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THEMA: Jahreswechsel
11 Antwort(en).
Enigma
begann die Diskussion am 28.12.05 (07:14) :
Das Jahr geht zornig aus. Und kleine Tage Sind viel verstreut wie Hütten in den Winter. Und Nächte ohne Leuchten, ohne Stunden, Und grauer Morgen ungewisser Bilder.
Sommerzeit, Herbstzeit, alles geht vorüber, Und brauner Tod hat jede Frucht ergriffen. Und andre kalte Sterne sind im Dunkel, Die wir zuvor nicht sahn vom Dach der Schiffe.
Weglos ist jedes Leben. Und verworren Ein jeder Pfad. Und keiner weiß das Ende, Und wer da suchet, daß er Einen fände, Der sieht ihn stumm und schüttelnd leere Hände. (Georg Heym)
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Enigma
antwortete am 28.12.05 (07:21):
Wedekind, Frank (1864-1918) Silvester
Mein Fenster öffnet sich um Mitternacht, Die Glocken dröhnen von den Türmen nieder, Die Berge leuchten rings in Flammenpracht, Und aus den dunklen Gassen hallen Lieder. Will mir der Lärm, will mir der blut'ge Schein Des nahen Völkerkriegs Erwachen deuten? - Noch ist die Saat nicht reif. Die Glocken läuten Dem neuen Jahr. - Wird es ein beßres sein? Ein neues Jahr, in dem mit blassem Neid Die Habsucht und die Niedertracht sich messen; Ein neues Jahr, das nach Vernichtung schreit; Ein neues Jahr, in dem die Welt vergessen, Daß sie ein Altar dem lebend'gen Licht; Ein neues Jahr, des dumpfe Truggewalten Den Adlerflug des Geistes niederhalten; Ein neues Jahr! - Ein beßres wird es nicht. Von Goldgier triefend und von Gaunerei, Die Weltgeschichte, einer feilen Dirne Vergleichbar, kränzt mit Weinlaub sich die Stirne, Und aus der Brust wälzt sich ihr Marktgeschrei: Herbei, ihr Kinder jeglicher Nation; An Unterhaltung ist bei mir nicht Mangel. Im Internationalen Tingeltangel, Geschminkt und frech, tanz' ich mir selbst zum Hohn. Den he'ligen Ernst der menschlichen Geschicke Wandl' ich zur Posse, daß ihr gellend lacht; Den Freiheitsdurst'gen brech' ich das Genicke, Damit mein Tempel nicht zusammenkracht. Ich bin der Friede, meine holden Blicke Besel'gen euch in ew'ger Liebesnacht; Wärmt euch an mir und schlaft bei meinem Liede Sanft und behaglich ein; ich bin der Friede! Drum segne denn auch für das künft'ge Jahr Gott euren süßen Schlaf. Das Todesröcheln Des Bruders auf der Freiheit Blutaltar Verhallt, wenn meine fleisch'gen Lippen lächeln. Nur wenn der eigne Geldsack in Gefahr, Dann tanz' ich mit den schellenlauten Knöcheln Sofort Alarm, damit euch eure Schergen Zu den geraubten neue Schätze bergen. Warum schuf Gott den Erdball rund, warum Schuf Krupp'sche Eisenwerke er in Essen, Als daß den Heiden wir mit Christentum Und Schnaps das Gold aus den Geweiden pressen. Fortsetzung!
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Enigma
antwortete am 28.12.05 (07:24):
Fortsetzung!
Ein halb Jahrtausend ist das nun schon Mode, Doch sehr verfeinert hat sich die Methode: Kauf oder stirb! Wer seines Goldes bar, Den plagt dann ferner auch kein Missionar. Ich bin der Friede, meine Schellen läuten, Sobald des Menschen Herz sich neu belebt, Und meine Füße, die den Tod bedeuten, Zerstampfen, was nach Licht und Freiheit strebt. Ich bin der Friede, und so wahr ich tanze Auf Gräbern in elektrisch grellem Glanze, Es fällt zum Opfer mir das künft'ge Jahr, Wie das geschiedne mir verfallen war! So sang die Göttin. Aber Gott sei Dank, Noch eh sie dirnenhaft von hinnen knixte, Gewahrt' ich, daß die üpp'ge Diva krank Und alt, so rot sie sich die Wangen wichste, Daß schon der Tod ihr selbst die Brust gehöhlt; Und tausend Bronchien rasselten im Chore: Der rote Saft sprengt dieses Leichnams Tore, Eh er noch einmal seine Jahre zählt. Dann wurden unterird'sche Stimmen laut: Der Mensch sei nicht zum Knecht vor goldnen Stufen, Es sei zum Herrscher nicht der Mensch berufen, Der Mensch sei nur dem Menschen angetraut. Ein dumpfes Zittern, wie aus Katakomben, Erschütterte den Boden. Alsogleich Ward jeden Gastes Antlitz kreidebleich: Bewahr' uns Gott vor Anarchie und Bomben! Ich aber denke: Eh ein Jahr vergeht, Vergeht die Kirchhofsruhe. Böse Zeichen Verkünden einen Krieg, der seinesgleichen Noch nicht gehabt, solang die Erde steht. Noch ist die Saat nicht reif, doch wird sie reifen, Und Habgier gegen Habgier greift zum Schwert; Es wird der Bruder, seines Bruders wert, Dem Bruder mörd'risch nach der Kehle greifen. Die Glocken sind verhallt, verglommen sind Die Feuerbrände und verstummt die Lieder; Die alte, ew'ge, blinde Nacht liegt wieder, Wie sie nur je auf Erden lag, so blind; Und doch äängt das Geschick an einem Haar Und läßt sich doch vom Klügsten nicht ergründen. Wie werden diese Welt wir wiederfinden, Wenn wir sie wiederfinden, übers Jahr?
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schorsch
antwortete am 28.12.05 (09:52):
Bringt uns denn das Jahresende in unserem Tun eine Wende? Ja, wir lassen böse Sachen - und werden dafür neue machen!
Schorsch
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Literaturfreund
antwortete am 28.12.05 (10:07):
So gewinne ich das NEUJAHR
Huchhuch, ich verdichte mich wieder Alles, ob an einem grauen Dezembermorgen wo pulsierend mir der Frühling im weihnachtlich geschenkten Shampoo „springs to mo boobs“: süß verschneite Seifensommerblumen träumen den Frühling mit mir.
Wegrasiert von der Musenoberlippe das graue Moos der Erinnerungen, die erstarrt sind im Schmutz der Realität, huch, wie sie vertrudeln im Abwassser. Zarte grüne Triebe, sturmstark wie das Leben kämpfen sich dem Föhn (oder Fön; man weiß ja nimmer!) und dem Licht entgegen, eine neue Tageszeit bricht an Seifheit singt ihr naturidentisches Sommerlied.
Jau, Duschen ist söööön, solange das Gas mitmischt.
Internet-Tipp: https://astro.wsu.edu/worthey/astro/html/im-sydney-harris/gas-n-dust.gif
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majanna
antwortete am 28.12.05 (10:45):
Von J.W.v. Goethe
Willst Du Dir ein hübsches Leben zimmern, mußt Dich ums Vergangene nicht kümmern; das Wenigste muss Dich verdriessen; mußt stets die Gegenwart geniessen, besonders keinen Menschen hassen und die Zukunft Gott überlassen.
Im neuen Jahre Glück und Heil! Auf Weh und Wunden gute Salben. Auf groben Klotz ein grober Keil, auf einen Schelmen anderthalben!
Wenn ich nun anstelle des Gottvertrauens in die Zukunft das Vertrauen an die Vernunft des Menschen setze, stimme ich voll mit Goethe überein.
Marianne
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Literaturfreund
antwortete am 28.12.05 (17:54):
Mariannes bzw. Goethes "Rüffel" mahnte mich doch!
Da hatte ich ein Gedicht gelesen, und habe gleich eine geseifte und gewaschene Konfraktur geschrieben, nachdem ich geduscht hatte und froh war, dass die Energiezufuhr noch klappte. * Weil ich nur solcherlei Versorgungs-Gas meinte:
https://www.eia.doe.gov/emeu/cabs/images/UkraineGasMap.jpg
*
Ansonsten, s. URL.
Internet-Tipp: https://www.ekg.gp.bw.schule.de/kaestner/mist.gif
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kropka
antwortete am 28.12.05 (18:01):
Die Zeit ist viel zu groß, so groß ist sie. Sie wächst zu rasch, es wird ihr schlecht bekommen. Man nimmt ihr täglich Maß und denkt beklommen: so groß wie heute war die Zeit noch nie.
Sie wuchs, sie wächst. Schon geht sie aus den Fugen. Was tut der Mensch dagegen? - Er ist gut. Rings in den Wasserköpfen steigt die Flut, und Ebbe wird es im Gehirn der Klugen.
Der Optimistfink schlägt im Blätterwald. Die guten Leute, die ihm Futter gaben, sind glücklich, daß sie einen Vogel haben. Der Zukunft werden sacht die Füße kalt.
Wer warnen will, den straft man mit Verachtung. Die Dummheit wurde zur Epidemie. So groß wie heute war die Zeit noch nie. Ein Volk versinkt in geistiger Umnachtung. Erich Kästner - Große Zeiten
Internet-Tipp: https://www.kultur-netz.de/literat/lyrik/kaestner/grosse_zeiten.htm
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Enigma
antwortete am 29.12.05 (17:32):
Ein Jahr ist nichts, wenn man's verputzt, ein Jahr ist viel, wenn man es nutzt. Ein Jahr ist nichts; wenn man's verflacht; ein Jahr war viel, wenn man es ganz durchdacht. Ein Jahr war viel, wenn man es ganz gelebt; in eigenem Sinn genossen und gestrebt. Das Jahr war nichts, bei aller Freude tot, das uns im Innern nicht ein Neues bot. Das Jahr war viel, in allem Leide reich, das uns getroffen mit des Geistes Streich. Ein leeres Jahr war kurz, ein volles lang: nur nach dem Vollen mißt des Lebens Gang, ein leeres Jahr ist Wahn, ein volles wahr. Sei jedem voll dies gute, neue Jahr.
Hanns von Gumppenberg
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Literaturfreund
antwortete am 31.12.05 (11:50):
Der Thoma gehört hierher - von Antonius, ... für die gegrüßt sein wollen!
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Ludwig Thoma: Silvesternacht Und nun, wenn alle Uhren schlagen, So haben wir uns was zu sagen, Was feierlich und hoffnungsvoll Die ernste Stunde weihen soll. Zuerst ein Prosit in der Runde! Ein helles, und aus frohem Munde! Ward nicht erreicht ein jedes Ziel, Wir leben doch, und das ist viel. Noch einen Blick dem alten Jahre, Dann legt es auf die Totenbahre! Ein neues grünt im vollen Saft! Ihm gelte unsre ganze Kraft! Wir fragen nicht: Was wird es bringen? Viel lieber wollen wir es zwingen, Daß es mit uns nach vorne treibt, Nicht rückwärts geht, nicht stehen bleibt. Nicht schwächlich, was sie bringt, zu tragen, Die Zeit zu lenken, laßt uns wagen! Dann hat es weiter nicht Gefahr. In diesem Sinne: Prost Neujahr! *
Ja, es "möge nützen" - die Erinnerungen an das alte - und die Erwartungen an das neue Jahr! *
?? Nachträglich was von Bergengruen (ist aber nix Neues auf der Seite...!)
Internet-Tipp: https://www.reyntjes.de/Anton/Balten/Bergengruen.%20Autor%20und%20Werk.htm
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Enigma
antwortete am 31.12.05 (14:13):
Danke für die Wünsche und den Bergengruen.
Und das muss auch noch rein:
Was denken Tiere in der Neujahrsnacht Was denken in der Neujahrsnacht die Kater und die Katzen? Sie denken, dass im alten Jahr der Mausefang bescheiden war, und strecken in das neue Jahr begehrlich ihre Tatzen. Was denken in der Neujahrsnacht die Pudel und die Möpse? Sie denken, dass nicht jeden Tag ein Knochen auf dem Teller lag, und wünschen für den Neujahrstag sich Leberwurst und Klopse.
Was denken in der Neujahrsnacht die Vögel hierzulande? Sie denken an die Storchenschar, die hier im Sommer fröhlich war und die nun wandelt, Paar um Paar, im warmen Wüstensande.
Was denken in der Neujahrsnacht die Knäblein und die Knaben? Sie denken, ob der Frost bald weicht und ob ein Mensch den Mond erreicht und ob sie nächstes Jahr vielleicht Schuhgröße vierzig haben.
Was denken in der Neujahrsnacht in aller Welt die Mädchen? Die Mädchen denken unentwegt und angeregt und aufgeregt an das, was man im Sommer trägt, ob Gretchen oder Kätzchen.
Was denken in der Neujahrsnacht die alten, alten Leute? Sie denken unterm weißen Haar, wie sonderbar das Leben war, und dass das Glück sie wunderbar geleitet hat bis heute.
James Krüss
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majanna
antwortete am 02.01.06 (12:14):
Spruch in der Silvesternacht
Man soll das Jahr nicht mit Programmen beladen wie ein krankes Pferd. Wenn man es allzu sehr beschwert, bricht es zu guter Letzt zusammen. Je üppiger die Pläne blühen, um so verzwickter wird die Tat. Man nimmt sich vor, sich zu bemühen, und schließlich hat man den Salat! Es nützt nicht viel, sich rotzuschämen. Es nützt nichts, und es schadet bloß, sich tausend Dinge vorzunehmen. Lasst das Programm! Und bessert euch drauflos!
Erich Kästner
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