
und warten auf Züge, auf Schiffe und auf einen Menschen,
daß er sie in die Fernen ausstreut wie Hummel und Wind,
dorthin, wo Herzen sind,
roten Blütennarben,
versteckt in rosiger Hülle.
Und ist ein Brief am Ziele,
wachsen Früchte drauf,
süße oder herbe.
Jiri Wolker


Mehr zu Jiri Wolker - she. Internet-Tipp! -
Und durch diesen Link bin ich auch weitgehend auf “die Tschechen” gekommen.

Internet-Tipp: https://www.vykoupil.de/homewalkts_frame.htm


 Enigma antwortete am 23.05.06 (17:22):

Nachstehend ein weiteres Gedicht von Vallejo und die versprochene Fundstelle. Dort findet man noch viele Gedichte von ausländischen Poeten, teils in deutscher Übersetzung, teils in der Originalsprache:

CÉSAR VALLEJO

ES GIBT IM LEBEN SO SCHWERE SCHLÄGE
Es gibt im Leben so schwere Schläge ... ich kanns nicht verstehn.
Schläge wie Gottes Zorn. Als ob vor ihnen alles,
das Treibgut jedes Leids,
in den Brunnen der Seele schwemmte ...! Ich kanns nicht verstehn.
Es kommt selten. Aber es kommt ... sie öffnen tiefe Gräben
im stolzesten Gesicht und auf dem stärksten Rücken.
Vielleicht sind sie die Rosse barbarischer Attilas
oder die schwarzen Boten, die der Tod uns schickt.
Sie sind der tiefe Fall des Christus in unsrer Seele,
eines angebeteten Glaubens, den das Geschick beschimpft.
Diese blutigen Schläge sind das Knistern eines
Brotes, das in der Tür des Ofens uns verbrennt.
Und der Mensch ... so arm ... so arm! Er hebt die Augen
wie einer, der eine Hand auf der Schulter fühlt,
er hebt die irren Augen, und alles, was er gelebt hat
staut sich im Schacht des Blicks wie eine Pfütze von Schuld.
Es gibt im Leben so schwere Schläge ... ich kanns nicht verstehn.

Internet-Tipp: https://www.jbeilharz.de/


 Marina antwortete am 24.05.06 (14:56):

Danke Enigma. Dann stelle ich noch einen Link ein mit der Schilderung einer Begegnung zwischen Vallejo und Beilharz. Wir hatten Beilharz schon einmal bei anderen Übersetzungen hier, war das nicht Sylvia Plath? Ich finde dieses letzte Gedicht entsetzlich düster, er muss eine Menge Schlimmes erlebt haben. Sprachlich toll, sehr eindringlich und bei aller Düsternis leidenschaftlich.

Hier ein anderes Gedicht:

Tod der Armen

Es ist der Tod, der Trost und Leben schenkt;
Er ist das Ziel, das einzig Hoffnung macht,
Ein Elixier, das uns berauschend tränkt,
Und Mut gibt, durchzuhalten bis zur Nacht,

Durch Sturm und Schnee ist er das schwache Licht,
Für uns am dunklen Horizont entzündet;
Ist jene Bleibe, die das Buch verspricht,
wo man zur Rast ein Mahl und Schlummer findet,

Ein Engel, dessen Finger lockend zeigen
Den Schlaf und Träume, die uns übersteigen;
Armen und Nackten er ein Bett bereitet;

Der Götter Ruhm, der Speicher, der nie leer,
Der Armen Beutel, Heimat von jeher,
Das Tor, das uns zu fremden Himmeln leitet!

Charles Baudelaire (1821-1867)

Und hier der Link:

Internet-Tipp: https://www.jbeilharz.de/poetas/vallejo/guillen-vallejo.html


 Enigma antwortete am 25.05.06 (08:55):

Hallo Marina,

ja, über Beilharz hatten wir es schon einmal.
Und der „Tod der Armen“ paßt absolut in unsere „Düsternis-Serie“.

Aber der heutige Tag ist ja geprägt vom Gedanken der Auferstehung.
Und da habe ich vor einiger Zeit ein Gedicht gelesen, das für mich zu diesem Thema passt und das man in einigen Predigten und auch als Lied in Gesangbüchern wiederfinden kann.
(Darum mache ich mir hier auch über die Urheberrechte, die ich nicht eindeutig feststellen konnte, keine Gedanken, da Text und Lied bereits einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden).
Es ist jedenfalls für mich einer der schönsten Texte in Gedichtform überhaupt.
Außerdem bin ich der Meinung, dass dieses Gedicht , das von einem nach meinem Empfinden absolut ungewöhnlichen Mann namens Fritz Rosenthal, der 1935 aus Deutschland nach Palästina emigrierte und sich später Schalom Ben-Chorin nannte, geschrieben wurde, von ihm für alle Menschen gedacht war.
Wenn man bedenkt, dass das Gedicht 1942 entstanden ist und weiß, was in diesen Jahren geschah, ist es umso erstaunlicher, was dieser Mann an Versöhnungsbereitschaft und Liebe schon zu diesem Zeitpunkt ausstrahlte.

Schalom Ben-Chorin
"Das Zeichen" [1942]

Freunde, dass der Mandelzweig
wieder blüht und treibt,
ist das nicht ein Fingerzeig,
dass die Liebe bleibt.
Dass das Leben nicht verging,
so viel Blut auch schreit,
achtet dieses nicht gering,
in der trübsten Zeit.
Tausende zerstampft der Krieg,
eine Welt vergeht.
Doch des Lebens Blütensieg
leicht im Winde weht.
Freunde, dass der Mandelzweig
sich in Blüten wiegt,
bleibe uns ein Fingerzeig,
wie das Leben siegt.

Später setzte Schalom Ben Chorin seine Bemühungen um einen christlich-jüdischen Dialog in Wort und Tat aktiv fort.
Und viele seiner Bücher sind im lokalen und auch im Internet-Buchhandel zu beziehen.


Mehr über Schalom Ben Chorin she. Internet-Tipp!

Internet-Tipp: https://de.wikipedia.org/wiki/Schalom_Ben-Chorin


 Marina antwortete am 25.05.06 (11:10):

Danke Enigma, daas Gedicht kenne ich tatsächlich auch als Kirchenlied.

Dann setze ich zu Ehren des heutigen Tages ein Himmelfahrtsgedicht von einem anderen jüdischen Dichter ein:

Himmelfahrt

Der Leib lag auf der Totenbahr,
Jedoch die arme Seele war,
Entrissen irdischem Getümmel,
Schon auf dem Wege nach dem Himmel.

Dort klopft' sie an die hohe Pforte,
Und seufzte tief und sprach die Worte:
Sankt Peter, komm und schließe auf!
Ich bin so müde vom Lebenslauf -
Ausruhen möcht ich auf seidnen Pfühlen
Im Himmelreich, ich möchte spielen
Mit lieben Englein Blindekuh
Und endlich genießen Glück und Ruh!

Man hört Pantoffelgeschlappe jetzund,
Auch klirrt es wie ein Schlüsselbund,
Und aus einem Gitterfenster am Tor
Sankt Peters Antlitz schaut hervor.

Er spricht: »Es kommen die Vagabunde,
Zigeuner, Polacken und Lumpenhunde,
Die Tagediebe, die Hottentotten -
Sie kommen einzeln und in Rotten,
Und wollen in den Himmel hinein
Und Engel werden und selig sein.
Holla! Holla! Für Galgengesichter
Von eurer Art, für solches Gelichter
Sind nicht erbaut die himmlischen Hallen -
Ihr seid dem leidigen Satan verfallen.
Fort, fort von hier! und trollt euch schnelle
Zum schwarzen Pfuhle der ewigen Hölle.«

So brummt der Alte, doch kann er nicht
Im Polterton verharren, er spricht
Gutmütig am Ende die tröstenden Worte:
»Du arme Seele, zu jener Sorte
Halunken scheinst du nicht zu gehören -
Nu! Nu! Ich will deinen Wunsch gewähren,
Weil heute mein Geburtstag just
Und mich erweicht barmherzige Lust -
Nenn mir daher die Stadt und das Reich,
Woher du bist; sag mir zugleich,
Ob du vermählt warst? - Ehliches Dulden
Sühnt oft des Menschen ärgste Schulden;
Ein Ehmann braucht nicht in der Hölle zu schmorn,
Ihn läßt man nicht warten vor Himmelstoren.«


 Marina antwortete am 25.05.06 (11:13):

Fortsetzung:

Die Seele antwortet: Ich bin aus Preußen,
Die Vaterstadt ist Berlin geheißen.
Dort rieselt die Spree, und in ihr Bette
Pflegen zu wässern die jungen Kadette;
Sie fließt gemütlich über, wenns regent -
Berlin ist auch eine schöne Gegend!
Dort bin ich Privatdozent gewesen,
Und hab über Philosophie gelesen -
Mit einem Stiftsfräulein war ich vermählt,
Doch hat sie oft entsetzlich krakeelt,
Besonders wenn im Haus kein Brot -
Drauf bin ich gestorben und bin jetzt tot.

Sankt Peter rief: »O weh! o weh!
Die Philosophie ist ein schlechtes Metier.
Wahrhaftig, ich begreife nie,
Warum man treibt Philosophie.
Sie ist langweihg und bringt nichts ein,
Und gottlos ist sie obendrein;
Da lebt man nur in Hunger und Zweifel,
Und endlich wird man geholt vom Teufel.
Gejammert hat wohl deine Xantuppe
Oft über die magre Wassersuppe,
Woraus niemals ein Auge von Fett
Sie tröstend angelächelt hätt -
Nun sei getrost, du arme Seele!
Ich habe zwar die strengsten Befehle,
Jedweden, der sich je im Leben
Mit Philosophie hat abgegeben,
Zumalen mit der gottlos deutschen,
Ich soll ihn schimpflich von hinnen peitschen -
Doch mein Geburtstag, wie gesagt,
Ist eben heut, und fortgejagt
Sollst du nicht werden, ich schließe dir auf
Das Himmelstor, und jetzo lauf
Geschwind herein -
Jetzt bist du geborgen!
Den ganzen Tag, vom frühen Morgen
Bis abends spät, kannst du spazieren
Im Himmel herum und träumend flanieren
Auf edelsteingepflasterten Gassen.
Doch wisse, hier darfst du dich nie befassen
Mit Philosophie; du würdest mich
Kompromittieren fürchterlich -
Hörst du die Engel singen, so schneide
Ein schiefes Gesicht verklärter Freude, -
Hat aber gar ein Erzengel gesungen,
Sei gänzlich von Begeistrung durchdrungen,
Und sag ihm, daß die Malibran
Niemals besessen solchen Sopran -
Auch applaudiere immer die Stimm
Der Cherubim und der Seraphim,
Vergleiche sie mit Signor Rubini,
Mit Mario und Tamburini -
Gib ihnen den Titel von Exzellenzen
Und knickre nicht mit Reverenzen.
Die Sänger, im Himmel wie auf Erden,
Sie wollen alle geschmeichelt werden -
Der Weltkapellenmeister hier oben,
Er selbst sogar, hört gerne loben
Gleichfalls seine Werke, er hört es gern,
Wenn man lobsinget Gott dem Herrn
Und seinem Preis und Ruhm ein Psalm
Erklingt im dicksten Weihrauchqualm.

Vergiß mich nicht. Wenn dir die Pracht
Des Himmels einmal Langweile macht,
So komm zu mir; dann spielen wir Karten.
Ich kenne Spiele von allen Arten,
Vom Lanzknecht bis zum König Pharo.
Wir trinken auch - Doch apropos!
Begegnet dir von ungefähr
Der liebe Gott, und fragt dich: woher
Du seiest? so sage nicht aus Berlin,
Sag lieber aus München oder aus Wien.«

Heinrich Heine


 Marina antwortete am 25.05.06 (13:19):

Und da Himmelfahrt eigentlich ein christliches und nicht jüdisches Fest ist, hier noch ein Gedicht von einer Christin:

Christi Himmelfahrt

Er war ihr eigen drei und dreißig Jahr.
Die Zeit ist hin, ist hin!
Wie ist sie doch nun alles Glanzes bar,
Die öde Erd', auf der ich atm' und bin!
Warum durft' ich nicht leben, als sein Hauch
Die Luft versüßte, als sein reines Aug'
Gesegnet jedes Kraut und jeden Stein?
Warum nicht mich? Warum nicht mich allein
O Herr, du hättest mich gesegnet auch!

Dir nachgeschlichen wär' ich überall
Und hätte ganz von fern,
Verborgen von gebüschesgrünem Wall,
Geheim betrachtet meinen liebsten Herrn.
Zu Martha hätt' ich bittend mich gewandt
Um einen kleinen Dienst für meine Hand:
Vielleicht den Herd zu schüren dir zum Mahl,
Zum Quell zu gehn, zu lüften dir den Saal –
Du hättest meine Liebe wohl erkannt.

Und draußen in des Volkes dichtem Schwarm
Hätt' ich versteckt gelauscht,
Und deine Worte, lebensreich und warm,
So gern um jede andre Lust getauscht;
Mit Magdalena hätt' ich wollen knien,
Auch meine Träne hätte sollen glühn
Auf deinem Fuß; vielleicht dann, ach, vielleicht
Wohl hätte mich dein selig Wort erreicht:
Geh hin, auch deine Sünden sind verziehn!

Umsonst! Und zwei Jahrtausende nun fast
Sind ihrem Schlusse nah',
Seitdem die Erde ihren süßen Gast
Zuletzt getragen in Bethania.
Schon längst sind deine Märtyrer erhöht,
Und lange Unkraut hat der Feind gesät;
Gespalten längst ist deiner Kirche Reich,
Und trauernd hängt der mühbeladne Zweig
An deinem Baume; doch die Wurzel steht.

Geboren bin ich in bedrängter Zeit;
Nach langer Glaubensrast
Hat nun verschollner Frevel sich erneut;
Wir tragen wieder fast vergeßne Last,
Und wieder deine Opfer stehn geweiht.
Ach, ist nicht Lieben seliger im Leid?
Bist du nicht näher, wenn die Trauer weint.
Wo Drei in deinem Namen sind vereint,
Als Tausenden in Schmuck und Feierkleid?

'S ist sichtbar, wie die Glaubensflamme reich
Empor im Sturme schlägt,
Wie Mancher, der zuvor Nachtwandlern gleich,
Jetzt frisch und kräftig seine Glieder regt.
Gesundet sind die Kranken; wer da lag
Und träumte, ward vom Stundenschlage wach;
Was sonst zerstreut, verflattert in der Welt,
Das hat um deine Fahne sich gestellt,
Und jeder alte, zähe Firnis brach.

Was will ich mehr? Ist es vergönnt dem Knecht,
Die Gabe seines Herrn
Zu meistern? Was du tust, das sei ihm recht!
Und ist dein Lieben auch ein Flammenstern,
Willst läutern du durch Glut, wie den Asbest,
Dein Eigentum von fauler Flecken Pest:
Wir sehen deine Hand und sind getrost,
Ob über uns die Wetterwolke tost,
Wir sehen deine Hand und stehen fest.

Annette von Droste-Hülshoff (1797-1848)


 Marina antwortete am 25.05.06 (14:00):

Nachtrag: Die beiden "jüdischen" Gedichte gefallen mir besser als das "christliche". :-)


 Enigma antwortete am 26.05.06 (07:25):

Hallo Marina,
ich glaube, mir auch.
Aber ich schiebe schnell noch eines nach, bevor der Tag schon ganz und gar - jedenfalls für dieses Jahr - vergangen ist:

Gott im Mittelalter

Und sie hatten Ihn in sich erspart
und sie wollten, dass er sei und richte,
und sie hängten schließlich wie Gewichte
(zu verhindern seine Himmelfahrt)
an ihn ihrer großen Kathedralen
Last und Masse. Und er sollte nur
über seine grenzenlosen Zahlen
zeigend kreisen und wie eine Uhr
Zeichen geben ihrem Tun und Tagwerk.
Aber plötzlich kam er ganz in Gang,
und die Leute der entsetzten Stadt
ließen ihn, vor seiner Stimme bang,
weitergehn mit ausgehängtem Schlagwerk
und entflohn vor seinem Zifferblatt.
Geschrieben Juli 1907 in Paris
Rainer Maria Rilke (1875-1926)


 Enigma antwortete am 30.05.06 (07:46):

Marina Cvetaeva
Gebet

Schenk mir, Christus, doch ein Wunder,
Jetzt, sofort, bei Tagesanbruch!
O lass mich sterben, in dieser Stunde,
Solang noch das Leben für mich wie ein Buch.

Halt mir nicht klug das Wort entgegen:
»Dulde, noch ist's nicht so weit.«
Du hast mir selbst – so viel gegeben!
Ich möchte jetzt gehn – alle Wege zugleich!

Vor allem: als Zigeunermädchen
Raubzüge machen mit Gesang;
Als Amazone Kriege bestehen;
Für alle leiden bei Orgelklang;

Im schwarzen Turm die Sterne deuten;
Kinder aus dem Dunkel führn...
Das Gestern zur Legende weiten,
Mich jeden Tag im Wahn verirrn.

Ich lieb das Kreuz, die Seide, Lerchen
Und meiner Seele schnelle Bahn.
Nach einer Kindheit wie im Märchen,
Schenk mir den Tod mit siebzehn Jahrn!

26. September 1909
Tarussa


 Marina antwortete am 30.05.06 (14:26):

Und nach so viel Schreiberei über Handke und Heine, hier noch ein Gedicht, speziell für den Schorsch, damit er Heine endlich schätzen lernt: :-)

Doktrin

Schlage die Trommel und fürchte dich nicht,
Und küsse die Marketenderin!
Das ist die ganze Wissenschaft,
Das ist der Bücher tiefster Sinn.

Trommle die Leute aus dem Schlaf,
Trommle Reveille mit Jugendkraft,
Marschiere trommelnd immer voran,
Das ist die ganze Wissenschaft.

Das ist die Hegelsche Philosophie,
Das ist der Bücher tiefster Sinn!
Ich hab sie begriffen, weil ich gescheit,
Und weil ich ein guter Tambour bin.

Heinrich Heine


 kropka antwortete am 30.05.06 (16:21):

ein Gruß an Schorsch! Ich bin sicher er schätzt Heine :-)

Von vier Uhr bis sieben
Im Herz, wie im Spiegel, ein Schatten,
Auch unter den Leuten – alleine geblieben...
Der Tag geht nur langsam von statten
Von vier Uhr bis sieben!
Ich brauch keine Menschen – sie lügen
Und werden grausam bei Dämmerung.
Ich könnte weinen. Zur Schnur
Haben die Finger das Tüchlein gewrungen.
Hab ich dich beleidigt – verzeih,
Doch bitt ich, mich nicht zu betrüben!
– Ich spüre unendliche Traurigkeit
Von vier Uhr bis sieben.

Marina Cvetaeva (1892 – 1941)


 Enigma antwortete am 30.05.06 (17:43):

Ich bin auch (fast) sicher, dass der schorsch Heine mag, auch so z.B.:

Ein Weib

Sie hatten sich beide so herzlich lieb,
Spitzbübin war sie, er war ein Dieb.
Wenn er Schelmenstreiche machte,
Sie warf sich aufs Bett und lachte.

Der Tag verging in Freud und Lust,
Des Nachts lag sie an seiner Brust.
Als man ins Gefängnis ihn brachte,
Sie stand am Fenster und lachte.

Er ließ ihr sagen: O komm zu mir,
Ich sehne mich so sehr nach dir,
Ich rufe nach dir, ich schmachte -
Sie schüttelt' das Haupt und lachte.

Um sechse des Morgens ward er gehenkt,
Um sieben ward er ins Grab gesenkt;
Sie aber schon um achte
Trank roten Wein und lachte.

Heinrich Heine


 kropka antwortete am 01.06.06 (07:42):

Jetzt wohin?

Jetzt wohin? Der dumme Fuß
will mich gern nach Deutschland tragen;
doch es schüttelt klug das Haupt mein Verstand
und scheint zu sagen:

„Zwar beendigt ist der Krieg,
doch die Kriegsgerichte blieben,
und es heißt, du habest einst
viel Erschießliches geschrieben.“

Das ist wahr, unangenehm
wär’ mir das Erschossenwerden;
bin kein Held, es fehlen mir
die pathetischen Gebärden.

Gern würd’ ich nach England gehen.
wären dort nicht Kohlendämpfe
und Engländer - schon ihr Duft
gibt Erbrechen mir und Krämpfe.

Manchmal kommt mir in den Sinn
nach Amerika zu segeln,
nach dem großen Freiheitsstall,
der bewohnt von Gleichheitsflegeln -

Doch es ängstigt mich ein Land,
wo die Menschen Tabak käuen,
wo sie ohne König kegeln,
wo sie ohne Spuknapf speien.

Rußland, dieses schöne Reich
könnte mir vielleicht behagen,
doch im Winter könnte ich
dort die Knute nicht ertragen.

Traurig schau ich in die Höh’,
wo viele tausend Sterne nicken -
aber meinen eignen Stern
kann ich nirgends dort erblicken.

Hat im güldnen Labyrinth
sich vielleicht verirrt am Himmel
wie ich selber mich verirrt
in dem irdischen Getümmel. -

Heinrich Heine


 Enigma antwortete am 01.06.06 (09:00):

Heinrich Heine
Nachtgedanken

Denk ich an Deutschland in der Nacht,
Dann bin ich um den Schlaf gebracht,
Ich kann nicht mehr die Augen schließen,
Und meine heißen Tränen fließen.
Die Jahre kommen und vergehn!
Seit ich die Mutter nicht gesehn,
Zwölf Jahre sind schon hingegangen;
Es wächst mein Sehnen und Verlangen.
Mein Sehnen und Verlangen wächst.
Die alte Frau hat mich behext,
Ich denke immer an die alte,
Die alte Frau, die Gott erhalte!
Die alte Frau hat mich so lieb,
Und in den Briefen, die sie schrieb,
Seh ich, wie ihre Hand gezittert,
Wie tief das Mutterherz erschüttert.
Die Mutter liegt mir stets im Sinn.
Zwölf Jahre flossen hin,
Zwölf lange Jahre sind verflossen,
Seit ich sie nicht ans Herz geschlossen.
Deutschland hat ewigen Bestand,
Es ist ein kerngesundes Land,
Mit seinen Eichen, seinen Linden
Werd ich es immer wiederfinden.
Nach Deutschland lechzt ich nicht so sehr,
Wenn nicht die Mutter dorten wär;
Das Vaterland wird nie verderben,
Jedoch die alte Frau kann sterben.
Seit ich das Land verlassen hab,
So viele sanken dort ins Grab,
Die ich geliebt - wenn ich sie zähle,
So will verbluten meine Seele.
Und zählen muß ich - Mit der Zahl
Schwillt immer höher meine Qual,
Mir ist, als wälzten sich die Leichen
Auf meine Brust - Gottlob! Sie weichen!
Gottlob! Durch meine Fenster bricht
Französisch heitres Tageslicht;
Es kommt mein Weib, schön wie der Morgen,
Und lächelt fort die deutschen Sorgen.


 kropka antwortete am 01.06.06 (10:37):

Berichterstattung

Wovon sollen wir berichten
die nie verfolgt waren,
die nie ihre Heimat verloren,
die nie vor Gaskammern
standen?

Wovon sollen wir berichten
die nichts erlebt haben
als Mittelmäßigkeit,
die nichts getan haben
als Durchschnittliches?

Wovon sollen wir berichten
die nichts zu erwarten haben
als bereits Gehabtes?

Gerhard Rombach


https://home.swipnet.se/GerhardR/index.htm
https://gerhardsblog.blogspot.com/

Internet-Tipp: https://home.swipnet.se/GerhardR/index.htm


 kropka antwortete am 01.06.06 (18:55):

Dem ehemaligen Georg-Büchner-Preisträger
und verhinderten Heinrich-Heine-Preisträger
P e t e r H a n d k e
einige Verse aus dem "Wintermärchen":


Sie haben dir übel mitgespielt,
Die Herren vom hohen Rate.
Wer hieß dich auch reden so rücksichtslos
Von der Kirche und vom Staate!

Ach! hättest du nur einen andern Text
Zu deiner Bergpredigt genommen,
Besaßest ja Geist und Talent genug,
Und konntest schonen die Frommen!

Geldwechsler, Bankiers, hast du sogar
Mit der Peitsche gejagt aus dem Tempel —
Unglücklicher Schwärmer, jetzt hängst du am Kreuz
Als warnendes Exempel!


Aus: Heinrich Heine: Sämtliche Schriften


 Enigma antwortete am 02.06.06 (08:31):

Hallo kropka,
die Seite von Gerhard Rombach gefällt mir mit den Gedichten und den schönen Bildern.

Georg Herwegh
Heimweh

O Land, das mich so gastlich aufgenommen,
O rebenlaubumkränzter, stolzer Fluß –
Kaum bin ich eurer Schwelle nah gekommen,
Klingt schon mein Gruß herb wie ein Scheidegruß.
Was soll dem Auge eure Schönheit frommen,
Wenn diese arme Seele betteln muß?
Er ist so kalt, der fremde Sonnenschein;
Ich möchte, ja ich möcht zu Hause sein!
Die Schwalben seh ich schon im stillen Flug
Die Häuser – nur das meine nicht – umschweben;
O warme Luft, und doch nicht warm genug,
Verpflanzte Blumen wieder zu beleben!
Der Baum, der seine jungen Sprossen schlug,
Was wird dem Fremdling er im Herbste geben?
Vielleicht ein Kreuz und einen Totenschrein –
Mich friert, mich friert! ich möcht zu Hause sein! –


 kropka antwortete am 02.06.06 (09:36):

enigma,

HEIMAT IST, WO DAS HERZ WEH TUT


 Enigma antwortete am 03.06.06 (07:46):

Hallo kropka,

Den Satz verstehe ich nicht so genau. Wenn man sie nicht hat?


Georg Trakl
In der Heimat

Resedenduft durchs kranke Fenster irrt;
Ein alter Platz, Kastanien schwarz und wüst.
Das Dach durchbricht ein goldener Strahl und fließt
Auf die Geschwister traumhaft und verwirrt.

Im Spülicht treibt Verfallnes, leise girrt
Der Föhn im braunen Gärtchen; sehr still genießt
Ihr Gold die Sonnenblume und zerfließt.
Durch blaue Luft der Ruf der Wache klirrt.

Resedenduft. Die Mauern dämmern kahl.
Der Schwester Schlaf ist schwer. Der Nachtwind wühlt
In ihrem Haar, das mondner Glanz umspült.

Der Katze Schatten gleitet blau und schmal
Vom morschen Dach, das nahes Unheil säumt,
Die Kerzenflamme, die sich purpurn bäumt.


 Literaturfreund antwortete am 03.06.06 (15:19):

Letzter Rückblick:
Ich glaube nicht, dass man Handke "übel mitgespielt" hat; man hat ihm Recht getan, wo er glaubte, er könne jedem Leser und Nachdenker in Deutschland vorschreißen, dass RECHT RECHTS und DREIST heißt, weil er nichts mehr zur Kenntnis nahm, was ihm und seiner ethnischen Ideologie nicht Recht gab.
*

Hier:
Eine lyrische Übung, die man Deutsch-Abiturienten stellen kann (ohne die Erklärungen dazu und ohne Handke-Reminiszenz): eine besondere "Biographie", als literaturgeschichtliche Analyse.

Von "dradio.de" - LYRIK-KALENDER vom 02.06.2006

Die lyrische Lebensbilanz eines Dichters wird oft in einem hohen Ton oder einer sentimentalen elegischen Geste vorgetragen. Nichts davon bei dem 1952 in Detmold geborenen Erzähler und Lyriker Hans-Ulrich Treichel: Er setzt diese poetischen Üblichkeiten außer Kraft - mit der ihm eigenen Leichtigkeit, milden Ironie und sanften Melancholie.

Hans-Ulrich Treichel: Biographie

Es war nicht Mühsal gewesen,
nicht Plage, es dauerte nicht
neunzig und auch keine siebzig
Jahr, es war nicht köstlich gewesen,
auch nicht von Übel, da war nur
manchmal ein Schmerz in den Adern,
ein Pochen im Schädel, der Himmel
riß nicht auf, der Teppich blieb
von der Sintflut verschont.

(H.-U. Treichel: Gespräch unter Bäumen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2002)

Anklänge an die berühmten poetischen Lebensrückblicke von Matthias Claudius ("Der Mensch"), Hölderlin ("Lebenslauf") oder Hermann Hesse ("Altern") sind erhalten geblieben. Treichel rückt indes die Dimensionen zurecht. Sein lyrisches Subjekt hat nur Negationen und Dementi zu bieten und nur einen unsensationellen Lebenslauf zu vermelden, gewöhnliche Gefühle und moderate Stimmungen. In der frechen Wendung vom Teppich, der von der "Sintflut verschont" bleibt, wird das Lebensschicksal seines Helden am Ende noch banalisiert.

Internet-Tipp: URL: https://www.dradio.de/dlf/sendungen/lyrikkalender/505077/


 Marina antwortete am 03.06.06 (17:49):

Unser Leben währet siebzig Jahre,
und wenn's hoch kommt, so sind's achtzig Jahre,
und wenn's köstlich gewesen ist,
so ist's Mühe und Arbeit gewesen;
denn es fähret schnell dahin,
als flögen wir davon.
Wer glaubt aber, dass du so sehr zürnest,
und wer fürchtet sich vor dir in deinem Grimm? Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen,
auf dass wir klug werden.

Aus Psalm 90 (Übersetzung von Martin Luther)


 kropka antwortete am 03.06.06 (19:06):

Heinrich Heine

Mein Kind, wir waren Kinder

Mein Kind, wir waren Kinder,
Zwei Kinder, klein und froh;
Wir krochen ins Hühnerhäuschen,
Versteckten uns unter das Stroh.

Wir krähten wie die Hähne,
Und kamen Leute vorbei -
Kikereküh! sie glaubten,
Es wäre Hahnengeschrei.

Die Kisten auf unserem Hofe
Die tapezierten wir aus,
Und wohnten drin beisammen,
Und machten ein vornehmes Haus.

Des Nachbars alte Katze
Kam öfters zum Besuch;
Wir machten ihr Bückling und Knickse
Und Komplimente genug.

Wir haben nach ihrem Befinden
Besorglich und freundlich gefragt;
Wir haben seitdem dasselbe
Mancher alten Katze gesagt.

Wir saßen auch oft und sprachen
Vernünftig, wie alte Leut,
Und klagten, wie alles besser
Gewesen zu unserer Zeit;

Wie Lieb und Treu und Glauben
Verschwunden aus der Welt,
Und wie so teuer der Kaffee,
Und wie so rar das Geld! - - -

Vorbei sind die Kinderspiele,
Und Alles rollt vorbei -
Das Geld und die Welt und die Zeiten,
Und Glauben und Lieb und Treu.


 Enigma antwortete am 04.06.06 (08:26):


Kindheit
Rainer Maria Rilke


Es wäre gut viel nachzudenken, um
von so Verlornem etwas auszusagen,
von jenen langen Kindheit-Nachmittagen,
die so nie wiederkamen - und warum?
Noch mahnt es uns -: vielleicht in einem Regnen,
aber wir wissen nicht mehr was das soll;
nie wieder war das Leben von Begegnen,
von Wiedersehn und Weitergehn so voll
wie damals, da uns nichts geschah als nur
was einem Ding geschieht und einem Tiere:
da lebten wir, wie Menschliches, das Ihre
und wurden bis zum Rande voll Figur.
Und wurden so vereinsamt wie ein Hirt
und so mit großen Fernen überladen
und wie von weit berufen und berührt
und langsam wie ein langer neuer Faden
in jene Bilder-Folgen eingeführt,
in welchen nun zu dauern uns verwirrt.

Aus:Neue Gedichte


 Literaturfreund antwortete am 04.06.06 (09:43):

J.W. von Goethe:

Und doch haben sie recht, die ich schelte:
Denn daß ein Wort nicht einfach gelte
Das müßte sich wohl von selbst verstehn.
Das Wort ist ein Fächer! Zwischen den Stäben
Blicken ein Paar schöne Augen hervor.
Der Fächer ist nur ein lieblicher Flor,
Er verdeckt mir zwar das Gesicht,
Aber das Mädchen verbirgt er nicht,
Weil das Schönste was sie besitzt,
Das Auge, mir ins Auge blitzt.

*

Das "Wort als Fächer", den kann man zu vielerlei nutzen kann, wenn man es "versteht".

Goethes Gedicht ist aus dem "Buch Hafis" seines "West-Östlichen Divans"; Motive der Liebe, des Lieds und der Schönheitsempfindung ins Zentrum rückt, welches das "Auge" ist.

*
Na, das ist wohl ein Hai-Tai-CHI-Fächerli..! Hilfe, jetzt wird die Wohnung ausgeräumt!
- Wer da ungeniert zukuckt, muss es auch noch bezahlen.

Internet-Tipp: https://www.schader-stiftung.de/docs/faecher_gewinne_april05_gross.jpg


 Enigma antwortete am 07.06.06 (16:37):

Für kropka:
Hallo Ewa,
das folgende Gedicht möchte ich besonders für Dich hier einstellen:

Ingeborg Drewitz
Die Wurzel meiner Hoffnung

Die Wurzel meiner Hoffnung
ist fast nicht auszumachen,
sie ist ein dünnes, dünnes Fädchen,
fast schon abgetrennt von einer kräftigen Wurzel.
Aber vielleicht ist für mich das Entscheidende,
daß ich nicht aufgebe,
daß ich nicht aufzugeben bereit bin.
Für mich ist es quasi eine moralische Selbstverpflichtung,
dieses Leben, das zunächst einmal einfach gegeben ist,einzubringen,
den Vernichtungsprozessen und
Hoffnungslosigkeiten zu widerstehen,
zu helfen, soweit die eigenen Kräfte reichen
und manchmal übersteigt es auch die eigenen Kräfte.
Solange ich lebe,
habe ich nicht einfach nur zu atmen,
sondern diese Art Kraft,
die ich durchs Atmen aufnehme,
habe ich auch nach außen zu tragen.


Es wäre zu schön, wenn wir das immer könnten. :-)

Schenkst Du uns auch noch ein Gedicht?

Liebe Grüße
Enigma


 Marina antwortete am 07.06.06 (22:19):

Noch ein Gedicht für Kropka :-):

Überlass es der Zeit

Erscheint dir etwas unerhört,
Bist du tiefsten Herzens empört,
Bäume nicht auf, versuchs nicht mit Streit,
Berühr es nicht, überlass es der Zeit.

Am ersten Tage wirst du feige dich schelten,
Am zweiten lässt du dein Schweigen schon gelten,
Am dritten hast du's überwunden;
Alles ist wichtig nur auf Stunden,
Ärger ist Zehrer und Lebensvergifter,
Zeit ist Balsam und Friedensstifter.

Theodor Fontane (1819-1898)


 Enigma antwortete am 08.06.06 (15:28):

Ja, 80 wäre sie tatsächlich geworden in diesem Jahr, Marilyn Monroe.
Und da ist mir kürzlich aufgefallen, dass der Udo (ja, der Lindenberg) sie auch besungen hat.Ihr erinnert Euch sicher!
Und wenn er früh genug da gewesen wäre, hätte er sie auch gerettet. Sagt er... :-)

Good bye, Norma Jean

Good bye, Norma Jean
ich habe dich nie gekannt
als du gegangen bist
war ich noch ein Kind
und jetzt frag ich den Pförtner vom Filmatelier
ob er mir sagen kann
wo ich deine Spuren find
Oh, Norma Jean, du hast gelebt
wie eine Katze im rauhen Wind
deine zarte Haut verbrannte im heißen Studiolicht
du warst zu schwach für den Sturm
der auf den Hollywood-Bergen weht
ich hätte dich gerettet
doch ich kam viel zu spät
Die Reklamelettern hoch oben über der Filmstadt
haben schon so viele erschlagen
die stärker warn als du
Ach, du hättest aus Stahl sein sollen
doch du warst nur aus Fleisch und Blut
selbst im Tod ließen sie dir keine Ruh
Und weiter wurdest du gejagt
von den geilen Pressehunden
und die Schlagzeile war:
Man hat dich nackt gefunden
Ja, du warst zu schwach für den Sturm
der auf den Hollywood-Bergen weht
ich hätte dich gerettet
doch ich kam viel zu spät
Good bye, Norma Jean
ich habe dich oft gesehn
vielleicht erinnerst du dich
ich saß in Reihe zehn
der Junge mit den Pickeln
für den du immer noch viel mehr bist
als irgendein Sex-Objekt
das man einmal benutzt und vergißt
Oh, Norma Jean, du hast gelebt
wie eine Katze im rauhen Wind
deine zarte Haut verbrannte im heißen Studiolicht
du warst zu schwach für den Orkan
der auf den Hollywood-Bergen weht
ich hätte dich gerettet
doch ich kam viel zu spät
So gern hätt ich dich gerettet
doch ich kam viel zu spät
(Good Bye, Marilyn)

Eingestellt mit freundlicher Genehmigung von Udo Lindenberg
und des Telefunken-Label der Warner-Musik Group Deutschland

Internet-Tipp: https://www.udo-lindenberg.de/startseite.47.htm


 Literaturfreund antwortete am 09.06.06 (12:00):

Nach den letzten so ergreifenden Texten wieder was Aktuelleres, Banaleres:

Auf das Spiel einer Fußball-Mannschaft
Von Johannes R. Becher

In sich vollendet jeder, aber nie
Vergessend, daß ein jedes Einzelspiel
Nur einen Sinn hat und nur ein, ein Ziel:
Den Sieg des Ganzen - also spielen sie

- ein nie Zuwenig und ein nie Zuviel -
Elfstimmig ihre kühne Melodie.
Ein Spiel zwar, aber ernsthaft, und gleichwie
Ein Bei-Spiel, zeigen sie uns ihren Stil.

Die Stürmerreihe zieht das Feld entlang.
Wie abgelöst vom Boden und im Fluge,
Beflügelt von der ganzen Mannschaft Kraft.

Ein Fußballspiel - und gleichfalls eine Fuge.
Zusammenhang wird zum Zusammenklang.
Der Sieg des Ganzen - aller Meisterschaft.

*

(Johannes R. Becher: Gesammelte Werke. 18 Bände. Hrsg. vom Johannes-R. Becher-Archiv der Akademie der Künste der DDR. Band 6: Gedichte 1949-1958. (c) Aufbau Verlag Berlin und Weimar, 1973)

Internet-Tipp: https://www.dradio.de/dlf/sendungen/lyrikkalender/507092/


 Enigma antwortete am 09.06.06 (16:43):

Hallo Literaturfreund,

kann es sein, dass Du auch manchmal ein Spötter bist?? :-)
Aaaber: Was wir an Heine so liebeln,
dürfen wir Dir nicht verübeln....:-))

So, und jetzt, kurz vor dem "Anpfiff" noch was zur "Schönsten Nebensache der Welt":

so ein tag

vor dem spiel gab es viel geschwafel
der coach bemalte die schiefertafel mit
kurven und linien, die niemand verstand

entschlossen traten sie aufs feld, alle
mann, wie mans heute wieder macht
hand in hand und warfen ihr koennen

ins gewicht, doch trafen sie einfach
die bude nicht, egal ob lang gefackelt
oder schlichtweg blind abgedrueckt

das war mal wieder einer dieser tage
so schoen,er moechte nie vergehen
hiesz es beim Gegner auf nachfrage

stan lafleur
aus: die welt auf dem fusz

Ob uns in einigen Stunden Costa Rica das auch sagen könnte, auf Nachfrage?
Ja, ja, bin ganz schnell wech jetzt....:-))

Eingestellt mit Erlaubnis von Gregor Koall
She. Internet-Tipp!

Internet-Tipp: https://www.koall-verlag.de


 Enigma antwortete am 09.06.06 (20:22):

Die "Nachfrage" haben wir uns erspart, vor allem dank ihm:

miroslav klose

seine ersten wm-tore schoss er noch
aus einem pfaaelzischen bezirksliga-
match heraus: wo sich die maedels

kichernd über den schuechternen
jungen unterhielten, der nach jedem
treffer einen angenwinkelten salto

sprang. die eigenen spruenge nicht
begreifend waehlte er den direkten
weg zwischen zwei verteidigern, die

vom blitz seiner raschen aktion
geblendet stirn an stirn aufeinander
prallten; alter grusz der verdutzten

stan lafleur
die welt auf dem fusz

Infos zu stan lafleur: she. Internet-Tipp!

Internet-Tipp: https://de.wikipedia.org/wiki/Stan_Lafleur


 Marina antwortete am 11.06.06 (16:51):

Der Mann auf der Bergkuppe

Auf einer Bergkuppe steht ein Mensch allein
Und schreit gen Himmel,
gegen den Wind, zur Sonne hin,
gegen Wolken und Regen
bei Nacht, im Mondenschein und
Sternengefunkel – er schreit.

Wenn du ihn hören könntest,
würdest du dies hören:
Ich bin ein Mensch, ein Bürger des Staates,
hier wurde ich geboren – mein Vater,
und meine Kinder auch
Ich liebe dieses Land – ich will es nie verlassen.
Es ist meine Heimat.
Ich möchte ein normales Leben
Hier und gleichberechtigt sein.
Ich kann dieses Land mit aufbauen.
Und eine Zukunft für meine Kinder.
Doch wo sind meine Rechte? Hört mich denn keiner?.
Der Staat will mich nicht - keiner kümmert sich um mich.
Bin ich nicht Bürger hier – warum hört mich keiner?

Ich hör’ ihn schreien – und bin beunruhigt.
In seinem Schreien höre ich das Echo
Mir bekannter Agonien, Agonien meines Volkes -
Sein Schmerz ist mein Schmerz
Ich fühl’ mich gezwungen, ihm zu antworten.
Ich muss etwas tun – kann ihm nicht abwenden
Ich höre ihn schreien im Wind , auch in der Nacht
Bei Sonnenaufgang – ich höre ihn.

Kann ich denn was tun – ich bin allein?
Ich wende mich um Hilfe an dich -
Wir müssen etwas gegen dieses Schreien tun.
Sein Schmerz ist real – wir kennen doch Schmerzen –
Ist er nicht ein Bürger dieses Staates?

Also sag’ ich zu dir, bitte, hör’ zu!
Hörst du nicht, wie dieser Mensch schreit?
Was sollen wir tun?

Du aber antwortest mir:
„Warum sollen wir etwas tun?
Er hat seine Rechte – kümmre dich nicht darum!
Und außerdem: er schreit auf arabisch –


 Marina antwortete am 11.06.06 (16:54):

Fortsetzung

Wir verstehen ihn ja gar nicht – wir sprechen hebräisch.
Wir sind Juden und dies hier ist ein jüdischer Staat.
Die Feinde des Staates sprechen arabisch.
Sie verschwören sich gegen uns -
Vielleicht ist er ein Feind des Staates.
Und außerdem: du sprichst englisch.
Wer bist du eigentlich, dass du solch eine Forderung stellst?
Du bist anscheinend neu hier – du weißt nicht, was hier los ist.
Du bist falsch informiert – geh!

Hartnäckig besteh’ ich darauf: bitte warte und höre!
Er schreit jetzt – er schreit noch immer.
Ich versuche, es für dich zu übersetzen.
Da muss etwas dran sein,
Würde er sonst noch immer schreien?
Hörst du nicht den Schmerz in seiner Stimme?

Dann nennst du den Holocaust, den Zionismus und die PLO
Und mit deiner unheiligen Trinität versuchst du,
Mich zum Schweigen zu bringen.

Und hier zögere ich – es widert mich an,
in dieser Richtung weiterzugehen ,
mir bleibt aber keine Wahl:
ich muss es dir sagen:
Wenn dich das Schreien dieses Mannes nicht anrührt,
dann sind die sechs Millionen ( einschließlich – und pass auf –
einige aus meiner und aus deiner Familie )
umsonst gestorben – vergeblich – sage ich.
Und wenn dein Zionismus dich taub macht
Für das Schreien dieses Menschen, dann

Wünscht der Gott, der irgendwo in diesem Lande wohnen soll,
deinen Zionismus in seinem Königreich nicht -
und wenn du in seinem Schreien nur die PLO hörst
dann ist es dein eigenes Schreien, was du hörst - und nicht seines.

Nun bist du verärgert und wendest dich ab,
du bist empört, du fühlst dich selbstgerecht -
und peinlich berührt.
Schnell willst Du vergessen, dass wir dieses Gespräch führten.
Aber oben auf dem einsamen Gipfel des Berges
Schreit der Mann noch immer voll Schmerz
Und so lange er schreit
Kann ich nicht ruhen – und so lange ich nicht ruhen kann
Wird dein Zorn dich nicht schützen.

Deshalb ruf’ ich dir zu: richte dich selbst!
Ich behaupte nicht, dass ich das Recht habe, dich zu richten
Die Zeit der Richter in Israel ist längst vorbei.
Aber ich sage: achte auf deinen Zorn!


 Marina antwortete am 11.06.06 (16:55):

Fortsetzung

Wenn du nicht das Schreien dieses Menschen hören kannst
Dann höre auf deinen Zorn!
Du musst nicht ärgerlich sein,
Wenn sein Schreien dir nichts bedeutet.

Ich aber sage zu dir, meinem Volk:
wenn die Herzen deiner Führer verhärtet sind,
dann musst du neue Führer finden.
Ist keiner unter euch, der das Schreien des Mannes auf der Bergkuppe hört?
Drum sage ich: wir brauchen in Israel eine neue Vision .
Noch seh’ ich nicht deutlich, doch die Saat liegt in dir
Und auch in ihm.
Aber nicht mit Zorn ist sie zu bewässern
Sondern allein mit Tränen des Erbarmens.

Oh Israel, du musst weinen, um diesen Mann,
der auf der Bergspitze seinen Schmerz hinausschreit.
Gott hilft einem Volke nicht, das nur um sich selbst weint.

Debora Reich
(dt. Ellen Rohlfs)

Internet-Tipp: https://www.friedensfrauen.de/1/show_entry.php?cat=1&par=&key=135


 Enigma antwortete am 12.06.06 (07:32):

Da hast Du was Gutes gefunden, Marina...
Danke!

Nevfel Cumart (1996)
fast ein rundbrief

ich bin
in erster
linie
mensch
schlicht
und
ergreifend
ein mensch
danach erst:
türke
ausländer
betroffener
benachteiligter
ausgestoßener...
warum also keine liebesgedichte?

Eingestellt mit Erlaubnis von Herrn Cumart.
https://www.cumart.de/

She. Auch Internet-Tipp!

Internet-Tipp: https://www.lyrikwelt.de/autoren/cumart.htm


 Literaturfreund antwortete am 12.06.06 (14:55):

Im "dradio.de" eine Erinnerung an einen schon fast vergessenen "Lehrer" (im LYRIK-KALENDER 11.06.2006):

Du oder ich oder wer
Von Hans Peter Keller

Jeder lebt von sich getrennt.
Sieht er sich draußen, zieht er nicht den Hut.
Obschon es ihm auf den Nägeln brennt.
Gut.

Besser einen Umweg machen.
Wenns geht, auf du mit Bettler Strolch Polizist
oder was sonst zum Lachen
vorhanden ist.

Narren setzen nachts auf die Glücksfontänen
auf die Sterntraufen.
Du oder ich oder wer: sollten wir Tränen
kaufen?

(Aus: Extrakt um 18 Uhr. Limes Verlag, Wiesbaden 1975)

Der Begegnung mit sich selbst sieht dieser Autor mit gedämpften Erwartungen entgegen. Denn zunächst gilt es ganz nüchtern und lakonisch die Ich-Spaltung und Selbstentfremdung zu konstatieren. Der vom Niederrhein stammende Hans Peter Keller (1915-1989), der als Kriegsteilnehmer die Skepsis gelernt und nach 1945 Philosophie studiert hatte, arbeitete als Lektor, Literaturlehrer und freier Schriftsteller. Sein Befund zur Lage des Subjekts ist desillusionierend:

Das lyrische Subjekt des um 1958/59 entstandenen Gedichts vertraut auf "Umwege" und Maskeraden. Ob ihm allerdings die Fraternisierung mit den Helden der Straße, mit den Vertretern der Ordnung und der Unordnung weiterhilft, bleibt offen. Auch bleibt fraglich, ob die Rolle des Narren, der sich "Glücksfontänen" erfindet, zur Stabilisierung des Ich beiträgt. Ihren Dichterkollegen Hans Peter Keller hat Hilde Domin einmal einen "Realisten" genannt, der "fatale Lebenslagen" poetisch zu benennen versteht.

Internet-Tipp: URL: https://www.dradio.de/dlf/sendungen/lyrikkalender/507094/


 Marina antwortete am 12.06.06 (18:49):

Ach der Keller. Dass sich an den nochmal jemand erinnert, hätte ich auch nicht gedacht. Wir kennen ihn ja. Aus der Buchhändlerklasse. :-) Die "Fraternisierung mit den Helden der Straße" kann ich mir bei ihm gar nicht vorstellen. Ich habe von dem meistens nichts verstanden, weil er so abgehoben geredet hat. Aber vielleicht war ich auch zu doof dazu. :-)
Literaturfreund, wenn du "URL" vor den Kurzlink setzt klappt das nicht mit dem Anklicken. Am besten immer vorher ausprobieren. :-)
Hier der Kurzlink zum Anklicken.

Internet-Tipp: https://www.dradio.de/dlf/sendungen/lyrikkalender/507094/


 Marina antwortete am 12.06.06 (18:55):

Trost.

Wann dich die Lästerzunge sticht,
So laß dir dies zum Troste sagen:
Die schlechtesten Früchte sind es nicht,
Woran die Wespen nagen.

Gottfried August Bürger (1747 -1794)

Das widme ich Peter Handke zum Trost. :-) (keine Bange, es war mein letzter Beitrag zu ihm, aber das habe ich zufällig eben gefunden und fand es gerade so passend).


 Marina antwortete am 13.06.06 (18:29):

Hier kommt Heines Prolog zur "Harzreise" (s. auch "Heine lebt"):

Schwarze Röcke, seidne Strümpfe,
Weiße, höfliche Manschetten,
Sanfte Reden, Embrassieren -
Ach, wenn sie nur Herzen hätten!
Herzen in der Brust, und Liebe,
Warme Liebe in dem Herzen -
Ach, mich tötet ihr Gesinge
Von erlognen Liebesschmerzen.

Auf die Berge will ich steigen,
Wo die frommen Hütten stehen,
Wo die Brust sich frei erschließet,
Und die freien Lüfte wehen.

Auf die Berge will ich steigen,
Wo die dunklen Tannen ragen,
Bäche rauschen, Vögel singen,
Und die stolzen Wolken jagen.

Lebet wohl, ihr glatten Säle!
Glatte Herren, glatte Frauen!
Auf die Berge will ich steigen,
Lachend auf euch niederschauen.

Heinrich Heine


 Enigma antwortete am 14.06.06 (23:45):

Aus gegebenem Anlass: :-))

Der Ball


Du Runder, der das Warme aus zwei Händen
im Fliegen, oben, fortgiebt, sorglos wie
sein Eigenes; was in den Gegenständen
nicht bleiben kann, zu unbeschwert für sie,

zu wenig Ding und doch noch Ding genug,
um nicht aus allem draußen Aufgereihten
unsichtbar plötzlich in uns einzugleiten:
das glitt in dich, du zwischen Fall und Flug

noch Unentschlossener: der, wenn er steigt,
als hätte er ihn mit hinaufgehoben,
den Wurf entführt und freiläßt -, und sich neigt
und einhält und den Spielenden von oben
auf einmal eine neue Stelle zeigt,
sie ordnend wie zu einer Tanzfigur,

um dann, erwartet und erwünscht von allen,
rasch, einfach, kunstlos, ganz Natur,
dem Becher hoher Hände zuzufallen.



Rainer Maria Rilke


 Marina antwortete am 16.06.06 (16:51):

Hier ein Gedicht von meinem Favoriten für den nächsten Heine-Preis:

Hochseil

Wir turnen in höchsten Höhen herum,
selbstredend und selbstreimend,
von einem Individuum
aus nichts als Worten träumend.

Was uns bewegt - warum? wozu? -
den Teppich zu verlassen?
Ein nie erforschtes Who-is-who
im Sturzflug zu erfassen.

Wer von so hoch zu Boden blickt,
der sieht nur Verarmtes, Verirrtes.
Ich sage: wer Lyrik schreibt, ist verrückt,
wer sie für wahr nimmt, wird es.

Ich spiel mit meinem Astralleib Klavier,
vierfüßig - vierzigzehig -
Ganz unten am Boden gelten wir
für nicht mehr ganz zurechnungsfähig.

Die Loreley entblößt ihr Haar
am umgekippten Rheine...
Ich schwebe graziös in Lebensgefahr
grad zwischen Freund Hein und Freund Heine.

Peter Rühmkorf

Mir wird immer unverständlicher, warum er noch nicht dafür vorgeschlagen wurde. Er ist geradezu prädestiniert dafür. :-)

Internet-Tipp: https://www.jhelbach.de/lorelei/loreleyb.htm#Hochseil


 Enigma antwortete am 17.06.06 (08:45):

Ich unterstütze Deinen Favoriten mit, Marina... :-)

Und kann nicht widerstehen, hier noch mal Heine einzustellen:

Kleines Volk

In einem Pißpott kam er geschwommen,
Hochzeitlich geputzt, hinab den Rhein.
Und als er nach Rotterdam gekommen,
Da sprach er: »Juffräuken, willst du mich frein?
»Ich führe dich, geliebte Schöne,
Nach meinem Schloß, ins Brautgemach;
Die Wände sind eitel Hobelspäne,
Aus Häckerling besteht das Dach.
»Da ist es so puppenniedlich und nette,
Da lebst du wie eine Königin!
Die Schale der Walnuß ist unser Bette,
Von Spinnweb sind die Laken drin.
»Ameiseneier, gebraten in Butter,
Essen wir täglich, auch Würmchengemüs,
Und später erb ich von meiner Frau Mutter
Drei Nonnenfürzchen, die schmecken so süß.
»Ich habe Speck, ich habe Schwarten,
Ich habe Fingerhüte voll Wein,
Auch wächst eine Rübe in meinem Garten,
Du wirst wahrhaftig glücklich sein!«
Das war ein Locken und ein Werben!
Wohl seufzte die Braut: ach Gott! ach Gott!
Sie war wehmütig, wie zum Sterben -
Doch endlich stieg sie hinab in den Pott.
*
Sind Christenleute oder Mäuse
Die Helden des Lieds? Ich weiß es nicht mehr.
Im Beverland hört ich die schnurrige Weise,
Es sind nun dreißig Jahre her.

Heinrich Heine


 Marina antwortete am 19.06.06 (22:49):

:-)) Ich bin immer wieder "von den Socken", wie modern Heine ist. À la Mäuse - hier ist keine Frage, wer "die Helden des Lieds" sind:

Katz und Maus

Die Katze spricht: Ich bin nicht so,
wie alle Welt vermutet.
Ich töte Mäuse, ja, jedoch
mit einem Herz, das blutet.
Mit einem Herz, das zuckt und schreckt,
mit einem Herz, das leidet -
Mit meinem Herz? Nein, dem der Maus!
Denn wenn uns etwas scheidet,
die Maus und mich, dann ist es das:
Ich bin der Fresser. Sie ist Fraß.

Robert Gernhardt


 Enigma antwortete am 20.06.06 (17:40):



Ursula Krechel:
Kleine Geschichte eines populären Ballspiels




Als der Fußball erfunden wurde
War der Tennisball noch sehr klein

Als der Fußball erfunden wurde
Hatte er gleich elf Jünger (Gegner ebenso)

Als der Fußball erfunden wurde
Zog man mächtig vom Leder

Als der Fußball erfunden wurde
Baute man ihm keine Hütten und Paläste

1 Stadion genügte. Freier Platz, Hinterhof
Rasen oder Nichtrasen war zweckdienlich

Als der Fußball rund erfunden war (vormals
Eine mit weichem Leder bezogene Ochsenblase)

Gedachte man der Stangen und Latten
Die er irrtümlich traf, wenn er das Tor verfehlte

Als der Fußball erfunden wurde
Da wurde gejubelt, was das Zeug hielt

Als der Fußball erfunden wurde
Schmolz ein Schneeball in der hohlen Hand

Auch Ausschreitungen, zuweilen heftig
Werden aus Fußballbegeisterung begangen

Lärmen und Biertrinken folgen auf dem Fuß
Siehe auch Fußbad, Fußbekleidung, Fußpilz.

Internet-Tipp: https://www.ndrkultur.de/ndrkultur_pages_std/0,2513,OID1846428,00.html


 marie2 antwortete am 21.06.06 (19:04):

Fußball (nebst Abart und Ausartung)

Der Fußballwahn ist eine Krank-
heit, aber selten, Gott sei Dank!
Ich kenne wen, der litt akut
an Fußballwahn und Fußballwut.
Sowie er einen Gegenstand
in Kugelform und ähnlich fand,
so trat er zu und stieß mit Kraft
ihn in die bunte Nachbarschaft.
Ob es ein Schwalbennest, ein Tiegel,
ein Käse, Globus oder Igel,
ein Krug, ein Schmuckwerk am Altar,
ein Kegelball, ein Kissen war,
und wem der Gegenstand gehörte,
das war etwas, was ihn nicht störte.
Bald trieb er eine Schweineblase,
bald steife Hüte durch die Straße.
Dann wieder mit geübtem Schwung
stieß er den Fuß in Pferdedung.
Mit Schwamm und Seife trieb er Sport.
Die Lampenkuppel brach sofort.
Das Nachtgeschirr flog zielbewußt
der Tante Berta an die Brust.
Kein Abwehrmittel wollte nützen,
nicht Stacheldraht in Stiefelspitzen,
noch Puffer, außen angebracht.
Er siegte immer, 0 zu 8,
und übte weiter frisch, fromm, frei
mit Totenkopf und Straußenei.
Erschreckt durch seine wilden Stöße,
gab man ihm nie Kartoffelklöße.
Selbst vor dem Podex und den Brüsten
der Frau ergriff ihn ein Gelüsten,
was er jedoch als Mann von Stand
aus Höflichkeit meist überwand.
Dagegen gab ein Schwartenmagen
dem Fleischer Anlaß zum Verklagen.
Was beim Gemüsemarkt geschah,
kommt einer Schlacht bei Leipzig nah.
Da schwirrten Äpfel, Apfelsinen
durch Publikum wie wilde Bienen.
Da sah man Blutorangen, Zwetschen
an blassen Wangen sich zerquetschen.
Das Eigelb überzog die Leiber,
ein Fischkorb platzte zwischen Weiber.
Kartoffeln spritzten und Zitronen.
Man duckte sich vor den Melonen.
Dem Krautkopf folgten Kürbisschüsse.
Dann donnerten die Kokosnüsse.
Genug! Als alles dies getan,
griff unser Held zum Größenwahn.
Schon schäkernd mit der U-Boots-Mine,
besann er sich auf die Lawine.
Doch als pompöser Fußballstößer
Fand er die Erde noch viel größer.
Er rang mit mancherlei Problemen.
Zunächst: Wie soll man Anlauf nehmen?
Dann schiffte er von dem Balkon
sich ein in einen Luftballon.
Und blieb von da an in der Luft,
verschollen. Hat sich selbst verpufft. -?
Ich warne euch, ihr Brüder Jahns,
vor dem Gebrauch des Fußballwahns!


Joachim Ringelnatz


 marie2 antwortete am 21.06.06 (19:06):

Und hier etwas zeitgemäßes

WM Begegnung Schweden - England 2:2:

Nein, die Manieren bleiben einwandfrei.
Überall Fernseher! - Schaumama.
Besserwisser genießen Steilpässe.
Sie sind vermutlich schon recht genügsam.
Jeder Vollidiot wirbelt lieber vor dem Fernseher.
Die Welt ist sich einig: Wir schummeln uns ins Finale!


Generiert für Sie durch den Poesie-Automaten des Kunst- und Kulturprogramms der Bundesregierung zur FIFA WM 2006™ in Zusammenarbeit mit dem OK FIFA WM 2006. Mehr unter poesieautomat.zeit.de.

Marie

Internet-Tipp: https://www.zeit.de/fussball/poesieautomat


 Marina antwortete am 23.06.06 (19:57):

Zur Abwechlsung mal wieder ein Kontrastprogramm :-)

Eilt die Sonne nieder zu dem Abend

Eilt die Sonne nieder zu dem Abend,
Löscht das kühle Blau in Purpurgluten,
Dämmrungsruhe trinken alle Gipfel.

Jauchzt die Flut hernieder silberschäumend,
Wallt gelassen nach verbrauster Jugend,
Wiegt der Sterne Bild im Wogenspiegel.

Hängt der Adler, ruhend hoch in Lüften,
Unbeweglich wie in tiefem Schlummer;
Regt kein Zweig sich, schweigen alle Winde.

Lächelnd mühelos in Götterrhythmen,
Wie den Nebel Himmelsglanz durchschreitet,
Schreitet Helios schwebend über Fluren.

Feucht vom Zaubertau der heil'gen Lippen
Strömt sein Lied den Geist von allen Geistern
Strömt die Kraft von allen Kräften nieder

In der Zeiten Schicksalsmelodien,
Die harmonisch ineinander spielen
Wie in Blumen hell und dunkle Farben.

Und verjüngter Weisheit frische Gipfel,
Hebt er aus dem Chaos alter Lügen
Aufwärts zu dem Geist der Ideale.

Wiegt dann sanft die Blumen an dem Ufer,
Die sein Lied von süßem Schlummer weckte,
Wieder durch ein süßes Lied in Schlummer.

Hätt ich nicht gesehen und gestaunet,
Hätt ich nicht dem Göttlichen gelauschet,
Und ich säh den heil'gen Glanz der Blumen,

Säh des frühen Morgens Lebensfülle,
Die Natur wie neugeboren atmet,
Wüßt ich doch, es ist kein Traum gewesen.

Bettina von Arnim


 Enigma antwortete am 24.06.06 (19:36):

Und schon wieder ein Kontrastprogramm:
Anknüpfend an den Beitrag von marie2 habe ich auch den Generator benutzt und folgendes fabriziert:

WM Begegnung Deutschland - Schweden 2:0:

Der Massensport hat eine Nebenwirkung.
Wohin das Auge blickt nur Breitensport.
Und rundherum herrscht riesige Verwirrung.
Denn Fußball ist viel mehr als nur ein Wort.

URL wie von marie angegeben.
Und da es ja der Generator gemacht hat, steht es auch nicht unter "Eigener Lyrik".

Na, sehen wir mal weiter.....:-))


 Marina antwortete am 25.06.06 (10:37):

Ihr habt mich überzeugt. :-) Das ist eine wirklich nette Spielerei und klappt hervorragend. :-) Hier etwas zu Argentinien-Mexiko 2:1:

"Bei jedem Fehlpass sind wir live dabei.
Selbst Kuchen ist mit Fußball dekoriert.
Und nicht mehr lange - bald ist es vorbei.
Und jeder Fan ist völlig fasziniert."

Würde aber auch zu Deutschland-Argentinien (später)
passen, wie die meisten anderen auch. :-)

Aber hier der entsprechende Haiku, der passt nicht zu allen anderen :-):

"Rafael Marquez
schießt und schießt den Ball ins Tor.
Daumenlutschen hilft!"

Daumenlutschen beim Torschießen, tolle Leistung. :-))


 Enigma antwortete am 25.06.06 (18:09):

Und noch eines, bevor alles vorbei ist.... :-)



Lutz Rathenow:
Die Lust am Spiel

Einfach zusehen und alles besser wissen.
Sich aufregen, weil ein Spieler nicht kapiert
wohin er den Ball treten muß. Zu sanft oder
zu hart schießen sie. Wie soll einer zuschauen,
was die rumbolzen. Die sollten lernen
vor dem Fernseher so ein Match zu ertragen.
Der Ball ist nicht rund, wenn einer ihn tritt.
Die kapieren nichts - doch Tor! Toor!
Freude, schöner Fußballfunken. Wir haben
ein Tor. Wir siegen. Verdient. Unsere Jungen,
ganz prima. Mein letzter Wunsch, Herr Pfarrer,
kurz vor dem Ende eines Spiels, nach dem alles
entscheidenden Tor einfach wegtrippeln, ohne
Schmerz, den Fernseher bis zuletzt im Blick.

aus dem neuen Band Lutz Rathenows: Gelächter, sortiert, Gedichte, Verlag Ralf Liebe, ehemals Landpresse Verlag.
Eingestellt mit Erlaubnis von Lutz Rathenow

She. auch Internet-Tipp!

Internet-Tipp: https://www.poetenladen.de/lutz-rathenow.html


 Literaturfreund antwortete am 27.06.06 (14:05):

Von den großen, kommunistischen, in der früheren DDR verbliebenen Dichtern ist nur noch Volker Braun “lebendig”.
Auch nach der Zerstörung des Sozialismus „gefällt ihm die Sache der Besiegten“ (in: „Das Theater der Toten“); eine seltene Zeile im Repertoire der vom Westen Gedemütigten.

Der LYRIK-KALENDER des dradio.de bringt heute, 27.06.2006:

Volker Braun:
MARLBORO IS RED. RED IS MARLBORO

Nun schlafen, ruhen … Und liegst lächelnd wach.
Das ist mein Leib nur, der noch unterwegs ist
Auf irgendwelchen Straßen, ah wohin.
Das Unbekannte wolltest du umfangen.
Jetzt kenn ich alles das. Es ist die Wüste.
Die Wüste, sagst du. Oder sag ich Wohlstand.
Genieße, atme, iß. Öffne die Hände.
Nie wieder leb ich zu auf eine Wende.

(V. B.: Lustgarten, .Preußen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1996. S. 147)
*
dradio.de kommentiert so:

"So oder so - die Erde wird rot", sang einst der Dichter Wolf Biermann, als er noch mit seiner geliebten "Oma Meume" den Kommunismus "siegen" lassen wollte. Diese Prophezeiung ist in Erfüllung gegangen, wenn auch in anderer Weise, als sich das der historische Materialismus und der junge Biermann erträumten. Die Erde erstrahlt tatsächlich in kräftigem Rot, auf allen Kontinenten begegnet man einer Ikone der Männlichkeit: dem Marlboro-Mann. Das Gedicht des 1940 geborenen Volker Braun zitiert im Titel des 1991/92 entstandenen Gedichts diese Maxime der kapitalistischen Weltgesellschaft: "Red is Marlboro".

Ein melancholisches Ich spricht vom orientierungslosen Unterwegssein "auf irgendwelchen Straßen", vom Treibenlassen in purer Faktizität. Die utopische Zuversicht aus den Tagen der Wende 1989, als Volker Braun euphorisch "Volkseigentum plus Demokratie" in der DDR beschwor, ist endgültig verflogen. Sie weicht einer lakonischen Bestandsaufnahme des Lebens im real existierenden Kapitalismus.
S. URL.:

Internet-Tipp: https://www.dradio.de/dlf/sendungen/lyrikkalender/511858


 Marina antwortete am 30.06.06 (15:20):

Robert Gernhardt ist tot. Mir tut das sehr, sehr leid. Nun ist er doch seiner Krankheit erlegen. Und ich dachte, er hätte sich einigermaßen erholt, da er vor kurzem noch Gastprofessor hier war. Traurig! Im Link-Tipp gibt es einen Nachruf von der SZ.

Hier noch ein Gedicht von ihm:

Lagebeurteilung

Wollte immer schnell
abtreten.
Bin wohl bestimmt zum
Weilen:
Wie soll denn den,
der so langsam
vergeht,
jemals das Ende
ereilen?

Robert Gernhardt

Internet-Tipp: https://www.sueddeutsche.de/,tt3m1/kultur/artikel/545/79466/


 Enigma antwortete am 03.07.06 (12:47):

Danke Marina!

Ich habe kürzlich ein Gedicht von Liliencron gelesen, das mir gefallen hat. Es hat auch mit dem Tod zu tun. Hier ist es:

Ballade in U-dur

Es lebte Herr Kunz von Karfunkel
Mit seiner verrunzelten Kunkel
Auf seinem Schlosse Punkpunkel
In Stille und Sturm.
Seine Lebensgeschichte war dunkel,
Es murmelte manch Gemunkel
Um seinen Turm.
Täglich ließ er sich sehen
Beim Auf- und Niedergehen
In den herrlichen Ulmenalleen
Seines adlichen Guts.
Zuweilen blieb er stehen
Und ließ die Federn wehen
Seines Freiherrnhuts.
Er war just hundert Jahre,
Hatte schneeschlohweiße Haare
Und kam mit sich ins klare:
Ich sterbe nicht.
Weg mit der verfluchten Bahre
Und ähnlicher Leichenware!
Hol sie die Gicht!
Werd ich, neugiertrunken
Ins Gartengras hingesunken,
Entdeckt von dem alten Halunken,
Dann grunzt er plump:
Töw Sumpfhuhn, ick wil di glieks tunken
In den Uhlenpfuhl zu den Unken,
Du schrumpliger Lump.
Einst lag ich im Verstecke
Im Park an der Rosenhecke,
Da kam auf der Ulmenstrecke
Etwas angemufft.
Ich bebe, ich erschrecke:
Ohne Sense kommt mit Geblecke
Der Tod, der Schuft.
Und von der andern Seite,
Mit dem Krückstock als Geleite,
In knurrigem Geschreite,
Kommt auch einer her.
Der sieht nicht in die Weite,
Der sieht nicht in die Breite,
Geht gedankenschwer.
Hallo, du kleine Mücke,
Meckert der Tod voll Tücke,
Hier ist eine Gräberlücke,
Hinunter ins Loch!
Erlaube, daß ich dich pflücke,
Sonst hau ich dir auf die Perücke,
Oller Knasterknoch.
Der alte Herr, mit Grimassen,
Tut seinen Krückstock fest fassen:
Was hast du hier aufzupassen,
Du Uhu du!
Weg da aus meinen Gassen,
Sonst will ich dich abschrammen lassen
zur Uriansruh!
Sein Krückstock saust behende
Auf die dürren, gierigen Hände,
Die Knöchel- und Knochenverbände:
Knicksknucksknacks.
Freund Hein schreit: Au, mach ein Ende!
Au, au, ich lauf ins Gelände
Nach Haus schnurstracks.
Noch heut lebt Herr Kunz von Karfunkel
Mit seiner verrunzelten Kunkel
Auf seinem Schlosse Punkpunkel
In Stille und Sturm.
Seine Lebensgeschichte ist dunkel,
Es murmelt und raunt manch Gemunkel
Um seinen Turm.
Detlev von Liliencron
(1844-1909)


 Marina antwortete am 15.07.06 (20:53):

Worauf es ankommt

Es kommt im Augenblick
nicht darauf an
wann es war
daß die Unterdrückerregierung
in Israel
sich verwandelt hat
in eine Verbrecherregierung

Aber es kommt darauf an
zu erkennen
daß sie jetzt eine
Verbrecherregierung ist

Es kommt auch nicht mehr
darauf an
darüber zu streiten
nach welchem Vorbild
sie ihre Verbrechen begeht
Diese verbrechen selbst
tragen sichtbar die Spur ihres Vorbilds

Aber es kommt darauf an
nicht nur klagend oder erstaunt
den Kopf zu schütteln
über diese Verbrechen
sondern endlich
etwas dagegen zu tun

Es kommt nicht darauf an
was man ist
Moslem, Christ, Jude, Freigeist:
Ein Mensch
der ein Mensch ist
kann nicht schweigen
zu dem was geschieht

Erich Fried
6.5.1921 - 22.11.1988

Gut, dass das Gedicht nicht von mir ist. Sonst würde man mich jetzt als antisemitisch bezeichnen. Für die, die es noch nicht wissen: Erich Fried war Jude.


 Enigma antwortete am 18.07.06 (09:29):


GEBET

Ich kann nicht hassen.
Sie schlagen mich. Sie treten mich mit Füßen.
Ich kann nicht hassen. Ich kann nur büßen
Für dich und mich.
Ich kann nicht hassen.
Sie würgen mich. Sie werfen mich mit Steinen.
Ich kann nicht hassen. Ich kann nur weinen
Bitterlich.

ILSE BLUMENTHAL-WEISS
Aus: Jüdisches Schicksal in deutschen Gedichten; herausgegeben von Sigmund Kaznelson, Jüdischer Verlag, Berlin, 1959, S. 378

Internet-Tipp: https://dan4u.de/zuklampen/autorendetails.php4?wkid=1151241141&id=3&usess=&qx=


 kropka antwortete am 18.07.06 (15:37):


ROBERT GERNHARDT

Sonett vom Versuch eines amerikanischen Pressesprechers,
einem irakischen Kind den Krieg zu erklären:

Mein liebes Kind, wir wollen dich befreien.
Das heißt: Wir müssen dich zuvor beschießen.
Wenn du das so verstehst: Als das Begießen
des Pflänzchens Freiheit, wirst du uns verzeihen.

Mein Kind, dir blüht die Mutter aller Bomben.
Wenn sie dich trifft, dann nimm das nicht persönlich.
Wenn du sie triffst, so grüße sie versöhnlich:
Wo keiner bohrt, kann niemand was verplomben.

Das meint: Wenn wir dir deine Stadt zerhauen,
dann mit dem Zweck, sie schöner aufzubauen.
Sofern du tust, mein Kind, was dir geheißen,

wirst du schon bald das Reich der Freiheit schauen.
Du zweifelst noch? Uns kannst du blind vertrauen:
Wer dich beschießt, muss dich nicht noch bescheissen.

https://www.greenpeace-magazin.de/magazin/inhalt.php?id=62

Heute, am 18.Juli 2006 ist sein letzter Gedichtband
«Später Spagat» erschienen: S. Fischer Verlag,
Frankfurt/Main 120 S.,Euro 14,90 ISBN 3-10-025509-7

Internet-Tipp: https://www.zeit.de/dpa/generatedSite/iptc-bdt-20060717-14-dpa_12218108.xml


 Marina antwortete am 18.07.06 (22:49):

Danke Kropka. Schön, dass du wieder da bist. :-)


 Enigma antwortete am 19.07.06 (07:57):

... das sehe ich genau so wie Marina. :-)

@Marina und kropka
Was haltet Ihr davon, wenn wir unsere letzten drei Gedichte in einen neuen Thread übernehmen?
Ich wünsche mir nämlich schon seit einiger Zeit, dass wir mal Material sammeln (Lyrik, Kurzprosa o.ä.) zum Thema: "Literatur über (gegen) Krieg, Unterdrückung, Heimatverlust ..."
Ich eröffne mal einfach.....

Nun aber noch ein Gedicht hier:

Träume

Behalte dir Träume!
Denn wenn Träume sterben,
ist dein Leben verarmt.
Du gleichst einem Vogel
mit gebrochenem Flügeln.

von Langston Hughes

Internet-Tipp: https://de.wikipedia.org/wiki/Langston_Hughes


 kropka antwortete am 17.08.06 (21:39):


"Kinderlied" von Günter Grass

Wer lacht hier, hat gelacht?
Hier hat sich’s ausgelacht.
Wer hier lacht, macht Verdacht,
dass er aus Gründen lacht.

Wer weint hier, hat geweint?
Hier wird nicht mehr geweint.
Wer hier weint, der auch meint,
dass er aus Gründen weint.

Wer spricht hier, spricht und schweigt?
Wer schweigt, wird angezeigt.
Wer hier spricht, hat verschwiegen,
wo seine Gründe liegen.

Wer spielt hier, spielt im Sand?
Wer spielt, muss an die Wand,
hat sich beim Spiel die Hand
gründlich verspielt, verbrannt.

Wer stirbt hier, ist gestorben?
Wer stirbt, ist angeworben.
Wer hier stirbt, unverdorben
ist ohne Grund verstorben.


 kropka antwortete am 18.08.06 (14:15):


Das KINDERLIED (1958 geschrieben) ist mein Lieblingsgedicht von Günter Grass
und ich habe es schon seit Jahren in "meiner Sammlung".

https://www.tour-literatur.de/Links/links_autoren/grass_links.htm


 kropka antwortete am 07.09.06 (10:04):

..Lieblingsgedicht?.. Liebe?.. :-))
.."Märchen"?..

Aber niemals die Hoffnung aufgeben..


zeichen der liebe

deine augen
wie ozeane
habe alles überschwemmt

deine worte
wie rosen
die stechen

deine gedanken,
erhaben wie sterne
sind erloschen

die unschuld
deiner hände
ist jetzt atheist

dein versprechen
wie honig
klebt noch an allem.


Natalia Domagala
113 (Liebes-)Gedichte
bitte 4 cl von deiner liebe für meinen tee


https://www.tenea-verlag.de/verlagsprogramm/index.php?titel_ID=253


 Enigma antwortete am 07.09.06 (21:00):

Dorothee Sölle
Definitionen des Erwachsenseins

Gott fluchen am morgen
ihn loben am abend
Kluge zehen haben
das tanzen anfangen
die finger spitzen
Ein lehrer werden
die leidenschaft für die ungeschickten
genausein für die
die sprachlos gemacht worden sind
genauwerden mit ihnen
Arbeiten so
dass das ergebnis jederzeit im prozess aufscheint
lieben so
dass das ergebnis jederzeit
auch im schmerz
leuchtet
den morgenstern sehen er
bleibt nicht ewig aus
das glück nicht nur vom hörensagen kennen
es anfassen
mit verbrannten händen


 kropka antwortete am 07.09.06 (23:02):

Du bist nicht da, ich habe keine Lust zu schlafen.
Du bist nicht da, und ich bin nicht so gerne wach.
Du bist nicht da, ich bin bei neunundneunzig Schafen.
Du bist nicht da, die Decke neben mir ist flach.

Bald wirst du da sein, und ich werde gerne schlafen.
Bald wirst du da sein, und ich bin kein mueder Rest.
Bald wirst du da sein, alle Boote sind im Hafen.
Bald wirst du da sein und das Wachsein wieder Fest.

Fritz Eckenga: Du da

Aus: 'Die liebenden Deutschen'
herausgegeben von Steffen Jacobs

https://www.zweitausendeins.de/r.cfm?Nr=2806


 Enigma antwortete am 09.09.06 (18:59):

Der Leser

Wer kennt ihn, diesen, welcher sein Gesicht
wegsenkte aus dem Sein zu einem zweiten,
das nur das schnelle Wenden voller Seiten
manchmal gewaltsam unterbricht?

Selbst seine Mutter wäre nicht gewiss,
ob er es ist, der da mit seinem Schatten
Getränktes liest. Und wir, die Stunden hatten,
was wissen wir, wieviel ihm hinschwand, bis

er mühsam aufsah: alles auf sich hebend,
was unten in dem Buche sich verhielt,
mit Augen, welche, statt zu nehmen, gebend
anstießen an die fertig-volle Welt:
wie stille Kinder, die allein gespielt,
auf einmal das Vorhandene erfahren;
doch seine Züge, die geordnet waren,
blieben für immer umgestellt.


Rainer Maria Rilke, Sommer 1908 (vor dem 2.8.), Paris


 kropka antwortete am 10.09.06 (11:13):

So wälz ich ohne Unterlaß,
Wie Sankt Diogenes, mein Faß.
Bald ist es Ernst, bald ist es Spaß;
Bald ist es Lieb, bald ist es Haß;
Bald ist es dies, bald ist es das;
Es ist ein Nichts und ist ein Was.
So wälz ich ohne Unterlaß,
Wie Sankt Diogenes, mein Faß.

Genialisch Treiben
Von Johann Wolfgang von Goethe

© 2006 Deutschlandradio

Internet-Tipp: https://www.dradio.de/dlf/sendungen/lyrikkalender/538563/


 Enigma antwortete am 11.09.06 (13:52):

Wie deine grüngoldnen Augen funkeln,
Wald, du moosiger Träumer!
Wie deine Gedanken dunkeln,
Einsiedel, schwer von Leben,
Saftseufzender Tagesversäumer!

Über der Wipfel Hin- und Wiederschweben
Wies Atem holt und voller wogt und braust
Und weiter zieht
und stille wird
und saust.

Über der Wipfel Hin- und Wiederschweben
Hoch droben steht ein ernster Ton,
Dem lauschten tausend Jahre schon
Und werden tausend Jahre lauschen
Und immer dieses starke, donnerdunkle Rauschen


Peter Hille

Internet-Tipp: https://www.onlinekunst.de/baumgedichte/hille_baum.html


 kropka antwortete am 11.09.06 (23:43):

Danke Enigma. Ein so schönes Gedicht!..


MENSCHEN KÖNNEN DAS

einfach verschwinden
plötzlich einfach nicht
mehr da sein weg sein
fort sein ohne
nachsendeauftrag
postlos fort sein
ihr haus einebnen die
spuren im staub verwehn
abschliessen gehen ohne
blick zurück und
weg sein nicht mehr
erreichbar sein sich dem
vergessen anfreunden
lächelnd gehn oder
traurig mit glitzerndem
blick die augen ganz weit
geöffnet und leise ganz leise
dem anderen deuten dass dies
eine treffen für eine zeitlang
oder für immer das letzte war
sich umdrehn und gehn und
nicht mehr da sein das
unausgesprochene lang schon
mit sich herumgetragene
nächte durchwachte eine wort
nun einfach nicht sagen
zum trotz oder spott
einfach behalten und
mit sich nehmen und keinen
abdruck und keinen versuch
eines echos am ort hinterlassen
nur gehen sich wenden und
gehen und weg sein fort sein
für kurz oder immer das
können nur menschen

festketten muss man sich
an die welt dass man nicht
ebenso einfach ebenso plötz
lich nicht mehr

Marcel Diel

https://www.literaturbuero-rlp.de/lib/htm/service/autoren-des-monats/diel_marcel.htm


 Enigma antwortete am 12.09.06 (08:02):

Hallo kropka,

ja, das können sie, die Menschen, gehen.... und kommen oder auch wiederkommen, so etwa:

Von den Gästen

Was einer ist, was einer war,
beim Scheiden wird es offenbar.

Ruft er "Auf Nimmerwiedersehn",
dann laß ihn frohen Herzens gehn.

Sagt er: "Leb wohl, so leid mir's tut",
dann sei mal lieber auf der Hut.

Tut er nur "Tschau, bis dann dann" brommen,
dann will das Arschloch wiederkommen.

(Robert Gernhardt)

oder auch so:

Wiederkommen bringt Freud

»Wiederkommen bringt Freud« -
So schrieb in längst erblühtem Mai,
Du kannst es lesen, es steht dabei,
Eine Braut ihrem Bräutigam.
Die Braut nicht wurde sein Weib -
Er hat gelebt, ein einsamer Mann.
Aus seinem Nachlaß kaufte ich dann
Das Buch mit dem hoffenden Wort.
Nun geb ich's dir, mein Kind -
Es trägt dies Blatt ein Menschengeschick;
Wir aber hoffen noch auf Glück -
Ja, Wiederkommen bringt Freud.
Theodor Storm: Gedichte

;-))

PS
Die Gedichte von Marcel Diel gefallen mir übrigens ausgesprochen gut.


 kropka antwortete am 12.10.06 (12:57):

Du mußt mit dem Obstbaum reden.

Erfinde eine neue Sprache,
die Kirschblütensprache,
Apfelblütenworte,
rosa und weiße Worte,
die der Wind
lautlos
davonträgt.

Vertraue dich dem Obstbaum an
wenn dir ein Unrecht geschieht.

Lerne zu schweigen
in der rosa
und weißen Sprache.

Hilde Domin

(Gesammelte Gedichte. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1987)

© 2006 Deutschlandradio

Internet-Tipp: https://www.dradio.de/dlf/sendungen/lyrikkalender/548174/


 Enigma antwortete am 15.10.06 (08:28):

Hallo kropka,

ja, das finde ich auch gut, ebenso wie dieses hier:

Rose Ausländer
Sprache

Halt mich in deinem Dienst
lebenslang
in dir will ich atmen
Ich dürste nach dir
trinke dich Wort für Wort
mein Quell
Dein zorniges Funkeln
Winterwort
Fliederfein
blühst du in mir
Frühlingswort
Ich folge dir
bis in den Schlaf
buchstabiere deine Träume
Wir verstehn uns aufs Wort
wir lieben einander

Aus: dies., Im Aschenregen die Spur deines Namens. Gedichte und Prosa 1976. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag GmbH 1976.


 Enigma antwortete am 22.10.06 (10:20):

Edwin Bormann: Goethe-Quintessenzen
Allen zitatenbedürftigen Gemütern gewidmet (1885)

Ihr naht euch wieder? In die Ecke, Besen!
Luft! Luft! Clavigo! Meine Ruh’ ist hin.
Der König rief: Ich bin ein Mensch gewesen;
Das Ewig-Weibliche, das war mein Sinn:
Ein deutscher Mann mag keine Franzen leiden,
Der andre hört von allem nur das Nein.
Ich weiß nicht, nur die Lumpen sind bescheiden,
Ein Werdender wird immer dankbar sein.

Mir graut’s vor dir, der Kasus macht mich lachen,
und Marmorbilder stehn und sehn mich an;
Wer fertig ist, dem ist nichts recht zu machen,
Der Morgen kam, kühl bis ans Herz hinan.
Prophete rechts – mein Herz was soll das geben?
Du sprichst ein großes Wort gelassen aus;
Das Wasser rauscht ins volle Menschenleben,
Ich denke dein, so oft er trank daraus.

Wenn ihr’s nicht fühlt, ihr werdet’s nicht erjagen:
Der Page lief, man sieht doch wo und wie.
Was hör ich draußen? Fräulein, darf ich’s wagen?
Grau, teurer Freund, ist alle Theorie.
Heißt mich reden, schwankende Gestalten!
Man merkt die Absicht, dunkler Ehrenmann!
Durch Feld und Wald lasst mir herein den Alten;
Ich kenn’ dich, du siehst mich lächelnd an.

Ich sah ihn stürzen, himmlisches Behagen!
Der Knabe kam und ward nicht mehr gesehn.
Die Sonne sinkt, du musst es dreimal sagen –
Dies ist die Art, mit Hexen umzugehn.
Der Geist der Medizin ist leicht zu fassen,
Von Zeit zu Zeit seh ich den Alten gern...
Es muss sich dabei doch was denken lassen?!
Ergo bibamus! Ist des Pudels Kern.

Siehe auch Internet-Tipp!

Internet-Tipp: https://virtuelleschuledeutsch.at/literatur2/weimar_parodie_vtfg_index.htm


 kropka antwortete am 22.10.06 (21:05):

Edwin Bormann - Schiller Quintessenz
Allen zitatenbedürftigen Gemütern gewidmet

Fern von Madrid, auf seines Daches Zinnen,
In seiner Kaiserpracht saß König Franz.
Wie wird mir? brüllt er mit vergnügten Sinnen;
Was ist das Leben ohne Liebesglanz?
Der Helm ist mein! Das ist das Los des Schönen
In seines Nichts durchbohrendem Gefühl;
Und will der Lorbeer hier sich nicht gewöhnen -
Platz! Platz! 0 unglücksel'ges Flötenspiel!

Leicht beieinander wohnen die Gedanken.
Du hast's erreicht, Oktavio! spricht Zeus.
So fordr' ich mein Jahrhundert in die Schranken,
Denn nur die Liebe ist der Liebe Preis.
Des Lebens Mai blüht einmal und nicht wieder,
0 Königin, das Leben ist doch schön!
Das aber denkt ganz wie ein Seifensieder:
Max, bleibe bei mir! bleib, der Mohr kann gehn!

Blendwerk der Hölle, du bist blaß, Luise!
Was ist der langen Rede kurzer Sinn?
Ein Augenblick gelebt im Paradiese,
Das ist die Stelle, wo ich sterblich bin.
Und sieh, er zählt die Häupter seiner Lieben,
Das Spiel des Lebens sieht sich heiter an:
Kurz ist der Schmerz, das Phlegma ist geblieben,
Die Axt im Haus erspart den Zimmermann.

Es wächst der Mensch mit seinen größern Zwecken,
Eng ist die Welt, und das Gehirn ist weit;
Spät kommt ihr, doch ihr kommt, den Leu zu wecken,
Ernst ist der Anblick der Notwendigkeit.
Der Lebende hat Recht, den Leib zu malen;
Wer wagt es, was die innre Stimme spricht?
Nacht muß es sein, wo Friedlands Sterne strahlen!
Unsinn, du siegst, und Minna kennt mich nicht!

(Bei dieser 1883 erstmals erschienen Parodie montiert Borman nach Art des Centos
Zitate aus dem Werk Schillers zu einem neuen Text.)

und:
Ich weiß, daß ich nichts weiß..
Liebe Enigma, d a n k e ! schön

https://www.enigma.de/ecard/

Internet-Tipp: https://www.erlangerliste.de/parodie/lenore.html


 Magistra antwortete am 23.10.06 (10:24):

Herr K. pflegte fast alle Fragen seiner Schüler zu beantworten.
Ein Schüler fragte Herrn K., ob es von ihm Parodien gäbe.
"Nein, nicht von mir, aber über mich", antwortete der Meister.
Ein schreibender Jüngling fragte Herrn K., ob es einen Genius gäbe, der entscheide, bei welchem Dichter Parodien erlaubt seien. "Finden doch selbst Goethe und Schiller ihre Parodisten, ob als Flöte oder Triller!"
Herr K. schmunzelte, als er sagte: "Ich rate dir nachzudenken, ob dein Schreiben je nach der Antwort auf diese Frage sich ändern würde. Würde es sich nicht ändern, dann können wir die Frage fallen lassen. Würde es sich ändern, dann kann ich dir wenigstens noch so weit behilflich sein, dass ich dir sage, du hast dich schon entschieden: Du brauchst Parodien."
"Ja?", wollte der interessierte Jungpoet beipflichten: "Sie haben Glück, Parodien gibt es keine für Ihre Gedichte ohne Reime."
"Das mag der Genius der Poesie entscheiden! - Aber, oh", sagte Herr K., "vielleicht finde ich für die Gedichte, die du mir gestern gabst, aber keine Parodien, sondern handfeste Emendationen und geklaute Zitate."
"Wie darf ich diese Antwort interpretieren?" - "Gilt dies allgemein, meine ich?", fragte ein anderer Schüler.
Aber eine präzise Auskunft über die Qualität der ihm übergegebenen Texte gab der Herr K. vor den Schülern nicht. "Fragt nur meinen Meisterschüler Heiner! Bei dem gerät jedes Gedicht zur Parodie."
Er grüßte und stieg mit seiner Freundin Marie B. alleine in den Horch und fuhr mit ihr in das 60 Stadien von Augsburg entfernte E.
"Und wenn er dort noch ein Gedicht zu dem, was er sagte, schreibt, in Reimen, meine ich - dann glaub' ich ihm, dass er nicht nur ein Herr K. ist, sondern auch ein Dichter", murmelte einer namens Thomas ungläubig.

*
Aus: B.B.: Geschichten vom Herrn Keuner. Zürcher Fassung. Frankfurt im Mai 2004. S. 138. - Diese ?Zürcher Fassung? ist die Urschrift der Keuner-Parabeln, von der Brecht selber für die erste Veröffentlichung abwich; drei Geschichten sonderte er aus; so auch dieser Disput über Parodien, die so stark an die Geschichte erinnert ?Die Frage, ob es einen Gott gibt".


 Enigma antwortete am 23.10.06 (14:53):

@kropka
Ja, das ist das genaue Gegenstück. :-)
Und da Magistra bereits Brecht zu Wort kommen ließ, möchte ich auch noch eine Brecht-Parodie zu "Wanderers Nachtlied" beisteuern:

Bertolt Brecht: Liturgie vom Hauch (1924)


Einst kam ein altes Weib einher
Die hatte kein Brot zum Essen mehr
Das Brot, das fraß das Militär
Da fiel sie in die Goss', die war kalte
Da hatte sie keinen Hunger mehr.
Darauf schwiegen die Vöglein im Walde
Über allen Wipfeln ist Ruh
In allen Gipfeln spürest du
Kaum einen Hauch.



Da kam einmal ein Totenarzt einher
Der sagte: Die Alte besteht auf ihrem Schein
Da grub man die hungrige Alte ein
So sagte das alte Weib nichts mehr
Nur der Arzt lachte noch über die Alte.
Auch die Vöglein schwiegen im Walde
Über allen Wipfeln ist Ruh
In allen Gipfeln spürest du
Kaum einen Hauch.



Da kam einmal ein einziger Mann einher
Der hatte für die Ordnung keinen Sinn
Der fand in der Sache einen Haken drin
Der war eine Art Freund für die Alte
Der sagte, ein Mensch müsse essen können, bitte sehr
Darauf schwiegen die Vöglein im Walde
Über allen Wipfeln ist Ruh
In allen Gipfeln spürest du
Kaum einen Hauch.



Da kam mit einemmal ein Kommissar einher
Der hatte einen Gummiknüppel dabei
Und zerklopfte dem Mann seinen Hinterkopf zu Brei
Und da sagte auch dieser Mann nichts mehr
Doch der Kommissar sagte, dass es schallte:
Und jetzt schweigen die Vöglein im Walde
Über allen Wipfeln ist Ruh
In allen Gipfeln spürest du
Kaum einen Hauch.



Da kamen einmal drei bärtige Männer einher
Die sagten, das sei nicht eines einzigen Mannes Sache allein.
Und sie sagten es so lang, bis es knallte
Aber dann krochen Maden durch ihr Fleisch in ihr Bein
Da sagten die bärtigen Männer nichts mehr.
Darauf schwiegen die Vöglein im Walde
Über allen Wipfeln ist Ruh
In allen Gipfeln spürest du
Kaum einen Hauch.



Da kamen mit einemmal viele Männer einher
Die wollten einmal reden mit dem Militär
Doch das Militär redete mit dem Maschinengewehr
Und da sagten alle die Männer nichts mehr.
Doch sie hatten auf der Stirn noch eine Falte.
Darauf schwiegen die Vöglein im Walde
Über allen Wipfeln ist Ruh
In allen Gipfeln spürest du
Kaum einen Hauch.



Da kam einmal ein großer roter Bär einher
Der wusste nichts von den Bräuchen hier, das brauchte er nicht als Bär.
Doch er war nicht von gestern und ging nicht auf jeden Teer
Und der fraß die Vöglein im Walde.
Da schwiegen die Vöglein nicht mehr
Über allen Wipfeln ist Unruh
In allen Gipfeln spürest du
Jetzt einen Hauch.


 kropka antwortete am 24.10.06 (11:40):

Danke Enigma und Magistra! Dann bleiben wir bei B. Brecht und bleiben bei S p r a c h e...

Das Wiedersehen - Bertolt Brecht

Ein Mann, der Herrn K. lange nicht gesehen hatte, begrüßte ihn mit den Worten:
"Sie haben sich gar nicht verändert." "Oh!" sagte Herr K. und erbleichte.

https://www.schoolwork.de/forum/thema_143.html


Finster war's, der Mond schien helle
Auf die grünbeschneite Flur,
Als ein Wagen blitzesschnelle
Langsam um die runde Ecke fuhr.
Drinnen saßen stehend Leute
Schweigend ins Gespräch vertieft,
Als ein totgeschoßner Hase
Auf dem Wasser Schlittschuh lief
Und ein blondgelockter Knabe
Mit kohlrabenschwarzem Haar
Auf die grüne Bank sich setzte,
Die gelb angestrichen war.

(Variante aus: Volksthümliches aus dem Königreich Sachsen.
Auf der Thomasschule gesammelt von Oskar Dähnhardt. Bd. 1. Leipzig: Teubner, 1898.)

Internet-Tipp: https://de.wikipedia.org/wiki/Oxymoron_(Sprache)


 Enigma antwortete am 24.10.06 (20:10):

Na, dann will ich auch nochmal:

Julius Stettenheim
Im Concert (1893)

Du bist wie eine Blume, -
Ein wundervoller Text,
Das ist das Lied der Lieder,
Das hat mich schier behext!
Ich finde auf dem Programme
Des Dichters Namen nicht,
Es ist gewiß von Goethe,
So deutsch, so tief, so schlicht.
„Das Liedchen ist von Heine.“
Ein Jude machte das Lied?
Jetzt find’ ich’s ganz abscheulich,
Ich bin Antisemit.


https://www.berliner-wespen.de/Einfuehrung/Personen.htm

She. auch Internet-Tipp!

Internet-Tipp: https://www.luise-berlin.de/lexikon/Mitte/s/Stettenheim_Julius.htm


 kropka antwortete am 25.10.06 (23:05):

Schillers Lob der Frauen (A. W. Schlegel)
Parodie

Ehret die Frauen! Sie stricken die Strümpfe
Wollig und warm, zu durchwaten die Sümpfe,
Flicken zerissene Pantalons aus;
Kochen dem Manne die kräftigen Suppen,
Putzen den Kindern die niedlichen Puppen,
Halten mit mäßigem Wochengeld Haus.

Doch der Mann, der tölpelhafte
Find't am Zarten nicht Geschmack.
Zum gegornen Gerstensafte
Raucht er immerfort Tabak;
Brummt, wie Bären an der Kette,
Knufft die Kinder spat und fruh;
Und dem Weibchen nachts im Bette,
Kehrt er gleich den Rücken zu. usw.

August Wilhelm Schlegel

https://www.math.uni-bonn.de/people/hmathe/ausgaben/ausgabe21/parodien.html


 kropka antwortete am 26.10.06 (09:36):

..dann noch einmal ZWEI Großen, die ich sehr schätze und achte:
B. Brecht und R. Gernhardt:

Deutsche! Frei nach Bertolt Brecht
rate ich euch Wählet recht:
Von den Zielen die wichtigen
Von den Mitteln die richtigen
Von den Zwängen die spärlichen
Von den Worten die ehrlichen
Von den Taten die herzlichen
Von den Opfern die schmerzlichen
Von den Wegen die steinigen
Von den Büchern die meinigen.

Robert Gernhardt
https://netschool.de/akt/archive/a_000045.htm

https://zeus.zeit.de/text/2000/40/200040_umfrage.xml

Bertolt Brecht
Geschichten vom Herrn K

Mühsal der Besten
"Woran arbeiten Sie?" wurde Herr K. gefragt. Herr K. antwortete:
"Ich habe viel Mühe, ich bereite meinen nächsten Irrtum vor."

https://www.litera.ru/slova/perevody/bertolt_brecht.html

Internet-Tipp: https://zeus.zeit.de/text/2000/40/200040_umfrage.xml


 Karl antwortete am 27.10.06 (10:17):

Hallo Heidi,

wollen wir ein neues Kapitel aufschlagen?


 Enigma antwortete am 30.10.06 (07:40):


Zum „Mignon-Lied“:

(...)„Eine weitere Parodie aus ersten Hälfte des 19. Jhdts ist Johann Konrad Nännys Gedicht “Das Roman – Land”. Hier macht sich der Autor über die Publikationsflut, das zahlenmäßige Anwachsen des Lesepublikums, das institutionalisierte Rezensentenwesen und die numerische Zunahme dilettierender Autoren lustig. Dabei stellt sich allerdings das amüsante Problem, dass ja auch Nänny selbst zu dieser unüberschaubaren Menge von Schreibenden gehört.“(....)

Text entnommen: - she. Internet-Tipp! -


Johann Konrad Nänny: Das Roman-Land (1840)

Kennst du das Land, wo man Romane schreibt
Mehr als der Wind am Himmel Wolken treibt?
Wo voll Genie sogar die kleinste Stadt
Sich selber druckt ihr eignes Morgenblatt?
Kennst du es wohl?
Dahin dahin
Möcht ich mit dir, geliebter Leser ziehn!

Kennst du das Haus zum großen Tintenfass,
Doch sei gewarnt, die Säle sind noch nass;
Im größten hängt die Feder, spitz und scharf,
Womit Kritik die Gegner niederwarf.
Kennst du es wohl?
Dahin dahin
Möcht ich mit dir, geliebter Autor, ziehn!

Kennst du den Berg Montblanc von Druckpapier?
Der Führer sitzt schon auf dem Müllertier!
Die Leser, wimmelnd, klettern hinten drein,
Sie jauchzen schon: wie schön wird’s oben sein.
Kennst du es wohl?
Dahin dahin
Möcht ich mit dir, geliebter Rezensente, ziehn!

Internet-Tipp: https://vdeutsch.eduhi.at/literatur2/weimar_parodie_vtfg.htm


 iris1 antwortete am 07.11.06 (15:05):

NEHM SE´N ALTEN

Die Statistik zeigt´s dem Kenner
Es gibt mehr Frauen als wie Männer´
Drum rat ich allen Frau´n
Sich beizeiten umzuschau´n.
Doch bitte sich begnügen
Es kann nicht jede ´n schönsten kriegen
Schaun se nicht so wählerisch
Nur nach dem der jung und frisch.

Nehm se´n Alten, nehm se´n Alten,
So nen alten, wohlbestallten
So´n Beamten mit Pension
Sehr begehrt ist die Person.
Nehm se´n Alten, nehm se´n Alten,
Ist er´n bisschen aufgefrischt
Ist er besser oft wie´n junger
Und stets besser als wie nischt.

Ist so´n Mann auch kein Adonis
Wenn´s man bloß ´ne Mannsperson ist
Ging die Schönheit auch perdu
Um so mehr schaut man auf SIE.
Droht vielleicht ´ne Glatze?
Nun, einer kriegt´se einer hat´se
Oder hat er ´n Doppelkinn?
Gut, dann greift man doppelt hin.

`n junger läßt sich schwer bezwingen
Wenn se den Pantoffel schwingen
`n alter gibt ihnen `s Portemonnaie
Macht die Betten, kocht Kaffee.
´n junger küsst zwar heiß und mächtig
Doch ´n alter küsst bedächtig
Was ihm fehlt an Temperament
Das ersetzt er durch Talent.

Nehm se´n Alten, Nehm se´n Alten
Der ist froh, wenn sie´n behalten
´n junger küßt oft unbedacht
heiß und schnell, drum geben sie acht.
Nehm se´n Alten, Nehm se´n Alten,
Der küßt voller Liebesqual,
Denn der denkt bei jedem Kusse
"Huch, ist vielleicht das letztemal."

OTTO REUTTER (1870-1931)


 Enigma antwortete am 07.11.06 (18:17):

Ernst Stadler
Dämmerung in der Stadt
1911
Der Abend spricht mit lindem Schmeichelwort die Gassen
In Schlummer und der Süße alter Wiegenlieder,
Die Dämmerung hat breit mit hüllendem Gefieder
Ein Riesenvogel sich auf blaue Firste hingelassen.

Nun hat das Dunkel von den Fenstern allen Glanz gerissen,
Die eben noch beströmt wie veilchenfarbne Spiegel standen,
Die Häuser sind im Grau, durch das die ersten Lichter branden
Wie Rümpfe großer Schiffe, die im Meer die Nachtsignale hissen.

In späten Himmel tauchen Türme zart und ohne Schwere,
Die Ufer hütend, die im Schoß der kühlen Schatten schlafen,
Nun schwimmt die Nacht auf dunkel starrender Galeere
Mit schwarzem Segel lautlos in den lichtgepflügten Hafen.

Internet-Tipp: https://de.wikipedia.org/wiki/Ernst_Stadler


 kropka antwortete am 07.11.06 (22:34):

Menschen bei Nacht

Die Nächte sind nicht für die Menge gemacht.
Von deinem Nachbar trennt dich die Nacht,
und du sollst ihn nicht suchen trotzdem.
Und machst du nachts deine Stube licht,
um Menschen zu schauen ins Angesicht,
so mußt du bedenken: wem.

Die Menschen sind furchtbar vom Licht entstellt,
das von ihren Gesichtern träuft,
und haben sie nachts sich zusammengesellt,
so schaust du eine wankende Welt
durcheinandergehäuft.
Auf ihren Stirnen hat gelber Schein
alle Gedanken verdrängt,
in ihren Blicken flackert der Wein,
an ihren Händen hängt
die schwere Gebärde, mit der sie sich
bei ihren Gesprächen verstehn;
und dabei sagen sie: Ich und Ich;
und meinen: Irgendwen.

Rainer Maria Rilke


 Engelchen antwortete am 07.11.06 (22:51):

Rainer Maria Rilke:
Der Nachbar

Fremde Geige, gehst du mir nach?
In wieviel Städten schon sprach
deine einsame Nacht zu meiner?
Spielen dich hunderte? Spielt dich einer?

Giebt es in allen großen Städten
solche, die sich ohne dich
schon in den Flüssen verloren hätten?
Und warum trifft es immer mich?

Warum bin ich immer der Nachbar derer,
die ich bange zwingend zu singen
und zu sagen: Das Leben ist schwerer
als die Schwere von allen Dingen.
*
(Aus: Das Buch der Bilder)


 kropka antwortete am 07.11.06 (23:23):

EPILOG

"Man muß nie verzweifeln, wenn etwas verloren geht,
ein Mensch oder eine Freude oder ein Glück;
es kommt alles noch herrlicher wieder.
Was abfallen muß, fällt ab;
was zu uns gehört, bleibt bei uns,
denn es geht alles nach Gesetzen vor sich,
die größer als unsere Einsicht sind
und mit denen wir nur scheinbar im Widerspruch stehen.
Man muß in sich selber leben und an das ganze Leben denken,
an alle seine Millionen Möglichkeiten,
Weiten und Zukünfte,
denen gegenüber es nichts Vergangenes und Verlorenes gibt. -"

Brief von Rainer Maria Rilke an Friedrich Westhoff,
Rom, 29. April 1904


 Engelchen antwortete am 07.11.06 (23:30):

SUMMA
Das Abendmahl

Sie sind versammelt, staunende Verstörte,
um ihn, der wie ein Weiser sich beschließt
und der sich fortnimmt denen er gehörte
und der an ihnen fremd vorüberfließt.
Die alte Einsamkeit kommt über ihn,
die ihn erzog zu seinem tiefen Handeln;
nun wird er wieder durch den Wald wandeln,
und die ihn lieben werden vor ihm fliehn.

Er hat sie zu dem letzten Tisch entboten
und (wie ein Schuß die Vögel aus den Schoten
scheucht) scheucht er ihre Hände aus den Broten
mit seinem Wort: sie fliegen zu ihm her;
sie flattern bange durch die Tafelrunde
und suchen einen Ausgang. Aber e r
ist überall wie eine Dämmerstunde.
*
Rainer Maria Rilke, 19.6.1903, Paris


 kropka antwortete am 07.11.06 (23:36):

wunderschön. ich danke dir. schlafe gut!


 Enigma antwortete am 08.11.06 (07:44):

Guten Morgen,

ich danke Euch auch.
Und noch einmal geht es weiter mit Rilke:

Für Erika


I.

So schweige nun. Auch ich will schweigen, denn
wo wäre irgend Rede diesem Schweben?
Schon hast Du ja dem leise neigenden
fühlenden Winde fühlend nachgegeben.

Befürchte nichts, er wird nie wilder sein;
doch, da uns Kräfte rätselhaft umkreisen,
schließt sich um uns ein Kreis: Gewalt ist ein
Entschlossenstes im Stärksten wie im Leisen.

2

Ob ich regnen kann, ich weiß es nicht,
über Dir Du sanfteste der Matten.
Vielleicht bin ich nur der Wolkenschatten,
der Dein Glühendliegen unterbricht.

Bin der Wind, der diese Wolke treibt,
bin ihr leicht verwandeltes Volumen,
bin die Macht, die Deinen klaren Blumen
schattige Verhaltung einverleibt.

3

Stille, wehende Wiese,
was Du auch je verlörst -,
wisse die Paradiese,
denen Du zugehörst.

Fühle die kühleren Haine,
die Dich umgeben rings,
und bestärke das reine
Schwanken des Schmetterlings.

4

Ja: jedes Bild ist Mauer. Laß uns ohne
daß wir ein Bild bemühn, vertrauter sein.
Ich denke zärtlich nur, wie ich Dich schone -,
Du aber winde eine Blumenkrone
und wirf sie in den nächsten Bach hinein.

Nichts ist verloren, alles giebt sich weiter.
Verschwende an den unbekannten Freund
die Freude Deiner täglichen Begleiter
und alles, was Dich heimlich macht und heiter,
bis zu der Luft, die Dir die Hände bräunt.

5

Vielleicht vom Abendsonnenschein belebt,
wird das Erwarten selber zur Vollendung;
da geben sich die Fernen ohne Blendung -
vielleicht vom Abendsonnenschein belebt.

Vielleicht vom Abendsonnenschein belebt,
erscheinen diese Perlen lang getragen,
obwohl sie gestern noch im Meere lagen -
vielleicht vom Abendsonnenschein belebt.

Vielleicht vom Abendsonnenschein belebt,
sind wir die Gleichen und die immer Neuen -,
und doch ist dieses Freuen unser Freuen,
vielleicht vom Abendsonnenschein belebt.

6

Daß uns das Sternbild nicht fehl,
halten wir uns am Entlegnen;
wo sie dem Schicksal begegnen,
machen die Sterne kein Hehl

aus ihrer Neigung, zu regeln,
was sich in ihnen gewahrt -,
über den wagendsten Segeln
stehn sie als Zeichen der Fahrt.

Welche Dein werbender Bogen
Dir auch gewinnen mag:
fühle Dich einbezogen,
stärke die Sterne bei Tag.

7

(Daß sie Dir einmal entgelten,
tief in die Nächte gepflanzt,
daß Du zu älteren Welten
mit vergänglichem Herzen standst!)


Aus: Die Gedichte 1922 bis 1926 (Briefwechsel in Gedichten zwischen Rainer Maria Rilke und Erika Mitterer, aus der sechsten Antwort, Ragaz, 21./ 22. Juli 1924)