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THEMA:   Gedichte Kapitel 37

 102 Antwort(en).

hl begann die Diskussion am 01.01.06 (12:23) :

Das Alter

Hoch mit den Wolken geht der Vögel Reise,
Die Erde schläfert, kaum noch Astern prangen,
Verstummt die Lieder, die so fröhlich klangen,
Und trüber Winter deckt die weiten Kreise.

Die Wanduhr tickt, im Zimmer singet leise
Waldvöglein noch, so du im Herbst gefangen.
Ein Bilderbuch scheint alles, was vergangen,
Du blätterst drin, geschützt vor Sturm und Eise.

So mild ist oft das Alter mir erschienen:
Wart nur, bald taut es von den Dächern wieder,
Und über Nacht hat sich die Luft gewendet.

Ans Fenster klopft ein Bot' mit frohen Mienen,
Du trittst erstaunt heraus - und kehrst nicht wieder,
Denn endlich kommt der Lenz, der nimmer endet.

Joseph von Eichendorff


Allen Poeten, Lyrikern und Lesern ein gutes neues Jahr!

Bald wird es Frühling :-))


 eleisa antwortete am 01.01.06 (15:22):

Wie soll ich meine Seele halten,
das sie nicht an deine rührt?
Wie soll ich sie hinheben über dich zu andern Dingen?
Ach gerne möchte ich sie bei irgendwas
Verlorenem im Dunkel unterbringen,
an einer fremden Stelle,
die nicht weiterschwingt,
wenn deine Tiefen schwingen.
Doch alles, was uns anrührt,dich und mich,
nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich,
der aus zwei Saiten eine Stimme zieht.
Auf welches Instrument sind wir gespannt?
Und welcher Spieler hat uns in der Hand?
O süßes Lied.

Rainer Maria Rilke


 hl antwortete am 01.01.06 (18:40):

Gerade im web gefunden :-)

Zum neuen Jahr

Zum neuen Jahr ein neues Herze,
ein frisches Blatt im Lebensbuch.
Die alte Schuld sei ausgestrichen
und ausgetilgt der alte Fluch.

Zum neuen Jahr ein neues Herze,
ein frisches Blatt im Lebensbuch!
Zum neuen Jahr ein neues Hoffen!
Die Erde wird noch immer wieder grün.

Auch dieser März bringt Lerchenlieder.
Auch dieser Mai bringt Rosen wieder.
Auch dieses Jahr läßt Freuden blühn.
Zum neuen Jahr ein neues Hoffen.
Die Erde wird noch immer grün.

Karl von Gerok


 hl antwortete am 01.01.06 (18:51):

Zum Autor:
Gerok, Karl
1815–1890
Karl Friedrich Gerok
Karl von Gerok [seit 1868]
Schriftsteller, Theologe

https://www.dla-marbach.de/index.php?id=52819
und
https://www.bautz.de/bbkl/g/gerok_k.shtml


 maedel antwortete am 01.01.06 (19:15):

Was denken Tiere in der Neujahrsnacht?

Was denken in der Neujahrsnacht
die Kater und die Katzen?
Sie denken, dass im alten Jahr
der Mausefang bescheiden war,
und strecken in das neue Jahr
begehrlich ihre Tatzen.

Was denken in der Neujahrsnacht
die Pudel und die Möpse?
Sie denken, dass nicht jeden Tag
ein Knochen auf dem Teller lag,
und wünschen für den Neujahrstag
sich Leberwurst und Klopse.

Was denken in der Neujahrsnacht
die Vögel hierzulande?
Sie denken an die Storchenschar,
die hier im Sommer fröhlich war
und die nun wandelt, Paar um Paar,
im warmen Wüstensande.

Was denken in der Neujahrsnacht
die Knäblein und die Knaben?
Sie denken, ob der Frost bald weicht
und ob ein Mensch den Mond erreicht
und ob sie nächstes Jahr vielleicht
Schuhgröße vierzig haben.

Was denken in der Neujahrsnacht
in aller Welt die Mädchen?
Die Mädchen denken unentwegt
und angeregt und aufgeregt
an das, was man im Sommer trägt,
ob Gretchen oder Kätzchen.

Was denken in der Neujahrsnacht
die alten, alten Leute?
Sie denken unterm weißen Haar,
wie sonderbar das Leben war,
und dass das Glück sie wunderbar
geleitet hat bis heute.

(James Krüss)


Gefunden in einem Gedichtband, den mir vor langer Zeit eine Kollegin geschenkt hat.


 kropka antwortete am 01.01.06 (20:45):

und..
was denkt eine Mutter in der Neujahrsnacht?..


Die Zeit, kleine Simone,
da du mir bis zu Taille reichst,
ist bald vorbei, das geht so schnell,
schon reicht dein Staunen mir ans Herz.
Der große Kampf steht dir bevor.
Die Zeit, kleine Simone,
scheint mir für ein paar Lehren reif,
die Wahrheit will ich dir servieren,
serviere du mir ein Glas Wein.
So spricht sichs leichter, schenk mir ein.

Du wirst sehn, die Freunde sterben nie,
die Kinder kennen kein Adieu,
die Männer sind uns treu.
Du wirst sehn, man lebt gut auf der Welt,
der König zieht nicht mehr ins Feld,
der Friede ist gemacht. Du wirst sehn..

Und dann, kleine Simone,
bei uns wird nichts und niemand alt,
die Krankheit hat keine Gewalt,
der Tod ist nur ein Schwadroneur,
der sich manchmal zu wichtig nimmt.
Das Lachen und das Glück
begegnen dir an jedem Tag,
auch der Erfolg kommt Schlag auf Schlag,
die Städte sind ein Paradies.

Die wehmutsvollen Frauen
gibt es nur auf dem Aquarell,
wer sollte weinen, wenn er weiß,
dass ihn die Zärtlichkeit beschützt,
dass man uns liebt und liebt und liebt.
Ein Mann, kleine Simone,

der geht nicht unter wie ein Schiff,
das schon die dümmsten Ratten fliehn,
auf Männer, glaub mir, ist Verlass
und jeder Abschied ist ein Spaß.

Du wirst sehn, die Häuser sterben nicht ,
die Ideen gehen nicht aus,
das Herz, es steht nie still.
du wirst sehn, wie die Freiheit regiert,
wie das Böse verliert,
du wirst leben und sehn,
so wie ich.

Die Zeit, kleine Simone,
da du mir bis zu Taille reichst,
ist bald vorbei, das geht so schnell,
schon reicht dein Staunen mir ans Herz.
Der große Kampf steht dir bevor.
Die Zeit, kleine Simone,
scheint mir für ein paar Lehren reif,
die Wahrheit will ich dir servieren,
und Lügen hörst du von mir nicht,
nein, Lügen hörst du von mir nicht.

"Die Lehren einer Mutter an ihre Tochter"

Text: ANDRE HELLER
aus: "Die Liebeslieder der Erika Pluhar" 1975


 lobelia antwortete am 01.01.06 (22:18):

Und wieder ist ein Jahr zu Ende
was ich als Anlas hier verwende
um als Revue gewissermassen
noch einmal es passier`n zu lassen

Zuerst war Frühling , schmolz der Schnee
dem Winter sagten wir Ade
und fasteten am vollen Tisch
Karfreitag gab es Fisch

An Ostern läuteten Narzissen
wir ruhten sanft auf Blumenkissen
und haben Pfingsten durchgeochst
ein paar Reformen durchgeboxt

und manche laue Juninacht
mit Konferenzen zugebracht
um dann, mit Sonnenbrand verseh`n
dem Stress zwei Wochen zu entgehen

Ein Hoch auf diese Wetterkarte
die bunze Presse offenbarte
das Sommerloch enthält Ozon
der Chef grüßte vom Pantheon

Der Herbst mit seinen gelben Mützen
brachte uns Pflaumen mit und Pfützen
und Abende mit Fußballspielen
ddas Laub und auch die Preise fielen

Bis schließlich im Dezember dann
auf einmal der Advent begann
Die frohe Botschaft war erhellend
der Umsatz sehr zufriedenstellend

Zum Fest gab`s ausnahmsweise Gans
und Kinderaugenlichterglanz
dazu ne wohltätige Spende
und wieder geht ein Jahr zu Ende

Fides Trautmann-Schmidt


 Enigma antwortete am 02.01.06 (08:19):

Jahresende

Verzweiflungsvoll, so geht das Jahr zu Ende;
Zehn Tage lang der Himmel schwarz verhängt.
Der Menschen Antlitz ward vom Frost zerrissen;
Die Wagenräder sind vom Schnee bedrängt.
Was mich betrifft: ich bin im Augenblicke
Als einziger von Plagen unbeschwert.
Des Morgens hab ich Reis in meiner Schale;
Des Abends hab ich Holz im Küchenherd.
Tief in der Kappe sind versenkt die Ohren,
Warm in den schweren Pelz der Leib gehüllt.
Und noch hinzu kommt dann der Wein im Becher,
Der mir die Glieder stärkt wie Frühling mild.
In Lo-yang ist, ob angesehn, ob nieder,
Kein Haushalt mehr, der nicht im Elend steckt.
An welchem Platz gäb es im Ofen Feuer,
Und welcher Topf, der nicht von Staub bedeckt?
Auf hundert Menschen kommt gewiss nicht einer,
So satt wie ich, im wohlgeheizten Haus.
Und weil ich dessen mich von Herzen schäme,
Drück ich im Lied mein ganzes Fühlen aus.
Po Chü-i (772-846)


 Enigma antwortete am 04.01.06 (11:10):

Legende von der Entstehung des Buches Taoteking
auf dem Weg des Laotse in die Emigration

Als er siebzig war und war gebrechlich
drängte es den Lehrer doch nach Ruh
denn die Güte war im Lande wieder einmal schwächlich
und die Bosheit nahm an Kräften wieder einmal zu
und er gürtete die Schuh.

Und er packte ein, was er so brauchte:
wenig, doch es wurde dies und das
So die Pfeife, die er abends immer rauchte
und das Büchlein, das er immmer las
Weißbrot nach dem Augenmaß

Freute sich des Tals noch einmal und vergaß es
als er ins Gebirg den Weg einschlug
und sein Ochse freute sich des frischen Grases
kauend, während er den Alten trug
denn dem ging es schnell genug.

Doch am vierten Tag im Felsgesteine hat ein Zöllner ihm den Weg verwehrt
"Kostbarkeiten zu verzollen?" - Keine
und der Knabe, der den Ochsen führte, sprach: "Er hat gelehrt."
Und so war auch das geklärt.

Doch der Mann in einer heitren Regung
fragte noch: "Hat er was rausgekriegt?"
Sprach der Knabe: "Daß das Wasser in Bewegung
mit der Zeit den harten Stein besiegt.
Du verstehst, das Harte unterliegt.

Daß er nicht das letzte Tageslicht verlöre
trieb der Knabe wieder nun den Ochsen an.
Und die drei verschwanden schon um eine schwarze Föhre
Da kam plötzlich Fahrt in unsern Mann
und er schrie: "He Du! Halt an!

Was ist das mit diesem Wasser, Alter?"
Hielt der Alte: "Intressiert es Dich?"
Sprach der Mann: "Ich bin nur Zollverwalter.
Doch wer wen besiegt, das intressiert auch mich.
Wenn Du's weisst, dann sprich!

Schreib mir's auf! Diktier es diesem Kinde!
So was nimmt man doch nicht mit sich fort.
Da gibt's doch Papier bei uns und Tinte
und ein Nachtmahl gibt es auch: ich wohne dort.
Nun, ist das ein Wort?"

Über seine Schulter sah der Alte
auf den Mann: Flickjoppe, keine Schuh
und die Stirne eine einzige Falte.
Ach, kein Sieger trat da auf ihn zu.
Und er murmelte: "Auch Du?"

Eine höfliche Bitte abzuschlagen
war der Alte, wie es schien, zu alt.
Denn er sagte laut: "Die fragen,
die verdienen Antwort." Sprach der Knabe: "Es wird auch schon kalt."
"Gut, ein kleiner Aufenthalt."

Und von seinem Ochsen stieg der Weise
sieben Tage schrieben sie zu zweit.
Und der Zöllner brachte Essen (und er fluchte nur noch leise
mit den Schmugglern in der ganzen Zeit.)
Und dann war's soweit.

Und dem Zöllner händigte der Knabe
eines Morgens einundachtzig Sprüche ein
und mit Dank für eine kleine Reisegabe
bogen sie um jene Föhre ins Gestein.
Sagt jetzt: kann man höflicher sein?

Aber rühmen wir nicht nur den Weisen
dessen Name auf dem Buche prangt.
Denn man muß dem Weisen seine Weisheit erst entreißen
darum sei der Zöllner auch bedankt.
Er hat sie ihm abverlangt.

Bertolt Brecht


 hl antwortete am 04.01.06 (18:44):

Boris Pasternak

In allem möchte ich zutiefst
Den Kern ergründen,
In Arbeit, Weg und Herzensnot
Die Wahrheit finden.

Ich dringe in das Wesen ein
Mit meiner Frage,
Bis an die Wurzel, bis zum Quell
Vergangner Tage.

Die Hand am Pulsschlag des Geschehns
Möchte ich halten,
Will lieben, denken, fühlen, sein,
Neues gestalten.

Oh könnte es, wenn auch zum Teil,
Mir nur gelingen,
Die Wesenheit der Leidenschaft
In Vers zu bringen.

Von Sünde gegen Pflicht und Norm,
Von Jagd und hasten,
Von schnellen Zufalls Augenblick,
von Glut und Rasten.

Ihren Beginn und ihr Gesetz
Würd ich erkennen
Und müßte ihrer Namen Klang
stets wieder nennen.

Wie einen Garten pflanz ich dann
meine Gedichte,
Dort werden Lindenbäume blühn
Zur Schnur gerichtet.

In meinen Vers dringt Minzenduft
Der Duft der Rose,
Das Gras, das Ried, gemähtes Heu,
Des Donners Tosen.


 hl antwortete am 04.01.06 (18:46):

Boris Pasternak

Feste

Ich trink die Bitternis herbstlicher Tuberosen
Von Himmeln, die in Deiner Untreu flammen,
Von Abenden und Nächten, wildes Tosen
Der Volksaufläufe trink ich, Liederstammeln

Aus dumpfen Arbeitsstätten leere Dünste
Sind wir,des guten Werkstücks ärgster Feind.
Der scharfe Westwind - Mundschenk eitler Wünsche,
Die als ein Trinkspruch in die Nacht er weint.

Ihr, Erblichkeit und Tod, seid Tischgenossen!
Im Abendrot, dieweil die Wipfel glühn,
Durchwühlt der Anapäst die Zuckerdose
Und Aschenbrödel muss ihr Kleid umziehn.

Kein Krumen mehr am Tischtuch, frisch die Dielen,
Still spricht der Vers wie leiser Kinderkuß.
Im Glück kann Aschenbrödel in der Kutsche fliehen,
Doch ist der letzte Heller fort, läuft sie zu Fuß.


 Enigma antwortete am 05.01.06 (07:52):


Van Gogh geht zur Arbeit

Van Gogh geht zur Arbeit
auf steiler abschüssiger Bahn.
Der Boden brennt ihm unter den Füßen
in kühler Dunkelheit.
Eine immer schneller sich bewegende Lavamasse
sein Wohnort.
Feuerball, flüssige Sonne.
Nicht anhalten, weiter.
Von einem Fuß auf den andern.
Nicht stehen- sitzen- liegenbleiben.
Alles versengt.
Ein Skifahrer bei der Abfahrt auf rotglühender Piste.
Zur Arbeit.
Und immer entlang dieser schwarzen Luft
in die er eingehen wird – als Rauch –
nach getaner Arbeit. Oder eher.
Weiter. Zur Arbeit.
Nichts anderes geht mehr.
Schon das leichteste Feldbett
würde in der kreisenden Hitze versinken
und sich spurlos verflüssigen.
Wirklich. Seine Glieder dürfen nie wieder weich
werden.
Nie mehr darf er sich hinlegen.
Nie eine einzige Ruhe finden.
Es ist kein Licht.
Neben dem Glutstrom nichts als uferlose Kaltluft.
Wer wirft denn den verkrüppelten Schatten
hinter und unter ihn.
Oder kommt er schon ins Rutschen.
Ist dies schon die Sengspur des sich ankündenden Sturzes.
Geh schneller, van Gogh, zur Arbeit.
Lauf. Es ist vielleicht gerade noch Zeit
zwischen Vereisen und Verglühen.
Kein Zweifel, er wird sich ums Leben laufen
bei diesen Arbeitsbedingungen.
Noch ein paar Bilder
kopfüber mit dem Flammenwerfer gemalt
immer noch einmal gegen die letzte Mauer,
die Leinwand.
Sein Gepäck will nicht leichter werden.
Er müßte sich selber durchbrennen
wie ein Blutvergießer sich hinfeuern mit Haut und
Haar.
Dann – es ist schon passiert –
geht ein dunkles, in alle Richtungen sich

dehnendes Blau
das sommerliche Bewölkung nur teilweise abdeckt
mit gelbgrünen Feldern und Wiesen
ihm auf bis zum Horizont.
Aus diesem Bild kommt keiner mehr lebend heraus.
Bis in die Mitte muß er gehen
sich einwühlen, an der Faltachse aufschlagen
oder sich zerquetschen in der plötzlichen Enge.
Die Erde reicht zu hoch, der Himmel zu tief.
Er sieht die Wolkenschweife noch hektisch das
Bild fliehen
das stärkste Blau immer hohler werden.
Er müßte hindurch.
Ganz vorn noch und winzig schon im Rücken
die Ansammlung roter Blumenköpfe.
Wie ein Fangeisen schlägt es über ihm zusammen.
Er ist zu weit gegangen.
Van Gogh ist tot.
Bei der Arbeit gestorben.
Sein Rauch steigt auf in die Kaltluft.
Sein Krüppelschatten kreist weiter auf unendlicher
Umlaufbahn.

Anne Duden

Internet-Tipp: https://de.wikipedia.org/wiki/Anne_Duden


 kropka antwortete am 06.01.06 (23:10):


Späte Zeit, Dämmerung.
Stunde, die Hoffnung, Trauer und Asche trägt.
Atemholen. Einsam sein.
Herbst der Gedanken und letzte Zuflucht für mich:
Abendland, ich achte und verachte dich,
Abendland.

Abendland, nicht meine Müdigkeit, sondern die
Sehnsucht nach Träumen lässt mich Schlaf suchen.
Die bestürzende Möglichkeit der Verwandlung
meiner Figur in andere Figuren und Schauplätze:
in den von der Vogelweide, Cervantes, Apollinaire
und James Joyce.

Kinderkreuzzüge, Scheiterhaufen,
Guillotinen, Kolonien der Ehrlosigkeit, in
Hurenböcke auf Heiligem Stuhl,
Expeditionen an den Saum des Bewusstseins,
Bankrott der guten Vorsätze, Kongresse der
zynischen Lachmeister,
Marc Aurels "Astronomie der Besinnung",
die Sturmtaufen Vasco da Gamas, Leonardos
Spiegelschrift, Gaudis Anarchie der Gebäude.
In Pablo Ruiz Picasso, der die Wünsche beim
Schwanz packte.

Den Aufstand im Warschauer Ghetto, die großen
Pogrome Armeniens und Spaniens, Parsival,
Hamlet, Woyzeck, Raskolnikow,
die Blumen des Bösen, de Sade, Hanswurst
und den "Mann ohne Eigenschaften".

Abendland, Abendland,
wir sind aus dir geboren,
wir fahren auf deinem Narrenschiff
dem Abschied entgegen.

Die Frau, bei der ich Kind war,
lehrte mich beten.
Worte, die älter waren als die Haut
an ihrem Hals.
Worte der Demut und Anmaßung.
Jetzt, mit meiner Angst, die schon
von jeher so zum Lachen war, will ich diese
Worte sprechen, wie damals vor vielen,
vielen Jahren, als ich das erste Mal begriff,
daß wir nicht an der Fähigkeit zu sterben,
sonder an der Unfähigkeit zu leben
zugrunde gehen:

Herr gib, dass ich Liebe gebe, wo Haß ist,
daß ich verzeihe, wo Schuld ist,
vereine, wo Zwietracht herrscht,

nicht um getröstet zu werden,
sondern um zu trösten,
nicht um verstanden zu werden,
sondern um zu verstehen,
nicht um geliebt zu werden,
sondern um zu lieben.

Nur dies ist wichtig.

Denn, da wir geben, empfangen wir,
da wir uns selbst vergessen, finden wir,
da wir verzeihen, erhalten wir Vergebung,
da wir sterben, gehen wir in das neue Leben.

Späte Zeit, Dämmerung.
Stunde, die Hoffnung, Trauer und Asche trägt.
Atemholen. Einsam sein.
Herbst der Gedanken und letzte Zuflucht für mich.
Abendland, ich achte und verachte dich,
Abendland.


"Abendland"

Text: ANDRE HELLER
aus: "Ruf und Echo"


 Enigma antwortete am 07.01.06 (07:24):


Die alten Geliebten
Die alten Geliebten, mit denen ich lag,
gestorben, verschollen, vergessen vor Tag,
sie sind nun auf einmal mir nahe bei Nacht,
als hätt ich mit ihnen nicht Schluß längst gemacht.
Die erste war schüchtern und kindlich und mild,
die zweite war stolz und war schön wie ein Bild;
ich konnte sie beide nicht richtig verstehn,
drum lassen so oft sie bei Nacht sich nun sehn.
Die dritte war Freundin für Weinland und Flur,
die vierte gab Lust mir wie nie eine Hur;
sie gingen von mir, als sich wandte mein Glück,
drum kommen im Elend zu mir sie zurück.
Ich sag, was ich alles zu sagen vergaß,
ich rieche das Sofa und rieche das Gras;
ich liege mit ihnen, wie niemals ich lag;
bald wird es stets Nacht sein und niemals mehr Tag.

Theodor Kramer
Aus: Laß still bei dir mich liegen. Liebesgedichte


 maedel antwortete am 07.01.06 (09:22):

Zum Wochenende etwas von Heinz Ehrhardt:


Gedanken am Samstagabend

Im Wasser schwimmt der Gummischwamm,
denn heut ist Samstag, und ich bade.
Zwei Zähne fehlen mir am Kamm,
es duftet laut nach Haarpomade.

Das Waser tropft ins Abflußrohr,
der Stöpsel scheint nicht gut zu schließen.
Ich habe Seife in dem Ohr
und Hühneraugen an den Füßen.

Das Wasser ist schon stark getrübt,
und mühsam wälzen sich die Fluten.
Ich bin seit vorgestern verliebt,
da hilft kein Blasen und kein Tuten.


 kropka antwortete am 07.01.06 (13:29):

guten morgen, ihr lieben!
;)

Einschlaf und Aufwachelied

Schlaf ein, mein Lieb, sonst ist die Nacht
Vorbei und hat uns nichts gebracht
Als wirre irre Fragen
Gib mir dein' Arm und noch ein' Kuss
Ich muß ja durch den Schlafefluß
Und will dich rüber tragen

Wach auf, mein Lieb, du schläfst ja noch!
Komm aus den dunklen Träumen hoch
Und freu dich an uns beiden!
Die Sonne hat längst dein Gesicht
Gestreichelt, und du merkst das nicht
- das mag ich an dir leiden.

WOLF BIERMANN


 kropka antwortete am 07.01.06 (13:32):

Zwei Wünsche.


Ach, zwei Wünsche wünscht' ich immer
Leider immer noch vergebens.
Und doch sind's die innig-frommsten,
Schönsten meines ganzes Lebens!
Daß ich alle, alle Menschen
Könnt' mit gleicher Lieb' umfassen,
Und daß Ein'ge ich von ihnen
Morgen dürfte hängen lassen.


Adolf Glaßbrenner
(1810-1876)


 kropka antwortete am 07.01.06 (13:42):

Die Wahren Abenteuer Sind Im Kopf

Ich wär ein schlechter Kapitän,
die Meridiane sind mein Handwerk nicht.
Und trommelte auch der Regen in den Tropen
Neuguineas die Mangoblätter wund,
es heißt, am Ende aller Reisen weiß man doch
wiederum die Erde rund.

Und Abendstern und Kleiner Bär
sind Feuer in der schwarzen Wiese über meinem Haus.

Die wahren Abenteuer sind im Kopf,
und sind sie nicht im Kopf, dann sind sie nirgendwo.
Die wahren Abenteuer sind im Kopf,
und sind sie nicht im Kopf, dann sind sie nirgendwo.

Der Maskenhändler mit der Blutmaschine,
der Detektiv der kühlen Worte,
das Saltorückwärts-Kind mit Bakelitperücke,
die Schmerzensdienerin des Hokusei,
Sie alle sind in meinem Kopf, und sind sie nicht
in meinem Kopf, dann sind sie nirgendwo.
Sie alle sind in meinem Kopf, und sind sie nicht
in meinem Kopf, dann sind sie nirgendwo.

Im Jahr der Insekten, dem Dreimonatsjahr,
gleitet von Ferne in der Nähe, bizarre,
gefräßige Architektur aus Stachel
und Zange, Schere und Lärm und stielt
die Schatten aus den Zweigen und dringt
in den Traum des Soldaten. Und die kleinen
Gebärden der Hasardeure werden wie Segel eingeholt.

Die wahren Abenteuer sind im Kopf, in meinem Kopf,
und sind sie nicht in meinem Kopf, dann sind sie nirgendwo.

Die wahren Abenteuer sind im Kopf, in deinem Kopf,
und sind sie nicht in deinem Kopf, dann suche sie.
Die wahren Abenteuer sind im Kopf, in euren Köpfen,
und sind sie nicht in euren Köpfen, dann suchet sie.

Die Wirklichkeit, die Wirklichkeit trägt wirklich ein
Forellenkleid und dreht sich stumm,
und dreht sich stumm nach anderen Wirklichkeiten um.

ANDRE HELLER


 Enigma antwortete am 08.01.06 (20:19):

Günter Kunert
Gedicht zum Gedicht

Mehr als ein Gedicht
ist beispielsweise: Kein Gedicht,
denn das Nichtgedicht lebt
als sanfte Lauheit der Inspiration:
Umweltgefühl
des Tropfens im Wasser.
Der Leib fühlt sich geborgen.
Das Herz fühlt nichts.
Die Waage ist ausgeglichen.
Das Lot hängt still.
Gedicht ist Zustand,
den das Gedicht zerstört,
indem es
aus sich selber hervortritt.

https://www.radiobremen.de/online/kunert/


 hl antwortete am 09.01.06 (18:41):

fortschritt

damals noch
gab ich mich
wünschen hin
wie blumen
die nie welken
in einem licht,
das nichts verbirgt.

doch gab ich mich
dann küssen hin
so kurz nur blühend
wie gepflückter mohn
und wörtern
die so feurig
wie ein streichholz leuchten.

ich muß heut voller wehmut
daran denken,
weil ich gerad
herunterschrubb'
den staub
von meinen träumen
plastikrosengleich
im schein der neonröhre.


---

es sah aus
wie liebe

es hörte sich an
wie liebe

es schmeckte
wie liebe

und vertrömte
den verführerischen geruch
von ewigkeit.

es offenbarte sich
als sintflut -
was auch immer es war.

seitdem bin ich
schon meilenweit
nach osten getrieben

Natalia Domagala in "bitte 4cl von deiner liebe für meinen tee" Tenea Verlag, Berlin 2005 ISBN 3-86504-134-5


Eine phantastische Sprache!

Internet-Tipp: /seniorentreff/de/09DkkavZy


 kropka antwortete am 11.01.06 (21:02):

Die Luft riecht schon nach Schnee, mein Geliebter
Trägt langes Haar, ach der Winter, der Winter der uns
Eng zusammenwirft steht vor der Tür, kommt
Mit dem Windhundgespann. Eisblumen
Streut er ans Fenster, die Kohlen glühen im Herd, und
Du Schönster Schneeweißer legst mir deinen Kopf in den Schoß
Ich sage das ist
Der Schlitten der nicht mehr hält, Schnee fällt uns
Mitten ins Herz, er glüht
Auf den Aschekübeln im Hof Darling flüstert die Amsel


Sarah Kirsch (geb. 1935)

https://www.dradio.de/dlf/sendungen/lyrikkalender/453673/


 Enigma antwortete am 12.01.06 (07:51):


Elegie

Ich bin der schöne Vogel Phönix
Schüttle mich am Morgen, sage
Pfeif drauf! bekomme sie, meine Seele
Gänseblümchenweiss
Ich bin
Der schöne Vogel Phönix
Aber durch das
Flieg ich nicht wieder

Sarah Kirsch

Internet-Tipp: https://www.litlinks.it/k/kirsch_s.htm


 kropka antwortete am 12.01.06 (15:35):

Anrede

Ich bin der Wind das
Spinnenschrittchen auf dein
Schönroten Mund

Sarah Kirsch

Internet-Tipp: https://www.deutsche-liebeslyrik.de/kirsch.htm


 Enigma antwortete am 13.01.06 (14:00):

dableibt

liebe ist das
was dableibt
die, auch wenn
das tauschgeschäft
schief liegt,
dableibt
gelegentlich flieht liebe
aus dem offenen fenster
flieht den vielen worten
liebe lebt auf dem saturn
wenn jemand sagt:
was hab ich davon
in der stille
kehrt sie zurück
und deine schritte sind
wieder schritte in der welt
deine augen nicht mehr
sortiermaschine, feinde nur
armen würstchen, freunde
getreide und knisternde küche
liebe mag das turnen
auf laken, gleichermaßen
den zögernden und
den kräftigen griff,
liebe verschlampt den abwasch
Udo Tiffert
(*1963)
* der Autor
schreibt Lyrik, Geschichten und Kabarett-Texte, lebt in der
Oberlausitz und Berlin. Zuletzt erschien:
"Die Geschichten 2002-2005", August 2005
© beim Autor. https://www.udotiffert.de

Aber er hat es mir erlaubt, das Gedicht hier einzustellen. :-)


 Literaturfreund antwortete am 16.01.06 (11:32):

Damit die schöne Spur wichtiger Gedicht nicht verloren geht:
Wer schrieb denn dieses a k t u e l l e Gedicht…?

EINE FRAGE:

Da stehn die Werkmeister – Mann für Mann.
Der Direktor spricht und sieht sie an:
"Was heißt hier Gewerkschaft! Was heißt hier Beschwerden!
Es muß viel mehr gearbeitet werden!
Produktionssteigerung! Daß die Räder sich drehn!"
Eine einzige kleine Frage:
Für wen?

Ihr sagt: die Maschinen müssen laufen.
Wer soll sich eure Waren denn kaufen?
Eure Angestellten? Denen habt ihr bis jetzt
das Gehalt, wo ihr konntet, heruntergesetzt.
Und die Waren sind im Süden und Norden
deshalb auch nicht billiger geworden.
Und immer noch sollen die Räder sich drehn …
Für wen?

Für wen die Plakate und die Reklamen?
Für wen die Autos und Bilderrahmen?
Für wen die Krawatten? die gläsernen Schalen?
Eure Arbeiter können das nicht bezahlen.
Etwa die der andern? Für solche Fälle
habt ihr doch eure Trusts und Kartelle!
Ihr sagt: die Wirtschaft müsse bestehn.
Eine schöne Wirtschaft!
Für wen? Für wen?

Das laufende Band, das sich weiterschiebt,
liefert Waren für Kunden, die es nicht gibt.
Ihr habt durch Entlassung und Lohnabzug
sacht eure eigne Kundschaft kaputt gemacht.
Denn Deutschland besteht – Millionäre sind selten –
aus Arbeitern und aus Angestellten!
Und eure Bilanz zeigt mit einem Male
einen Saldo mortale.

Während Millionen stempeln gehn.
Die wissen, für wen.

Unter Angabe des Pseudonyms Theobald Tiger
(Ersterscheinung: Die Weltbühne, 27. Januar 1931, Nr. 4, S. 123)


 Marina antwortete am 16.01.06 (11:42):

Das ist Tucholsky und weiterhin oder wieder hoch aktuell, sogar aktueller denn je, fast beängstigend. Wiederholt sich Geschichte vielleicht doch?


 Literaturfreund antwortete am 16.01.06 (15:23):

Ja... - Tucholsky ist jetzt ein nachdruckfreier Autor; vor 70 Jahren verstorben.
Es erscheinen jetzt viele Texte von ihm im Internet.

Die freie Wirtschaft

Ihr sollt die verfluchten Tarife abbauen.
Ihr sollt auf euern Direktor vertrauen.
Ihr sollt die Schlichtungsausschüsse verlassen.
Ihr sollt alles Weitere dem Chef überlassen.
Kein Betriebsrat quatsche uns mehr herein,
wir wollen freie Wirtschaftler sein!
Fort die Gruppen – sei unser Panier!
Na, ihr nicht.
Aber wir.

Ihr braucht keine Heime für eure Lungen,
keine Renten und keine Versicherungen.
Ihr solltet euch allesamt was schämen,
von dem armen Staat noch Geld zu nehmen!
Ihr sollt nicht mehr zusammenstehn -
wollt ihr wohl auseinandergehn!
Keine Kartelle in unserm Revier!
Ihr nicht.
Aber wir.
Wir bilden bis in die weiteste Ferne
Trusts, Kartelle, Verbände, Konzerne.
Wir stehen neben den Hochofenflammen
in Interessengemeinschaften fest zusammen.
Wir diktieren die Preise und die Verträge -
kein Schutzgesetz sei uns im Wege.
Gut organisiert sitzen wir hier …
Ihr nicht.
Aber wir.

Was ihr macht, ist Marxismus. Nieder damit!
Wir erobern die Macht, Schritt für Schritt.
Niemand stört uns. In guter Ruh
sehn Regierungssozialisten zu.
Wir wollen euch einzeln. An die Gewehre!
Das ist die neuste Wirtschaftslehre.
Die Forderung ist noch nicht verkündet,
die ein deutscher Professor uns nicht begründet.
In Betrieben wirken für unsere Idee
die Offiziere der alten Armee,
die Stahlhelmleute, Hitlergarden …
Ihr, in Kellern und in Mansarden,
merkt ihr nicht, was mit euch gespielt wird?
mit wessen Schweiß der Gewinn erzielt wird?
Komme, was da kommen mag.
Es kommt der Tag,
da ruft der Arbeitspionier:
"Ihr nicht.
Aber Wir. Wir. Wir."

(Unter „Theobald Tiger“; zuerst in „Die Weltbühne“. 4. März 1930, Nr. 10, S. 351. * Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. 1930. 2003. S. 80f.

Internet-Tipp: https://www.sudelblog.de


 Enigma antwortete am 18.01.06 (08:20):


Ono no Komachi (9. Jh.)

Seit ich im Schlaf

Seit ich im Schlaf
den Mann gesehen, den ich
von Herzen liebe,
seit dieser Zeit erst liebe ich
der Träume bunte Falter.

https://www.deutsche-liebeslyrik.de/landschaft/landschaft19.htm


Es lohnt sich auch, die Homepage des Malers zu besuchen - she. Internet-Tipp!

Internet-Tipp: https://lars.rhea.tacotec.de/index.php


 mmargarete01 antwortete am 18.01.06 (15:03):

Der rauhe Gesell

Ruhelos zieht der rauhe Gesell
über Wiesen und Felder.
Unbarmherzig schlägt er zu
und streift noch die Wälder.
Kristalle gehen ihm nie aus.
schmeißt mit Schnee zu hauf.
Der rauhe Gesell pustet alles an,
Eisblumen malt er so gut er kann.
Im Eisschloss zieht er sich zurück,
wenn das Frühjahr Menschen beglückt.

© Margret Nottebrock


 kropka antwortete am 18.01.06 (23:34):

_ _ _


nachts,
wenn
die gesichter sich dehnen,
uns die träume
verschlucken,
klackern die absätze
des mondes
die treppe herauf.


_ _ _


dein herz, mutter –
mit cremefarbenen wänden
den vielen durchgangszimmern
mit den zehnfarbigen fenstern
so offen die türen.
dein herz, mutter –
hoch oben
zwischen den wolken
im letzten stock
ohne fahrstuhl.


Natalia Domagala
"bitte 4 cl von deiner liebe für meinen tee
113(Liebes-)Gedichte" TENEA Verlag, Berlin 2005

Internet-Tipp: https://www.tenea-verlag.de/verlagsprogramm/index.php?autor_ID=261


 mmargarete01 antwortete am 19.01.06 (10:46):

Noch einmal dein Lächeln sehen

Zeig mir noch einmal dein Lächeln,
ich weiß dass du für immer gehst.
Meine Trauer werde ich nicht zeigen,
auch keine Tränen um dich weinen.
Dein Lächeln soll mir im Herzen bleiben.

© Margret Nottebrock


 Enigma antwortete am 19.01.06 (18:03):





Die Sesshaften

Oft beunruhigt sie das Glück,
sesshaft geworden zu sein.
Sie planen Umzüge, Reisen,
wechseln das Stammlokal,
wechseln die Stellung,
den Standpunkt, die Frau.

Sie träumen von fremden Ländern
und hoffen, in anderen Räumen
verändert zu erwachen.

Sie suchen den neuen Spiegel
für ihr altes Gesicht
und sehnen sich manchmal
nach Feuersbrünsten,
ohne versichert zu sein.

Wolfgang Bächler

Internet-Tipp: https://www.titel-forum.de/modules.php?op=modload&name=News&file=article&sid=3415


 kropka antwortete am 20.01.06 (23:26):


"An einen Ratsuchenden"

Aromatherapie, Eheberatung, Diät
oder Mensch ärgere dich nicht spielen,
an der Pforte des Trappistenklosters läuten
und ein neues Leben anfangen,

das ist auch keine Lösung.
Das Zweitstudium hast du hinter dir,
und in Tibet warst du auch schon einmal.
Einmal ist keinmal, glaubst du.
Nur zu, alter Esel! Uns aber
bleibst du bitte vom Leib
mit deinem Gewinsel.
Auf so einen wie dich
können wir nämlich verzichten.

AN EINEN RATSUCHENDEN
Von Hans Magnus Enzensberger

(Die Geschichte der Wolken. Suhrkamp Verlag Frankfurt 2004)


 Enigma antwortete am 21.01.06 (12:41):

Freiheit

Ich kann dich lieben oder hassen –
Ganz wie du willst. (Kann dich auch lassen.)
Und du kannst schweigen oder sprechen.
Ganz wie du willst. Daran zerbrechen
Werd ich nicht mehr. (Ich kann auch gehn.)
Ganz wie ich will, wird es geschehn.

Eva Strittmatter

Internet-Tipp: https://www.mdr.de/doku/archiv/kultur/232389.html


 kropka antwortete am 21.01.06 (14:28):

WENN DU SAGST

Weine nicht im Brief
schreib nicht das Schicksal hätte dir einen Tritt versetzt
es gibt auf Erden keine Situationen ohne Ausweg
wenn Gott die Tür schließt-öffnet er ein Fenster

erhol dich schau hin
von den Wolken fallen
kleine große Unglücksfälle nötig für das Glück
und lerne die Ruhe von den gewöhnlichen Dingen
und vergiß dass du bist wenn du sagst ich liebe

Jan Twardowski
1.06.1915 - 18.01.2006

Übertragen von Karl Dedecius

Internet-Tipp: https://www.welt.de/data/2006/01/20/833618.html


 Enigma antwortete am 21.01.06 (19:49):

Heimatlos

Und stelltest du einst mir,
die sich Heimatlose nennt,
die sanfte Frage,
welch Bild ich in mir trage,
von dem, was ihr Heimat nennt,
so sagte ich:
ein Turm vielleicht, umwachsen
von den dunklen Ranken eines Efeus
nein, besser noch, ein Mühlenhaus,
in dessen Flügeln des Gewerks
der Singsang niemals ruht zu künden
vom ewigen Gebet des Windes,
der Meister ist des Tanzes und der Zeit.
Glückseligkeit, fänd meinen Platz ich einst
auf einer Insel oder auch
inmitten jenes Bergs, der Nabel
meines kleinen Kindheitsdorfes war …
Doch denk ich nach mit allem Ernst,
der meinem Sehnen zu Gebote steht,
so sei's mir doch am liebsten
eins dieser buntgeschmückten Zelte
am Feuer eines Karawan-Serails,
das Schutz gewährt dem Ruhelosen,
der von den Träumen lebt,
wie unsereins vom Brot
der unerfüllten Hoffnung.
Und erst zuletzt,
nach mannigfacher Irreführung
deines Anteilnehmens,
gestände ich dir ein,
dass jeder Platz mir Heimat wäre,
den du in deinem Herzen
mir gewährst.

Penny McLean


 kropka antwortete am 22.01.06 (14:23):


Noch ist Raum
für ein Gedicht

Noch ist das Gedicht
ein Raum

wo man atmen kann


Rose Ausländer


 Enigma antwortete am 23.01.06 (08:59):

Und mich

Wenn du willst
nehme ich alles
zurück meine Tränen
fließen mir in die Augen
mein Lachen flieht
hinter meine Lippen
scheuen vor deinen
zurück hast du
alles genommen
was will ich
mehr als alles
zurück.

Alle hastigen Züge zu dir
fahre ich zurück durch
die platten Wiesen kaum
Mai. Jede Ankunft
bei dir ein Abschied mehr.
Jedes Wort schlag ich mir
in die Kehle
zurück
nehm ich alles
was du nicht willst
und mich.

Ulla Hahn

Internet-Tipp: https://www.lyrikwelt.de/autoren/hahnulla.htm


 polykrit antwortete am 23.01.06 (17:21):

GAR NICHT AUSZUDENKEN

Heil-, kopf-, geist- und ahnungslos
bleibt der Mensch ein Fleischklops bloß.

Nur, den Führern, welche Pein,
geht er immer auf den Leim.
Folglich muss er sich beim Denken
hoffnungslos auf sich beschränken.
Ist er davon überzeugt,
bleibt sein Denken ICH-gebeugt.
Rela- sowie subjektiv
denkt der Mensch im Kollektiv,
von der Wiege bis zur Bahre,
dass er eine Meinung habe,
über alles was geschieht.

Wenn er blind ins Abseits flieht,
wo die „Ismen“ auf ihn warten,
hat er wieder schlechte Karten,
da erneut er denken lässt.
Zwischen Cholera und Pest
wählt natürlich niemand gerne.
Also stehen seine Sterne
schlecht bis absolut verquer
für die Zukunft. Denn das Heer
derer, die den Bauch verschmähen,
für das Absolut-Verstehen,
wächst rapide weiter an.
Also denke stets daran:

Heil-, kopf-, geist- und ahnungslos
bleibt der Mensch ein Fleischklops bloß!


 kropka antwortete am 23.01.06 (19:58):

Fink und Frosch

Wenn einer, der mit Mühe kaum
Geklettert ist auf einen Baum,
Schon meint, daß er ein Vogel wär,
So irrt sich der.

Wilhelm Busch


Ein Kurzgedicht, das Bände spricht ;-))


 Enigma antwortete am 24.01.06 (08:17):

Da ich aus dem Ruhrgebiet komme, möchte ich mal einen Songtext der "Misfits" hier einstellen, die vielleicht einigen bekannt sind, sich aber inzwischen getrennt haben.
Die beiden Frauen verfolgen nun eine Solokarriere.
Frau Jahnke hat mir sehr nett die Erlaubnis erteilt, den Text hier einzustellen.


missfits ihr oberhausen

die wurst auffem grill am rhein-herne-kanal
oder pommes rot-weiß auffer hand, ganz egal ,
kannse samstach abend ein bierchen trinken,
und zwischendurch mal nem schiffchen winken
wer is schon so blöde, spazieren zu gehn,
wenn bei ebbe anner emscher die winde wehn
stehse auffem gasometer im sturmesbrausen
und alles, watte siehst, is oberhausen

die neue mitte der stadt is ein kaufparadies,
doch wat willse dir holen mit so wenig kies
früher fuhrse nach venlo, um kaffee zu kriegen,
heute siehse im centro die holländer fliegen
wat soll dat, dat macht nix, dat stecken wir weg
genau wie die zechen, die kohle, den dreck
lieber auffem gasometer im sturmesbrausen
und alles, watte siehst, is oberhausen

zehntausend plätze, um bier zu konsumieren
und jede menge büsche, sein herz zu verlieren,
am sonntag im kaisergarten sich küssen,
bei den hängebauchschweinen tiger vermissen
andere städte haben auch einen zoo,
aber so wie bei uns issat nirgendwo, (nirgendwohooooo),
lieber auffem gasometer im sturmesbrausen
und alles, watte siehst, is oberhausen

wenn die sonne versinkt über der A 3
is der rest der welt dir total einerlei
alle spielense fussball, aber keiner kommt weiter
als bis kurz vor der liga, als ewiger zweiter,
und dann stehse anner ecke, anner bude, mit ner fluppe
münchen und hamburg sind dir völlig schnuppe
lieber auffem gasometer im sturmesbrausen
und alles, watte siehst, is oberhausen

und wennze mich fragst, wat soll ich noch hier,
dann komm doch ma gucken, dann zeig ich et dir
kommse auffen gasometer im sturmesbrausen
und alles, watte wills, is ......oberhausen


Musik: Manfred Miketta
Text: Gerburg Jahnke/Stephanie Überall
Verlag ROOF Musik GmbH, Bochum

Internet-Tipp: https://www.fraujahnke.de


 Enigma antwortete am 24.01.06 (09:33):

...Sorry, da habe ich doch tatsächlich die Missfits nur mit einem "s" geschrieben.
Zur Strafe noch ein Hinweis auf Stephanie Überall, der Zweiten des ehemaligen Duos. :-))

https://www.missfits.de/uberall.html


 kropka antwortete am 24.01.06 (23:47):

Abschied von der Junggesellenzeit

Agathe, wackel nicht mehr mit dem Busen!
Die letzten roten Astern trag herbei!
Laß die Verführungskünste bunter Blusen,
Das Zwinkern laß, den kleinen Wohllustschrei...
Nicht mehr für dich foxtrotten meine Musen -
Vorbei - vorbei -
Es schminkt sich ab der Junggesellenmime:
Leb wohl! Ich nehm mir eine Legitime!

Leb, Magdalene, wohl! Du konntest packen,
Wenn du mich mochtest, bis ich grün und blau.
Geliebtendämmerung. Der Mond der weißen Backen
Verdämmert sacht. Jetzt hab ich eine Frau.
Leb, Lotte, wohl! Dein kleiner fester Nacken
Ruht itzt in einem andern Liebesbau...
Lebt alle wohl! Muß ich von Kindern lesen:
Ich schwör sie ab. Ich bin es nicht gewesen.

Nur eine bleibt mir noch in Ehezeiten -
In dieser Hinsicht ist die Gattin blind -,
Dein denk ich noch in allen Landespleiten:
Germania! Gutes, dickes, dummes Kind!
Wir lieben uns und maulen und wir streiten
Und sind uns doch au fond recht wohlgesinnt...
Schlaf nicht bei den Soldaten! Das setzt Hiebe!
Komm, bleib bei uns! Du meine alte Liebe - !

Kurt Tucholsky


 Enigma antwortete am 25.01.06 (07:39):

Der Bauer nach geendigtem Prozeß

Gottlob, daß ich ein Bauer bin
Und nicht ein Advokat,
Der alle Tage seinen Sinn
Auf Zank und Streiten hat.
Und wenn er noch so ehrlich ist,
Wie sie nicht alle sind,
Fahr ich doch lieber meinen M...
In Regen und in Wind.
Denn davon wächst die Saat herfür,
Ohn Hilfe des Gerichts;
Aus nichts wird etwas denn bei mir,
Bei ihm aus etwas nichts.
Gottlob, daß ich ein Bauer bin,
Und nicht ein Advokat!
Und fahr ich wieder zu ihm hin,
So breche mir das Rad!

Matthias Claudius


 kropka antwortete am 25.01.06 (10:25):

EHEKRACH ...

"Ja!"
"Nein!"
"Wer ist schuld?"
"Du!"
"Himmeldonnerwetter, laß mich in Ruh!"
"Du hast Tante Klara vorgeschlagen!
Du läßt Dir von keinem Menschen was sagen!
Du hast immer solche Rosinen!
Du willst bloß, ich soll verdienen, verdienen -
Du hörst nie. Ich red Dir gut zu ...
Wer ist schuld?
"Du."
"Nein."
"Ja."

"Wer hat den Kindern das Rodeln verboten?
Wer schimpft den ganzen Tag nach Noten?
Wessen Hemden muß ich stopfen und plätten?
Wem passen wieder nicht die Betten?
Wen muß man vorn und hinten bedienen?
Wer dreht sich um nach allen Blondinen?
"Du - !"
"Nein."
"Ja."
"Wem ich das erzähle...!
"Ob mir das einer glaubt -
und überhaupt!"
"Und überhaupt!"
"Und überhaupt!"

Ihr meint kein Wort von dem, was ihr sagt:
Ihr wißt nicht, was Euch beide plagt.
Was ist der Nagel jeder Ehe?
Zu langes Zusammensein und zu große Nähe.

Menschen sind einsam. Suchen den andern.
Prallen zurück, wollen weiter wandern ...
Bleiben schließlich ... Diese Resignation:
Das ist die Ehe. Wird sie Euch monoton?
Zankt Euch nicht und versöhnt Euch nicht:
Zeigt Euch ein Kameradschaftsgesicht
und macht das Gesicht für den bösen Streit
lieber, wenn ihr alleine seid.

Gebt Ruhe, ihr Guten! Haltet still.
Jahre binden, auch wenn man nicht will.
Das ist schwer: ein Leben zu zwein.
Nur eins ist noch schwerer: einsam sein.

Kurt Tucholsky


 kropka antwortete am 25.01.06 (10:37):

SCHNEEWITTCHEN

hinter den sieben Bergen
betrügt mich
mit sieben Zwergen
die dumme Liese
braucht sieben Berge
braucht sieben Zwerge
Ich war ihr Riese.

Peter Maiwald

Guter Dinge. DVA , Stuttgart 1987


 Enigma antwortete am 25.01.06 (10:56):

Anna Ritter
Schneewittchen in der Wiege

So stille ist's im Schlosse,
Geht Alles auf den Zeh'n,
Die Bronnen hört man rauschen,
Die Winde hört man wehn.

Schneewittchen in der Wiegen
Träumt lächelnd für sich hin,
Die Mutter schaukelt's leise,
Die blasse Königin.

Sie singt ein altes Liedchen,
Das hat so wehen Klang,
Durch hohe Bogenfenster
Schwebt zitternd der Gesang.

Da reckt der Tag die Glieder
Die Tauben werden wach,
Die Sonne klettert lustig
Bis auf des Schlosses Dach.

Schneewittchen in der Wiegen
Träumt lächelnd für sich hin
Die Mutter ist gestorben,
Die blasse Königin.
:-))


 kropka antwortete am 25.01.06 (12:18):

Es legte Adam sich im Paradiese schlafen;
da ward aus ihm das Weib geschaffen.
Du armer Vater Adam, du!
Dein erster Schlaf war deine letzte Ruh.

Matthias Claudius


 Enigma antwortete am 25.01.06 (12:41):


Ein modernes Weib

Ein Mann beleidigte ein Weib. Es war
Von jenen schnöden Thaten eine, die
Kein Weib vergessen und vergeben kann.
Geraume Zeit verstrich. Da eines Abends
Ward an die Thür des Frevlers laut gepocht.
Er rief: "Herein", und sah voll tiefen Staunens,
In Trauerkleidern eine Frau vor sich.
Sie schlug den Schleier bald zurück. Er blickte
In ihre großen stolzerstarrten Augen,
In diese großen schmerzversengten Augen ...
Er lächelte verlegen, denn ein Schauer
Erfaßte ihn ... Er bot ihr höflich Platz,
Sie aber dankte, und mit ruhiger Stimme
Sprach sie zu ihm: "Du hast mich schwer beleidigt,
Es war nur Gott dabei ... vor diesem Gott,
Vor dir, und mir allein, will ich den Flecken
Den Makel meiner Ehre, zugefügt
Von deiner Hand, verlöschen.
Höre nun!
Um dies zu thun, bleibt mir ein Mittel nur:
Ich kann nicht gehn, um einem fremden Menschen
Das was ich selbst mir kaum zu sagen wage,
Zu offenbaren. Für mich herrscht kein Richter,
Er wär' denn blind und taub und stumm, deshalb
(Ein Schildern des Vergangenen glich' aufs Haar
Der neuen That, hieß' selber mich entehren),
Deshalb gibt's eins nur: hier sind Waffen, wähle!"
Sie stellte auf den Tisch ein Kästchen hin
Und öffnete den Deckel. - -
Lange standen
Die beiden Menschen stumm. Er sah sie an,
Sie hielt das glänzend große Aug' gerichtet
Fest auf die Waffen.
Plötzlich brach er aus
In lautes Lachen. Da durchglühte feurig
Ein tiefes Rot die farbenlosen Wangen
Der jungen Frau. Wie, wenn die ganze Antwort
Dies Lachen wär'? Sie hätte schreien mögen
Vor Wut und Elend. Aber sie bezwang sich,
Und sagte mild: "Wenn dir ein Unvorsichtiger
Zufällig auf den Fuß getreten wäre,
Du würdest ohne lange Ueberlegung
Ihm deine Karte in das Antlitz schleudern,
Nichts Lächerliches fändest du dabei.
Nun denk': nicht auf den Fuß trat mir ein Mensch,
Mein Herz trat er in Stücke, meine Ehre!
Verlang' ich mehr, als du verlangen würdest
Für einen unvorsichtigen Schritt, sag' selbst,
Ist das nicht billig?"
Lächelnd sah er ihr
Ins zornerglühte Antlitz. "Liebes Kind,
Du scheinst es zu vergessen, daß ein Weib
Sich nimmer schlagen kann mit einem Manne.
Entweder geh zum Richter, liebes Kind,
Gesteh ihm alles, gerne unterwerfe
Ich seinem Urteil mich. Nicht? Nun dann bleibt
Dir nur das eine noch: vergesse, was du
Beleidigung und Schmach nennst. Siehst du, Liebe,
Das Weib ist da zum Dulden und Vergeben ..."
Jetzt lachte sie.
"Entweder Selbstentehrung
Wenn nicht, ein ruhiges Tragen seiner Schmach,
Und das, das ist die Antwort, die ein Mann
In unserer hellen Zeit zu geben wagt
Der Frau, die er beleidigt."
"Eine andere
Wär' gegen den Brauch."
"So wisse, daß das Weib
Gewachsen ist im neunzehnten Jahrhundert,"
Sprach sie mit großem Aug', und schoß ihn nieder.

Maria Janitschek

:-))

Internet-Tipp: https://www.wortblume.de/dichterinnen/janit_b.htm


 kropka antwortete am 26.01.06 (10:18):

Bahnhof

Meine Nichtankunft in die Stadt N.
erfolgte pünktlich.

Du bist benachrichtigt worden
durch den nicht abgesandten Brief.

Du schafftest es, in der vorgesehenen Zeit
nicht zu kommen.

Der Zug kam am Bahnsteig drei an.
Viele Reisende stiegen aus.

In der Menge strebte zum Ausgang
das Fehlen meiner Person.

Einige Frauen vertraten mich
eilig
in dieser Eile.

Zu einer lief
jemand, der mir fremd war,
doch sie erkannte ihn
sofort.

Sie tauschten beide
nicht unseren Kuss,
dabei ging nicht mein
Koffer verloren.

Der Bahnhof der Stadt N.
bestand das Examen
in objektivem Dasein mit Gut.

Alles war an seinem Platz.
Die Details trieben
auf vorgezeichneten Bahnen.

Sogar das Treffen
fand wie verabredet statt.
Jenseits der Reichweite
unseres Dabeiseins.

Im verlorenen Paradies
der Höchstwahrscheinlichkeit.

Woanders
Woanders.
Wie diese Wörtchen klingeln.


Wislawa Szymborska


 kropka antwortete am 26.01.06 (10:21):

Eden

weißt Du wo das Paradies ist?
weit dort oben in dem Blau und Gold

unsere Seelen treiben im unendlichen Raum
gewärmt von der Sonne goldenen Glanz

leicht wie eine Feder
schweben wir

ohne Gedanken
nur voller Liebe und Dankbarkeit
sein zu dürfen

Heidi Lachnitt

Internet-Tipp: https://www.deutsche-liebeslyrik.de/gedicht_der_woche/gedicht_der_woche1.htm


 Enigma antwortete am 26.01.06 (11:30):


Überraschendes Wiedersehen

Wir begegnen einander höflich,
behaupten: Wie nett, sich nach Jahren wiederzusehn.
Unsere Tiger trinken Milch.
Unsere Habichte laufen zu Fuß.
Unsere Haie ertrinken im Wasser.
Unsere Wölfe gähnen vor dem offenen Käfig.
Unsere Schlangen haben sich freigeschüttelt von Blitzen,
Affen von Einfällen, Pfauen von Federn.
Die Fledermäuse sind längst aus unseren Haaren
geflüchtet.
Wir verstummen mitten im Satz,
rettungslos lächelnd.
Unsereiner hat sich
nichts mehr zu sagen.

Wislawa Szymborska
Aus: Hundert Freuden. Die Gedichte


 kropka antwortete am 26.01.06 (18:07):

einmalige gelegenheit

leben - die einzige art,
blätter zu treiben,
auf dem sand nach luft zu schnappen,
sich emporzuschwingen auf flügeln;

ein hund zu sein
oder sein fell zu streicheln;

den schmerz zu unterscheiden
von allem, was nicht er ist;

in ereignissen platz zu haben,
in aussichten unterzukommen,
zwischen irrtümern den kleinsten zu suchen.

einmalige gelegenheit,
einen augenblick lang zu behalten,
worüber man
bei gelöschtem licht sprach;

und wenigstens einmal
über einen stein zu stolpern,
nass zu werden im regen,
die schlüssel im gras zu verlieren;

dem funken im wind mit den augen zu folgen;

und ständig etwas wichtiges
nicht zu wissen.


wislawa szymborska
aus: notiz - übersetzt von karl dedecius


 kropka antwortete am 26.01.06 (18:35):

fremde zeichen

es könnte viel bedeuten: wir vergehen,
wir kommen ungefragt und müssen weichen.
doch dass wir sprechen und uns nicht verstehen
und keinen augenblick des andern hand erreichen,

zerschlägt so viel: wir werden nicht bestehen.
schon den versuch bedrohen fremde zeichen,
und das verlangen, tief uns anzusehen,
durchtrennt ein kreuz, uns einsam auszustreichen.

ingeborg bachmann -
aus: es könnte viel bedeuten


 Enigma antwortete am 27.01.06 (12:35):

Herr Mozart und das Warzenschwein

Ein Warzenschwein, das Mozart liebt,
Grunzt alles, was es von ihm gibt.
Auch mit der kleinen Nachtmusik
versucht es dann und wann sein Glück.

Herr Mozart kann das nicht ertragen:
“Das schlägt mir einfach auf den Magen.
Wann wirst`es endlich mal begreifen:
Die Nachtmusik kannst`höchstens pfeifen!”

Das Warzenschwein läuft voller Eifer
zu einem alten Regenpfeifer
und zahlt zehn Euro pro Lektion.
Jedoch - es schafft nicht einen Ton.

Vor Stress bald nur noch Haut und Knochen,
hat es die Stunden abgebrochen.
Es läßt den Mozart Mozart sein
und grunzt nur noch von Schwein zu Schwein.

Doch plötzlich droht neue Gefahr:
2006 - Das Mozartjahr.
Da heißt`s ganz cool zum Warzenschwein:
“Auch du ladst mir den Mozart ein!”

Der kommt - ist das nicht richtig nett? -
mit einem Warzenschwein-Quintett:
Dies Opus ist allein zum Grunzen.
Da kann auch`s Schwein nicht viel verhunzen.

Es bleibt sogar noch auf ein Bier,
Sagt:”fei gemütlich habt ihr`s hier.”
Und trägt in den Kalender ein:
“Einmal im Jahr zum Warzenschwein!”

Martin Geck

Das Gedicht war kürzlich in unserer Tageszeitung veröffentlicht.

Mehr zu Martin Geck:
https://www.fb16.uni-dortmund.de/musik/institut/homepages/geck/geck.shtml


 hl antwortete am 01.02.06 (08:09):

1.Februar - der Frühling ist ein Stückchen näher gekommen :-)


So wie der Baum nicht endet
an der Spitze seiner Wurzeln
oder seiner Zweige -
so wie der Vogel nicht endet
an seinen Federn und seinem Flug -
so wie die Erde nicht endet
an ihrem höchsten Berg:

So ende auch ich nicht
an meinem Arm, meinem Fuß, meiner Haut,
sondern greife unentwegt nach außen
hinein in allen Raum und alle Zeit
mit meiner Stimme und meinen Gedanken;
denn meine Seele ist das Universum.

(Norman H. Russel, Teil-Cherokee, geb. 1921)


 Enigma antwortete am 03.02.06 (10:15):

Als mein Vater ein Junge war,
kam ein alter Mann oft zu Besuch
in das Haus Mammedatys, meines
Großvaters. Es war ein hagerer
alter Mann mit zu Zöpfen
geflochtenem Haar,
der durch sein Auftreten
und die Anzahl seiner Jahre
bei allen großen Eindruck
hinterließ. Sein Name war Cheney,
und er war Pfeilmacher.
Jeden Morgen, so erzählt mir
mein Vater, bemalte Cheney
sein runzeliges Gesicht,
ging ins Freie hinaus
und betete mit lauter Stimme
zu der aufgehenden Sonne.
In meiner Vorstellung sehe ich
den alten Mann so deutlich,
als stünde er vor mir.
Ich liebe es, ihn zu betrachten,
wenn er sein Gebet spricht.
Ich weiß genau, wo er steht,
von wo er seine Stimme
ausschickt über das wogende Gras,
und ich weiß, an welcher Stelle
die Sonne emporsteigt.
Dort, in der Morgendämmerung,
kannst du die Stille spüren.
Sie ist kühl und klar
und tief wie Wasser.
Sie erfaßt dich
und läßt dich nicht mehr los.

Momaday
(Weisheit der Indianer)

In Deutschland ist meines Wissens etwas von Momaday im Unions-Verlag erschienen.

Internet-Tipp: https://www.achievement.org/autodoc/page/mom0bio-1


 hl antwortete am 03.02.06 (18:32):

"Der Historiker, Dichter und Maler N. Scott Momaday ist Kiowa-Indianer; er wuchs in einem Reservat in Südwest-Oklahoma auf. Heute lebt er in Arizona und lehrt an der anglistischen Fakultät der University of Arizona. Er hatte verschiedene Gastprofessuren an europäischen Universitäten inne, u.a. auch an der Universität Regensburg. Für seinen Erstlingsroman »House made of Dawn« erhielt er den Pulitzerpreis. Er gilt als Wegbereiter der zeitgenössischen Literatur nordamerikanischer Indianer."
Sein Buch "Im Sternbild des Bären" ist noch lieferbar. (s.u.)

Internet-Tipp: https://www.unionsverlag.com/info/person.asp?pers_id=165#biografie


 Enigma antwortete am 04.02.06 (15:27):

@hl
Danke für die Ergänzung.

Und noch zwei "Indianer-Gedichte":

"Wenn du dein Herz nicht hart werden lässt,
wenn du deinen Mitmenschen
kleine Freundlichkeiten erweist,
werden sie dir mir Zuneigung antworten.
Sie werden dir
freundliche Gedanken schenken.
Je mehr Menschen du hilfst,
desto mehr dieser guten Gedanken
werden auf dich gerichtet sein.
Dass Menschen dir wohlgesinnt sind,
ist mehr wert als Reichtum."

HENRY OLD COYOTE (Crow)


"Ich sitze in freier Natur, am See.
Die Weißen möchten,
dass ich wie sie arbeite,
wie sie viel Geld verdiene,
wie sie ein Auto kaufe
und wie sie in freier Natur, an einem See,
Urlaub mache und angle.
Ich sitze schon in freier Natur, am See ..."

KANADISCHER INDIANER


 hl antwortete am 04.02.06 (16:59):

Catarina Carsten

Die Worte proben den Aufstand.
Sie meinen's wörtlich
sie stehen auf.

Am stärksten sind die,
die lange Zeit
im Schweigen der Wüste lebten,

geflohen vor Missbrauch
gedankenloser Benützung
versuchtem Totschlag

Den Schmelz des Ursprungs
haben sie abgestreift,
die Narben nicht.

Tapfer stehen sie auf
noch einmal zu kämpfen
für die Auferstehung der Wahrheit.


 hl antwortete am 05.02.06 (10:52):

Noch etwas 'indianisches' - aus dem Archiv geholt ;-)

Mythos der Cherokee: Zur Zeit der Schöpfung erhielt der Weiße Mann einen Stein und der Indianer ein Stück Silber. Da der Weiße Mann den Stein für nichts achtete, warf er ihn fort. Der Indianer, dem das Silber ähnlich wertlos erschien, warf es ebenfalls fort. Später nahm der Weiße Mann das Silber und benutzte es als eine Quelle materieller Macht. Der Indianer nahm den Stein und verehrte ihn als eine Quelle heiliger Macht. Denn für ihn ist die kosmische Kraft eingeschlossen in einem gewöhnlichen Stein.

Ich halte diesen Türkis-Stein
in meinen Händen.
Meine Hände halten den Himmel,
gestaltet in diesem kleinen Stein.
Da steht eine Wolke am äußersten Rand.
Und die Welt liegt irgendwo darunter.
Ich wende den Stein,
und der Himmel weitet sich.
Dies ist die heitere Klarheit,
die nur in Steinen möglich ist,
der Ort eines Gefühls,
zu dem man gehört.
Ich bin glücklich,
wie ich diesen Himmel halte
in meinen Händen,
in meinen Augen
und in mir selbst.

(Simon J.Ortiz, Pueblo, geb.1941) aus "Indianischer Sonnengesang" /Rudolf Kaiser

Einen schönen sonnigen Sonntag wünsche ich allen hier.

Herzlichen Gruss.. Heidi


 Enigma antwortete am 05.02.06 (11:12):

Auch von mir einen schönen Sonntag..

Steh nicht weinend an meinem Grab,
Ich bin nicht dort unten, ich schlafe nicht.
Ich bin tausend Winde, die wehn,
Ich bin das Glitzern der Sonne
im Schnee,
Ich bin das Sonnenlicht
Auf reifem Korn,
Ich bin der sanfte Regen im Herbst.

Wenn Du erwachst in der
Morgenfrühe
Bin ich das schnelle Aufsteigen
Der Vögel
Im kreisenden Flug,
Ich bin das sanfte Sternenlicht
In der Nacht.

Steh nicht weinend an meinem Grab,
Ich bin nicht dort unten,
Ich schlafe nicht.


(American Indian)


 Enigma antwortete am 09.02.06 (09:27):

Paradies steht zum Verkauf.
In Eden ein Stück Grund
Kann wer da will erwerben
Trotz Adams Kündigung.


Emily Dickinson
Aus: Dichtungen


 mmargarete01 antwortete am 10.02.06 (12:01):

Fantasie

Gibt es noch eine andere Welt,
wo jedes Herz den Frieden findet.
Wo nie ein böses Wort fällt,
wo finde ich diese andere Welt,
wo das Wort Liebe noch zählt.

© Margret Nottebrock


 Enigma antwortete am 13.02.06 (08:07):

Wie ein behutsamer Umgang


Dein Gesicht. Wie ein schwaches Lächeln.
Eine Gefühlsstausprengung.
Eine leichte Kehrtwende. Auf der Suche.
Nach Zweisamkeiten.

Deine Lippen. Wie ein verborgener Wunsch.
Eine Abholdiensteifrigkeit.
Eine vorsichtige Angebotsseite. Im Aufbruch.
Nach Dienstbarkeiten.

Dein Körper. Wie ein Nachfrageappell.
Eine Zuspruchsbeziehung.
Eine geladene Anspruchseingabe. Auf dem Sprung.
Nach Berührungsfreuden.

Deine Sicht. Wie ein behutsamer Umgang.
Eine Zugangsgemeinschaft.
Eine wertfreie Warenprobe. Vor der Wahl.
Vielleicht sich zu vergeuden.

Deine Denke. Wie eine hochgeputschte Achterbahn.
Eine Vorteilsnahme.
Eine selbstgerechte Zauberformel. Im Gepäck.
Für Bettgeflüster.

Dein Anspruch. Wie ein schwerer Aufgabenkatalog.
Ein Einzelgängerspaß.
Ein gradliniger Selbstzweck. Im Aufbau.
Ein Ungeküsster.

Hartmut Brie
Aus: Dem Gedicht auf der Spur

Herr Brie war so nett, mir das Einstellen hier zu erlauben.

Weiterer Hinweis auf seine Kurz-Vita und einige seiner Gedichte she. Internet-Tipp!

Internet-Tipp: https://www.gedichte-brie.de


 hl antwortete am 19.02.06 (13:23):

Christian Morgenstern


Ich will aus allem nehmen, was mich nährt,
was übereinstimmt mit mir längst Vertrautem;
so wird mir manches stille Glück gewährt.

In Eurer Weisheit fand ich manch geheime
Bestätigung zu von mir selbst Geschautem
und brachte sie zu meiner Art in Reime.

Es gibt so vieles Schöne, Gute, Wahre;
wie bin ich dankbar, daß ich Mensch sein darf
und immer Neues solcher Art erfahre!'

Erfahre denn noch dies dazu: entfernt
bist du vom Ernst noch. Dein Gewissen warf
dir noch nicht vor, daß Weisheit sich nur - lernt.

Mit solchem Blumenpflücken, Kränzchenwinden -
was ist getan? sieh dir ins Angesicht
und prüfe, ach, solch allzu lau Empfinden.

Du fühlst der Weisheit Weg noch nicht als - Pflicht.
Und so: ob von Glühwürmchen oder Sternen
dir Licht zufließt - dir ist's das gleiche Licht.

Dir sind die echten Tiefen, wahren Fernen
noch stumm; sie, deren Siegel einzig bricht:
ein tiefdemütig lebenlanges - Lernen.


 Enigma antwortete am 20.02.06 (08:17):

Meinungsfreiheit

Zu keiner Zeit
paßte den Herrschaften
wie lange wird man
noch sagen dürfen?
wer wird offen oder verdeckt?
es wird geschehen sein
sie dachten Geldgier
wäre wirklich demokratisch
Frei ist nur die Sucht
sich das Terrain zurückzuholen
die Speicher zu füllen
andere Meinungen stören nur
sie hatten das einfach
prinzipiell falsch verstanden
schon immer wollten wir nur
eine bestimmte Meinung
frei geben
Sind wir nicht vorgewarnt?
man stellt sich das besser
nicht so genau vor
sind wir nicht doch sicher?
immer diese vielen Grautöne
wozu überhaupt etwas zensieren
sagen wir überhaupt etwas
was sich noch lohnte
verboten zu werden?
Marko Ferst
7/2005

Hat er mir erlaubt, der Marko Ferst, das Einstellen hier im ST.

Internet-Tipp: https://www.umweltdebatte.de/index-ohnegezuechtetedornen.htm


 Enigma antwortete am 20.02.06 (08:28):

Noch eines, das er mir netterweise mitgeschickt hat, ein etwas anderes:

Ich darf nicht denken

Weites Land
das nach Weizen duftet
ich ahnte nicht
nie wieder werde ich
in deine Arme gleiten
deine Haut spüren
hast einfach so aufgegeben
mich und dich treiben lassen
Weizenwind
wohin soll ich loslassen?
gefangen von alten Träumen
heißer, langer Sommer
eine Kette aus Küssen
wollte ich dir
noch schenken
mein Atem hält an
knappe Luft
Feldrand
Marko Ferst

2004

https://www.umweltdebatte.de/


 kropka antwortete am 20.02.06 (09:14):

..ist das s c h ö n Enigma! Beides. Vieles von Dir.
Ich bin froh, dass ich "deine Gedichte" wieder lesen darf.
..schon machte ich mir Sorgen.

Bevor du aber "gehst", sag mir bitte "wohin" ;-)
Auch du, Literaturfreund.
Bitte.

Lieben Gruß und alles Gute!
Herzlich Ewa


 Enigma antwortete am 21.02.06 (07:43):

Hallo kropka,

bitte nicht übertreiben, was mich angeht (die Gedichte kannst Du gerne loben). :-))

Joachim Ringelnatz 1883-1934

Wenn ich zwei Vöglein wär,
und auch vier Flügel hätt,
flög die eine Hälfte zu dir
und die andere, die ging auch zu Bett,
aber hier zu Haus bei mir.

Wenn ich einen Flügel hätt'
und gar kein Vöglein wär,
verkaufte ich ihn dir
und kaufte mir dafür ein Klavier.

Wenn ich kein Flügel wär
(linker Flügel beim Militär)
und auch keinen Vogel hätt',
flög ich zu dir.
Da's aber nicht kann sein,
bleib' ich im eignen Bett
allein zu zwein.


 kropka antwortete am 22.02.06 (14:29):

Selbdritt

Bin ich einmal mit mir allein,
dann mißtraue ich allen drei’n.

Stanislaw Jerzy Lec



 Enigma antwortete am 22.02.06 (17:30):

:-)
...war da etwa noch "der unsichtbare Dritte" nach Hitchcock dabei?


GEBETCHEN VOM MÄDCHEN
Sei und bleibe
mir vom Leibe.
Faß mich ja nicht an!
Weg die Hände,
sonst, am Ende
laß ich Dich noch ran.

F. W. Bernstein
Aus: Die Gedichte

Internet-Tipp: https://www.hugendubel.de/Detail.aspx?gid=1238094


 kropka antwortete am 22.02.06 (22:22):

...ich übertreibe doch gerne Enigma ;-))
und Ringelnatz liebe ich!

Im Park

Ein ganz kleines Reh stand am ganz kleinen Baum
still und verklärt wie im Traum.
Das war des Nachts elf Uhr zwei.
Und dann kam ich um vier
Morgens wieder vorbei.
Und da träumte noch immer das Tier.
Nun schlich ich mich leise - ich atmete kaum -
gegen den Wind an den Baum,
und gab dem Reh einen ganz kleinen Stips.
Und da war es aus Gips.


 Enigma antwortete am 23.02.06 (07:58):

Gerrit Engelke
Der Tod im Schacht

Zweihundert Männer sind in den Schacht gefahren.
Mütter drängen sich oben in Scharen.
Rauch steigt aus dem Schacht.
Die Kohlenwälder nachtunten glühen,
urwilde Sonnenfeuer sprühen.
Rauch steigt aus dem Schacht.
Retter sind hinabgestiegen;
kamen nicht wieder, sie blieben liegen.
Rauch steigt aus dem Schacht.
Der Brandschlund frisst seine Opfer - und lauert.
Die brennenden Stollen werden zugemauert.
Rauch steigt aus dem Schacht.
Zweihundert waren in den Schacht gefahren.
Mütter weinen an leeren Nahren.
Rauch steigt aus dem Schacht.

https://www.lyrikwelt.de/gedichte/engelkeg1.htm

Internet-Tipp: https://www.richard-dehmel.de/rdehmel/zeitgenossen/engelke.html


 kropka antwortete am 23.02.06 (08:44):

Mein Dörfchen
Von Peter Hacks

Mein Dörfchen, das heißt DDR,
Hier kennt jeder jeden.
Wenn Sie in Rostock flüstern, Herr,
Hört Leipzig, was Sie reden.

Das Mädchen, das zu lieben lohnt,
Kennt auch Ihr Freund genauer.
Es gibt nichts Neues unterm Mond,
Nicht dieserseits der Mauer.

(Die Gedichte. Edition Nautilus, Hamburg 2000)

Internet-Tipp: https://www.dradio.de/dlf/sendungen/lyrikkalender/471195/


 Enigma antwortete am 24.02.06 (07:45):

Letzter Wille

Wenn ich Pflanze werden sollte
dann lieber Wiese oder Rasen
giftiger Schierling will ich nicht sein
Wenn ich unter einem Weg begraben werde
dann sollen da oben Hochzeitskutschen fahren
nicht Panzer oder Kriegsgerät
Kinder sollen laufen über mir
nicht Soldaten, weder Flüchtling
noch Verfolger
Wenn ihr Ziegelsteine aus mir macht
dann nutzt mich in der Schule
niemals im Gefängnis
Macht Stifte aus mir, Bleistift, Filzer oder Kuli
und schreibt damit Gedichte über Liebe
nie schreibt mit mir ein Todesurteil
Wenn ich sterbe, soll ich leben in den Frühlingsblättern
doch um Gottes Willen
nie, niemals in Waffen will ich weiterleben.
Aziz Nesin

She. auch Internet-Tipp!

Internet-Tipp: https://www.ada.net.tr/nesin_vakfi/almanca/biografger.htm


 hl antwortete am 01.03.06 (17:16):

Frühling?

Ein wenig Sonne,
und der Schnee
schmilzt.

Ein wenig Wärme,
und das Eis
bricht.

Ein wenig Güte,
und Menschen
tauen auf.


 Enigma antwortete am 02.03.06 (08:07):

Klára Huková
Nacht

Seidig, samt ihrem
zerrissenen Wolkenschleier
fließt sie hinab
durchs offene Fenster
und verströmt Düfte
aus nie gelebten Landschaften
und schweigt so beunruhigend
vor Schlaflosigkeit
Geziert mit Mondsteinen
die niemals wirklich strahlen
macht sie dir vor
du könntest Eisvögel züchten
in Käfigen aus Blei
Und wenn ihr Haar
sich öffnet
gießt es sich wie ein schwarzes Meer
über die zermahlnen Diamanten
in den Tiefen

(Vor der Sonnenwende, 2002)

Klára Huková, eine interessante und mehrsprachige Frau. In welcher Sprache wohl ihre Gedichte entstehen?
She. auch Internet-Tipp!

Internet-Tipp: https://www.hurkova.de/


 Enigma antwortete am 02.03.06 (14:01):

Sorry, ich hatte den Namen entstellt. Die Dame heißt natürlich "Hurkova (das "r war mir wohl abhanden gekommen). :-)

Da ich vorher E-Mail-Kontakt mit ihr hatte wegen der Urheberrechte, hat sie mir freundlicherweise per Mail meine letzte Frage wie folgt beantwortet:

"Die Antwort auf Ihre Frage lautet: Dieses Gedicht habe ich auf Deutsch geschrieben. Ich schreibe jeweils in der Sprache, die ich gerade "im Kopf" präsent habe, d.h. die ich im Alltag spreche. Das ist meistens Deutsch, manchmal noch Tschechisch (auf Englisch habe ich nur geschrieben, als ich ein halbes Jahr in England lebte). Gelegentlich übersetze ich ein Gedicht von mir aus dem Deutschen ins Tschechische oder umgekehrt, aber selten.


Herzlich
Klara Hurkova"

Ich finde, dass sie sehr nett reagiert hat.


 hl antwortete am 04.03.06 (13:23):

Vor der Sommersonnenwende


Kornfelder unter dem hohen Himmel
sind erstarrt zwischen Frühling und Sommer.
Schwacher Geruch der Ähren
liegt verlegen
über dem flachen Land
mit schlafenden Pferden.

Dann plötzlich
trillert die hochsteigende Lerche
um den Frühling zu retten.

Eine schöne Bilder-Sprache hat sie, die Klara Hurkova.

Internet-Tipp: https://www.alkyon-verlag.de/Hurkovsonnprob.htm


 Enigma antwortete am 05.03.06 (08:43):

Gsella am Donnerstag
Unvergessene Testspiele (1)
Italien – Deutschland 74:0

Der Ball läuft gut. Sepp Ballack schaut
erfreut und neidlos zu.
Bei Gegentoren klatscht er laut
und denkt sich still: „Ja nu –

natürlich hatten wir uns hier
ein 1:1 erhofft.
Doch ist Italien mehr als wir
am Ball und trifft recht oft.

Es ist auf jeder Position
mit Weltklasse besetzt,
es strengt sich an, bekommt den Lohn,
und also führt es jetzt.

Bei uns klafft zwischen Mittelfeld
und ‚Sturm’ ein Riesenloch,
und Esel Lehmann – huch! Er hält!
Nein, Quatsch. Italien hoch!“

:-))

Internet-Tipp: https://www.titanic-magazin.de/index.php


 Literaturfreund antwortete am 05.03.06 (10:04):

Danke, enigma, für das Thema Fußball!
*

Ulla Hahn: Geballte Sehnsucht

Es sehnt sich ewig jeder Ball ins Weite
und möchte vorwärts immer vorwärts streben
von Fuß zu Fuß und nicht am Rasen kleben
nicht an die Hand und nicht hinaus zur Seite

sich schlagen lassen; vielmehr schnell und leicht
vom Mittelfeld mit spanngenauen Flanken
mit Fallrückziehern und gefälschten Pässen zur
Steilvorlage in den Strafraum ranken. Dort reicht

dem Balle sich entgegen nun der Fuß
der ihn verwandelt in die reine Lust. Der Ball
erbebt, stößt vor, zerreißt die Luft. Ein Schuß!

so von Linksaußen auf den rechten Fleck.
Es sehnt sich ewig jeder Ball ins Tor
und auch der Kahnste muß mitunter passen.

*
Ulla Hahn, veröffentlichte u.a. »So offen die Welt«, 2004

Bis zur Fußballweltmeisterschaft 2006 stellt die ZEIT eine deutsche Dichter-Nationalmannschaft auf. 33 bisher unveröffentlichte Fußballgedichte erscheinen wöchentlich im Ressort Leben. Sie werden im Radioprogramm NDR Kultur dienstags und donnerstags jeweils um 10.45 Uhr und um 19.25 Uhr ausgestrahlt.
Die Gedichte können auch unter www.ndrkultur.de/fussballgedichte abgehört werden.

© DIE ZEIT 27.10.2005 Nr.44

Internet-Tipp: https://www.zeit.de/online/2005/43/dichter_am_ball4


 kns antwortete am 05.03.06 (22:42):

Fußball-Weltmeisterschaft 2006

Auf grünem Rasen
bewegen Zweiundzwanzig
den gefleckten Ball.

Um welchen Gewinn geht es;
um Siegestore etwa?


 Enigma antwortete am 06.03.06 (09:09):

Diesen Himmel schenke ich dir

Diesen Himmel schenke ich dir.
Er ist nicht mehr neu.
Ich habe ihn öfters gebraucht,
besonders das Blaue: Du siehst
die Spuren am Einband.
Vom Abendrot sind die Ränder
zurückgeblieben, und der Regen,
du weißt, hat einige Seiten
ganz ausgeblichen. Manchmal
war auch die Sonne zu grell,
da sind mir Blätter vergilbt,
und der Nachtsturm riss eine Seite ein,
damals, da war ich nicht bei dir.
Die Sterne haben Löcher gesengt,
ich habe nicht aufgepasst, der Mond
hat die Wolken unachtsam verschoben,
das sind die Flecken im Dunkel.
Er ist nicht mehr neu, mein Himmel,
es ist nicht leicht, ihn zu lesen.
Aber die Ränder, die Risse, die Spuren
gehören mir, das verblichene Blau,
und ich schenke ihn dir, diesen Himmel.

Kay Hoff



https://top.schleswig-holstein.de/magazin/drucken.php?artikel=2743&type=

Internet-Tipp: https://www.literaturhaus-sh.de/autordetail_45.html


 Literaturfreund antwortete am 06.03.06 (11:45):

Quer durch die Zeiten, zu neuen und alten Autoren...?

Aus dem täglichen Lyrik-Kalender vom Deutschland-Radio:

„Und die Menschen gehn in Kleidern“
Gedicht von Franz Kafka

Nur ein einziges Mal wird Franz Kafka (1883-1924), der wohl größte Prosaautor und literarische Verhängnisforscher des 20. Jahrhunderts, als Lyriker sichtbar. Seiner ersten Erzählung, dem Fragment "Beschreibung eines Kampfes", in der ersten Fassung zwischen 1904 und 1906 entstanden, stellt er ein fünfzeiliges Gedicht voraus, das er noch während seines Studiums geschrieben hatte.

F.K.:
"Und die Menschen gehn in Kleidern
schwankend auf dem Kies spazieren
unter diesem großen Himmel
der von Hügeln in der Ferne
sich zu fernen Hügeln breitet."

In einem Brief an Hedwig Weiler nimmt Kafka im August 1907 dieses Gedicht als Exempel für seine Ungeselligkeit und für sein mangelndes "Interesse an den Menschen". Die Kafka-Forschung verweist auf die Ausflüge des Dichters auf die in der Moldau gelegene Schützeninsel, die damals aufgrund ihrer schattigen Kieswege ein beliebtes Ziel der Prager Bürger war. Unter dem "großen Himmel" und seiner weiten Ausdehnung zwischen den Fernen wirken die Menschen wie verloren.
*
S. URL.:

Internet-Tipp: https://www.dradio.de/dlf/sendungen/lyrikkalender/472767


 Literaturfreund antwortete am 06.03.06 (12:51):

Auch aus dem Lyrik-Kalender vom "Deutschland-Radio"

"Märznacht" von Theodor Storm

Das einsame Ich wartet schlaflos am Fenster auf ein Zeichen der Außenwelt - fast eine Urszene des romantischen Dichters. Der norddeutsche Patriot Theodor Storm (1817-1888) hat die romantische Empfindungsfähigkeit, die er bei seinem großen Vorbild Joseph von Eichendorff vorfand, für sein eigenes poetisches Verhältnis zu den Naturerscheinungen fruchtbar gemacht.

Th. Storm:
Märznacht

Am Fenster lehn ich, müd, verwacht.
Da ruft es weithin durch die Nacht. -

Hoch oben hinter Wolkenflug
Hinschwimmt ein Wandervögelzug.

Sie fahren dahin mit hellem Schrei
Hoch unter den Sternen in Lüften frei.

Sie sehn von fern den Frühling blühn,
Wild rauschen sie über die Lande hin.

O, Herz, was ist's denn, das dich hält?
Flieg mit hoch über der schönen Welt!

Dem wilden Schwarm gesell dich zu;
Vielleicht siehst auch den Frühling du!

Dann gib noch einmal aus Herzensdrang
Einen Laut, ein Lied, wie es einstens klang!

*

Den Flug der Wandervögel, die mit "hellem Schrei" dahinziehen, erlebt das Ich des Gedichts als eine Verheißung: Er steht für den Aufbruch ins Unbekannte, für die Reise zu den fernen Glücksversprechen der Vergangenheit. Lange Jahre wurde durch Storms Konzentration auf die Gattung der Novelle - er schrieb insgesamt 88 - seine "Lyrik völlig verschluckt".
Das Gedicht "Märznacht", das in den meisten Sammlungen unter dem Titel "Am Fenster lehn ich" geführt wird, stammt indes aus dem Spätwerk: Es findet sich in der "Nachlese" von 1885.
*
URL.:
Storm Büste im Husumer Schlosspark

Internet-Tipp: https://www.husum.org/media/custom/15_12_1_m.JPG


 Enigma antwortete am 07.03.06 (07:24):


Mancher Wahnsinn ist göttlichster Sinn -
Für den geschärften Blick -
Mancher Sinn - der nackte Wahnsinn -
Es ist Majorität
Die hier, wie Überall, bestimmt -
Stimm zu - und du bist kerngesund -
Ficht an - gleich fühlt man sich bedroht -
Und hängt dir Ketten um -

Emily Dickinson
Aus: Dichtungen


 kropka antwortete am 17.03.06 (12:05):

Traumstadt eines Emigranten

Ja, ich bin recht, es ist die alte Gasse.
Hier wohn ich dreißig Jahr ohn Unterlaß . . .
Bin ich hier recht?? Mich treibt ein Irgendwas,
Das mich nicht losläßt, mit der Menschenmasse.

Da, eine Sperre starrt . . . Eh ich mich fasse,
Packt's meine Arme: »Bitte, Ihren Paß!«
Mein Paß? Wo ist mein Paß!? Von Hohn und Haß
Bin ich umzingelt, wanke und erblasse . . .

Kann soviel Angst ein Menschenmut ertragen?
Stahlruten pfeifen, die mich werden schlagen,
Ich fühl noch, daß ich in die Kniee brach . . .

Und während Unsichtbare mich bespeien:
»Ich hab ja nichts getan«, - hör ich mich schreien,
»Als daß ich eure, meine Sprache sprach.«

Franz Werfel (1890-1945)

(Das Lyrische Werk. Hrsg. v. Adolf I. Klarmann. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1967)

Internet-Tipp: https://www.dradio.de/dlf/sendungen/lyrikkalender/477706/


 Enigma antwortete am 17.03.06 (15:08):

Zwölf Freier

Zwölf Freier möcht' ich haben, dann hätt' ich genug,
Wenn alle schön wären und alle nicht klug.
Einen, um vor mir herzulaufen,
Einen, um hinter mir drein zu schnaufen;
Einen, um mir Spaß zu machen,
Und einen, um darüber zu lachen;
Einen traurigen, den wollt' ich schon fröhlich herzen,
Einen lustigen, ich wollt' ihm vertreiben das Scherzen.
Einem, dem reicht' ich die rechte Hand,
Einem, dem gäb' ich die linke zum Pfand;
Einem, dem schenkt' ich ein freundlich Nicken,
Einem, dem gäb' ich ein holdes Blicken;
Noch einem, dem gäb' ich vielleicht einen Kuß,
Und dem letzten mich selber aus Überdruß.

Friedrich Rückert
Aus: Himmelhoch jauchzend - zu Tode betrübt.
Poesie für alle Liebeslagen

Natürlich ist die Zahl 12 völlig willkürlich. Es könnten auch 13 sein.
;-))


 Enigma antwortete am 18.03.06 (09:22):

Nach dem "Jux" von gestern jetzt wieder was anderes:

Kinderdrachen

Tanzend im hellen Windblau,
bunt, ohne Gedächtnis,
allein vor dem Himmel:
frei, leicht, entlassen
von Alltag und Uhren
und Allemande, schwankend
wie Liebe, maßlos,
und einen Augenblick, dann
gelassener Stillstand, klar
wie Wahrheit und Traum:
vergessen die Fessel,
einen Augenblick lang,
das Band und die Hand,
die es hält und einholt,
am Ende, zu uns herab

Von Kay Hoff ist eine Gesamtausgabe im Carl-Boeschen-Verlag erschienen; im Bd 9 sind seine Gedichte enthalten.
she. Internet-Tipp!

Internet-Tipp: https://www.carl-boeschen-verlag.de


 Literaturfreund antwortete am 22.03.06 (09:21):

dradio.de
LYRIK-KALENDER vom 22.03.2006

Ein Gedicht von Johannes R. Becher

Der Dichter Johannes R. Becher (1886-1956) begann seine Karriere als wilder Expressionist. 1910 inszenierte der psychisch labile Jungpoet einen missglückten Doppelselbstmord mit seiner Geliebten, den die junge Frau nicht überlebte. Im Januar 1919 trat der Morphinist und Suizid-Kandidat der neu gegründeten KPD bei. Später stieg er zum Vorzeige-Poeten der DDR auf, deren literaturpolitische Ideale er als erster Kulturminister idealtypisch verkörperte.

Der Turm zu Babel
Von Johannes R. Becher

Das ist der Turm von Babel,
Er spricht in allen Zungen.
Und Kain erschlägt den Abel
Und wird als Gott besungen.

Er will mit seinem Turme
Wohl in den Himmel steigen
Und will vor keinem Sturme,
Der ihn umstürmt, sich neigen.

Gerüchte aber schwirren,
Die Wahrheit wird verschwiegen.
Die Herzen sich verwirren -
So hoch sind wir gestiegen!

Das Wort wird zur Vokabel,
Um sinnlos zu verhallen.
Es wird der Turm zu Babel
Im Sturz zu nichts zerfallen.
*
(Gesammelte Werke, Bd. 1-6: Gedichte. AUFBAU Vlg., 1965-1973)
*
In seinem in den 1950er Jahren entstandenen Gedicht vom "Turm von Babel" hat Becher seine Zweifel am Siegeszug der sozialistischen Utopie deponiert. In biblischen Topoi versteckt, benennt er die Lebenslügen des realen Sozialismus. Die Akteure sind trotz solcher Camouflage leicht erkennbar: Hinter dem Erbauer des Turms, der seine Rivalen zur Strecke bringt, verbirgt sich wohl kein geringerer als Stalin, der grausame Exekutor kommunistischer Machtansprüche. Die Prognose, die der Dichter dem Erbauer des Turms stellt, ist ernüchternd.
(© 2006 Deutschlandradio)


 Heidi_hl antwortete am 25.03.06 (23:05):

Dietrun Gebert-Feth in "Selbst die Schatten tragen ihre Glut"


Dein Lächeln

Zufällig fange ich dein Lächeln ein
und stecke es
in meine Tasche
als Begleiter
für den Tag


 Heidi_hl antwortete am 25.03.06 (23:14):

Abend

Der Abend wechselt langsam die Gewänder,
die ihm ein Rand von alten Bäumen hält;
du schaust: und von dir scheiden sich die Länder,
ein himmelfahrendes und eins, das fällt;

und lassen dich, zu keinem ganz gehörend,
nicht ganz so dunkel wie das Haus, das schweigt,
nicht ganz so sicher Ewiges beschwörend
wie das, was Stern wird jede Nacht und steigt -

und lassen dir (unsäglich zu entwirrn)
dein Leben bang und riesenhaft und reifend,
so daß es, bald begrenzt und bald begreifend,
abwechselnd Stein in dir wird und Gestirn.

Rainer Maria Rilke


 kropka antwortete am 26.03.06 (12:02):

Sozusagen grundlos vergnügt

Ich freu mich, daß am Himmel Wolken ziehen
Und daß es regnet, hagelt, friert und schneit.
Ich freu mich auch zur grünen Jahreszeit,
Wenn Heckenrosen und Holunder blühen.
- Daß Amseln flöten und daß Immen summen,
Daß Mücken stechen und daß Brummer brummen.
Daß rote Luftballons ins Blaue steigen.
Daß Spatzen schwatzen. Und daß Fische schweigen.

Ich freu mich, daß der Mond am Himmel steht
Und daß die Sonne täglich neu aufgeht.
Daß Herbst dem Sommer folgt und Lenz dem Winter,
Gefällt mir wohl. Da steckt ein Sinn dahinter,
Wenn auch die Neunmalklugen ihn nicht sehn.
Man kann nicht alles mit dem Kopf verstehn!
Ich freue mich. Das ist des Lebens Sinn.
Ich freue mich vor allem, daß ich bin.

In mir ist alles aufgeräumt und heiter:
Die Diele blitzt. Das Feuer ist geschürt.
An solchem Tag erklettert man die Leiter,
Die von der Erde in den Himmel führt.
Da kann der Mensch, wie es ihm vorgeschrieben,
- Weil er sich selber liebt - den Nächsten lieben.
Ich freue mich, daß ich mich an das Schöne
Und an das Wunder niemals ganz gewöhne.
Daß alles so erstaunlich bleibt, und neu!
Ich freu mich, daß ich... Daß ich mich freu.

Mascha Kaléko


 Heidi_hl antwortete am 26.03.06 (13:50):

:-) Mascha Kaléko, eine meiner Lieblingsdichterinnen

Was tut wohl die Rose zur Winterszeit?
Was tut wohl die Rose zur Winterszeit?
Sie träumt einen hellroten Traum.
Wenn der Schnee sie deckt um die Adventszeit,
Träumt sie vom Holunderbaum.
Wenn Silberfrost in den Zweigen klirrt,
Träumt sie vom Bienengesumm,
Vom blauen Falter, und wie er flirrt...
Ein Traum, und der Winter ist um!

Und was tut die Rose zur Osterzeit?
Sie räkelt sich, bis zum April.
Am Morgen, da weckt sie die Sonne im Blau,
Und am Abend besucht sie der Frühlingstau.
Und ein Engel behütet sie still
- Der weiß ganz genau, was Gott will! -
Und dann über Nacht, wie ein Wölkchen, ein Hauch,
Erblüht sie zu Pfingsten am Rosenstrauch.

Mascha Kaléko


 kropka antwortete am 27.03.06 (22:04):

Mein liebster Traum

Die Nacht
ist nicht mehr weit
und du
mein liebster Traum
ziehst deine silberhellen
Flügel an

Gerhard Rombach

Internet-Tipp: https://home.swipnet.se/GerhardR/index.htm


 Heidi_hl antwortete am 27.03.06 (22:12):

:-)

Regenbogen

Ich tanze auf dem Regenbogen
ich fliege auf den Mond
zünd auf den Sternen die Lichter an
schau nach wer im Himmel wohnt

im Reich der bunten Phantasie
da kann ich glücklich sein
in meinen Träumen ist alles wahr
und niemand ist dort allein

Ich zünd auf den Sternen die Lichter an
ich tanze auf dem Regenbogen
und wenn du willst dann tanz mit mir
bis in den Himmel droben

/hl


 tiger antwortete am 30.03.06 (15:11):

Ich bin neu in diesem Forum und auch im ST.Kann mir jemand helfen bei der Suche nach dem Autor des folgenden Gedichtes:
Fern von euch und eurer Freude
einsam und verlassen ganz
flecht ich in Gedanken heute
Dir den stillen Myrthenkranz.

Drück ihn in die braunen Locken
sehe noch einmal so schön
Dich, von Ahnung süß erschrocken
bräutlich und errötend stehn.

Dies sind die beiden ersten Verse - es gibt noch 7 weitere!

Herzlichen Dank, falls jemand mir helfen kann.


 Enigma antwortete am 31.03.06 (10:51):

Ich
sagt diese stimme
mein erbstück
mein wortführer
mein lispelnder versucher
mein mönchischer bruder
ich teile deine zelle
die verrückten früchte
deiner hirnschale
ich bin deine hand
dein mund
ich bin da
wenn der kuß fort ist
(dein bißchen glück war immer sprachlos)
ich zimmre dir ein leben
beleg dich rückwärts mit daten
beschönige verschweige
das macht sinn
ich war dein himmelschreiender anfang
deine greisenhafte verweigerung
dein trotziges ja hier bin ich
und ich bin
auf dem rückzug
langsam
unaufhaltsam
(Doris Runge)

https://www.litlinks.it/r/runge_doris.htm

Internet-Tipp: https://www.ku-eichstaett.de/Fakultaeten/SLF/Germanistik/neueredeutschlitwi/Forschung/Doris_Runge


 kropka antwortete am 01.04.06 (10:51):

Eskapismus, ruft ihr mir zu,
vorwurfsvoll.
Was denn sonst, antworte ich,
bei diesem Sauwetter! -,
spanne den Regenschirm auf
und erhebe mich in die Lüfte.
Von euch aus gesehen,
werde ich immer kleiner und kleiner,
bis ich verschwunden bin.
Ich hinterlasse nichts weiter
als eine Legende,
mit der ihr Neidhammel,
wenn es draußen stürmt,
euern Kindern in den Ohren liegt,
damit sie euch nicht davonfliegen.

Der fliegende Robert
Von Hans Magnus Enzensberger

(Die Furie des Verschwindens. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M., 1980)


© 2006 Deutschlandradio

Internet-Tipp: https://www.dradio.de/dlf/sendungen/lyrikkalender/482023/


 Enigma antwortete am 02.04.06 (07:32):

:-)

Lied von denen, auf die alles zutrifft und die alles schon wissen

Dass etwas getan werden muss und zwar sofort
das wissen wir schon
dass es aber noch zu früh ist um etwas zu tun
dass es aber zu spät ist um noch etwas zu tun
das wissen wir schon
und dass es uns gut geht
und dass es so weiter geht
und dass es keinen Zweck hat
das wissen wir schon
und dass wir schuld sind
und dass wir nichts dafür können dass wir schuld sind
und dass wir daran schuld sind dass wir nichts dafür können
und dass es uns reicht
das wissen wir schon
und dass es vielleicht besser wäre die Fresse zu halten
und dass wir die Fresse nicht halten werden
das wissen wir schon das wissen wir schon
und dass wir niemand helfen können
und dass uns niemand helfen kann
das wissen wir schon
und dass wir begabt sind
und dass wir die Wahl haben zwischen nichts und wieder nichts
und dass wir dieses Problem gründlich analysieren müssen
und dass wir zwei Stück Zucker in den Tee tun
das wissen wir schon
und dass wir gegen die Unterdrückung sind
und dass die Zigaretten teurer werden
das wissen wir schon
und dass wir es jedes Mal kommen sehen
und dass wir jedes Mal recht behalten werden
und dass daraus nichts folgt
das wissen wir schon
und dass das alles wahr ist das wissen wir schon
und dass das alles gelogen ist das wissen wir schon
und dass das alles ist
das wissen wir schon
und dass Überstehn nicht alles ist sondern gar nichts
das wissen wir schon
und dass wir es überstehn
das wissen wir schon
und dass das alles nicht neu ist
und dass das Leben schön ist
das wissen wir schon
das wissen wir schon
das wissen wir schon
und dass wir das schon wissen
das wissen wir schon

Hans Magnus Enzensberger


 kropka antwortete am 06.04.06 (09:36):

A

Bevor du B sagst, verweile doch,
horch, bedenk,
was du gesagt hast. Ein Vokal,
der wenig bedeutet,
viel in Bewegung setzt.
Einmal den Mund aufgemacht,
und du treibst deine sterbliche Hülle
zu Leistungen an
von kosmischer Komplexität:
ganze Kaskaden von Reizen,
Berechnungen, Turbulenzen,
hinter dem Rücken dessen,
der Ich ist – vom Gehirn,
das nicht redet
und jeder Wissenschaft spottet,
zu schweigen.

Hans Magnus Enzensberger

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1995
Aus: Kiosk. Neue Gedichte
Suhrkamp, Frankfurt am Main 1995
ISBN: 3-518-40680-9

Internet-Tipp: https://www.lyrikline.org/de/


 kropka antwortete am 06.04.06 (09:42):

https://www.lyrikline.org/de/list_az.aspx?authorId=he00

Internet-Tipp: https://www.lyrikline.org/de/list_az.aspx?authorId=he00