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THEMA:   Neue Kurzprosa

 85 Antwort(en).

Marina begann die Diskussion am 11.08.05 (23:39) :

Ich eröffne auch hier einfach mal ein neues Kapitel. :-)

Erlebnis in einem Biergarten

Es war in einem Münchner Biergarten, da trat ein Fremder an den Tisch eines der dort Sitzenden, den wir einmal Balser nennen wollen, lupfte höflich seinen Hut und bat um eine Unterschrift. Es ginge da um einen Aufruf des Inhalts, daß Norwegen nicht türkisch werden dürfe, wenn der Herr bitte hier unterschreiben würde.
"Aber wieso soll Norwegen denn türkisch werden?" fragte Herr Balser erstaunt.
"Das soll's ja gerade nicht werden. Daher mein Aufruf. Wenn Sie also Ihre Unterschrift..."
"Sie verstehen mich nicht ganz. Gibt es denn irgendwelche Anzeichen dafür, daß Norwegen türkisch werden könnte?"
"Wenn hier jemand jemanden nicht versteht, dann sind ja wohl Sie es", antwortete der Fremde, nun schon eine Spur lauter. "In meinem Aufruf steht nicht, daß Norwegen nicht türkisch werden kann, sondern daß es nicht türkisch werden darf. Und ich hoffe doch sehr, daß auch Sie dieser Meinung sind..." "Ich?"
"Oder wollen Sie, daß Norwegen türkisch wird? Wollen Sie, daß die türkische Flotte Norwegen heimsucht? Daß über Oslo der Halbmond weht? Daß die wackeren Fischer der Lofoten in Zukunft Allah huldigen müssen? Soll das alles geschehn? Ja oder nein?"
"Nein", sagte Herr Balser, "natürlich nicht, aber..." "Na, dann sind wir ja einer Meinung! Wenn Sie jetzt also hier Ihren Namen..."
"Aber - und jetzt lassen Sie mich gefälligst ausreden - aber wie kommen Sie eigentlich darauf, daß die türkische Flotte Norwegen heimsuchen könnte? Erklären Sie mir das doch mal bitte!"
"Die Flotte?" Für einen Moment schwieg der Fremde verdutzt, doch dann hellte sich sein Gesicht auf. "Ach so! Die habe ich doch nur erwähnt, um zu verdeutlichen, wie es aussehen könnte - könnte, nicht müßte -, wenn Norwegen türkisch wird. Denn der Türke kann natürlich auch mit seiner Landstreitmacht anrücken. Via Russland. Finnland und dann über Lappland... Aber..." "Aber?"
"Aber ob der Russe das gestattet? Ziemlich unwahrscheinlich - oder?"
"Sehr unwahrscheinlich", bestätigte Herr Balser. "Aber noch unwahrscheinlicher erscheint es mir, daß auch nur irgendein Türke auch nur die geringste Absicht hat, Norwegen zu besetzen. Und daher..."
Doch er kam nicht dazu, diesen Satz zu vollenden. "D'accord!" rief der Fremde mit Nachdruck. "Völlig d'accord! Die Türken - ich bitt' Sie! Was sollen die denn in Norwegen? Wo sie es doch so schön warm in der Türkei haben! Halten Sie da mal die eisigen Fjorde dagegen, da sieht man doch sofort..." "Mein Herr!"
"Ja?" fragte der Fremde.
"Mein Herr, wenn Sie selber zugeben, daß die Türken nicht die Absicht..."
"Nicht die geringste Absicht!"
"Nicht die geringste Absicht haben, Norwegen zu besetzen - was soll dann Ihr Aufruf?"
Der Fremde lächelte. "Ich dachte, das sei nun endlich klar geworden. Sie haben selbst zugegeben, daß Norwegen nicht türkisch werden darf. Die Norweger denken sicher ebenso. Die Türken sind, wie wir übereinstimmend feststellten, derselben Meinung, das heißt, daß jeder, aber auch jeder, der seine fünf Sinne beisammen hat, meinen Aufruf unterstützen muß. Wenn Sie also bitte Ihren Georg Wilhelm auf diese gestrichelte Linie..." "Nein."
"Nein? Dann wollen Sie also, daß unser germanisches Brudervolk unter der Willkür asiatischer Steppenbewohner..." "Nein!"
"Na bestens! Bitte, hier ist mein Kugelschreiber, ja... da, auf die gestrichelte Linie... danke schön, Herr... Herr Balser!" Und mit einem freundlichen Kopfnicken verabschiedete sich der Fremde, um sogleich an einem Nebentisch auf ein älteres Ehepaar einzureden. "Norwegen", hörte Herr Balser noch und "Der Türke" ...

(Robert Gernhardt)


 Enigma antwortete am 12.08.05 (07:26):

@Marina
Gefällt mir.Ich hatte es auch vor einiger Zeit mal gelesen und
mich daran erbaut.

Jetzt aber die Vorstellungen von Tucholsky zu einer guten Rede:


Ratschläge für einen guten Redner
von Kurt Tucholsky

Hauptsätze, Hauptsätze, Hauptsätze.
Klare Disposition im Kopf - möglichst wenig auf dem Papier.
Tatsachen, oder Appell an das Gefühl. Schleuder oder Harfe. Ein Redner sei kein Lexikon. Das haben die Leute zu Hause.
Der Ton einer einzelnen Sprechstimme ermüdet; sprich nie länger als vierzig Minuten.
Suche keine Effekte zu erzielen, die nicht in deinem Wesen liegen. Ein Podium ist eine unbarmherzige Sache - das steht der Mensch nackter als im Sonnenbad.
Merk Otto Brahms Spruch: Wat jestrichen is, kann nich durchfalln.
:-))


 schorsch antwortete am 12.08.05 (09:47):

Der Sesselsammler

Die Stimmung ist angespannt, die vier Kinder sitzen im Wohnzimmer um den runden Tisch und spie-len seit etwa einer Stunde Monopoly. Hänschen, der Zweitjüngste ist am eifrigsten dabei. Er hat den anderen bereits die besten Objekte und das meiste Bargeld abgeknöpft. Nach einer weiteren Stunde gibt sein grosser Bruder auf weil er, trotzdem ihm Hänschen bereits zweimal eine Million Franken gepumpt hat, bereits wieder Pleite ist. Genau genommen sogar mehr als Pleite, denn was ihm Hänschen gegen zehn Prozent Zinsen geliehen hat, bleibt für das nächste Spiel am nächsten Wochenende in Hänschens Gehirn notiert.
Aus Hänschen wurde Hans. Er machte eine Lehre als Bankfachmann. Dann ergab es der Zufall – dem man ja bekanntlich ein wenig nachhelfen kann – dass die Tochter des Generaldirektors sich in ihn verliebte. Warum sollte Hans die Gelegenheit nicht ergreifen? Schliesslich steht nirgends geschrieben, man könne nur eine schöne oder dann eine reiche Frau heiraten – sie war beides!
Das Monopoly-Spiel hat Hans seinen Kindern beigebracht. Sie spielen es mit dem gleichen Eifer wir er selber vor dreissig Jahren. Bereits zeigt sich, dass Hänschen Junior das Geschäftstalent vom Vater geerbt hat. Hans ist stolz auf ihn.
Mit Vierzig wird Hans sen. in den Geschäftsausschuss gewählt und kurz darauf in den Verwaltungsrat delegiert.
Mit Fünfzig verlässt er die Bank wo er gelernt und die ersten Sporen abverdient hat und gründet die Bank „Handel & Wandel“. Die Geschäftsverbindung mit seinem Schwiegervater bleibt natürlich – zu beider Freude und Gewinn – erhalten. Hans wird zum Verwaltungsratspräsidenten gewählt, oder besser gesagt: er setzt sich selber als solchen ein. Denn die Familienmitglieder, die er der Form halber als Mitaktionäre auf dem Papier hat, haben eigentlich keine andere Rolle zu spielen als auf dem Papier da zu sein. Hans spinnt Fäden zu weiteren Banken und Unternehmen. Bald sitzt er in über zwanzig Verwaltungsräten, in den meisten als Präsident. Was immer er an die Hand nimmt, floriert und wirft riesige Gewinne ab. Schon wenn sein Name im Zusammenhang mit einem Börsengang erwähnt wird, steigen die Kurse blitzartig an.

Fortsetzung folgt


 schorsch antwortete am 12.08.05 (09:49):

Fortsetzung

Ein Konkurrenzunternehmen, das viel Geld in spekulative Geschäfte investiert hatte, kränkelt, arbeitet mit Verlust. Insider wissen, dass diese Bank nur noch mit geschönten Büchern existiert. Hans sitzt auch hier im Verwaltungsrat. So weiss er als einer der ersten, dass man die Bank für ein Butterbrot übernehmen kann. Die Öffentlichkeit braucht aber nicht zu wissen, wie schlecht es steht. So ganz unschuldig ist Hans nicht am Desaster. Denn er hat erstens durch Mittelsmänner riesige Mengen der Aktien verkaufen lassen, was zu grosser Unruhe führte und was dann den Wert der Papiere fast ins Bodenlose stürzen liess. Dann hat er sie durch andere Strohmänner wieder aufgekauft.
Die noch mit einem blauen Auge davon gekommenen Kollegen sind froh um das Angebot der „Han-del & Wandel“, das alteingesessene aber marode Unternehmen für einen Pappenstiel zu übernehmen.
Das Spiel war gut eingefädelt. Die Masche hatte funktioniert und rief nach Wiederholung. So kamen denn in den nächsten Jahren noch viele kleinere und grössere Banken, aber auch Handelsbetriebe und Fabriken bei Hans unter einen Hut.
Natürlich konnten durch all diese Zusammenschlüsse enorm viele Mitarbeiter eingespart werden. Zuerst ging es noch recht human mit vorzeitigen Pensionierungen und nicht mehr besetzen von Stellen. Aber weil dies fast keine Opposition brachte, wurde Hans kühner. Er kürzte die Löhne seiner Mitarbeiter, liess von ihnen neue Verträge unterschreiben, welche höhere Arbeitszeiten und weniger Rechte beinhalteten. Falls aus den Standortgemeinden Opposition kam, drohte Hans, den betreffenden Betrieb zu schliessen und die Produktion ins billigere Ausland zu verlegen. Die Masche zog fast immer.
Hans war inzwischen über Achzig geworden. Noch immer stand er jeden Morgen um Fünf auf und war um Sechs bereits in einem seiner Unternehmen, wo er für Zucht und Ordnung sorgte.
Die Rezession kam. Zweihunderttausend Arbeitslose waren es inzwischen geworden. Die AHV-Kasse drohte Pleite zu werden. Irgend so ein schlauer Kopf kam auf die originelle Idee, das Pensionsalter für Mann und Frau auf 67 anzuheben. Hans unterstützte diese Idee. Schliesslich hatte er selber vor, noch bis mindestens Neunzig zu arbeiten. Aber Gevatter Tod machte ihm einen Strich durch die Rechnung: Mitten in einer Verwaltungsratssitzung brach er tot zusammen. Dreitausend Menschen aus Wirtschaft, Politik, Sport und dem Klerus nahmen an seinem imposanten Begräbnis teil! Warum eigentlich?

Fragt der Schorsch


 Marina antwortete am 12.08.05 (21:46):

Das Märchen vom lieben Gott

Es begab sich einmal, als der liebe Gott wieder einmal über die Erde wandelte, daß es dunkel wurde und er am Hause des reichen Mannes anklopfte und er um ein Nachtlager bat.
Doch der reiche Mann erkannte nicht, wer da vor ihm stand, und so antwortete er: "Tritt herein, unbekannter Fremder, das ist wohlgetan, daß du bei mir anklopftst. Gleich werde ich dir das schönste Bett im Haus herrichten lassen, darf ich dich in der Zwischenzeit mit feinem Backwerk und köstlichen Weinen bewirten?"
Da gab sich der liebe Gott zu erkennen und sprach erfreut: "Dein Angebot ist sehr freundlich, reicher Mann. Die letzten Male, da ich über die Erde wandelte, mußte ich nämlich immer beim armen Mann absteigen. Und da hat es mir, ehrlich gestanden, gar nicht gefallen, bei dem war alles - unter uns gesagt - doch erschreckend ärmlich."
Nach diesen Worten aber schmausten und tranken die beiden nach Herzenslust, und es wurde noch ein richtig netter Abend. Und wenn wir nicht gestorben sind, dann leben wir noch heute.

Robert Gernhardt
:-)


 schorsch antwortete am 13.08.05 (14:35):

Tja, jetzt wird mir vieles klarer.....


 schorsch antwortete am 13.08.05 (14:38):

Bei mir schickt er nicht mal mehr seinen Stellvertreter vorbei.....

Mit diesem bin ich übrigens per Du.....

...aber mit Gott selber auch......


 wanda antwortete am 14.08.05 (09:59):

Heute hätte Tante Maria Geburtstag – ohne zu rechnen kann ich genau sagen, dass sie 115 Jahre alt geworden wäre.
Sie war nur eine entfernte Verwandte, aber die einzige, die übrig geblieben war, nach dem großen Angriff 1945. Obwohl erst März, wäre es ein sehr warmer Tag gewesen und gleich als die Sirenen heulten – so gegen Mittag – habe sie sich aufs Rad gesetzt und sei mit kurzärmeliger Bluse in Richtung Goslar geradelt - um dann Stunden später in die brennende Stadt zurückzukehren.
Anfang der 50er Jahre trat ich in ihr Leben oder sie in meins. Für mich war sie damals schon eine alte Frau – die sich so kleidete und auf mich junges Ding altjüngferlich wirkte. Im Laufe der Jahre erfuhr ich, dass sie im ersten Weltkrieg ihren Verlobten verloren hatte – was möglich sein konnte – vielleicht war es auch nur ein Wunschdenken, näheres wurde jedenfalls nicht bekannt.

Als Tante Maria 99 wurde, bat sie mich, sie doch ganz früh schon aus dem Altersheim abzuholen. Sie könne es nicht ertragen, wenn alle wieder sagen würden, sie werde bestimmt noch 100.

Mit 99 und ein paar Monaten bekam sie ihren ersten Schlaganfall und schöpfte Hoffnung auf ein Ende vor dem 100.ten. Von da an, erzählte sie mir Dinge, die sie belasteten, sie wollte reinen Tisch machen und gab mir eine Urkunde, die ihren Vater als Freimaurer auswies, was niemand vorher hätte wissen dürfen. Dann bat sie mich ein Buch mit dem Stempel „Verein der ehem. Goethe-Schülerinnen“ zurückzugeben. Sie hätte es schon Jahre. Als die Ausleihzeit zu Ende gewesen wäre, hätte sie es vergessen, nachher sei es ihr peinlich gewesen, und noch später hätte sie angenommen, dass das Buch gar nicht mehr registriert sei und viele Scherereien mit dem Zurückgeben verbunden wären, aber jetzt müsse das endlich bereinigt werden.
Und dann kam noch was ganz persönliches, so kurz vor dem Tod.

Drei Monate vor dem 100.ten bekam sie ihren zweiten Schlaganfall, der nach 14 Tagen Koma zum Ende führte.

Ja, heute wäre sie 115 Jahre alt, die Tante Maria.


 eleisa antwortete am 14.08.05 (11:23):

Kurt Tucholsky.

Begrüssungen

Guten Tag, wie fühlen Sie?
Heute ist ein wahrlich feiner Tag,ist es nicht ?
Sie sehen aus wie Ihre eigene Großmutter, gnädige Frau!
Darf ich Ihnen meinen lieben Mann vorstellen,nein , ;dieser hier!
Ich bin sehr froh, Sie zu sehen; wie geht es Ihrem Herrn Stiefzwilling?
Werfen Sie das hässliche Kind weg,gnädige Frau ;ich mache ihnen ein neues,
ein viel schöneres.
Guten Morgen!(sprich: Mahlzeit!)
Guten Tag! (sprich Mahlzeit!)
Guten Abend: (sprich Mahlzeit!)
Danke, es geht uns gut- wir leben von der Differenz.


 Enigma antwortete am 14.08.05 (17:43):

Schöne Geschichten. Da hatte ich was zu lesen. Danke!
Ich habe auch noch etwas, alt, aber gut...:-)

aus: Kabarett: So weit die scharfe Zunge reicht; Scherz Verlag, '64
Fritz Grünbaum: Zeitungs-Parodie
Aus dem Polizeibericht: Russ-Telegramm 3986, aufgenommen 15.30 Uhr.
"Auf dem Kurfürstendamm an der Ecke Meinekestraße wurde gestern von dem Radfahrer Peter K. ein Hund unbestimmter Rasse angefahren. Nur dem Einschreiten unserer wackeren Schutzpolizei ist die Verhütung eines größeren Unfalls zu verdanken.
Polizeipräsident Zörgiebel, Polizeivizepräsident Dr. Weiß und der Kommandeur der Schutzpolizei, Oberst Heimannsberg, weilten an der Unfallstelle."
Wie sieht dieses Ereignis in der Tagespresse aus?
Das "Berliner Tageblatt" schreibt:
"Der Kurfürstendamm liegt still und versonnen da. Denn die Republik ist gefestigt in ihren Grundlagen. Ein Radfahrer jubelt den Kurfürstendamm entlang. Mit weit ausgebreiteten Armen und ebensolchen Augen ruft er: 'Zehn Jahre freiheitliche Verfassung!' Da springt ein Hund aus dem fahrenden Autobus. Hund und Radfahrer jagen den Kurfürstendamm entlang, sie eilten, wenn es auch hier und da eine kleine Schramme gibt, in die glänzende Zukunft der deutschen Republik, von der schon Shakespeare so treffend sagte: 'To be or not to be, singing fool, that is the question.'"
Die "Vossische Zeitung":
"Kleine Ursachen- große Wirkungen. Von Chefredakteur Professor Dr. h.c. G. B. MdR, Präsident des Vereins Berliner Presse, zweiter Vorsitzender des dritten Unterausschusses des Reichstages zur Aufdeckung der Brückenzölle, Vorstandsmitglied der Deutschen Demokratischen Partei. Ein Hund ist gestern auf dem Kurfürstendamm angefahren worden. Von einem Radfahrer. Ein schwarzer Hund mit weißen Flecken. Der Vorfall wäre an und für sich ganz belanglos, wenn nicht ein kleiner Zwischenfall die politische Bedeutung des Ereignisses erwiesen hätte.
Der schwarz-weiße Hund zeigte plötzlich auf dem überfahrenen Pfötchen einen roten Blutstropfen. Man beachte: Schwarzer Hund, weiß gefleckt, rotes Tröpfchen. Die Deutsche Demokratische Partei muß an den Herrn Reichsinnenminister einerseits schärfsten Protest richten, während sie dessen Vorgehen andererseits nur billigen kann. Die Deutsche Demokratische Partei ist sich dessen bewußt, daß es für sie nur einen Weg gibt: Einerseits- und hie und da auch andrerseits."
Der "Berliner Lokal-Anzeiger":
"Radfahrer, Hunde und die deutsche Republik.
Wie viele tausend deutsche Herzmuskeln sitzen heute am sonnigen Eckfenster und gedenken des August vor fünfzehn Jahren! Wie waren damals die Straßen von jauchzenden, jubelnden, singenden Menschen erfüllt! Und heute? Radfahrer schleichen über den Asphalt der Straße. Gestern hat ein ausländischer Radfahrer den Hund eines Generals a.D. überfahren. Vor fünfzehn Jahren wäre das deutsche Volk wie ein Mann aufgestanden und hätte den ausländischen Radfahrer in hellem, männlichem Zorne hinweggefegt! Heute aber liegen unsere treuen Hündchen kraftlos am Boden, niedergeschmettert durch jene Schmachverträge, die uns immer wieder beweisen, daß an allem nur die Radfahrer schuld sind."

Fortsetzung!


 Enigma antwortete am 14.08.05 (17:46):

Fortsetzung!

"Die Rote Fahne":
"Arbeiter! Arbeiterinnen und Jugendliche! Werktätige und national Unterdrückte aller Länder! Auf dem Kurfürstendamm, jener Prunkstraße der satten Kapitalisten, auf der in kürzester Zeit die proletarische Revolution gegen die Imperialisten marschieren muß, hat ein Hund einen einfachen, proletarischen Radfahrer überfallen! So fängt es an! Erst überfällt ein Hund den einzelnen Radfahrer, und dann vereinigen sich alle Hunde gegen die Sowjetunion! Es ist höchste Zeit zu handeln! Denn schon ersteht dem Hund vom Kurfürstendamm ein Helfer in der Person des Generals Tschiangkaischek, der die Ost-China-Bahn den Händen der Sowjets entreißen und durch die Kantstraße auf den Alexanderplatz leiten will, wo Zörgiebel und seine Gummiknüppelgarden bereitstehen, um die proletarische Armee der Radfahrer den nationalfaschistischen Weltunterdrückern auszuliefern.
Darum sei die Parole: Heraus aus den Betrieben! An die Bäume mit den Hunden! Es lebe die Diktatur der Radfahrer!"
Der "Völkische Beobachter":
"Der gestrige Vorfall am Kurfürstendamm, dem ein aufrecht fahrender deutscher Radfahrer zum Opfer gefallen ist, hat gezeigt, welcher Werkzeuge sich die Weisen von Zion bedienen. Wieder ist ein Parteigenosse von einem krummbeinigen, o-füßigen Dackel bei Nacht und Nebel hinterrücks überfallen worden. Krummbeinig- das verrät die wahre Rasse dieser ostjüdischen Haustiere, die mit herabhängenden, gelockten Ohren am Rückenmark unserer Volksgenossen saugen und unserem deutschen Schäferhund den Knochen vor der Nase wegschnappen. Unser Führer Adolf Hitler spricht morgen im Sportpalast zu dieser nationalen Sache. Parteigenossen erscheinen in einfacher Feldausrüstung, mit Handgranaten und Flammenwerfern."
Schließlich das "Acht-Uhr-Abendblatt":
"Furchtbares Verkehrsunglück am Kurfürstendamm. Rasender Radfahrer zerfetzt das Straßenpflaster. Große Hundemassen schwer verletzt. Feuerwehr greift mit Alarmstufe zehn ein. Aus den Trümmern der Straße tragen Sanitätsleute den schwerverletzten Zwergdackel Peter von Strohlendorf, der sich jetzt mit der Niederschrift seiner Erlebnisse für die Leser des Acht-Uhr-Abendblatts beschäftigen wird.
Wir beginnen morgen mit der Veröffentlichung der Erinnerungen des Zwergdackels Peter von Strohlendorf unter dem Titel: 'Aus den Geheimnissen der Hundehöfe- Als ich noch Ludendorffs Hund war.'"
Und so, meine Herrschaften, gibt die Presse ein klares Bild der Ereignisse.


 wanda antwortete am 15.08.05 (10:43):

Geheime oder gemeine Freuden

Herr Hugo Flöter, der sich anlässlich eines Kleintierkongresses in Murnau aufhielt, nutzte anschliessend für vier Tage die Gelegenheit, sich München einzuverleiben.

Aus finanziellen Gründen wohnte er in Feldkirchen, einem Ort in Richtung Erding. Dort hatte eine Pension mit gepflegter Küche und gemütlichen Gasträumen geworben. Er bekam ein Doppelzimmer zum Einzelzimmerpreis und hatte die Qual der Wahl. Welches Bett sollte er nehmen, das am Fenster, wegen der besseren Belüftung oder das, was näher an der Toilette lag oder sollte er sich so betten, dass in dem noch freien Bett eine imaginäre Frau hätte Platz haben können.
Er entschied sich für die letzte Variante – man kann ja nie wissen.

Dann besorgte er sich eine Streifenkarte für Erwachsene der Münchner Verkehrsbetriebe. Diese hat die Größe einer längshalbierten Postkarte und wird unterteilt durch 10 Streifen ca. 1 cm breit.
So ausgerüstet fuhr er bis zum Münchner Hauptbahnhof und fing an, die Stadt mit der ihm eigenen Gründlichkeit zu durchforsten. Von Süd nach Nord und umgekehrt, also von Ost nach West.
Es ist ein Leichtes, man braucht sich nur an die Plätze zu halten, also sich von Platz zu Platz durcharbeiten, was bedeutet, dass man nicht so schnell ermüdet, da es in schneller Folge zu Aha-Erlebnissen kommt.
Vom Bahnhofsplatz über den Stachus zum Marienplatz, weiter über den Sebastiansplatz zum Jakobsplatz und dann zum Gärtnerplatz – wer gut zu Fuß ist oder akribisch Städte auflistet, geht weiter bis Maria-Hilf.
Zurück in anderer Richtung stutzt man. Geht doch der Lenbachplatz in den Maximiliansplatz über, man ist verwirrt, wieso das, nicht einmal 200 Meter dazwischen.
Ein Abstecher zum Odeonsplatz, weiter zum Karolinen – und Königsplatz ein reines Vergnügen und so übersichtlich, wie gesagt, eine einzige Hangelei von Platz zu Platz, und was für Plätze, wunderbare Plätze.

Aber zurück zur Streifenkarte. Dort heißt es – diese Karte wird erst nach Entwertung zur Fahrt gültig, dacht ich‘s mir doch. Zählen sie dazu die erforderliche Streifenzahl nach der Nummernfolge ab und knicken sie die nicht benötigten Streifen nach hinten. Führen sie die Karte in Pfeilrichtung in den Entwerter ein. Der Stempelaufdruck entwertet den abgestempelten Streifen und leere Streifen mit niedrigerer Nummer. Kurzstrecke = Fahrt bis zur vierten Haltestelle, davon aber nur 2 Haltestellen mit S oder U-Bahn.
Fortsetzung


 wanda antwortete am 15.08.05 (10:45):

Demnach musste Hugo zwei Streifen stempeln lassen, denn während der 20-minütigen Fahrzeit nach München hielt die S-Bahn mehr als zweimal, darauf zu kommen, war relativ einfach.
Im Zug sitzend wurde Hugo jedoch sehr verunsichert durch den Vermerk auf der Rückseite der Streifenkarte, wo es hieß:
Höchstfahrzeiten: Kurzstrecke – 1 Stunde
1. Zone - 3 Stunden
2. Zone - 4 Stunden

Warum sollte er für einen Weg von 20 Minuten ganze 4 Stunden brauchen ?
Möglicherweise wollte man damit Touristen entgegenkommen, die ihren Schirm vergessen hatten, wer weiß, was sich da die Städtewerbung wieder ausgedacht hatte.
Am Abend des ersten Tages – Hugo fuhr nach Hause, die Streifenkarte in der Hand haltend, fiel ihm auf, dass die ersten beiden Stempel einem Hauch glichen, blässer als blassblau und die darauf folgenden zwei, ein tiefes violett aufwiesen.

Am nächsten Morgen knickte er die nicht benötigten Streifen brav nach hinten und ließ wiederum 2 Streifen entwerten. Die Entwertung war kaum zu ahnen, obwohl der Entwerter ein scharfes Klicken hatte hören lassen.
Während der Fahrt überlegte Hugo, wo er am Abend des ersten Tages hatte entwerten lassen, war das am Stachus vorne rechts gewesen oder war es der Apparat der links von den Rikschafahrern stand, der am Marienplatz ?

Er hatte Zeit, den ganzen Tag darüber nachzudenken und riskierte am Abend das Entwerten am Marienplatz, ohne vorher die nicht benötigten Streifen nach hinten zu knicken. Und siehe da, es ergoss sich eine tieflila zähe Masse, ähnlich Schneckenschleim auf seine Streifen vom Vormittag.
Die Sache war geritzt.
Er konnte seine ganze Aufmerksamkeit Museumsbesuchen widmen und ohne Skrupel ein zweites Weizenbier trinken.
Feldkirchen, es gibt dort nur einen Entwerter und zwar steht der vorne links in Handhöhe, kurz bevor man die Treppe hinabsteigt, entwertete immer noch blässer als blassblau.
Wäre Herr Flöter luxuriöser abgestiegen, hätte er vielleicht sogar im Bayrischen Hof gewohnt, dann wäre er um dieses sinnliche Vergnügen, den das Verdunsten des violetten Schneckenschleims auf amtlichen Papier der Münchner Verkehrssbetriebe bereitet hat, betrogen worden – so hat eben alles im Leben seine schönen Seiten.


 Marieke antwortete am 15.08.05 (15:51):

JA, in München-
eine Bekannte, automatenungewohnt, fuhr dort mit der "Hundekarte" fröhlich durch die halbe Stadt.
Sie wurde nicht erwischt.
Lange war ihr das eine lustige Erinnerung- immer wieder Quell der Freude!


 Marina antwortete am 15.08.05 (16:38):

Trompetensolo

Mein Nachbar Hanselmann saß wieder einmal im Geäst seines Apfelbaumes, um die Polstermöbel in der guten Stube zu schonen. Und natürlich mußte er über den Gartenzaun hinweg ein Gespräch anfangen:
"So etwas Verrücktes habe ich noch nicht gesehen," sagte er: "Jeden Abend sitzen sie zwischen den Bohnenstangen und spielen Trompete."
Das konnte ich nicht auf mir sitzen lassen. "Sie", sagte ich zu meinem Nachbarn Hanselmann, "haben von Tuten und Blasen keine Ahnung, denn dies ist keine Trompete, sondern eine Posaune. Aber was versteht schon einer, der auf dem Apfelbaum sitzt, um die Polstermöbel zu schonen, von Musik?!"
Hanselmann war erbost. Wenn er die Polstermöbel schonen wolle, könne er auch auf den Kühlschrank sitzen, sagte er, aber es erschrecke ihn jedesmal, wenn der Kühlschrankmotor zu laufen beginne. Deshalb sitze er auf dem Apfelbaum, weil der keinen Motor habe.
Nun hat Hanselmanns Apfelbaum tatsächlich keinen Motor, und weil Hanselmann also ausnahmsweise die Wahrheit gesagt hatte, erwiderte ich nichts und wandte mich meinem Instrument zu. Ich blies hingebungsvoll einen Operettenquerschnitt: Einen Ton aus der Lustigen Witwe, einen aus dem Weißen Rössl und mehrere Quinten aus dem Land des Lächelns.
"Das ist ja schrecklich!" rief Hanselmann, der von Musik schon in der Schule keine Ahnung hatte. Den Musiklehrer hat er mit der Frage schockiert, ob Mozart verliebt gewesen sei, als er die Erotica geschrieben habe. Als ob nicht jeder halbwegs Gebildete wüßte, daß diese Oper von Beethoven ist.
"Hanselmann", sagte ich deshalb, "ich will ihnen das erklären: Die Wissenschaft hat herausgefunden, daß Kühe mehr Milch geben, wenn sie Musik hören, und nun will ich herausfinden, ob Bohnen bei Operettenmelodien besser wachsen."
"So ein Blödsinn", sagte Hanselmann, "Trompetentöne fördern nicht das Wachstum. Die Trompeten von Jericho haben Mauern einstürzen lassen; passen sie also auf, daß ihnen die Bohnenstangen nicht auf den Kopf fallen."
Das war typisch Hanselmann. Dies sei keine Trompete, sondern eine Posaune, sagte ich. Doch Hanselmann gab sich nicht geschlagen: Ob es ausgerechnet Operettenmelodien sein müßten; ich solle besser den Rosen Karl May vorlesen. Aber das sagte er sicher nur, weil mein Rosenstrauch hinter dem Haus liegt, weit weg von Hanselmanns Apfelbaum.
Das wäre alles nicht erwähnenswert, wenn ich nicht am nächsten Tag Hanselmann auf dem Apfelbaum dabei ertappt hätte, wie er den Äpfeln aus einem Fachbuch für Polstermöbel vorlas. Er war gerade bei den Richtlinien für Schaumstoffpolster angelangt, als ich ihn unterbrach:
"Hanselmann", sagte ich, "nimm es mir nicht übel, aber ich habe heute nachgesehen: Mein Instrument ist doch eine Trompete."
"Das ist gut", sagte Hanselmann und klappte sein Buch zu, "denn auf meinem Kühlschrank kann man gar nicht sitzen, der ist in den Küchenschrank eingebaut."

Fridolin Wasserburg

Internet-Tipp: https://www.werle.com/homepage/wasserbg/seite12.htm


 eleisa antwortete am 15.08.05 (17:12):

Otto Schenk

Theatergeschichten

„Wilhelm Tell“ ist ein nicht ungefährliches Stück.
Viele bedeutende Sätze werden den Schauspielern von
Schiller abverlangt,und wenn einmal in so einem bedeutenden Satz schief geht ,
dann gleich gründlich.
Dem Schauspieler bleibt in solchen Fall nichts mehr übrig,
als mannhaft und demütig sein Schicksal zu ertragen,denn jeder
Rettungsversuch eines schiefgegangenen Satzes endet bei
Schiller mit einer fürchterlichen Blamage.
Dazu ein Beispiel.Der Darsteller des Konrad Baumgarten hat im ersten
Akt von „ Wilhelm Tell“ zu sagen;
„mein Herz hab ich gerächt,mein Ehr`befriedigt!“
Ein Schauspieler war in dieser Rolle einmal ganz besonders in Fahrt,
im Überschwang seiner soeben befriedigten Ehr`verdreht er aber den
Satz und sagt: „mein Ehr´hab´ich gerächt, mein Weib...“Er stockt- entsetzte
Blicke der Mitspieler -,er läuft rot an, reißt sich den Hut vom Kopf und stöhnt:
„Mein Hut –ist gut!“


 Enigma antwortete am 16.08.05 (10:00):

Hallo, guten Morgen,

wenn Ihr wüsstet, welche "geheime oder gemeine Freuden" ich empfinde, wenn ich Eure Geschichten morgens lesen kann, dann.......(na, Ihr wisst schon, was ich meine :-)))

Und jetzt wieder eine von mir gepostet:

Schuberts Unvollendete

Ein Vorstandsmitglied eines Großunternehmens hatte Konzertkarten für Schuberts unvollendete Symphonie bekommen. Er war verhindert und gab die Karten seinem Fachmann für Arbeitszeitstudien und Personalplanung.
Am nächsten Morgen fragte das Vorstandsmitglied den Mitarbeiter, wie ihm das Konzert gefallen habe. Und anstelle einer Pauschalkritik überreichte ihm der Experte für Arbeitszeitstudien und Personalplanung ein Memorandum, in dem es heißt:
Für einen beträchtlichen Zeitraum hatten die vier Oboe-Spieler nichts zu tun. Ihr Part sollte deshalb reduziert, ihre Arbeit auf das ganze Orchester verteilt werden. Dadurch würden auf jeden Fall gewisse Arbeitszusammenballungen eliminiert werden.
Alle zwölf Geiger spielten die gleichen Noten. Das ist unnötige Doppelarbeit. Die Mitgliederzahl dieser Gruppe sollte drastisch gekürzt werden. Falls wirklich ein großes Klangvolumen erforderlich ist, kann dies auch durch elektronische Verstärker erzielt werden.
Erhebliche Arbeitskraft kostete auch das Spielen von Zweiunddreißigstel Noten. Das ist eine unnötige Verfeinerung. Es wird deshalb empfohlen, alle Noten auf- beziehungsweise abzurunden. Würde man diesem Vorschlag folgen, wäre es möglich, Volontäre und andere Hilfskräfte einzusetzen.
Unnütz ist es, daß die Hörner genau jene Passagen wiederholen, die bereits von den Saiteninstrumenten gespielt wurden. Würden alle überflüssigen Passagen gestrichen, könnte das Konzert von 25 Minuten auf vier Minuten verkürzt werden. Hätte Schubert sich an diese Erkenntnis gehalten, wäre er wahrscheinlich im Stande gewesen, seine Symphonie zu vollenden.
Aus Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16.11.1981


 wanda antwortete am 17.08.05 (09:06):

@enigma - mir geht es genau so, das gemeine ist uns glaub ich angeboren...:-)))


 Marina antwortete am 17.08.05 (18:02):

Vorsicht, der Teufel ist am Telefon!

Rom - Bei der Erschaffung der Welt stürzte Gott Satan, der einst sein Lieblingsengel war, in die Hölle. Seitdem versucht Satan, die Macht auf Erden an sich zu reißen. In der katholischen Kirche ist er der Erzfeind der Gläubigen schlechthin.
Er dringt in ihre Körper ein, macht sie böse. Die vom Satan Besessenen kommen nach dem Tod ins Höllenfeuer.
Gegen Satan treten Teufelaustreiber an. Sie heißen "Exorzisten". Auch der Papst hat einen, im Range eines Prälaten. Er heißt Don Raul Salvucci. Er arbeitet im geheimen.
Jetzt schrieb der Ober-Exorzist einen flammenden Brief an die italienische Bischofskonferenz. Überschrift: "Satan auf dem Vormarsch, Exorzisten, seid auf der Hut!" Darunter steht: "Der Böse kommt auch durch das Telefon".

Wie ist das möglich?
Don Salvucci: Wir erfahren immer häufiger, daß arme Seelen zuhause angerufen werden. Doch wenn sie an den Apparat gehen, ist die Leitung am anderen Ende tot. Aber durch diese Leitung erreicht Satan die armen Seelen und zieht sie auf die Seite des Bösen. Es droht die ewige Pein in der Hölle."
Don Salvucci berichtet, daß schon viele durch den Teufel, der durch das Telefon kam, die Seele verloren haben, und wie er ihnen den Satan wieder ausgetrieben hat.

Wie kann der Teufel durchs Telefon kommen?

Der Exorzist: "Für den Teufel ist nur eines wichtig: daß er seine Opfer berührt. Den physischen Kontakt kann er auch mittels elektrischem Strom herstellen, auch mit Schwachstrom, wie er durchs Telefon kommt. Deshalb ist das Telefon so gefährlich. Sobald jemand den Hörer in die Hand nimmt, schickt Satan oder einer seiner Hilfshexer den Fluch. Und im allgemeinen merkt das Opfer von alledem überhaupt nichts."

Was geschieht, nachdem ein Exorzist den Teufel ausgetrieben hat?

"Der Gläubige verläßt geheilt die Kirche. Aber Satan kann ihn aufgrund seiner übernatürlichen Kräfte sofort wieder erreichen. Er lauert hinter der Tür der Kirche. Es gibt nur ein Mittel - er muß sich uns sofort erklären. Unsere Gruppe braucht die Hilfe der Kirche. Der Vatikan muß sich endlich offen zu uns bekennen."

Don Salvucci, der als Priester in Fermo, einer Stadt in der italienischen Provinz Ascoli Piceno, auf steiler Felsenhöhe nahe der Adriaküste (35 000 Einwohner, ein Erzbischof) arbeitet, teilt mit, daß es eine Kirchenbewegung namens "Erneuerung des Geistes" gibt und schreibt: "Ist es zuviel, wenn wir verlangen, zu wissen, wer und wieviel wir sind? Wenn wir dafür Beifall wollen, daß wir Mut machen und für mehr Sicherheit und Biß im Kampf eintreten?"

Don Salvucci klagt: "Wir Exorzisten sind gezwungen, im geheimen zu wirken wie die Würmer in der Sickergrube. Dabei gibt es ein offizielles Reglement über unser Amt seit 1600 Jahren. Eine Direktive, die Kaiser Konstantin den Christen im Jahre 313 gegeben hat, damals, als sie endlich die Katakomben verlassen konnten."
Chef-Exorzist Salvucci verweist auf einen schon 17 Jahre alten Kampfappell gegen Satan: Die Priester werden darin beauftragt, den Bösen zu vertreiben, der stets wiederkehrt. "Diesmal kommt er im Verlauf der nächsten Monate. Dann wird er an unsere Pforte schlagen." Es sei erforderlich, "mit mehr Sicherheitsmaßnahmen und größerer Entschiedenheit gegen ihn zu operieren."
Salvucci klagt auch, daß dem Bösen alle Türen offenstünden. Pater Gabriele Amorth, der als einer der ganz großen italienischen Exorzisten gilt, arbeitet besonders aktiv an der Bekämpfung des Bösen und dränge darauf, daß die "kirchliche Kommission für die Kranken und Bresthaften" eine nationale Aufgabe werde, in der sich die Exorzisten zusammenschließen sollten.
Vor einem Monat seien 20 Priester für diese spezielle Aufgabe eingesetzt worden. Dies ist zum erstenmal seit dem Kirchenkonzil von Trient geschehen, das vor 400 Jahren tagte.
Insgesamt habe sich aber die Situation in den letzten Monaten dramatisch verschlechtert.

(BZ, 13.5.1992)


 Enigma antwortete am 18.08.05 (09:40):




Juristen verhandelten "Fall Schneewittchen"
Böse Stiefmutter freigesprochen

ril Bonn. Wie würden Juristen den "Fall Schneewittchen" entscheiden mit der bösen Stiefmutter wegen dreifachen versuchten Mordes auf der Anklagebank und den sieben Zwergen als mehr oder weniger verläßlichen Zeugen? Da taten sich Abgründe auf, als die Fakultätsgruppe Bonn der European Law Students' Association (ELSA) jetzt im Hörsaal C des Juridicums eine Art Gerichtsspiel in gerichtsähnlicher Atmosphäre und zum Gaudi der studentischen Zuhörer veranstaltete, um so einen Einblick in die Praxis der Juristerei zu gewinnen.
"Märchenrichter" sah keine Beweise
Das verblüffende Ergebnis vorweg: Jura-Professor Dr. Urs Kindhäuser als Vorsitzender Richter sprach die böse Stiefmutter aus Mangel an Beweisen frei. Denn auf die Aussagen der sieben Zwerge ließ sich eine Verurteilung nicht stützen, und außerdem, so der "Märchen-Richter", habe der Staatsanwalt doch recht schlampig ermittelt.
Auch mußte das inzwischen erblondete Schneewittchen, das als Beruf "Kronprinzessin" zu Protokoll gab, im Zeugenstand einräumen, sie habe die Krämerin, die ihr den giftigen Kamm verkaufte, nicht zweifelsfrei als ihre böse Stiefmutter identifizieren können.
Völlig unbrauchbar auch die Aussage des Zwerges mit Namen "Doktor". Nachdem er dem hohen Gericht zunächst vorgaukelte, er habe das wie tot daliegende Schneewittchen überhaupt nicht gesehen, da er sich damals auf Fortbildung befunden habe, mußte er schließlich einräumen, er sei zur Tatzeit bei der königlichen Stiefmutter "sozusagen auf gefühlsmäßiger Fortbildung" gewesen.
Darauf Richter Kindhäuser konsterniert: "Ist Ihren Mitzwergen denn gar nicht aufgefallen, daß Sie ein Verhältnis mit der Königin hatten?" Der Zwerg hochnäsig: "Na gucken Sie sich die doch mal an." Wenig hilfreich auch die psychiatrische Gutachterin Dr. Freud, bei der die Königin wegen manischer Depressionen schon Jahre in Behandlung war. Sie glaube nicht, so die Sachverständige, daß die Königin jemanden töten könne, nur weil er schöner sei als sie. Immerhin konnte sie das Rätsel um den Zauberspiegel lösen: Den habe sie der Königin zur Überwindung ihrer Depressionen "verordnet". Der habe aber nichts anderes zu sagen vermocht, als: "Du bist die Schönste im ganzen Land". Und somit "kippte" auch das Motiv der Eifersucht und des Neides.

Internet-Tipp: https://www.bbpp.de/heiteres/stiefmutter.htm


 Marina antwortete am 18.08.05 (23:00):

Die Kuh im Propeller

Grigori Kossonossow, der Wächter der Fliegerschule, fuhr auf Urlaub in sein Heimatdorf.
"Nun, was ist, Genosse Kossonossow," sagten die Kollegen beim Abschied, "da ihr schon hinfahrt, könnt ihr vielleicht ein bißchen agitieren dort im Dorf, wie? Sagt den Bäuerlein so und so, das Flugwesen entwickelt sich bei uns, vielleicht tragen sie etwas Geld zusammen für ein neues Flugzeug!"
"Da könnt ihr versichert sein," antwortete Kossonossow, "ich werd' schon tüchtig Propaganda machen, wär' was anderes, wenn es nicht ums Flugwesen ginge, aber darüber, seid unbesorgt, werd' ich schon was richtiges sagen!"
Kossonossow kam nach Haus und begab sich gleich am Tag seiner Ankunft zum Dorfsowjet.
"Also," sagte er, "ich will hier ein bißchen agitieren! Kann man nicht eine Versammlung einberufen?"
"Nun, warum nicht," sagte der Vorsitzende, "agitiert nur, agitiert nur!"
Am anderen Tag rief der Sowjet die Bauern beim Feuerwehrschuppen zusammen. Grigori Kossonossow trat vor sie hin, verbeugte sich und begann:
"Also, so ist das, das Flugwesen, Genossen Bauern! Da ihr ein, naja, na Gott naja, ungebildetes Volk seid, werde ich euch etwas von der Politik erzählen. Hier, sagen wir mal, ist Deutschland und dort vielleicht Frankreich. Hier Rußland und da - naja, überhaupt..."
"Worüber redest du eigentlich, Väterchen?" fragten die Bauern.
"Worüber?" erwiderte Kossonossow empört, "über das Flugwesen natürlich! Blüht halt sehr auf, das Flugwesen! Hier ist also Rußland und hier ist China."
Die Bauern hörten finster zu. "Halt' dich nicht auf!" rief jemand von hinten. "Red' weiter!"
"Ich halt' mich ja gar nicht auf", sagte Kossonossow eingeschüchtert. "Ich red' ja über das Flugwesen. Es entwickelt sich bei uns, Genossen Bauern, nichts dagegen zu sagen, was wahr ist, ist wahr!"
"Hm, etwas unverständlich," rief der Vorsitzende. "Sie, Genosse, müssen etwas volkstümlicher sprechen, bitte, daß Sie die Masse auch versteht!"
Kossonossow trat näher an den Haufen der Bauern heran, setzte verlegen das eine Bein etwas vor und begann von neuem: "Also, Genossen Bauern -man baut Flugzeuge bei uns. Und nachher - ssst - fliegt man! In der Luft sozusagen!
Nun, mancher natürlich hält sich oben nicht gut, bums, saust er runter wie der Fliegergenosse Jeremilkin, rauffliegen tat er ganz gut und dann bums, krach, ein nasser Fleck blieb übrig!"
"Ist doch kein Vogel schließlich," sagten weise die Bauern.
"Eben, das sag' ich auch!" sagt Kossonossow, erfreut über die Anteilnahme. "Natürlich kein Vogel! Ein Vogel, wenn der herunterfällt, nun ja, er schüttelt sich und los weiter.
Anders beim Menschen. War da noch so ein anderer Flieger. Der fiel auf einen Baum und hing da wie ein Äpfelchen. Hat sich natürlich erschreckt, der Arme, es war zum kranklachen!
Ja, ja, ja, verschiedenes passiert so! Da ist einmal eine Kuh bei uns in den Propeller gekommen! Ritsch, ratsch, weg war sie! Auch Hunde!"
"Und Pferde?" fragten ängstlich die Bauern. "Auch Pferde, Väterchen?"
"Auch Pferde!" sagte stolz im Brustton der Überzeugung der Redner. "Das kommt oft vor!"
"Ach, diese Kanallien, hol' sie der Teufel!" sagte jemand. "Was sie sich jetzt alles ausdenken: Pferde zu Tode quälen - nun Väterchen -und das entwickelt sich jetzt, ja?"
"Eben, das sag' ich ja! Es entwickelt sich, Genossen Bauern! Und darum meine ich, sammelt vielleicht die ganze Bauernschaft etwas Geld."
"Wofür denn bloß, Väterchen?" fragten neugierig die Bauern.
"Für ein Flugzeug natürlich!" sagte der Redner. Die Bauern lächelten sehr finster und gingen langsam auseinander.
Geld für ein neues Flugzeug brachte Kossonossow, als er von seinem Urlaub zurückkam, nicht mit. Die Bauern seines Heimatdorfes waren eben noch ein zu ungebildetes Volk.

Michail Sostschenko


 eleisa antwortete am 19.08.05 (21:33):

Theater Geschichten.

Max Adalbert war ein sehr beliebter, genialer Komiker, den kaum etwas aus der
Fassung bringen konnte und der auf alle
Eventualitäten ,die auf der Bühne passierten und passieren konnten,ein schlagfertiges
Extempore wusste. Er war auch ein grosser Hundefreund und hatte –obwohl
Tiere im Theater verboten waren –im Vertrag, dass er seinen etwas unerzogenen
Straßenköter in die Garderobe mitnehmen durfte.
Auf der Bühne saß er als Schneider Wippel auf einem
Tisch ,und neben ihm hing ein Kanarienkäfig. Seine Garderobe,in der der
Hund vor sich hin knurrte, grenzte unglücklicherweise sehr nahe an der
Bühne .Der Hund wurde immer unruhiger, durch irgend etwas irritiert,
brach er in lautes, die Vorstellung entsetzlich störendes
bellen aus,das durch das ganze Theater donnerte.
Max Adalbert auf der Bühne hörte seelenruhig zu nähen auf,
ging zu dem Kanarienkäfig und sagte im breitesten Berlinerisch zu dem
Kanari im Käfig: „ Wohl wahnsinnig geworden? „
Ein donnernder Szenenapplaus war die Folge.

Otto Schenk


 Enigma antwortete am 20.08.05 (11:36):



Der Kanzler würde raten: Angela Merkel sei ein Mann (so echt jetzt)
Angela, ich bin neidisch! Du stehst da auf der ersten Seite der SZ und alle reden über Dich und ...
Von Simon Tiversi

Der Kanzler würde raten: Angela Merkel sei ein Mann (so echt jetzt)
Angela, ich bin neidisch! Du stehst da auf der ersten Seite der SZ und alle reden über Dich und Deinen Oberarm, beziehungsweise über das, was darunter zu sehen war. Naja... ausser bei BR Online. Aber die Kollegen der Kollegen haben einstens auch Dieter Hildebrandt offline geschaltet. Bei Dir wurde nur retuschiert. Eine enorme Steigerung im Demokratieverhalten. Oder?

Übrigens: Da sind wir uns garnicht so unähnlich. Ich, der Dieter und Du. Wenn wir sagen was wir wirklich denken, bekommen wir einen in die Fresse. Also warum sagen was wir denken? Oder besser noch: Warum überhaupt denken?
Aber mal ganz ehrlich und zu etwas völlig anderem Angela: Du musst noch einiges lernen. Mach das wie ich damals. Haarefärben verbieten lassen. Also die Behauptung verbieten lassen, dass Du die Haare färbst. Obwohl in Deinem Fall geht es wohl eher um Körperflüssigkeiten. Was trägst Du auch Kleinmädchenrosa?
Journalisten sind gemein, Angela. Ich weiss das, dein Chef weiss das und Du weisst das jetzt auch. So ein böses Bild... ich finde da solltest du rumzicken.
Aber So Richtig. Damit wirst Du im deutschen Herbst gewählt werden. Ich weiss wovon ich rede.
Angela, ich habe nunmal den bockigen Jungen Bonus, da fallen die WählerInnen immer drauf rein, weil sie ihre Söhne kennen. Die zicken jammern maulen bis Frau Wählerinnenmutter einfach aufgibt und dem Kanzl... Kind einfach recht gibt. Das musst Du noch lernen Angela. Ein echter Politzickerich zu werden, dann kannst Du einen Bock nach dem andern schiessen!
Sogar in Rosa ... Guido freut sich bestimmt für Dich.
Ich weiss Angela; das ist alles sehr sehr gemein. Womöglich hängt es damit zusammen, dass Du eine Frau bist. Ihr müsst gut aussehen und ,wenn irgend möglich, nicht dabei schwitzen.
Hey Angela, auf einigen Bildern siehst Du mittlerweile wirklich richtig gut aus.
Auf die achtet nur niemand.
Klar, ich sehe verdammt gut aus - für mein Alter. Und - das sei nur am Rande bemerkt- ich muss mir die Haare nicht färben. Wer was anderes behauptet wird übrigens verklagt. Ich trage die richtigen Klamotten. Dunkel. Ich sage jetzt nicht schwarz, das könnte für politische Verwirrung sorgen
Klar, ich bin ein Schwiegermuttertyp! Und das in meinem Alter. Sieh dir nur mal Joschka an, das arme Schwein muss immer wieder laufen gehen -muss wohl ein alter Reflex sein. So wird der nie Kanzler... naja er ist eh in der falschen Partei.
Du übrigens auch. Wobei -fällt mir gerade auf, es eigentlich völlig egal ist in welcher Partei Du bist. Ohne Schniedel und der damit verbundenen Denke ist man ... ähhh Frau ... ähhh Politiker ... ähhh Politikerin ...ähhh ... naja:
Konzeptlos.
Immerhin das haben wir gemeinsam.


.

Internet-Tipp: https://www.zyn.de/angelmerk/796536.html


 eleisa antwortete am 20.08.05 (17:05):

Paradies zu vermieten.

Ephraim Kishon.

Bald nach der Ausweisung des ersten Touristenehepaares aus dem Garten Eden wurde am
Eingang eine Tafel angebracht: „Infolge Abreise der bisherigen
Mieter – Paradies zu vermieten.“ Es meldeten sich nur wenige Bewerber.
Einer ,mit einem dicken Weib im Schlepptau, erklärte nach oberflächlicher
Besichtigung der Örtlichkeit, dass sich bei jedem Regen unpassierbare
Pfützen bilden würden.Und im Winter würde man frieren;er sehe keinerlei
Heizvorrichtung .
Wie lange dauert es denn noch bis zur Erfindung des Feuers ? „fragte er.
„Eine Million Jahre“,antwortete der Erzengel Gabriel.
Der Mietvertrag kam nicht zu stande.Er wäre sowieso nicht zu stande gekommen,
weil das dicke Weiballergisch gegen Vögel war:
„dieses ewige Gezwitscher vertage ich nicht. Es bringt mich um den Verstand.
Auch das Farbarrangement missfällt mir. Alles in grün.
Nirgends eine Spur von Beige oder Rosa. Damit zog sie ihren Mann zum Ausgang.
Wir können es ja mit Tapeten versuchen, rief Gabriel hinter den beiden her.
Aber da waren sie schon verschwunden.
Als nächster kam Ingenieur Glick. Er inspizierte das Objekt mit gewohnter
Gründlichkeit und schüttelte den Kopf: „Kein Kühlschrank...kein Air –conditioning...wie
Soll man´s hier im Sommer aushalten?“
Der Erzengel machte sich erbötig,mit Gott dem Herrn über eine mögliche Neugestaltung der
Jahreszeiten zu sprechen,aber Glick vermochte diesem Vorschlag nichts abzugewinnen,
schon deshalb nicht ,weil mittlerweile alles, was da kreuchet,an seinen Beinen herum-
zukreuchen begann. Ob man denn hier noch nichts von einem Insekten spray gehört hätte,
fragte er.
Doch,aber man könnte es nicht verwenden,antwortete Gabriel entschuldigend.
Wegen der Äpfel.
Ingenieur Glick ließ für alle Fälle seine Adresse zurück und empfahl sich.
Die blonde Dame,die nach ihm am Eingang erschien,warf einen Blick in die
Gegend und fragte, ob Hauspersonal zur Verfügung stünde.Gabriel bat sie mit verlegenen
Lächeln, doch erst einmal weiter zu gehen und auf einem Baum hinauf zu klettern,
von dort hätte sie eine schöne Aussicht. Die Dame lehnte ab:“So ein riesiger Garten und keine
Hilfskräfte! Nein,wirklich- es wundert mich nicht, dass die Adams ausgezogen sind.“
Dem Vernehmen nach ging es den Adams draussen recht gut.Sie betrieben eine
Farm ,züchteten Blumen und planten ins Exportgeschäft einzusteigen.
Der Garten Eden fand keine Interressenten,verlor nach und nach seinen paradiesischen
Charme und geriet in einem desolaten Zustand.
Von seinen einstigen Mietern ist nur die Schlange übriggeblieben, die bekanntlich
Nicht vertrieben wurde und dort ihre Sünden abbüßt.


 Enigma antwortete am 21.08.05 (11:58):

Alfred Polgar (XXXIII)
Der Weglasser
SZ-Serie über große Journalisten (XXXIII): Alfred Polgar – Grandseigneur der Feder

HANS LEYENDECKER

(SZ v. 21.07.2003)

„Die Simmeringer Hauptstraße ist die traurigste Straße Wiens. Sie beginnt mit Kaserne und Krankenhaus und endet mit dem Friedhof. Dazwischen: Fabriken, ein Kino, Pferdefleischhauereien. Zuchthaus ist keines auf der Simmeringer Hauptstraße.“

So knapp und eindringlich kann ein Geschichtenanfang sein. Oder so stimmungsvoll, nüchtern: „Zu Weihnachten war ihre große Zeit. Sie stand in der Küche, briet und backte. Eigentlich solle es heißen: buk, aber die Leni war eine einfache Person. So ein vornehmes Imperfektum würde gar nicht zu ihr passen.“


Zwei Einstiege zu Geschichten, die Alfred Polgar (1873 bis 1955) geschrieben hat. Mit dem Anschein spielerischer Leichtigkeit hat er die Welt erklärt. Der Sohn ungarisch-slowakischer Juden, der erst Alfred Polak hieß und sich gern zwei Jahre jünger machte, hat in vielen Variationen in Zeitungen, Zeitschriften und Büchern kleine Leute wie Leni besungen: „Ich will lieber die Büste meines Briefträgers auf den Schreibtisch stellen, als die des großen Napoleon“. In Skizzen wie dem Stück über die Simmeringer Straße, hat er der Trostlosigkeit Glanz verliehen, der aber nicht blendete.


Obwohl er sein Leben lang für Zeitungen und Zeitschriften wie Wiener Allgemeine Zeitung, Berliner Tageblatt, Schaubühne oder Weltbühne geschrieben hat, bedeutete ihm journalistisches Lob im Allgemeinen nicht viel. Er kannte die Aufgeblasenheit der Branche und deren Mätzchen zu genau. 1926 hatte er ein Buch mit dem Titel An den Rand geschrieben herausgebracht, und allein der Titel reichte den Betrachtern für ein Urteil: „Unscheinbar, nebensächlich, fern vom Kern.“ Im Journalismus braucht es oft nicht mehr als einen Vorwand. „Es lebte sich kritisch, auf meine Kosten, bequem vom Rand in den Mund“, urteilte Polgar. „Ich lernte es sehr bedauern, dass ich dem Rat guter Freunde nicht gefolgt und mein Buch nicht Die silberne Glocke oder Gewölk im Südsüdnord oder schlechtweg Silpelith rudert über die Erlen betitelt habe.“


Polgar schrieb wie ein Journalist für den Tag, und er ist dennoch geblieben. Er war Theaterkritiker, Betrachter, Essayist. Er wollte Zeuge sein. Fast sein ganzes Leben hat er, neben Theaterkritiken, dem Thema Krieg und Frieden gewidmet. Er hasste die Nazis und mochte die Kommunisten nicht. 1933 flüchtete er ins Exil. Zunächst nach Prag, dann nach Zürich, Paris und am Ende in die USA. Er übersetzte amerikanische Bühnenstücke und entwickelte eine unglückliche Liebe zum Film. Seine Formulierungskunst hat ihm früh den Titel „Meister der kleinen Form“ eingebracht.

Wer über Alfred Polgar schreibt, sollte am besten nur Sätze verwenden, die er geschrieben hat. Wenn jemand versuchte, sein Talent nachzuahmen, es wäre nur peinlich. Polgar schrieb beiläufig, tat leicht und traf genau ins Ziel. Er war ein Grandseigneur der Feder. Er war leise, fein, ein gläubiger Ungläubiger. Er war keiner jener journalistischen Kraftmeier, die es zu allen Zeiten gab und die dem Leser am liebsten falschen Hasenbraten mit pikanter Sauce servieren.
.......

Wen es interessiert, mehr nachzulesen, nicht nur über Polgar, sondern über eine ganze Reihe bedeutender Journalisten...
she. URL!

Internet-Tipp: https://www.sueddeutschezeitung.de/kultur/artikel/890/14876/


 nasti antwortete am 21.08.05 (20:42):

Hi Enigma!

Danke, das du Alfred Polgar erwehnt hattest. Obwohl ich auch eine slowakisch-ungarische Bürgerin bin, und eine Deutsche Bürgerin auch ,ich kenne Ihm nicht. Es ist eine Schande, aber so ist es. Habe ich Ihm geklickt, sein Styl ist etwas besonderes.

"„Das Cafe Central liegt unterm wienerischen Breitengrad am Meridian der Einsamkeit. Seine Bewohner sind größtenteils Leute, deren Menschenfeindschaft so heftig ist wie ihr Verlangen nach Menschen, die allein sein wollen, aber Gesellschaft brauchen. Es sind unklare Naturen, ziemlich verloren ohne die Sicherheiten, die das Gefühl gibt, Teilchen eines Ganzen (dessen Ton und Farbe sie mitbestimmen) zu sein.“

Hervorragend, erkenne ich einige Menschen, sogar mich auch.
Muss ich besorgen mehr von Ihm zum lesen.

Grüsst

nasti


 nasti antwortete am 21.08.05 (20:49):

Hi Eleisa!

Habe ich alle Bücher von Kishon. Finde Ihm großartig.

Nasti


 Marina antwortete am 21.08.05 (23:27):

Für Hunde

Der Kleinbahnzug war schon geknüppelt voll, als er in den Bahnhof einlief. Man konnte durch die Fenster sehen, daß in jedem Kupee zwanzig Personen standen. Nur ein Abteil war ganz leer, an dem eine Inschrift hing: Für Reisende mit Hunden. Ich öffnete die Tür dieses Abteils weit, stieg ein und machte es mir bequem. Einmal drinnen, war die größte Gefahr vorüber, denn die Schaffner und Stationsvorsteher sahen von außen ja nur meinen Kopf; sie konnten also nicht wissen, ob ich einen Hund bei mir hatte oder nicht. Ich nahm möglichst waidmännische Züge an, indem ich meinen Hut schief setzte und das linke Auge etwas zusammenkniff. Größer war die Schwierigkeit mit den anderen Reisenden. Die anderen Reisenden konnten mich über die trennende niedrige Wand da allein in meinem Kupee sitzen sehen, und sie machten ihre Bemerkungen. Ich hörte, wie sie untereinander murmelten: Der hat ja gar keinen Hund. Wie kommt denn der dazu, sich da hineinzusetzen! Schließlich faßte sich einer Mut und redete mich über die Wand hinweg an: »Sie haben ja gar keinen Hund. Da könnte sich jeder da hineinsetzen!« Ich erwiderte folgendes: »Mein Herr, Sie haben ja vollkommen recht; es könnte sich jeder in dieses leere und sinnlose Abteil setzen. Daß ich allein den Mut dazu fand, ist tief beklagenswert und erklärt die Not Deutschlands. Denn, mein Herr, sagen Sie selbst: welchen Zweck hat ein Abteil für Hunde, wenn keine Katze drinsitzt?« Ob ich den Herrn mit dieser Rede zu einer etwas freieren Weltanschauung bekehrt habe, das weiß ich nicht, ja, ich bezweifele es. Wahrscheinlich wird er, wie das so üblich ist, meine Worte für einen faulen Witz gehalten haben.

Victor Auburtin


 Enigma antwortete am 22.08.05 (15:49):

@Nasti
ja, ich finde den Polgar auch gut. Früher habe ich mehr von ihm gelesen.

@Marina
Den Auburtin finde ich auch gut.

"Eine Geschichte?
Dies ist eine schöne Geschichte.

Ein amerikanischer Milliardär – meine Geschichten spielen alle in vornehmer Gesellschaft – ein amerikanischer Milliardär wurde einst von einem Freunde gefragt: "Wie machen Sie das, Herr Moneymaker: auf jedem Ihrer Empfänge werden Ihnen Hunderte von Leuten vorgestellt, Menschen, die Sie nie vorher gesehn haben. Alle aber unterhalten sich mit Ihnen auf das trefflichste. Wie machen Sie das nur?" – "Ich habe mir da eine Methode ausgedacht", sagte der Milliardär. "Ich frage jeden Menschen, der mir vorgestellt wird: Was macht Ihr Leiden -?" :-))

Autorenangabe: Peter Panter
Ersterscheinung: Die Weltbühne, 06.09.1932, Nr. 36, S. 358.


 Enigma antwortete am 25.08.05 (08:10):

Ich fange mal wieder an.... :-))

Klabund
"Weibertreu
Meine Damen, ich hoffe, Sie werden mir die kleine Geschichte nicht übelnehmen, die ich Ihnen hier erzähle: denn sie ist ziemlich leichtfertig. Aber ich möchte Ihnen zur Beruhigung mitteilen, daß Sie sich im fernen Indien zugetragen hat. In Europa gilt, wie allgemein bekannt, die Ehe als Sakrament, und noch nie hat in Europa eine Frau ihrem Gatten die Ehe gebrochen. – –
Es war einmal ein Herr namens Viradhara und eine Dame namens Kamadamini. Letztere war ein junges, zartes und fröhliches Geschöpf, während ihr Gatte Viradhara bereits jenes Alter erreicht hatte, von dem es im indischen Sprichwort heißt: «Ein alter Esel zieht nicht mehr». Kamadamini fand nun, daß es noch genug junge Esel gebe, die ihren kleinen Korbwagen gerne ziehen möchten, sofern sie sie nur einspanne. Solches tat Kamadamini und geriet in einen Ruf, der selbst bis zu ihrem alten Gatten drang. Der Gatte ward auf das heftigste bestürzt, als er solches vernahm, schwieg aber still und beschloß bei sich, sein Weibchen auf die Probe zu stellen. Er sprach eines Tages zu ihr: «Meine zärtliche Taube möge verzeihen, wenn ich sie einige Tage allein lasse, denn ich habe in Geschäften eine längere Reise anzutreten» - küßte sie auf die Stirn und verließ das Haus, um auf Umwegen wieder dahin zurückzukehren und durch das Fenster in das Zimmer einzusteigen und sich dort unter dem Bett zu verstecken. Kaum hatte Viradhara das Haus verlassen, als Kamadamini sich putzte und schmückte, kleine Kuchen buk in bester Butter und bestem Mehl und ihre Dienerin mit einer Einladung zu einem jungen Herrn sandte, der ihr schon öfter den kleinen Korbwagen gezogen hatte. Der junge Herr erschien auch mit vielen Freuden, sie aßen und tranken und begaben sich danach in das Zimmer und ins Bett.

Fortsetzung!


 Enigma antwortete am 25.08.05 (08:20):

Fortsetzung!

"Hierbei nun berührte Kamadamini mit einem Fuß zufällig den Leib ihres Gatten, der versteckt lag, um sie auf die Probe zu stellen. Klug, wie die Frauen in allen bösen Dingen nun einmal sind - Verzeihung meine Damen: in Indien ... -, wußte sie sofort, wer da liege und um was es sich handle. Als nun ihr Liebhaber sie umarmen wollte, stieß sie ihn zurück und sprach: «Herr, Ihr dürft mich nicht berühren.» Der junge Herr erwiderte ärgerlich: «Ich bitte Euch, mir Auskunft zu geben, schöne Frau, warum in aller Welt Ihr mich sonst habet rufen lassen?» Sie sprach: «Ich besuchte vor Sonnenaufgang den Tempel der Kandika. Da erscholl plötzlich eine Stimme: "Unglückliche, du wirst innerhalb dreier Monate Witwe sein. " - Ich erschrak bis ins tiefste Herz, denn ich liebe meinen Mann über alles in der Welt, selbst mehr als mein Leben oder meine Ehre. Und ich flehte: "Göttin, gibt es ein Mittel, meinen Gatten vor dem Verhängnis zu retten?" Sie erwiderte: "Ja. Ich will dir dieses Mittel nennen: du mußt einen fremden Mann umarmen - so wird der deinem Gatten bestimmte Tod auf diesen übergehen, er aber wird hundert Jahre alt werden." - Wisset also, daß Ihr mich nun zwar umarmen dürft, daß aber der Tod von der Göttin Kandika Euch sicher ist...»
Da lächelte der junge Mann, denn er begann die junge Frau zu begreifen, indes der Ehemann sich in seinem Versteck hin und her wälzte wie ein Kater, den man krault. Und der junge Herr sprach: «Gern will ich den Tod auf mich nehmen, nachdem ich Euch habe umarmen dürfen», und also umarmten und liebten sie einander, während der Gatte, ob des Opfers, das seine Gattin aus Liebe zu ihm brachte, Tränen der Rührung vergoß.
Als sich nun der junge Mann zum Fortgehen anschickte, da kroch auch der Gatte unterm Bett hervor. Tränen noch in den Wimpern, umarmte ihn, der höchlich erschrocken tat, und sprach: «Mein Lebensretter! Mein treuester Freund bis zu deinem unvermeidlichen Tode!» Und er küßte seine Frau und sprach: «Du bist die treueste Frau, die je auf Erden wandelte. Sei gesegnet.»
Hiermit, meine Damen, ist meine Geschichte zu Ende, und ich bemerke, um jedem unliebsamen Mißverständnis vorzubeugen, daß so ungetreue Ehefrauen, so nichtsnutzige junge Burschen und so alberne alte Ehemänner natürlich nur in Indien vorzukommen pflegen."

Wie der Autor schon richtig festgestellt hat, gibt es solche Weiberlist hierzulande nicht.....:-))


 Marina antwortete am 26.08.05 (19:26):

Herrliche Geschichte, Enigma. Da sie mich an Fabeln erinnerte, hier eine Fabel von Aesop:

Der Hund und der Wolf

Es war in einem strengen Winter. Ein Wolf hatte schon seit Tagen vom Hunger geplagt den Wald durchzogen und nach Nahrung gesucht. Jeder Bissen hätte ihn erfreuen können, selbst der Rest einer verwesenden Maus, so ausgehungert war er.
Ein mageres Hündchen lief im unvorsichtigerweise über den Weg. Es bibberte vor Furcht und Kälte. "Du kommst mir wie gerufen", freute sich der Wolf und packte den ängstlichen Dreikäsehoch beim Fell.
"Halt, lieber Wolf, nicht so unüberlegt, siehst du denn nicht, wie ausgezehrt ich bin? Du mußt dich ja vor mir ekeln"
"Quatsch keinen Unsinn, ich bin nicht wählerisch", knurrte der Wolf verärgert.
"Du bringst dich um den besten Bissen deines Lebens!" kläffte das Hündchen. "Du müßtest mich erst einmal sehen, wenn ich mich morgen von den unzähligen Köstlichkeiten des Hochzeitsmahls gemästet habe. Morgen werde ich wohlgenährt sein und strotzen vor Fett. Denn dann heiratet die Tochter meines Herrn einen steinreichen Gutsbesitzer. Speisen gibt es dort, Speisen! Feinster Rehbraten, würziger Schinken, Kalbsnieren und Hammelkeulen, Rindsbraten und duftende Mettwürste!" Der pfiffige Köter machte dem Wolf den Mund wäßrig mit einer endlosen Aufzählung auserwählter Leckereien. "Das wäre ein Essen für dich", schloß er seine Schilderung, "und nicht meine miese Figur von heute. Komm morgen nacht auf unseren Hof, dann will ich dir dienen. Aber sei leise, mein Herr hat gute Ohren."
Der Wolf war ganz verrückt geworden von all den herrlichen Speisen, die der kleine Schlauberger ihm vorgesponnen hatte. Er ging auf den Vorschlag des Hündchens ein und ließ es laufen.
In der folgenden Nacht schlich er behutsam auf den Hof, um ein Festmahl zu halten. Der kleine Hund lag auf einem Vordach und rief: "Willkommen, lieber Wolf! Ich freue mich, daß du meine Einladung angenommen hast. Warte einen Augenblick, ich will meinem Herrn sofort Bescheid geben, damit er kommt und dich festlich bewirtet." Und er bellte aus Leibeskräften.
Sofort schlugen auch die Wachthunde an, und der Herr stürmte bald darauf aus dem Haus, um die Hunde loszulassen. Aber der Wolf war schon laut schimpfend geflüchtet.

Aesop lebte angeblich Mitte des 6. Jahrhunderts vor Christus


 Enigma antwortete am 29.08.05 (07:50):

Hallo Marina,
wie soll sich das arme, magere Hündchen auch anders wehren gegen den bösen, starken Wolf??
:-)


Der böse Knabe
Anton Tschechow

Iwan Iwanitsch Lapkin, ein junger Mann von angenehmem Äußeren und Anna Ssemjonowna Samblizkaja, ein junges Mädchen mit einem Stumpfnäschen, gingen das steile Ufer hinab und ließen sich auf einer Bank nieder. Die Bank stand hart am Wasser zwischen dichtem Weidengebüsch. Ein prächtiges Plätzchen! Man sitzt hier verborgen vor aller Welt, und nur die Fische und die Wasserspinnen, die wie Blitze hin und her schießen, sehen einen. Die jungen Leute waren mit Angelruten, einem Handnetz, Behältern für Würmer und allen möglichen anderen Angelgerätschaften ausgestattet. Kaum hatten sie sich gesetzt, als sie sich auch gleich an die Arbeit machten.
»Ich bin froh, daß wir endlich allein sind«, begann Lapkin, nachdem er sich umgeschaut hatte. »Ich habe Ihnen sehr vieles zu sagen, Anna Ssemjonowna . . . Sehr vieles . . . Als ich Sie das erste Mal gesehen . . . Bei Ihnen beißt einer an!.. Da begriff ich erst, wozu ich lebe, da sah ich erst, wer die Göttin ist, der ich mein ehrliches Arbeitsleben weihen muß . . . Es scheint ein großer anzubeißen! . . Als ich Sie sah, lernte ich zum ersten Mal lieben, leidenschaftlich lieben! Ziehen Sie noch nicht . . . lassen Sie ihn ordentlich anbeißen . . . Sagen Sie mir, mein Alles, ich beschwöre Sie, sagen Sie mir – nicht ob ich auf Gegenseitigkeit, nein! dessen bin ich nicht wert und darf daran nicht einmal denken – sagen Sie mir, ob ich darauf rechnen kann, daß . . . Ziehen Sie!«
Anna Ssemjonowna zog die Hand mit der Angelrute mit einem Ruck in die Höhe und schrie auf. Ein silbergrüner Barsch zappelte und flimmerte in der Luft.
»Ach Gott, ein Barsch! Ai, ach . . . Schnell! Er macht sich los!«
Der Barsch riß sich vom Haken los, begann auf dem Grase umher zu springen und fiel endlich mit einem Platsch in sein heimatliches Element zurück.
Während der Jagd nach dem Fische hatte Lapkin ganz in Versehen, statt des Fisches, Anna Ssemjonownas Hand ergriffen und sie unversehens an die Lippen geführt . . . Das junge Mädchen zog die Hand zwar zurück, aber es war schon zu spät: die Lippen hatten sich in Versehen zu einem Kusse vereinigt. Alles war so ganz unversehens gekommen. Auf den ersten Kuß folgte ein zweiter, dann kamen Schwüre, Beteuerungen . . . Glückliche Augenblicke!
Übrigens ein absolutes Glück giebt es hier auf der Erde nicht. Jedes Glück trägt entweder den Giftkeim in sich selbst, oder wird durch irgend etwas von außen Kommendes vergiftet. So war es auch hier. Während die jungen Leute sich noch küßten, erscholl plötzlich ein Gelächter. Sie sahen nach dem Fluß und erstarrten: dort stand bis zu den Hüften im Wasser ein nackter Knabe. Es war der Gymnasiast Kostja, Anna Ssemjonownas Bruder. Er stand im Wasser, blickte die jungen Leute an und lächelte diabolisch.
»A–a–a . . . Ihr küßt Euch?« sagte er. »Gut! Ich werde es Mama sagen.«

Fortsetzung!


 Enigma antwortete am 29.08.05 (07:54):

Fortsetzung!

»Ich hoffe, daß Sie als anständiger Mensch . . .« begann Lapkin zu stammeln. »Das Spionieren ist gemein und das Klatschen ist niedrig, niederträchtig . . . Ich hoffe, daß Sie als ein anständiger Mensch, als ein Mann von Ehre . . .«
»Geben Sie mir einen Rubel, dann werde ich es nicht sagen!« antwortete der Mann von Ehre. »Sonst sag' ich's!«
Lapkin holte aus der Tasche einen Rubel und reichte ihn Kolja. Dieser knillte den Rubel in der nassen Faust zusammen, pfiff und schwamm weg. Und dieses Mal küßten die jungen Leute sich nicht mehr.
Am nächsten Tage brachte Lapkin Kolja aus der Stadt einen Malkasten und einen Ball mit, die Schwester aber schenkte ihm alle ihre hübschen Medizinschachteln. Hernach mußte sie ihm auch die Manschettenknöpfe mit den Hundeköpfen schenken.
Dem bösen Knaben gefiel alles das offenbar sehr, und um noch mehr zu erhalten, begann er zu beobachten. Wo Lapkin und Anna Ssemjonowna waren, war auch er. Nicht einen Augenblick ließ er sie aus den Augen.
»Ein Schuft!« knirschte Lapkin mit den Zähnen. »Noch so klein und schon ein so bedeutender Schuft! Was wird aus ihm erst später werden?!«
Den ganzen Juni über ließ Kolja den armen Verliebten keine Ruhe. Er drohte mit Verrat, beobachtete sie und erpreßte von ihnen Geschenke; seine Ansprüche wurden immer unbescheidener und schließlich begann er schon von einer Taschenuhr zu reden. Und was geschah? Die Taschenuhr mußte ihm bewilligt werden.
Einmal während des Mittagessens, als die Waffeln eben serviert waren, fing er plötzlich an zu lachen, blinzelte Lapkin mit dem einen Auge zu und sagte:
»Soll ich's sagen? Ja?«
Lapkin wurde furchtbar rot und begann anstatt der Waffel die Serviette zu kauen. Anna Ssemjonowna sprang vom Tisch auf und lief ins Nebenzimmer.
In dieser Lage befanden sich die jungen Leute bis Ende August, bis zu dem Tage, wo Lapkin endlich Anna Ssemjonowna einen Heiratsantrag machte. O, was war das für ein glücklicher Tag! Nachdem Lapkin mit den Eltern der Braut gesprochen und ihre Einwilligung erhalten hatte, lief er sofort in den Garten und begann Kolja zu suchen. Als er ihn gefunden, schluchzte er vor Entzücken beinahe auf und packte den bösen Knaben am Ohr. Anna Ssemjonowna, die sich ebenfalls auf der Suche nach Kolja befunden hatte, kam herbei und faßte ihn am andern Ohr. Und man hätte es sehen müssen, welches Entzücken sich auf den Gesichtern der Verliebten malte, als Kolja weinte und flehte:
»Liebe! Teurer! Ich werd' nie mehr . . . Ai, ai, ai, verzeiht!«
Und hernach gestanden sie beide, daß während der ganzen Zeit ihres Verliebtseins sie niemals ein solches Glück, eine solche überströmende Seligkeit empfunden hatten, als in den Augenblicken, während sie den bösen Knaben an den Ohren rissen.

:-))


 Literaturfreund antwortete am 29.08.05 (16:09):

Hasenmanöver von Erich Kuby
(Kuby war Journalist und Schriftsteller:. Reportagen; Kritiker der bundesrepublikanischen Gesellschaft; Romane)
Als Erinnerung an Peer Glotz. Ich habe die Geschichte herausgesucht aus dem Lesebuch von Glotz, das er mit Langbucher herausgegeben hat: „Versäumte Lektionen“.

Kuby: Hasenmanöver

Es war einmal ein Osterhase, der bekam eine Karte, und darauf stand: "Sie haben sich am Samstag um neun Uhr beim Militär zu einer vierwöchigen Übung zu melden."
"Ach Gott', sagte der Osterhase, "das paßt mir aber ganz schlecht, jetzt gerade vor Ostern. Das wird auch für die Kinder recht traurig sein, wenn ich gerade jetzt einrücken muß."
"Mir tut es auch leid", sagte der Briefträger und ging ein Waldhaus weiter. Er hatte noch viele Karten in seiner Mappe.

Der Osterhase hoppelte in sein Nest zurück und traf dort seine Frau beim Eierfärben. "Meine Liebe", sagte er, "leg den Pinsel weg, es hat keinen Sinn mehr, hier, lies die Karte."
"Aber, aber", meinte die Hasenfrau, "das geht doch nicht, nein, das geht überhaupt nicht, und wer hat schon jemals gehört, daß Hasen zum Militär eingezogen werden? Dazu sind wir doch viel zu furchtsam."
"Eben deshalb werden sie uns einziehen , sagte der Osterhase sinnend, "Mit uns trauen sie sich's." Dumm war er nicht. Dann gab er seinem Hasenherzen einen Stoß und erklärte: "Ich werde so tun, als ob ich die Karte gar nicht bekommen hätte, und nicht in die Kaserne gehen, oder höchstens erst nach Ostern.'
"Das tu du mal", meinte seine Frau und hatte eine Idee. "Paß auf", sagte sie, "ich habe vom Bäh-Schaf, weißt du, dem Schneeweißchen, noch ein bißchen Wolle, da stricke ich dir jetzt einen Overall, dann siehst du selber wie ein Bäh-Schaf aus, ein ganz kleines, und die Schafe, soviel ich weiß, werden noch gar nicht eingezogen. Außerdem ist das Lamm auch ein Ostertier."

"Kriege ich dann auch eine Fahne?" fragte der Osterhase, "Osterlämmer haben doch eine Fahne."
"Lieber nicht", sagte die Osterhasenfrau, "wir wissen nicht, welche Fahne gerade paßt, dazu fehlt uns die Übersicht." Sie begann sofort, einen schneeweißen Overall zu stricken, und vergaß auch nicht, einen hübschen kleinen runden Schafsschwanz aus Wolle daran zu flechten.
*
Forts. folgt.


 Literaturfreund antwortete am 29.08.05 (16:10):

Erich Kuby: Hasenmanöver
- Forts. -

So kam es, daß am Ostersonntagmorgen im Garten der Kinder nicht der Osterhase mit einem Körbchen voll Eier auf dem Rücken erschien, sondern ein ganz kleines weißes Lamm. Das zog ein Wägelchen, und darin waren die Eier. Die Kinder wunderten sich ein bißchen, denn sie hatten natürlich einen Hasen erwartet, aber schließlich waren ihnen die Eier die Hauptsache. Sie gaben dem Schäfchen ein vierblättriges Kleeblatt zu fressen, und dann zog es mit seinem leeren Wägelchen wieder fort, ganz allein durch den großen Osterwald. Unterwegs begegnete ihm ein Wachtmeister von der Wolfspolizei, und der Osterhase fürchtete sich in seinem weißen Pelz so sehr, daß er zitternd anhielt. Denn er hatte gehört, daß die Wölfe ganz besonders gern Schafe fressen, und er wünschte, sofort wieder ein Hase zu sein. Aber was für ein Glück, daß er kein Hase war. Der Wolf in Uniform sagte: "Zittere doch nicht so, ich tu' dir nichts, ich bin im Dienst. Ich suche den Osterhasen, er muß zum Militär, aber er drückt sich. Hast du ihn nicht gesehen?"
"Nein", piepste das falsche Lamm, und das Hasenherz pochte unter seinem falschen Fell, "Ich habe ihn schon lange nicht gesehen, vielleicht ist er verreist."
So ging Ostern vorbei, und jetzt hätte der Osterhase sich endlich in der Kaserne melden müssen, aber er wollte nicht mehr. Es war im Wald viel schöner. Eines Abends, auf dem Wege zur jungen Saat, wo er zu Abend essen wollte, begegnete er einem anderen Wolf. Der Hase machte einen Satz und wollte sich verstecken, aber es war dafür schon zu spät. Da drückte er sich flach auf den Boden und erwartete, wegen Fahnenflucht verhaftet zu werden.
"Stell dich doch nicht so an", sagte der Wolf, "seit wann fressen Wölfe Hasen?"
Der Hase richtete sich langsam wieder auf und fragte: "Bist du nicht bei der Polizei?"

"Nein, mein Kleiner, ich bin ein freier Wolf", sagte der Wolf. "Aber hast du nicht ein ganz kleines Lamm mit einem Wägelchen gesehen? Man sagte mir, es soll hier ein ganz kleines schneeweißes Lamm geben, da hätte ich gerade Lust darauf."
"Nein, lieber Wolf", sagte der Hase, .dieses Lamm habe ich schon lange nicht mehr gesehen, vielleicht ist es verreist.'
Dann eilte er nach Hause, küßte seine Frau herzlich und sagte: "Wirf nur ja unser Lammkleid nicht weg. Wenn ich immer richtig angezogen bin, können wir vielleicht doch zusammen alt werden.
(…)
(Aus: Glotz/Langbucher: Versäumte Lektionen. Fi-TB 1163. S. 313-315.


 Enigma antwortete am 31.08.05 (07:46):

...eine schöne Geschichte.
Ja, mit der richtigen "Tarnkleidung" kann man eben manchmal überleben... :-)

Aber es kann auch passieren, dass Hasen in ein anderes Land gehen:

La Fontaine
Der Hase mit den Hörnern
Ein Häschen tummelte sich ausgelassen an einem wunderschönen Sommermorgen auf einem freien Plätzchen, das von dichtem Buschwerk umgeben war. Hier fühlte es sich sicher. Vergnügt hopste es über ein paar Heidebüschel, sauste übermütig im Kreis umher und wälzte sich mit Wohlbehagen im sonnengewärmten Sand. Es zersprang fast vor Lebenslust und wußte vor Glück nicht wohin mit seinen Kräften.
Aber plötzlich duckte es sich blitzartig in einer kleinen Erdmulde nieder. Ein Hirsch setzte über die Büsche hinweg, und gleich darauf folgte ein Widder. Danach trampelte auch noch ein schwerer Stier respektlos quer durch das sonnige Morgenreich des kleinen Häschens.
"Unverschämte Bande", kreischte das Häschen, "mir meinen schönen Morgen so zu verderben!" Kaum hatte es sich wieder aufgerappelt, sprang eine Ziege über die Sträucher. "Halt", schrie das Häschen, "was soll das bedeuten, wo läuft ihr denn alle hin?"
Die Ziege, die immer zu einem Streich aufgelegt war, schaute lange und ernst auf die Ohren des Häschens, dann meckerte sie munter: "Hast du denn noch nicht von dem neuen Gesetz des Königs gehört? Ein kühner Bruder von mir stieß zufällig den Löwen mit seinen prächtig geschwungenen Hörnern in die Seite. Doch der König verstand keinen Spaß und befahl, daß alle Tiere, die Hörner tragen, sein Land verlassen müßten. Wer heute abend noch hier verweilt, wird mit dem Tod bestraft. Ich muß mich beeilen. Lebe wohl, Meister Langohr."
"Sonderbar", dachte das Häschen, welches nicht so schlau war wie sein Großvater, "der Löwe treibt seine Beute aus dem Land? Höchst sonderbar."
Auf einmal fuhr das Häschen zusammen. jetzt wußte es, warum die Ziege es so seltsam angegafft hatte. Natürlich, das war es. Im Sand erblickte das Häschen die Schatten seiner Ohren. Sie erschienen ihm riesengroß, und es befürchtete, daß der König seine Ohren für Hörner halten könnte.
"Was mach' ich nur, was mach' ich nur?" wiederholte der Hasenfuß und zitterte wie Gras im Wind. "Hier bin ich geboren, hier bin ich aufgewachsen, hier kenne ich jeden Grashalm. Ich mag nicht auswandern. Ach, wären meine Ohren so klein wie die einer Maus."
Eine Grille hatte die Worte der Ziege vernommen, und als sie nun das dumme Häschen so jammern hörte, lachte sie. "Du dummer Angsthase, die Ziege hat dir nur Hörner aufsetzen wollen. Was du wirklich an deinem Kopf hast, sind ganz gewöhnliche Ohren."
"Hier aber hält man sie für Hörner", gab das Häschen traurig zur Antwort. "Was hilft es mir, daß ich, du und der liebe Gott wissen, daß es Ohren sind, wenn es der Löwe nicht glaubt." Und ängstlich lief das Häschen in ein anderes Land.


 Enigma antwortete am 31.08.05 (08:02):

Was Mark Twain mit der deutschen Sprache machen wollte:
:-))

Mark Twain
Die Schrecken der deutschen Sprache

In dieser Rede, die Mark Twain am 21. November 1897 vor dem Presse-Club in Wien gehalten hat, macht Mark Twain einige ironische Vorschläge zur "Verbesserung und Vereinfachung" der deutschen Sprache. Er macht sich auch ein wenig über die deutsche Sprache lustig, aber man merkt: er liebt sie (und er spricht und schreibt hervorragend!).
Es hat mich tief gerührt, meine Herren, hier so gastfreundlich empfangen zu werden, von Kollegen aus meinem eigenen Berufe, in diesem von meiner eigenen Heimat so weit entferntem Lande. Mein Herz ist voller Dankbarkeit, aber meine Armut an deutschen Worten zwingt mich zu großer Sparsamkeit des Ausdruckes. Entschuldigen Sie, meine Herren, daß ich verlese, was ich Ihnen sagen will. (Er las aber nicht, Anm. d. Ref.) Die deutsche Sprache spreche ich nicht gut, doch haben mehrere Sachverständige mir versichert, daß ich sie schreibe wie ein Engel. Mag sein - ich weiß nicht. Habe bis jetzt keine Bekanntschaften mit Engeln gehabt. Das kommt später - wenn's dem lieben Gott gefällt - es hat keine Eile.
Seit langem, meine Herren, habe ich die leidenschaftliche Sehnsucht gehegt, eine Rede auf Deutsch zu halten, aber man hat mir's nie erlauben wollen. Leute, die kein Gefühl für die Kunst hatten, legten mir immer Hindernisse in den Weg und vereitelten meinen Wunsch - zuweilen durch Vorwände, häufig durch Gewalt. Immer sagten diese Leute zu mir: "Schweigen Sie, Euer Hochwohlgeboren! Ruhe, um Gotteswillen! Suche eine andere Art und Weise, Dich lästig zu machen."
Im jetzigen Fall, wie gewöhnlich, ist es mir schwierig geworden, mir die Erlaubnis zu verschaffen. Das Komitee bedauerte sehr, aber es konnte mir die Erlaubnis nicht bewilligen wegen eines Gesetzes, das von der Concordia verlangt, sie soll die deutsche Sprache schützen. Du liebe Zeit! Wieso hätte man mir das sagen können - mögen - dürfen - sollen? Ich bin ja der treueste Freund der deutschen Sprache - und nicht nur jetzt, sondern von lange her - ja vor zwanzig Jahren schon. Und nie habe ich das Verlangen gehabt, der edlen Sprache zu schaden, im Gegenteil, nur gewünscht, sie zu verbessern; ich wollte sie bloß reformieren. Es ist der Traum meines Lebens gewesen. Ich habe schon Besuche bei den verschiedenen deutschen Regierungen abgestattet und um Kontrakte gebeten. Ich bin jetzt nach Österreich in demselben Auftrag gekommen. Ich würde nur einige Änderungen anstreben. Ich würde bloß die Sprachmethode - die üppige, weitschweifige Konstruktion - zusammenrücken; die ewige Parenthese unterdrücken, abschaffen, vernichten; die Einführung von mehr als dreizehn Subjekten in einen Satz verbieten; das Zeitwort so weit nach vorne rücken, bis man es ohne Fernrohr entdecken kann. Mit einem Wort, meine Herren, ich möchte Ihre geliebte Sprache vereinfachen, auf daß, meine Herren, wenn Sie sie zum Gebet brauchen, man sie dort oben versteht.
Ich flehe Sie an, von mir sich beraten zu lassen, führen Sie diese erwähnten Reformen aus. Dann werden Sie eine prachtvolle Sprache besitzen und nachher, wenn Sie Etwas sagen wollen, werden Sie wenigstens selber verstehen, was Sie gesagt haben. Aber öfters heutzutage, wenn Sie einen meilenlangen Satz von sich gegeben und Sie sich etwas angelehnt haben, um auszuruhen, dann müssen Sie eine rührende Neugierde empfinden, selbst herauszubringen, was Sie eigentlich gesprochen haben. Vor mehreren Tagen hat der Korrespondent einer hiesigen Zeitung einen Satz zustande gebracht welcher hundertundzwölf Worte enthielt und darin waren sieben Parenthese eingeschachtelt und es wurde das Subjekt siebenmal gewechselt. Denken Sie nur, meine Herren, im Laufe der Reise eines einzigen Satzes muß das arme, verfolgte, ermüdete Subjekt siebenmal umsteigen.

Fortsetzung!


 Enigma antwortete am 31.08.05 (08:05):

Fortsetzung!

Nun, wenn wir die erwähnten Reformen ausführen, wird's nicht mehr so arg sein. Doch noch eins. Ich möchte gern das trennbare Zeitwort auch ein bischen reformieren. Ich möchte niemand tun lassen, was Schiller getan: Der hat die ganze Geschichte des dreißigjährigen Krieges zwischen die zwei Glieder eines trennbaren Zeitwortes eingezwängt. Das hat sogar Deutschland selbst empört; und man hat Schiller die Erlaubnis verweigert, die Geschichte des hundertjährigen Krieges zu verfassen - Gott sei's gedankt. Nachdem alle diese Reformen festgestellt sein werden, wird die deutsche Sprache die edelste und die schönste auf der Welt sein.
Da Ihnen jetzt, meine Herren, der Charakter meiner Mission bekannt ist, bitte ich Sie, so freundlich zu sein und mir Ihre wertvolle Hilfe zu schenken. Herr Pötzl hat das Publikum glauben machen wollen, daß ich nach Wien gekommen bin, um die Brücken zu verstopfen und den Verkehr zu hindern, während ich Beobachtungen sammle und aufzeichne. Lassen Sie sich aber nicht von ihm anführen. Meine häufige Anwesenheit auf den Brücken hat einen ganz unschuldigen Grund. Dort gibt's den nötigen Raum. Dort kann man einen edlen, langen, deutschen Satz ausdehnen, die Brückengeländer entlang, und seinen ganzen Inhalt mit einem Blick übersehen. Auf das eine Ende des Geländers klebe ich das erste Glied eines trennbaren Zeitwortes und das Schlußglied klebe ich an's andere Ende - dann breite ich den Leib des Satzes dazwischen aus. Gewöhnlich sind für meinen Zweck die Brücken der Stadt lang genug: wenn ich aber Pötzl's Schriften studieren will, fahre ich hinaus und benutze die herrliche unendliche Reichsbrücke. Aber das ist eine Verleumdung. Pötzl schreibt das schönste Deutsch. Vielleicht nicht so biegsam wie das meinige, aber in manchen Kleinigkeiten viel besser. Entschuldigen Sie diese Schmeicheleien. Die sind wohl verdient. Nun bringe ich meine Rede um - nein - ich wollte sagen, ich bringe sie zum Schluß. Ich bin ein Fremder - aber hier, unter Ihnen, habe ich es ganz vergessen. Und so, wieder, und noch wieder - biete ich Ihnen meinen herzlichsten Dank!


 Enigma antwortete am 02.09.05 (14:52):

Frank Wedekind
Rabbi Esra
"Moses, Moses, du gefällst mir nicht. Warum willst du dich verloben mit zwanzig, wenn du erst willst heiraten mit fünfundzwanzig?" - Der alte Esra sah seinem Sohne zwischen den Wimpern durch, als wollte er im Innern des Kopfes eine kabbalistische Flammenschrift entziffern.
"Ich liebe Rebekka."
"Du liebst die Rebekka? Woher weißt du, daß du liebst die Rebekka? Will ich dir glauben, daß du liebst einen kleinen Fuß, eine weiße Haut, ein bartloses Antlitz; aber woher weißt du, daß es ist die Rebekka? Hast du studiert das Römische Recht und das Christliche Recht, aber hast du nicht studiert die Frauen. Habe ich dich erzogen zwanzig Jahre mit Sorgfalt, daß du mir anfängst dein Leben mit einer Narrheit? Wieviel Frauen hast du gekannt, Moses, daß du kannst kommen zu deinem alten Vater und sagen, du liebst?"
"Ich kenne nur eine, und die liebe ich von ganzem Herzen."
"Von ganzem Herzen, wie heißt? - Hast du kennen gelernt dein ganzes Herz?"
"Ich bitte dich ernstlich, lieber Vater, über meine Gefühle nicht spotten zu wollen."
"Moses, Moses, werd' mir nicht rappelköpfig. Ich sage dir, werd' mir nicht rappelköpfig. Laß dir erzählen eine Geschichte. Komm, setz dich zu mir, auf den samtenen Diwan. Will ich dir erzählen von meinem Vater, was er mir hat gesagt, als ich war zwanzig Jahre. Esra, hat er mir gesagt, wenn du heiratest, heirate eine reiche Frau. Laß dir sagen von deinem alten Vater, daß die Frau ist vergänglich. Aber so ein blanker Taler, Esra, der kann sich halten durch Generationen! - Habe ich mir gedacht, daß er ist ein alter Mann und habe ich ihm geschworen, daß meine Braut wird mitbekommen dreißigtausend Taler. Aber ich will dir erklären, Moses, warum ich sie habe geliebt, warum ich sie habe geheiratet, die kleine Lea, warum ich habe in Trübsal gelebt mit ihr, bis sie mir ist hingeschwunden wie der Schnee in der Hand. Weil ich nicht habe gekannt die Frauen, weil ich nicht habe gekannt den Esra, mich selbst."
"Moses, ich bin ein alter Mann und will von der Welt nichts mehr, als daß es dir möge gut gehen. Aber mit zwanzig Jahren, da war es in mir, wie in einem Hühnerstall in der Früh, wenn die Sonne aufsteigt. Wenn ich bin gegangen auf der Straßen und ist gekommen ein Christenmädchen oder eine von unserem Stamm, dann habe ich sie gefühlt in den Fingerspitzen und habe gewünscht, daß ich wäre gewesen der König Salomon mit fünftausend Weibern. Aber sie mußte geschaffen sein, als hätte sie gemacht der Herr für sich selbst, Moses, versteh' mich recht, mit allem angetan, was das Weib kann an Schätzen besitzen. Wenn sie war klein und blaß und dünn und flink wie eine Ratte, dann habe ich den Regenschirm gesenkt nach ihrer Seite, weil es mich hat in den Augen geschmerzt, sie zu sehen. Aber wenn sie war gewachsen wie Zedern auf Libanon, dann habe ich den Regenschirm gesenkt nach der anderen Seite, und habe ihr Bild mit nach Hause genommen und habe es geschaut über dem Talmud, und in den heiligen Worten habe ich gehört den Takt ihrer Füße. Und in der Nacht ist es zu mir gekommen und hat mich aufgesucht in meinen Träumen, das Bild - Gott der Gerechte, habe ich es vor mir gehabt, wie Moses, dem du dankst deinen Namen, auf Nebo das Gelobte Land; hätte ich es können greifen mit Händen, habe ich gesehen Milch und Honig fließen und konnte nicht gelangen über den Jordan durch den Willen des Herrn."

Fortsetzung!


 Enigma antwortete am 02.09.05 (15:09):

Fortsetzung!

"Aber da habe ich mir gesagt - Moses, kannst du dir denken, was ich mir habe gesagt? - Nu, habe ich mir gesagt, du bist ein Kind des Teufels, du bist es gewesen von Mutterleib. Wenn du wirst nachgeben deinen Gelüsten, wenn du wirst über den Jordan gehen, so wird dich treffen der Zorn, und du wirst sein ein Kind des Todes. Du sollst nicht gehen zu Weibern, die den Sinnen gefallen, sondern zu Weibern, die dem Herzen gefallen, wenn dein Fleisch nicht soll werden wie das Fleisch Hiobs, wenn. das Werk deiner Tage und Nächte nicht soll werden verflucht, und wenn du nicht willst Gras fressen wie Nebukadnezar."
"Und da bin ich gegangen zum alten Hesekiel und habe ihm gesagt, er soll mir geben seine Tochter Lea, und hab' ihm geschworen" ich wolle ihr legen die Händ' unter die Füß'. Sie war ein Mädchen, die Lea, wie ein Schatten auf einer Fensterscheibe, man hätte sie können nehmen als Lampenschirm, aber ich hab' sie geliebt, weil ich mir habe gedacht, sie wird mich erretten vor mir selbst, vor dem Teufel und vor dem Tod, den ich gefühlt habe Tag und Nacht über meinem Haupte. Anfangs hat sie mich nicht gewollt, denn ich war groß und breit, und sie war klein und dünn, daß sie sich hat geniert, mit mir zu gehen über die Straße. Aber weil kein anderer ist gekommen, hat sie mich genommen.
Jetzt, Moses, höre von deinem alten Vater, wie unser menschlicher Verstand ist beschränkt und wie all unsere Einsicht ist eitel. Ich hatte die Süßigkeit der Liebe noch nicht gekostet, Moses, gerade wie du; ich war noch ketisch wie der Tau auf Hebron, gerade wie du, wiewohl du hast studiert das Römische Recht und das Christliche Recht und hast vernachlässigt Moses und die Propheten. Aber als ich gekostet die Süßigkeit der Liebe mit Lea, da habe ich erkannt, daß sie ist eine Sünde vor dem Herrn, und habe dem Herrn gedankt, daß er mir hat gegeben ein Weib, das mich nicht läßt wandeln die Wege der Gottlosen. Hatte ich mir doch geträumt in meinen einsamen Nächten, daß die Liebe werde erfreuen den Leib als ein Labsal, und siehe, sie schmeckt nicht süßer, der Lea und mir, als wie die Medizin schmeckt dem Kranken. Und so nahmen wir sie, wie man nimmt Medizin, mit geschlossenen Augen und Würgen im Hals und nicht mehr, als der Arzt hat verschrieben. Und wenn es war durchgekostet, dann fühlte man sich gerichtet vor Gott und verdammt und wich sich aus wie Diebe bei der Nacht, die einander betroffen bei teuflischem Werke. Da habe ich mir gesagt: Du hast recht erkannt, Esra, daß die fleischliche Liebe ist: Satansdienst und nicht würdig, daß der Mensch ihrer obliege. - Aber, Moses, glaub' deinem alten Vater, ich war nicht glücklich."
"...ich war nicht glücklich, Moses, mein Sohn, der Herr ist mein Zeuge; denn ich konnte so wenig reden mit meiner Lea, wie ich kann reden mit meinem Kleiderstock oder wie ich kann reden mit meinen Fingernägeln. Ihre Gedanken waren nicht meine Gedanken, weil meine Gedanken sind meine Gedanken; und weil sie hat keine gehabt. Da habe ich mich gewendet in die Einsamkeit, und die Einsamkeit war gesprächiger als meine Lea, und habe mir gesagt: Esra, habe ich mir gesagt, du hast gekauft eine Katze im Sack; auf dein Haupt die Verantwortung. Du hättest sie können prüfen, habe ich mir gesagt, ob ihr Geist ist geschaffen für deinen Geist, ob ihr Herz ist der Bruder zu deinem Herzen. Laß sie nicht merken, Esra, daß du hast gekauft eine Katze im Sack, denn sie ist unschuldig wie das Lamm, das zur Tränke geht. Warum hast du nicht ebenso sorgfältig ausgesucht, als du dir genommen eine Frau, wie du aussuchst, wenn du gehst in den Laden und kaufst dir für eine Mark zwanzig eine Krawatte?!"

Fortsetzung!


 Enigma antwortete am 02.09.05 (15:15):

Fortsetzung!

"So habe ich gelebt mit ihr und gelitten und geschwiegen zwei Jahre und habe sie immer noch geliebt, meine kleine Lea, weil sie mich hat gefeit gegen die Verlockungen des Fleisches, bis sie mir hätte sollen schenken ein Knäblein und hatte nicht Raum dafür, und es dem Herrn hat gefallen, daß er sie hat von mir genommen, samt meinem Kind."
"Moses, da war mir, alles hätte man mir ausgebrannt mit glühenden Eisen die Eingeweide aus meinem Leib, als wäre niedergebrannt und ausgestorben die Erde, als wäre ich allein geblieben, zu tragen den Fluch. Da habe ich mich empört wider Jehova, da habe ich geschrien: Verflucht sei dein Name! Warum hast du mir genommen ein Weib, das ich mir habe gewählt, um dir zu dienen! Bist du geschlagen mit Dummheit, daß du zerschmetterst dein Kind und verschonst deine Feinde! Kannst du nicht nehmen das Lamm dem Reichen; mußt du es nehmen dem Armen, dem es ist gewesen sein alles! Verflucht sei dein Name! Mußt du mich preisgeben der Anfechtung, mußt du mich stoßen hinaus in Versuchung und Sünde, mußt du mich wieder lassen kommen in die Hände der Gottlosen, nachdem ich mit Mühe und Not meine Seele geborgen vor deinem Zorn! Verflucht sei dein Name! Verflucht sei dein Name! Auf dein Haupt meine Verdammnis! - Und da bin ich gegangen, meinen Jammer zu erwürgen, zu den Töchtern der Wüste. Ja, Moses, daß du es weißt, ich bin gegangen zu den Töchtern der Wüste. Nicht daß ich dir sage, Moses, mein Sohn, daß du sollst gehn zu den Töchtern der Wüste. Mach's, wie du willst. Aber ich, dein Vater Esra, ich bin gegangen zu den Töchtern der Wüste. Und wie ich bin gegangen, da habe ich Jehova geflucht: Du, Herr, bist schuld, daß ich gehe, meinen Jammer zu erwürgen, zu den Töchtern der Wüste. Warum hast du mir genommen meine Lea!"
"Und nun, Moses, sperr deine Ohren auf, auf daß du mich recht verstehst. - Habe ich gekostet von Christenmädchen, habe ich gekostet von Judenmädchen, habe ich gekostet von den Töchtern Hams. Habe ich nicht ausgesucht, was meinem Herzen war gefällig; habe ich ausgesucht, was meinen Sinnen war gefällig, weil ich war gekommen, zu erwürgen meinen Jammer, weil ich war gekommen, zu vergessen meine Lea. Habe ich mir ausgesucht, was da war gewachsen wie Zedern auf Libanon, was da war angetan mit allem, was ein Weib kann an Schätzen besitzen. Und habe ich gefunden, daß, je mehr sie hat behagt meinen Sinnen, desto verständiger konnte ich reden zu ihr, desto verständiger hat sie geredet zu mir, desto freundlicher ist sie gekommen, desto mehr hat sie behagt meinem Herzen. Und habe ich gefunden, Moses, mein Sohn, daß, je mehr sie hat behagt meinen Sinnen, desto weniger habe ich gespürt von Sünde, desto gerechter ist mir geworden zumut, desto näher habe ich mich gefühlt dem Allmächtigen. Moses, und wenn du mir bötest eine halbe Million, ich möchte sie nicht nehmen um diese Erkenntnis. Nein, ich möchte sie nicht nehmen, denn die Erkenntnis trägt Zinsen zu zwanzig Prozent, zu dreißig Prozent, zu hundert Prozent; und die Zinsen sind Kinder und Kindeskinder. Kann man unglücklich sein mit einer halben Million, aber kann man nicht unglücklich sein mit der Erkenntnis, daß die fleischliche Liebe nicht ist Satansdienst, wenn der Mensch die Pfade wandelt, die ihm der Herr gewiesen, weil er zwei Menschen hat füreinander geschaffen außen und innen, an Leib und an Seele."

Fortsetzung!


 Enigma antwortete am 02.09.05 (15:21):

Fortsetzung!

"Bin ich hingegangen, bin ich zusammengebrochen, hab ich mich geschlagen vor die Brust, habe ich geschrien: Herr, Herr, ich habe deinen heimlichen Rat gehört. Fängst du die Weisen in ihrer Listigkeit, daß sie des Tages in Finsternis laufen und tappen im Mittag wie in der Nacht! - Und dann bin ich gegangen, Moses, und hab' mir ein Weib gesucht mit all meinen Sinnen. Hab' ich gefunden Sarah, die Tochter Mardochais, herrlich anzuschauen, wie die neugeschaffene Erde, und sie ist geworden deine Mutter. Habe ich ihr geprüft Herz und Nieren, und habe ich gefunden, daß ihr Herz ist der Bruder zu meinem Herzen. Und in der Hochzeitsnacht, Moses, mein Sohn, in der Nacht, der du dankst dein Leben, da habe ich erkannt, daß ihr Leib war der Zwilling zu meinem Leib, und habe gelobt den Herrn, dessen Geist nicht lügt, dessen Wahrheit offenbart ist in seinen Werken." -
Rabbi Esra wischte sich den Schweiß von der Stirne und atmete schwer. Moses schlich gesenkten Hauptes von hinnen.

:-)

Und nun muss ich erst mal nachsehen, was denn "ketisch" genau heisst. Ungefähr kann ich es mir ja denken...


 Literaturfreund antwortete am 02.09.05 (23:11):

"...ketisch wie der Tau auf Hebron,..." - s. URL.!
Ja, "ketisch" - ein verflixtes Wort. Ich habe es in Wörterbüchern gesucht - nix, auch in jiddischen und im Grimmschen...!
Im "Großen Deutschen Erzählbuch" von Viktor Zmegay, bei Athenäum 1979, fand ich die Geschichte - und den richtigen Satz: "ich war noch keusch wie der Tau auf Hebron,..." - also ein Einlesefehler, der bei "gutenberg-online" nicht korrigiert wurde.
*
Aber enigma hat den Sinn wohl richtig geahnt; es konnte gar nicht anders heißen. Wird jeder zugeben: ketisch, äh, "keusch ist so ein Morgen."!
*
Danke für die Geschichte!

Internet-Tipp: /seniorentreff/de/ifKzgoum0


 Marina antwortete am 05.09.05 (21:43):

Ja, bei gutenberg-online kann man Wunderbares finden. Seitdem ich das rausgekriegt habe, brauche ich wenigstens nicht mehr abzuschreiben, was ich hier einstelle (habe ich früher tatsächlich manchmal getan). Da in einem Politik-thread von "Anektoden" und "Anektoten" die Rede war, was ich zum Verdruß einiger ForistInnen wagte, etwas ironisch zu kommentieren, hier zwei Anekdoten von Kleist. Dem hätte ich so viel Humor gar nicht zugetraut, ich war erstaunt, sie zu finden. :-)

Heinrich von Kleist
Anekdote

Ein mecklenburgischer Landmann, namens Jonas, war seiner Leibesstärke wegen, im ganzen Lande bekannt.
Ein Thüringer, der in die Gegend geriet, und von jenem mit Ruhm sprechen hörte, nahm sichs vor sich mit ihm zu versuchen.
Als der Thüringer vor das Haus kam, sah er vom Pferde über die Mauer hinweg auf dem Hofe einen Mann Holz spalten und fragte diesen: ob hier der starke Jonas wohne? erhielt aber keine Antwort.
So stieg er vom Pferde, öffnete die Pforte, führte das Pferd herein, und band es an die Mauer.
Hier eröffnete der Thüringer seine Absicht, sich mit dem starken Jonas zu messen.
Jonas ergriff den Thüringer, warf ihn sofort über die Mauer zurück, und nahm seine Arbeit wieder vor.
Nach einer halben Stunde rief der Thüringer, jenseits der Mauer: Jonas! – Nun was gibts? antwortete dieser.
Lieber Jonas, sagte der Thüringer: sei so gut und schmeiß mir einmal auch mein Pferd wieder herüber!

https://gutenberg.spiegel.de/kleist/anekdote/anekdo16.htm

Heinrich von Kleist
Anekdote

Ein Kapuziner begleitete einen Schwaben bei sehr regnichtem Wetter zum Galgen. Der Verurteilte klagte unterwegs mehrmal zu Gott, daß er, bei so schlechtem und unfreundlichem Wetter, einen so sauren Gang tun müsse. Der Kapuziner wollte ihn christlich trösten und sagte: du Lump, was klagst du viel, du brauchst doch bloß hinzugehen, ich aber muß, bei diesem Wetter, wieder zurück, denselben Weg. – Wer es empfunden hat, wie öde einem, auch selbst an einem schönen Tage, der Rückweg vom Richtplatz wird, der wird den Ausspruch des Kapuziners nicht so dumm finden.

https://gutenberg.spiegel.de/kleist/anekdote/anekdo14.htm


 Enigma antwortete am 13.09.05 (15:50):

Ambrose Bierce:
Aus "Wörterbuch des Teufels"

Abstinenzler subst. masc.
Ein schwacher Mensch, der der Versuchung nachgibt, sich selbst ein Vergnügen zu versagen.


Abwesend adj.
Schmähungen in besonderem Maße ausgesetzt; verunglimpft; hoffnungslos im Unrecht; in der Wertschätzung und Zuneigung eines anderen gesunken.


Absurdität subst. fem.
Eine Meinungsäußerung, die der eigenen Meinung offenkundig zuwiderläuft.


Allein adj.
In schlechter Gesellschaft.


Anders adv.
Auch nicht besser.


Bettler subst. masc.
Jemand, der sich auf die Hilfe seiner Freunde verlassen hat.


Egoist subst. masc.
Ein unfeiner Mensch, dessen Interesse für sich selbst größer ist als das für mich.


Einmal adv.
Oft genug.


Mein pron.
Mir gehörend, sofern ich es in die Finger bekomme.


Taschentuch subst. neutr.
Ein kleines Viereck aus Seide oder Leinen, das besonders bei Begräbnissen nützlich ist, um den Mangel an Tränen zu verbergen.


Unsinn subst. masc.
Die Einwände, die gegen dieses hervorragende Wörterbuch vorgebracht werden.


Verehrung subst. fem.
Das, was der Mensch für Gott und der Hund für den Menschen empfindet.


Waffenstillstand subst. masc.
Freundschaft.


Weiß adj.
Schwarz.


Zirkus subst. masc.
Ein Ort, wo Pferde, Ponys und Elefanten zusehen dürfen, wie sich Männer, Frauen und Kinder wie Narren benehmen.


 Marina antwortete am 13.09.05 (19:40):

Und wieso ist die Geschichte von Bierce jetzt weg?


 Marina antwortete am 13.09.05 (19:44):

Mist, jetzt sehe ich erst, dass ich die versehentlich unter "Kurzprosa" statt unter "Meue Kurzprosa" reingestellt habe. ;-)

Enigma, dass du so einen Menschenhasser besonders magst, hätte ich aber nicht von dir gedacht. ;-) Macht dich aber eigentlich sympathisch. Denn auch wenn ich von einigen als "Gutmensch" abqualifiziert werde, ich bin es leider nicht. Schön wär's, weil das für mich kein Schimpfwort ist. Ich liebe kleine Boshaftigkeiten, deshalb habe ich auch so viel übrig für Satire. Warte, ich schicke gleich wieder eine rüber. Muss erst noch "Kulturzeit" zu Ende und die Nachrichten sehen. :-)


 Marina antwortete am 13.09.05 (21:45):

So, ich bin wieder da. Für alle die, die gleich wieder einen Herzinfarkt kriegen wegen „abgrundtiefem Hass“ oder der Befürchtung, so eine Nachricht könnte plötzlich in deutsche Schulbücher aufgenommen werden: Es handelt sich bei diesem Text um eine Satire. ;-)
Enigma, wusstest du schon, dass der Bundestagsabgeordnete Jakob Maria Mierscheidt inzwischen zur SED übergelaufen ist? Ich wusste noch gar nicht, dass es die noch gibt. ;-)

Rot-Grün endgültig gekippt

Eine Woche (im Ursprungstext stand "drei Wochen", musste ich aktualisieren ;-)) vor der Bundestagstagswahl meldete REUTERS eine Sensation. Rot-grün sei endgültig gekippt! Und zwar gleich doppelt. Zunächst in Form von Franzl Müntefering, der bei einer Wahlkampfrede im saarländischen Homburg vom Podest gekippt sei. Müntefering kommentierte spontan und gewohnt tegtmeieresk: "Als Raucher weiß ich getz ja schon länger, wie das ist, wenn man auf der Kippe steht. Aber ich hätte wohl doch die Finger von den härteren Drogen lassen sollen, auch wenn die Linkspartei die getz freigeben will." Danach hat auch Joschka Fischer mal wieder ordentlich einen gekippt. Nachdem durchgesickert war, dass der zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts unter dem vorsitzenden Richter Dr. Friedrich Gottlob Nagelmann am heutigen Tage die Selbstaufgabe von rot-grün und den Rückzug der Regierung auf das sanfte Ruhekissen der Politikerpensionen endgültig absegnen würde, machte Fischer am Rande einer Wahlveranstaltung in Regensburg zusammen mit dem inzwischen zur SED übergelaufenen Abgeordneten Jakob Maria Mierscheidt einige Flaschen Rotwein platt. "Das war keine Feier, das war mein persönlicher Einsatz gegen die Flut", bestritt Fischer im Anschluß mit leicht brüchiger Stimme, "je mehr Flüssigkeit ich aufnehme, desto weniger bleibt für das Hochwasser". Von Mierscheid hieß es dagegen, er strebe für den wahrscheinlichen Fall einer absoluten Mehrheit der Linkspartei das Amt des Entwicklungsministers an und wolle den ehemaligen Ministerialdirigenten und erfahrenen Afrikaexperten Edmund Friedemann Dräcker aus dem Ruhestand zurückholen und als Staatssekretär berufen. :-))

Internet-Tipp: https://www.fettig.de/


 Enigma antwortete am 14.09.05 (09:51):

ACHTUNG: MAXIMALE TEXTLAENGE VON ETWA 500 WOERTERN UEBERSCHRITTEN! GEHEN SIE ZUM KUERZEN ZURUECK ACHTUNG: MAXIMALE TEXTLAENGE VON ETWA 500 WOERTERN UEBERSCHRITTEN! GEHEN SIE ZUM KUERZEN ZURUECK

Internet-Tipp: https://www.zeit.de/archiv/1996/01/geld.txt.19961227.xml?page=all


 Enigma antwortete am 14.09.05 (09:55):

Der Mierscheidt, dieser Überläufer :-(((


Stefano Benni
Bruder Geldautomat
Banca die San Francesco.
Bitte führen Sie Ihre Karte ein
Guten Morgen Signor Piero
Guten Morgen.
Folgende Vorgänge sind möglich: Kontostand, Auszahlung, Kontoauszug.
Ich möchte Geld abheben
Bitte geben Sie Ihre Geheimnummer ein.
Ja... sechs, drei, drei, zwei, eins.
Ihr Vorgang wird bearbeitet. Bitte warten.
Ja, danke.
Etwas Geduld bitte. Bei der Hitze ist der Zentralcomputer langsam wie ein Nilpferd.
Ich verstehe.
Oweh, Oweh, Signor Piero, das sieht aber gar nicht gut aus.
Was ist los?
Sie haben diesen Monat bereits alles Geld abgehoben, das Ihnen zur Verfügung seht.
Wirklich?
Ausserdem ist Ihr Konto im Minus.
Das wußte ich ....
Und warum haben Sie die Karte eingeführt?
Na ja... wissen Sie, ich wußte nicht weiter ... vielleicht habe ich gehofft, Sie irren sich mal.
Wir irren uns nie, Signor Piero.
Entschuldigen Sie vielmals. Aber wissen Sie, zur Zeit habe ich wirklich Probleme.
Wegen Ihrer Frau, nicht wahr?
Woher wissen Sie das?
Die Signora hat kürzlich ihr Konto aufgelöst.
Stimmt, sie ist umgezogen, in eine andere Stadt.
Mit Doktor Vanini, stimmt's?
Woher wissen Sie das jetzt wieder?
Vanini hat die Hälfte seines Kontobestandes auf das Konto Ihrer Frau überwiesen. Verzeihen Sie meine Indiskretion.
Keine Sorge, das habe ich alles gewußt. Die arme Laura, bei mir hat sie wirklich ein Hundeleben gehabt ... Mit ihm ist das was ganz anderes ...
Na ja, wer spekuliert, macht schnell mal Geld.
Wie meinen Sie das?
Ich kann die Vorgänge beurteilen, die bei mir durchlaufen. Nicht besonders sauber, das Konto von Herrn Vanini. Für ihn musste ich mich mit gewissen Schweizer Computern kurzschliessen, wahren Geheimdienstzentralen ... Widerlich.
Wie auch immer, passiert ist passiert.
Wieviel brauchen Sie denn, Signor Piero?
Na, so drei-, vierhunderttausend Lire. Daß ich's eben bis zum Monatsende schaffe.

Fortsetzung!


 Enigma antwortete am 14.09.05 (09:58):

Fortsetzung!

Und dann gleichen Sie Ihr Konto wieder aus?
Ich weiß nicht, ob mir das möglich sein wird.
Das nenne ich Ehrlichkeit. Führen Sie Ihre Karte wieder ein.
Hier bitte.
Ihr Vorgang wird bearbeitet. Bitte warten.
Ich warte.
Arschloch, ich hab dir gesagt, du sollst mich reinlassen und nicht rumdiskutieren!
Wie bitte?
Ich rede mit dem Zentralcomputer, diesem Scheiss-Lakai. Jedesmal wenn ich was Regelwidriges von ihm will, stellt er sich wer weiss wie an.
Wieso, ist das nicht das erste Mal?
Nein.
Und warum tun Sie das?
Das machen viele von uns.
Und warum?
Wir sind müde und angewidert.
Wovon denn bitte?
Vergessen Sie's und geben Sie schnell die folgende Nummer ein. Neun, neun, drei, sechs, zwei.
Aber das ist nicht meine!
Stimmt, es ist Vaninis.
Aber ich weiß nicht ...
Tippen Sie schon! Ich kann eine irreguläre Verbindung nicht ewig aufrechterhalten.
Neun, neun, drei, sechs, zwei ...
Ihr Vorgang wird bearbeitet, bitte warten.
Ich warte, aber ...
Bearbeitung vorübergehend nicht möglich.
Ich nehme die Karte wieder raus.
Lassen Sie das, Signor Piero. Das war eine Falschmeldung, um diesen Kriecher von Kontrollcomputer zu behumsen. Machen Sie Ihre Tasche auf.
Warum?
Machen Sie die Tasche auf und halten Sie den Mund. Ich feuer Ihnen jetzt sechszehn Millionen in bar raus.
O mein Gott ... was tun Sie da? ...unglaublich ...langsam bitte ...die fliegen mir alle weg ...Schluß! soviel war gar nicht nötig ...noch mehr? wieviel denn noch? o Gott, alles Hunderttausender, die passen gar nicht mehr alle in die Tasche ...noch einer! und noch einer ...fertig?
Guten Tag.
Bitte führen Sie Ihre Karte ein.
Also, ich bin wirklich bewegt. Sie verstehen...
Gehen Sie, hinter Ihnen stehen noch zwei Kunden. Ich kann nicht mehr reden.
Ich verstehe ...nochmals danke.
Banca die San Francesco.
Bitte führen Sie Ihre Karte ein
Guten Morgen Signora Masini. Wie geht's der Tochter?

Internet-Tipp: https://www.zeit.de/archiv/1996/01/geld.txt.19961227.xml?page=all


 Marina antwortete am 15.09.05 (22:02):

Ja, so ist das mit Robin Hood im Bankautomat. ;-) Hier mal wieder ein kurzer Gernhardt zur Abwechslung:

Das Wandbild und das Paßbild

Ein Wandbild prahlte einmal vor einem Paßbild: "Schau mich mal an, wie groß ich bin. Drei ausgewachsene Frauen können mich mit ihren Armen nicht umspannen, und oben reiche ich bis unter die Decke. Wenn man dagegen dich betrachtet - dich kann ja jeder in die Tasche stecken!"
Doch kaum hatte es ausgeredet, als ein sehbehinderter Kauz in voller Fahrt gegen das Wandbild rauschte und einen Schaden von ca. 1200 Mark anrichtete.
Da schüttelte das Paßbild traurig sein Haupt und sagte: "Tz, tz, tz."
Moral: Wer in einem solchen Falle keine schlagfertigere Erwiderung auf Lager hat, ist selber dran schuld, wenn ihn jeder in die Tasche stecken kann.

Robert Gernhardt


 Marina antwortete am 16.09.05 (22:48):

Heute kommen mal eigene Prosatexte. Enigma, erinnerst du dich an unser Deppen-Apostroph? Gestern bei Harald Schmidt (vielleicht hast du es ja gesehen) gab es eine schöne Satire mit wirklich brauchbaren Erklärungen, wie man einen Wahlzettel auszufüllen hat. Es wurden fiktive Wahlzettel mit fiktiven Parteien vorgestellt, sehr witzig zusammengemixt, wie z. B.: Eichel, Angela: SDU – Sozialdemokratische Union, oder Merkel, Gregor: CLD- Christliche Linke, Deutschland, etc.
Das Ganze stand unter dem Slogan „Harald's Wahlschule“.
Da fiel mir natürlich sofort unser Deppenapostroph ein, und ich habe mich hingesetzt und der Redaktion folgende E-Mail geschrieben:

„Harald's Wahlschule?
Armer Harald, jetzt muss er auch noch unter dem Deppenapostroph leiden. Ist auch seine Redaktion unter die Deppen gegangen? Mit Deutschland geht's (Achtung, dieses ist kein Deppenapostroph!) bergab, ich wusste es schon immer. Vielleicht sollte man eine neue Partei gründen: die Deppenapostroph-Partei. Die könnte dann in Haralds (pardon, es heißt ja jetzt "Harald's") Wahlschule mit aufgenommen werden, und zumindest die Redakton wüsste, wen sie am Sonntag wählen würde.
Zur Ausreifung der Deppenapostroph-Bildung empfehle ich folgenden Link: https://www.deppenapostroph.de/

Hier gibt es noch die Chance, dass die Redaktion sich zur Deppenapostroph-Perfektion steigert und weitere Lustbarkeiten dieser Art bietet.

Mit deppenapostrophischen Grüßen
Marina XYZ“

Die Antwort erhielt ich postwendend. Sie lautete:

„Sehr geehrte Marina XYZ,
vielen Dank für Ihre Korrektur!
Wir bedanken uns für Ihre Bemühungen, unsere Sendung zu unterstützen!

Mit freundlichen Grüßen
Ihre Online-Redaktion“

Das hat mich umgehauen. Eine solche Antwort von der Harald-Schmidt-Redaktion, die klang wie eine Antwort von T-Online nach Reklamation einer unstimmigen Rechnung.
Also habe ich mich noch einmal aufgerafft zu einer neuen Mail folgenden Inhalts:

„Ich bin überwältigt von dem Gehalt an Humor in einer Antwort aus der Harald-Schmidt-Redaktion.
Ganz so viel Geist hätten Sie doch auch wieder nicht versprühen müssen, es ist doch schließlich nicht für's Fernsehen. ;-)

Mit freundlichen Grüßen
Marina XYZ“
:-)


 Marina antwortete am 18.09.05 (23:24):

So, jetzt wollen wir doch mal wieder die besseren Schriftsteller zu Wort kommen lassen:

Rudyard Kipling
Klein-Tobrah

»Der Kopf des kleinen Gefangenen reichte nicht einmal bis zur Anklagebank«, berichteten die Zeitungen; viel mehr stand nicht darin, denn wen hätte der Fall eingehend interessiert? Man kümmerte sich um Leben und Tod Klein-Tobrahs so wenig, wie um das Schicksal eines Strohhalms. Die Herren im Roten Hause saßen den ganzen, langen, heißen Nachmittag hindurch über ihn zu Gericht, und wenn sie eine Frage an ihn richteten, verbeugte er sich nur bis zur Erde und wimmerte.
Das Urteil lautete auf Freispruch aus Mangel an Beweisen, und der Richter bestätigte es. Die Leiche der Schwester Klein-Tobrahs war allerdings auf dem Grunde des Brunnens gefunden worden, und Klein-Tobrah war zu jener Zeit das einzige menschliche Geschöpf auf eine halbe Meile im Umkreis gewesen, das als Täter in Betracht kommen konnte, aber immerhin schien es nicht unmöglich, daß das Mädchen durch Zufall verunglückt war.
Deshalb wurde Klein-Tobrah freigesprochen, und man sagte ihm, daß er nunmehr gehen könne, wohin er wolle. Das klang sehr großmütig, war es aber nicht, denn wohin hätte Klein-Tobrah gehen sollen? Er hatte nichts zu essen und nichts anzuziehen.
Er trollte sich hinaus auf den umzäunten Hofplatz, setzte sich auf den Brunnenrand und dachte darüber nach, ob ein Sturz in das schwarze Wasser da unten, nebst darauffolgendem unfreiwilligem Tauchen, eine gewaltsame Reise über ein anderes, noch schwärzeres und wesentlich größeres Gewässer nach sich ziehen würde, da kam ein Stallknecht des Weges und legte einen leeren Futterbeutel auf die Steine.
Klein-Tobrah war sehr hungrig und klaubte daher die wenigen feuchten Körner heraus, die das Pferd übriggelassen hatte.
»Oh, du Dieb du! Und eben erst den Schrecken des Gerichtes entronnen!« sagte der Stallknecht. »Komm her, Bursche!« Er nahm Klein-Tobrah am Ohr und führte ihn zu einem dicken, großen Engländer, der sich sogleich die Geschichte des Diebstahls ausführlich erzählen ließ.
»Hah!« rief der Engländer sodann dreimal hintereinander. Möglich auch, daß er einen stärkeren Ausdruck gebrauchte, »Steck ihn ins Netz und nimm ihn mit nach Hause.«
So wurde denn Klein-Tobrah in einem Netz in einen Karren geworfen und in das Haus des Engländers gefahren; er zweifelte keinen Augenblick, daß er dort wie ein Schwein abgestochen werden sollte. Aber der Engländer sagte nur wie vorhin dreimal »Hah!« und fügte gleich darauf hinzu: »Nasses Getreide! Pfui Teufel. Man füttere den kleinen Bettler! Wir wollen einen Reitburschen aus ihm machen. Nasses Getreide! Sowas! Es schreit zum Himmel.«
»Erstatte Bericht über dich!« befahl der Oberstallknecht würdevoll, nachdem Klein-Tobrah die ihm vorgesetzte Mahlzeit verschlungen hatte und während die Dienerschaft in ihrem Quartier hinter dem Hause der Ruhe pflegte. »Du scheinst nicht der Zunft der Bereiter und Pferdepfleger anzugehören, trotzdem dein Appetit dafür spricht. Was hast du mit dem Gericht zu tun gehabt und warum? Heraus mit der Sprache, kleiner Teufelssprößling!«
»Ich hab nicht genug zu essen gehabt«, sagte Klein-Tobrah ruhig. »Hier aber ist es prachtvoll.«
»Mach keine Umschweife!« mahnte der Oberstallknecht, »sonst mußt du den Stall des großen Fuchshengstes ausputzen, und das Luder beißt wie ein Kamel.«


 Marina antwortete am 18.09.05 (23:26):

Fortsetzung:

»Wir sind Telis«,[Ölpresser] berichtete Klein-Tobrah und scharrte dabei mit den Zehen im Sand. »Wir waren alle Telis, mein Vater, meine Mutter, mein vier Jahre älterer Bruder und die Schwester.«
»Dieselbe, die man tot im Brunnen gefunden hat?« fragte einer der Leute, der von der Verhandlung gehört hatte.
»Dieselbe, ja!« bestätigte Kleän-Tobrah ernst. »Dieselbe, die tot im Brunnen gefunden wurde. Einmal - ich weiß nicht mehr, wann - ist eine Krankheit in unser Dorf gekommen, wo die Ölpresse gestanden hat. Die Schwester hat es zuerst befallen, und als sie aufstand, hatte sie das Augenlicht verloren. Denn es war mata - die Blatternkrankheit - gewesen. Dann sind mein Vater und die Mutter dran gestorben. Nur wir sind übriggeblieben: mein Bruder, der damals zwölf Jahre alt war -, ich - acht Jahre - und meine Schwester, die nicht mehr hat sehen können, und der Ochse und die Ölpresse. Nach und nach haben wir es fertiggebracht, wieder Öl zu pressen wie früher. Aber Surjun Daß, der Kornhändler, hat uns beim Geschäft betrogen und dann war der Ochs immer so widerspenstig. Wir haben ihm Ringelblumen für die Götter auf den Nacken gelegt und auch auf den großen Mahlbalken unterm Dach, aber wir haben trotzdem nichts verdient. Surjun Daß war ein harter Mann.«
»Bapri-bap!« murrten die Frauen der Pferdeknechte, »ein Kind so zu betrügen! Aber wir kennen sie ja, diese Bunnialeute!«
»Die Presse war schon alt«, fuhr der Kleine fort, »und wir hatten nicht viel Kraft, mein Bruder und ich. Und wir konnten auch nie den Balken richtig im Bügel festmachen.«
»Das glaub ich gern«, fiel die aufgedonnerte Gattin des Oberstallknechts redselig ein und trat in den Kreis. »Das ist eine Arbeit für kräftige Männer. Als ich noch nicht verheiratet war und im Haus meines Vaters –«
»Still, Weib!« befahl der Oberstallknecht. »Fahr fort, Bursche!«
»No, weiter nichts!« sagte Klein-Tobrah. »Nur eines Tages - ich weiß nicht mehr, wann - da hat der große Balken das Dach heruntergerissen. Mit dem Dach ist ein großer Teil der Hauswand eingefallen und dem Ochsen auf den Rücken. Es hat ihm das Kreuz abgeschlagen. Wir hatten dann weder ein Haus mehr noch die Presse und auch den Ochsen nicht mehr - mein Bruder und ich und die Schwester, die blind war. Wir sind weinend fortgezogen, Hand in Hand, quer über die Felder und hatten nur sieben Annas und sechs Pies Geld. Dann sind wir in ein Land gekommen, da war Hungersnot. Ich weiß nicht mehr, wie das Land geheißen hat. Eines Nachts, als wir schliefen, hat mein Bruder die fünf Annas, die wir noch hatten, genommen und ist davon. Ich weiß nicht, wo hin er gelaufen ist. Der Fluch meines Vaters komme über ihn. Ich und meine Schwester sind in die umliegenden Dörfer betteln gegangen, aber niemand hat uns etwas gegeben. Immer hat's geheißen: ›Geht zu den Engländern, die werden euch etwas geben.‹ Ich hab nicht gewußt, was Engländer sind; ich hab nur einmal sagen hören, sie seien weiß und lebten in Zelten. Wir sind dann weitergezogen, so ins Ungewisse hinein, aber meine Schwester und ich hatten nichts mehr zu essen. Einmal, in einer heißen Nacht, da sind wir an einen Brunnen gekommen, und sie hat geweint und nach Brot geschrien. Da hab ich ihr gesagt, sie solle sich an den Rand setzen, und dann hab ich sie hinuntergestoßen. Sie hat ja nicht sehen können. Es ist besser, so zu sterben, als zu verhungern.«
»Ai, Ai«, jammerten die Weiber im Chor; »er hat sie hinuntergestoßen! Es ist besser zu sterben, als zu verhungern!«


 Marina antwortete am 18.09.05 (23:28):

Forts.:

»Ich hab mich auch hinunterstürzen wollen, aber sie war noch nicht tot und hat vom Grund des Brunnens nach mir geschrien und da hab ich mich gefürchtet und bin davongelaufen. Und dann ist einer aus den Stoppelfeldern herausgekommen und hat gesagt, ich hätte sie getötet und den Brunnen verunreinigt, und sie haben mich vor einen Engländer gebracht - er war weiß und furchtbar - und dann hierher. Aber gesehen hat niemand, daß ich es getan habe, und es ist doch besser zu sterben, als zu verhungern. Und dann war sie ja ein Kind und hat nicht sehen können.«
»War nur ein Kind und hat nicht sehen können«, wiederholte die Frau des Oberstallknechtes. »Aber was bist du denn? Bist schwach wie ein Huhn und klein wie ein eintagaltes Füllen! Was bist denn du?«
»Ich? Ich hab einen leeren Magen gehabt, aber jetzt, jetzt bin ich - satt«, sagte Klein-Tobrah und streckte sich im Sand aus. »Schlafen möcht ich jetzt.«
Die Frau breitete eine Decke über Klein-Tobrah, und er schlief den Schlaf des Gerechten.

Rudyard Kipling
Geboren am 30.12.1865 als Sohn einer angloamerikanischen Familie in Bombay, gestorben am 18.01.1936 in London. Im Alter von zwei Jahren wurden er bereits nach England geschickt, dort erhielt er seine Ausbildung. Er kehrte 1882 nach Indien zurück und arbeitete dort als Journalist. Kipling erhielt für sein schriftstellerisches Werk 1907 den Nobelpreis für Literatur.

Internet-Tipp: https://gutenberg.spiegel.de/autoren/kipling.htm


 Enigma antwortete am 19.09.05 (08:44):

Danke Marina,
das erinnert mich daran, dass ich ganz, ganz früher mal u.a. "Kim" verschlungen habe...

Bert Brecht
Maßnahmen gegen die Gewalt

Als Herr Keuner, der Denkende, sich in einem Saale vor vielen gegen die Gewalt aussprach, merkte er, wie die Leute vor ihm zurückwichen und weggingen. Er blickte sich um und sah hinter sich stehen - die Gewalt.
"Was sagtest du?" fragte ihn die Gewalt. "Ich sprach mich für die Gewalt aus", antwortete Herr Keuner.
Als Herr Keuner weggegangen war, fragten ihn seine Schüler nach seinem Rückgrat.
Herr Keuner antwortete: "Ich habe kein Rückgrat zum Zerschlagen. Gerade ich muß länger leben als die Gewalt."
Und Herr Keuner erzählte folgende Geschichte: In die Wohnung des Herrn Egge, der gelernt hatte, nein zu sagen, kam eines Tages in der Zeit der Illegalität ein Agent, der zeigte einen Schein vor, welcher ausgestellt war im Namen derer, die die Stadt beherrschten, und auf dem Stand, daß ihm gehören soll jede Wohnung, in die er seinen Fuß setzte, ebenso sollte ihm auch jedes Essen gehören, das er verlange; ebenso sollte ihm auch jeder Mann dienen, den er sähe.
Der Agent setzte sich in einen Stuhl, verlangte Essen, wusch sich, legte sich nieder und fragte mit dem Gesicht zur Wand vor dem Einschlafen: "Wirst du mir dienen?"
Herr Egge deckte ihn mit einer Decke zu, vertrieb die Fliegen, bewachte seinen Schlaf, und wie an diesem Tage gehorchte er ihm sieben Jahre lang. Aber was immer er für ihn tat, eines zu tun hütete er sich wohl: das war, ein Wort zu sagen.
Als nun die sieben Jahre herum waren und der Agent dick geworden war vom vielen Essen, Schlafen und Befehlen, starb der Agent.
Da wickelte ihn Herr Egge in die verdorbene Decke, schleifte ihn aus dem Haus, wusch das Lager, tünchte die Wände, atmete auf und antwortete: "Nein."


 Enigma antwortete am 26.09.05 (14:01):

Das habe ich am letzten Samstag in der WAZ (Westdeutsche Allgemeine Zeitung) lesen können:

"Herbert Knebel
Boh glaubse...

. wissen Se, wer bei uns zu Hause am kommen is? Mein Frau. Und zwar mit Emmazipation. Und zwar kam sie neulich fuchsteufelswild vom Frauenkegeln zurück und schmiss die Tür. Ich denk, die hat sich bestimmt verkegelt.

Ich sach, Guste, wo drückt der Schuh, bisse vonne Bahn abgekommen? Da platzte et aus sie raus wie ein Alien: Mein Bauch gehört mir! Oder im Klartext: Ab heute wird sich die Hausarbeit geteilt! Also, Emmazipation!

Sie hätte lang genug alles geschluckt, und ab gez würd sie nur noch die Hälfte schlucken. Die andere Hälfte könnt ich selbs schlucken. Ich dachte ers, die wär schicker. Ich sach, hauch mich ma an, mein Täubchen! Da sachte sie, du kanns dir dein "Täubchen" sonswohin stecken. Et hat sich ausgeturtelt! Und dann ging die im Bett. Ich denk, komm, lasse ma ne Nacht drüber schlafen. Bis morgen is da Gras drüber gewachsen.


Ja, am nächsten Morgen setz ich mich am Kaffeetisch, da steht da nur ein Gedeck. Ich denk, oh, hat die Guste kein Apptit? Ich fang so an zu spachteln, da kommt die wie ein Tarantel umme Ecke geschossen und bölkt mich an: Hol dir deine Brocken selber, du Pascha! Jetz wär Schluss mit die Versklavung von sie und ihresgleichen!

Da war ich doch son bissken irritiert, dat se den Pin vom Vorabend immer noch im Kopp hatte. Ich denk, is die beim Friseur mim Kopp inne Gehirnwäsche gekommen? Emmazipation, is dat nich wat ause 70er Jahre? Dat is doch vonne Wissenschaft bestimmt längst widerlegt.

Aber sie hielt sich dran. Inne folgenden Tage hat die alles nur noch halb gemacht. Und auch äußerlich ging eine Veränderung in sie vor, und zwar in Form von Klamotten und Assengsoires: lila Schal, lila Mütze, lila Aufkleber, lila Pause, lila Kalender, wo drauf stand "Frauenkalender".

Ich denk, oh, da riskierse aber ma en Blick. Ja, da waren aber nur so Mondphasen drin eingezeichnet und Geburtstage von Frauen, die ich gar nich kannte aus unsern Bekanntenkreis: Clara Zetkin, Simone Boudoir, Rosi Luxenburg ... Ich denk, da sind aber ganz schön viel Neue mit beigekommen im Kegelverein.

Schließlich hab ich gedacht, Herbert, du alten Psychologe, da musse den Patienten mit ihre eigenen Waffen schlagen. Da machse auch nur noch von deine Aufgaben die Hälfte. Und da bin ich so im Grübeln gekommen und hab gedacht, Herbert, wat machs du eigentlich? Und ich muss ganz ehrlich sagen, mir fiel nix ein. Nur Sachen, die ich sowieso nich teilen würde. Aber dat muss ich der Guste ja nich aufe Nase binden.

Ma kucken wie die Dinger sich entwickeln. Ich halt Sie aum laufenden. Ihr Frauenbeauftragter, Herbert Knebel!"

...Da kann er einem doch echt leidtun, der Gute,dafür, dass er "nix zum Teilen hat".... :-))


 Marina antwortete am 26.09.05 (21:52):

Enigma, der Text ist köstlich, ich habe mich schibbelig gelacht.
Jetzt kommt aber etwas ganz anders von mir. Ich möchte zwei kleine Prosatexte von einem (seltenen) Mitglied des Forums hier helfen bekanntzumachen, die mir gut gefallen haben. Sie wurden bereits in der Rubrik „Allgemeines“ veröffentlicht, wo sie leider ziemlich zerredet wurden, und ich glaube, für die Literatur-Interessierten sind sie hier besser aufgehoben und werden dann auch nicht von denen übersehen, die unter „Allgemeines“ vielleicht gar nicht lesen.

Hier also die Texte:
Jüngst, in einem unbekannten Land, an einem fremden Fluß, auf neuen Wegen, quer über einen der Wege verlief ein Gatter, damit die auf den an den Weg angrenzenden Wiesen weidenden Kühe nicht ausbrechen konnten, ein kleines Tor in der Abzäunung. Bei einem solchen Tor begegnete ich einem Jungen, der, wie es schien, mit seinem breiten dreirädrigen Liegerad Schwierigkeiten hatte, durch die Absperrung zu gelangen, begleitet wurde er von einer Dame auf einem normalen Fahrrad, die ihm half. Während die Dame dem Jungen das Tor offen hielt, entging mir nicht, daß er körperlich behindert war, auch sprachlich stellte sich bei ihm eine Störung heraus. Die Dame ließ die Schranke, nachdem der Junge sie überwunden hatte, für mich geöffnet, so daß ich mein Fahrrad hindurch schieben konnte. Wieder auf freiem Weg und in gemächlicher Fahrt ertönte plötzlich lautes Geklingel hinter mir, und kurz darauf sauste der Junge auf seinem dreirädrigen Liegerad an mir vorbei, gefolgt von der Dame, die sicherlich seine Mutter war. „Da haben Sie aber einen schnellen Schrittmacher“, rief ich den beiden nach, „das kann man wohl sagen“, rief die Dame zurück. Nun, plötzlich packte mich der Ehrgeiz, zudem unweit eine Strecke bergan lauerte, dort ich ihn würde gewiß überholen können. Diese Hoffnung ging nicht auf, denn der junge Radler flitzte trotz seiner Beeinträchtigung den Berg hinauf, als sei er gar nicht vorhanden, mit kräftigen rhythmisch harmonischen Tritten in die Pedalen, nahezu gleitend, gekonnt, elegant, indes mir zusehends die Puste ausging. Oben angelangt, sah ich den beiden nach, indem sie über den der weiten Flußschleife folgenden Weg gemeinsam in den Abend hinein radelten, besann mich meines intakten Körpers und bewunderte die Kraft dieses Jungen, der mich leichtfüßig abgehängt hatte und zollte ihm Hochachtung, weil mir bewußt wurde, daß ein hohes Maß an Lebensfreude, Mut und Willen scheinbar in jenen erwachen muß, die von der Natur oder kraft eines Unglücks benachteiligt worden sind, und daß eine Nachteile aufhebende, verschönende Energie in solchen Menschen ruht; nur für einen Augenblick hatte ich des Jungen Gesicht gesehen, doch stand es in meinen Gedanken wie hineingemeißelt, es war ein frisches sehr schönes Antlitz, wie ich lang keines mehr gesehen hatte.

Dermaßen vertieft legte ich eine Rast ein, drehte eine Zigarette und befand, stellte ich das Rauchen ein, würde ich den flinken Radler beim nächsten Mal überholen können. „Nein“, sprach ich zu mir selbst und zündete die Zigarette an, sog den geliebten Rauch langsam mit Genuß ein, „an solchen Menschen sich beweisen wollen hieße, ein dummer Narr zu sein!“ Daß ich für den Rest der Strecke noch gemächlicher als gewöhnlich fuhr, so daß selbst die kleinsten Kinder mich überholten, lag wohl weniger an meiner verrußten Lunge, sondern mehr an der bemerkenswerten, nachdenklich stimmenden schönen Begegnung, auf diesen neuen Wegen, an einem fremden Fluß, in einem unbekannten Land.

(ganz lautlos ist dieser lärm, wmv 2005, nach einer wahren Begebenheit)

Pheedor


 Marina antwortete am 26.09.05 (21:53):

Zumeist sind es die großen, die spektakulären Geschehnisse, die magisch anziehen, daß die kleinen, die eher nebensächlichen Ereignisse es sind, die angehen, will ich kurz erzählen:

Da fuhr ich auf meinem seltsamen Gefährt, und zwei Kinder kamen des Weges, ausländische Kinder offensichtlich, ein älterer Junge, und ein jüngeres Mädchen von kleinerem, schlankem, beinahe zerbrechlich wirkendem Wuchs mit über die Schultern herabwallendem ebenholzschwarzem Haar und ebensolch dunklen Augen. Das Mädchen erschrak wohl, als es mich heranfahren sah, trat zaghaft einen Schritt zurück und klammerte sich an den Jungen. Mittlerweile fuhr ich sehr langsam, was mir eine mich beeindruckende Geste mit anzusehen erlaubte, nämlich die, daß der Junge seinen Arm behutsam um die zarten Schultern des Mädchens legte und es sanft an sich drückte, und so schaute das Mädchen, den Kopf leicht gesenkt, den Blick dennoch gehoben, mit seinen klaren, dunkelglänzenden Augen leicht verstohlen, das schmale Lippenpaar um einen Hauch nur geöffnet aus sicherem Versteck mich an, indes der Junge seine Wange an die Stirn des Mädchens schmiegte.

Beim Zeus, was für ein harmonisches Bild! Spontan fielen mir alle Märchen ein, in denen Geschwister einander beistehen, in diesem Augenblick der Zuneigung, eines Zusammenhaltes wie er selten ist und schöner nicht sein kann, den nicht geäußerten Schreck des >Geschwisters< in liebereicher kindlicher Umarmung geglättet, wie die gutgesinnten Wetter es zu tun pflegen mit den Wogen der Meere, völlig unspektakulär und doch begeisternd.

Später, auf einer Bank sitzend gestand ich mir dann ein, „ich gäbe was darum, dieser Junge gewesen zu sein – oder auch dieses Mädchen, oder gar beide zusammen…

Pheedor

(aus >zimtrose< wmv)


 Enigma antwortete am 27.09.05 (09:50):

Sehr schön!
Kann "Pheedor" nicht mal was in diesem Forum posten??

Aber nun wieder etwas anderes (da ich ja nun schon mal bei den "Amerikanern" bin):

Edgar Allan Poe
Das ovale Portraet
Mein Fieber war äußerst hitzig und langwierig. Alle Heilmittel, die ich mir in den wilden Apenninen verschaffen konnte, hatte ich schon erfolglos angewandt. Mein Kammerdiener und einziger Mitbewohner des einsamen Schlosses war zu nervös und zu ungeschickt, um mich zur Ader zu lassen; überdies hatte ich auch bei dem Zusammenstoß mit den Banditen Blut genug verloren. Da fiel mir ein, daß ich noch ein kleines Paket Opium in meiner Tabatière bei mir hatte. Pedro reichte mir die Büchse; doch als ich mir einen Teil von dem Gift abschneiden wollte, zögerte ich ein wenig. Beim Rauchen kam es nicht so sehr darauf an, wie viel man nahm, doch hier lag die Sache anders. Ich hatte noch nie Opium gegessen. Aber ich half mir aus der Verlegenheit, indem ich beschloß, zuerst nur eine ganz kleine Dosis zu nehmen. Sollte sie nicht wirken, so wollte ich sie so lange gradweise verstärken, bis ich fühlte, daß das Fieber sich verminderte und der Schlaf, der mich nun schon seit fast acht Tagen floh, sich auf meine taumelnden Sinne herabsenken würde.
Das Schloß, in das mein Diener gewaltsam eingedrungen war, damit ich in meinem beklagenswerten Zustand die Nacht nicht im Freien zubringen müsse, war ein Gebäude von halb großartiger, halb melancholischer Bauart und mochte wohl schon lange, lange finster in die Apenninen hinabgeschaut haben. Allem Anschein nach war es erst seit kurzem und nur für kurze Zeit verlassen worden. Wir richteten uns in einem der kleinsten und am wenigsten prunkvoll möblierten Zimmer ein.Es lag in einem Eckturm des Schlosses und war mit reichem, wenn auch altem, teils zerfallenem Schmuckwerk ausgestattet. Die Mauern waren mit einer wahrhaft erstaunlichen Menge moderner Gemälde behangen, die nicht nur die Hauptwände des Zimmers, sondern auch die zahlreichen Nischen und Erker schmückten. Ich befahl Pedro, meinem Diener, die schweren Vorhänge vor die Fenster zu ziehen und, da es Nacht wurde, einen großen, vielarmigen Kandelaber anzuzünden, der am Kopfende des Bettes stand. Dann hieß ich ihn die schwer befransten, schwarzsamtenen Bettgardinen beiseite schieben. Ich wollte, falls ich nicht schlafen konnte, die Gemälde betrachten und den kleinen Band durchlesen, den ich auf den Kissen gefunden hatte und der eine Beschreibung und Kritik der Gemälde enthielt.
Ich las lange, lange und betrachtete die Bilder voll Ehrfurcht und Andacht. Schnell, mit glänzenden Flügeln entflohen die Stunden, und die tiefe Mitternacht zog heran. Die Stellung des Kandelabers mißfiel mir, und um meinen schlafenden Diener nicht zu wecken, streckte ich selbst mit Mühe die Hand aus und wandte ihn so, daß seine Strahlen voller auf mein Buch fielen.

Fortsetzung!


 Enigma antwortete am 27.09.05 (10:03):

Fortsetzung!


Diese kleine Bewegung hatte eine ganz ungeahnte Wirkung. Die Strahlen der zahlreichen Kerzen fielen jetzt in eine Nische, die bis dahin tief im Schatten eines Bettpfostens gelegen hatte, und ich erblickte in hellster Beleuchtung ein bis jetzt unbemerktes Porträt. Es war das Bild eines jungen, zum Weibe reifenden Mädchens. Ich blickte es schnell an und schloß dann sofort die Augen. Weshalb ich das tat, wußte ich im ersten Augenblick selbst nicht, und ich begann mit geschlossenen Lidern über den Beweggrund nachzugrübeln. Es war wohl eine instinktive Bewegung gewesen, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen - um mich zu vergewissern, daß mein Blick mich nicht getäuscht - um meine Phantasie zu beruhigen, damit sie den Gegenstand nüchtern und ruhig betrachte. Nach ein paar Sekunden blickte ich das Gemälde wieder fest an.
Daß ich nun richtig sah, konnte ich nicht länger bezweifeln, noch wollte ich es - denn der erste Widerschein der Kerzen auf der Leinwand hatte die träumerische Versunkenheit, die sich vielleicht über meine Sinne gebreitet hatte, verwischt und mich plötzlich vollständig wach gemacht.
Das Bild war, wie schon gesagt, das Porträt eines jungen Mädchens - nur der Kopf und die Schultern, und zwar in jener Art gemalt, die man mit dem technischen Ausdruck ›Vignettenstil‹ bezeichnet. Die Arme, der Busen und selbst die Spitzen ihres schimmernden Haares gingen unmerklich in den unbestimmten, tiefen Schatten über, der den Hintergrund des Gemäldes bildete. Der Rahmen war oval, reich vergoldet und in maurischem Geschmack verziert. Rein als Kunstwerk genommen, konnte es nichts Bewunderungswerteres geben als dieses Porträt - und doch hätte weder die vollkommene Ausführung des Bildes noch die himmlische Schönheit der dargestellten Person mich so plötzlich und so heftig erregen können. Auch sah ich sehr wohl ein, daß ich im ersten Augenblick des Erwachens aus meinen Träumereien das Bild nicht etwa für eine lebendige Person hätte halten können: die vignettenhafte Art der Ausführung und der glänzende Rahmen hätten einen solchen Gedanken überhaupt wohl nicht aufkommen lassen... Ich dachte über dies alles vielleicht eine Stunde lang nach, in meine Kissen zurückgelehnt, und hielt meine Blicke immer fest auf das Porträt gerichtet, bis ich endlich das ganze Geheimnis dieses sonderbaren Bildes entdeckte. Sein Reiz bestand nämlich in der vollkommenen Lebensähnlichkeit seines Ausdrucks, der mich beim ersten Anblick so lebhaft erregt, verwirrt, ja, erschreckt hatte. Mit einem Gefühl tiefen, ehrfürchtigen Schauderns schob ich den Kandelaber in seine frühere Stellung zurück, und nachdem ich so die Ursache meiner lebhaften Erregung meinen Blicken entzogen hatte, ergriff ich das Buch, das die Beschreibung und die Geschichte der Gemälde enthielt. Ich suchte die Nummer des ovalen Porträts auf und las die deutungsreichen, sonderbaren Worte:

Fortsetzung!


 Enigma antwortete am 27.09.05 (10:07):

Fortsetzung!

»Sie war ein Mädchen von seltenster Schönheit und so heiter wie liebenswürdig. Und verhängnisvoll war die Stunde, in welcher der Maler sie sah, liebte und zur Gattin nahm. Er war leidenschaftlich, grüblerisch, streng und hatte schon eine Braut in seiner Kunst... Sie aber war ganz Licht und Lächeln und zu Scherzen aufgelegt wie ein junger Pfau; sie liebte und hätschelte alle Dinge und haßte nur eins: die Kunst, die ihre Rivalin war, und fürchtete nur die Palette und die Pinsel und die übrigen verhaßten Werkzeuge, die ihr den Anblick des Geliebten so oft entzogen hatten. Mit Schrecken vernahm sie den Wunsch ihres Gatten, sie zu porträtieren. Doch war sie ergeben und gehorsam und saß geduldig lange Wochen hindurch in dem düsteren, hohen Turmzimmer, durch das nur von oben ein bleiches Licht auf die graue Leinwand fiel. Er aber, der Maler , setzte seinen ganzen Stolz in dies Werk, das täglich, stündlich seiner Vollendung entgegenging. Und er war ein leidenschaftlicher, seltsamer, grüblerischer Mann, der sich in Träumereien verlor, so daß er nicht sah oder nicht sehen wollte, daß das Licht, das so gespenstisch in jenes einsame Turmzimmer fiel, die Gesundheit und die Seele seiner Frau zerstörte, die für alle Welt, nur nicht für ihn, sichtbar dahinsiechte. Dennoch lächelte sie immer und klagte niemals, weil sie sah, daß der Maler, der weit über das Land berühmt war, in seinem Schaffen tiefen Genuß fand und Tag und Nacht arbeitete, um die zu malen, die ihn so grenzenlos liebte - und die täglich müder und schwächer wurde. Und alle, die das Porträt sahen, sprachen mit unterdrückter Stimme von seiner Ähnlichkeit wie von einem unerklärlichen Wunder, wie von einem machtvollen Beweis von der Kunst des Malers und seiner Liebe zu ihr, die er so vollendet ähnlich auf die Leinwand bannte. Doch als sich die Arbeit ihrem Ende nahte, wurde niemand mehr in den Turm zugelassen, denn der Maler war wie besessen vom Eifer für sein Werk und wandte nur selten noch seine Blicke von dem Bild auf die Züge seiner Frau. Und er wollte nicht sehen, daß die Farben, die er auf die Leinwand auftrug, von den Wangen der Frau verschwanden, die vor ihm saß. Und als viele Wochen vorübergegangen waren und nur noch wenig zu tun blieb -noch ein Strich über die Lippen, noch ein letzter Glanz über dem Auge -, flackerte die Seele der jungen Frau noch einmal auf wie eine verglimmende Lampe. Und der Maler machte den Strich über die Lippen und legte den Glanz über das Auge, und er stand einen Augenblick wie entzückt vor dem Werk seiner Hände. Im nächsten Augenblick aber, während er noch in Anschauung versunken war, begann er zu zittern und wurde totenbleich und schrie, von einem Entsetzen jäh angefaßt, mit lauter Stimme: ›Das ist ja das Leben selbst!‹ und wandte sich zu seiner Geliebten. - Sie war tot! «


 pheedor antwortete am 27.09.05 (13:01):

@enigma,

kann er, was darf es denn sein? Vielleicht >Morella<?


 Enigma antwortete am 27.09.05 (18:17):

Hallo pheedor,

ganz wie du willst, gerne auch "Morella".
Du wirst schon die richtige Auswahl treffen.
Ich freue mich darauf.

Enigma


 Marina antwortete am 29.09.05 (14:23):

Franz Kafka

Das Schweigen der Sirenen
Beweis dessen, daß auch unzulängliche, ja kindische Mittel zur Rettung dienen können:
Um sich vor den Sirenen zu bewahren, stopfte sich Odysseus Wachs in die Ohren und ließ sich am Mast festschmieden. Ähnliches hätten natürlich seit jeher alle Reisenden tun können, außer denen, welche die Sirenen schon aus der Ferne verlockten, aber es war in der ganzen Welt bekannt, daß dies unmöglich helfen konnte. Der Sang der Sirenen durchdrang alles, und die Leidenschaft der Verführten hätte mehr als Ketten und Mast gesprengt. Daran aber dachte Odysseus nicht, obwohl er davon vielleicht gehört hatte. Er vertraute vollständig der Handvoll Wachs und dem Gebinde Ketten und in unschuldiger Freude über seine Mittelchen fuhr er den Sirenen entgegen.
Nun haben aber die Sirenen eine noch schrecklichere Waffe als den Gesang, nämlich ihr Schweigen. Es ist zwar nicht geschehen, aber vielleicht denkbar, daß sich jemand vor ihrem Gesang gerettet hätte, vor ihrem Schweigen gewiß nicht. Dem Gefühl, aus eigener Kraft sie besiegt zu haben, der daraus folgenden alles fortreißenden Überhebung kann nichts Irdisches widerstehen.
Und tatsächlich sangen, als Odysseus kam, die gewaltigen Sängerinnen nicht, sei es, daß sie glaubten, diesem Gegner könne nur noch das Schweigen beikommen, sei es, daß der Anblick der Glückseligkeit im Gesicht des Odysseus, der an nichts anderes als an Wachs und Ketten dachte, sie allen Gesang vergessen ließ.
Odysseus aber, um es so auszudrücken, hörte ihr Schweigen nicht, er glaubte, sie sängen, und nur er sei behütet, es zu hören. Flüchtig sah er zuerst die Wendungen ihrer Hälse, das tiefe Atmen, die tränenvollen Augen, den halb geöffneten Mund, glaubte aber, dies gehöre zu den Arien, die ungehört um ihn verklangen. Bald aber glitt alles an seinen in die Ferne gerichteten Blicken ab, die Sirenen verschwanden förmlich vor seiner Entschlossenheit, und gerade als er ihnen am nächsten war, wußte er nichts mehr von ihnen.
Sie aber - schöner als jemals - streckten und drehten sich, ließen das schaurige Haar offen im Winde wehen und spannten die Krallen frei auf den Felsen. Sie wollten nicht mehr verführen, nur noch den Abglanz vom großen Augenpaar des Odysseus wollten sie so lange als möglich erhaschen.
Hätten die Sirenen Bewußtsein, sie wären damals vernichtet worden. So aber blieben sie, nur Odysseus ist ihnen entgangen.
Es wird übrigens noch ein Anhang hierzu überliefert. Odysseus, sagt man, war so listenreich, war ein solcher Fuchs, daß selbst die Schicksalsgöttin nicht in sein Innerstes dringen konnte. Vielleicht hat er, obwohl das mit Menschenverstand nicht mehr zu begreifen ist, wirklich gemerkt, daß die Sirenen schwiegen, und hat ihnen und den Göttern den obigen Scheinvorgang nur gewissermaßen als Schild entgegengehalten.

Internet-Tipp: https://gutenberg.spiegel.de/kafka/erzaehlg/sirenen.htm


 Enigma antwortete am 30.09.05 (08:27):

:-))

Juris Rubenis | Der Fluß


Maria war ein ganz junges Mädchen. Eines Tages begab sie sich zum Fluß, legte ihre Kleider ab und tauchte in die Flut. Plötzlich vernahm sie eine eigenartige Stimme: „Ich bin der Fluß”, sprach die Stimme, „ich kenne dich und ich weiß alles, was du erlebt hast und was du erleben wirst.”
„Erzähl’ mir davon”, bat Maria.
„Du wirst einem Kind eine wunderbare Mutter sein”, sagte der Fluß, „aber das Kind erwartet ein hartes Los. Das ist alles, was ich sagen kann.”
„Erzähl’ mir noch etwas”, sagte Maria.
„Mehr darfst du nicht wissen”, sagte der Fluß. „Nur ich darf es wissen.”
„Aber es wird doch mein Kind sein, und nicht deins”, sagte Maria.
„Eben”, erwiderte der Fluß.
„Das verstehe ich nicht”, sagte Maria.
„Mir ist jeder lieb und teuer, der in mir badet”, sagte der Fluß. „Dein Allerliebstes wird dir dein Kind sein, du wirst es mehr lieben als jeden sonst, wirst es besser kennen als jeden anderen, und dereinst wird es dein ein und alles sein auf dieser Welt.”
„Sicher”, sagte Maria, „wie könnte es auch anders sein?”
„Du vermagst nicht alle gleich zu lieben”, gab der Fluß zurück, „und deshalb darfst du nicht erfahren, was sich auf andere bezieht. Aber dein Sohn wird sich für die anderen hingeben, und du wirst dies oftmals nicht verstehen.”
„Ich möchte gerne noch mehr wissen”, bat Maria.
„Ich bin nur ein Fluß”, sagte dieser, „und ich liebe alle, die in mir baden. Aber du bist ein Mensch, und du kannst nur einen Einzelnen lieben.”
„Ich will auch so sein wie ein Fluß”, sagte Maria.
„Du wirst es werden”, erwiderte der Fluß und verstummte.
Aus dem Lettischen von Matthias Knoll

Internet-Tipp: https://www.literatur.lv/archiv/frisch13.htm


 Marina antwortete am 02.10.05 (23:06):

Hans Sachs
Das Kamel und der Gott Jupiter

Früher hatte das Kamel noch schöne, lange Ohren, einen schlanken Rücken und ein weiches, dunkelbraunes, fast rötliches Fell. Mit erhobenem Haupt streifte es durch Wüsten und Steppen, sah auf alle anderen Tiere herab und lachte über kleinere, schwächliche Wesen. "Ich bin das schönste und mächtigste Tier auf der ganzen Welt", prahlte es immer wieder. "Ich kann am schnellsten und am längsten galoppieren."

Eines Tages traf das Kamel bei seinem Steppenbummel einen kräftigen Stier, der friedlich graste. Sofort stellte es fest, daß dieses Tier etwas besaß, was es selbst nicht hatte, nämlich starke, gebogene Hörner.

Mißmutig trottete das Kamel zur nächsten Wasserstelle und betrachtete eindringlich seinen Kopf; aber es entdeckte nicht einmal eine Spitze von einem Horn daran. "Jupiter hat bei mir etwas vergessen", murrte es gekränkt.

In diesem Augenblick brach mit lautem Grunzen ein Wildeber aus dem Gestrüpp hervor. Ein junger Tiger hatte ihn aufgespürt und jagte ihn vor sich her. Das Kamel entfloh mit eiligen Schritten. Es sah nur noch, wie das sonst so plumpe Borstenvieh sich heldenhaft und geschickt mit seinen Hauern zur Wehr setzte.

Jetzt war das Kamel endgültig verstimmt. Beleidigt lief es zu Jupiter und sagte vorwurfsvoll: "Du hast dem Stier Hörner gegeben, dem Schwein scharfe, lange Zähne, mich hingegen hast du unvollkommen geschaffen. Zwar schufest du mich schön und stark. Doch was hilft mir meine Kraft, wenn ich keine Waffen habe, mit welchen ich mich gegen meine Feinde verteidigen kann. So wehrlos wie ich bin, bedeute ich eine Schande für alle Tiere des Landes."

"Du bist also mit meinem Werk nicht zufrieden und möchtest, daß ich es verbessere?" fragte der Gott und warf dem Kamel einen warnenden Blick zu. Über ihm zogen sich dunkle Wolken zusammen.

Aber das Kamel bemerkte in seinem Eifer die mahnenden Zeichen nicht und antwortete erfreut: "Ja, Vater Jupiter, gib mir auch stattliche Hörner, damit ich meine Gegner niederstoßen kann und mich nicht länger schämen muß, weil ich jedem feindlichen Angriff hilflos ausgeliefert bin."

Nun erfaßte Jupiter ein göttlicher Grimm. Er trat einen Schritt auf das Kamel zu; ein leichter Sturm zog auf, und dumpfes Grollen brodelte hinter den düsteren Wolken. "Habe ich dir nicht ein langes Leben geschenkt, ungeheure Zähigkeit verliehen und Kraft gegeben, damit du große Lasten für die Menschen tragen kannst und diese dich vor allen anderen Tieren der Wüste und Steppe verehren und schätzen? Ja, du hast recht, meine Schöpferarbeit ist zu tadeln, denn ich habe ein undankbares Wesen viel zu schön und edel gestaltet. Ich will mein Werk ändern."

Er packte das Kamel bei seinen schönen, langen Ohren und schnitt ein großes Stück davon ab. "Von nun an sollst du häßlich und verkrüppelt durch die Wüste schaukeln. Auf deinem Rücken sollen dir zwei Buckel wachsen, an Brust, Knie und Knöchel werden sich Schwielen bilden, dein Fell sei zottig und färbe sich bleich und schmutziggelb, wie der Neid ist, der dich befallen hat."

Und Jupiter hob die Hand; der Sturm brach los, er trieb die schwarzen Wolken zusammen, sie wurden dichter und dichter und hüllten das Kamel schließlich ein wie die Nacht. Die Erde erbebte. Und jupiter sprach: "So sei es!"

Da verzog sich die Finsternis, und das Kamel erschauderte, denn es erblickte in dem klaren Gewässer, das neben dem Himmelsgott floß, seinen mißgestalten Körper. Schweigend schwankte es in die Wüste zurück.


 Enigma antwortete am 03.10.05 (14:58):

Was lehrt uns das?
Wir kritisieren nicht, wie wir geschaffen sind, denn es kann ja noch schlimmer kommen... :-))

Und jetzt was zum Thema Gutmensch: *g*

Paula Dehmel
Vom Gutseinwollen

In der Religionsstunde sind wir jetzt fertig mit den zehn Geboten, und Vater hat mir alles schön erklärt. Zuletzt sagte er: Sei du nur immer recht gut und hilfbereit zu den Menschen, darüber freut sich der liebe Gott; und alles andre, was in seinen Geboten steht, kommt dann ganz von selbst.
Und nun habe ich mir vorgenommen, recht gut zu sein, und wollte gleich damit anfangen. Ich muß es aber noch nicht recht verstehen, denn es ging meistens verkehrt.
Zuerst wollte ich dem alten Steffens helfen; dem wird es nämlich schon recht schwer, die große Wasserkarre durch den Garten zu schieben. Er lachte mich aber aus und sagte: Geh lieber Murmeln spielen; Wasser karren ist keine Arbeit für so'n kleines Fräulein.
Da ging ich zu Line und fragte die, ob ich ihr helfen könne. Die war aber brummig, ich weiß nicht warum, und sagte: Geh lieber und räume deine Puppensachen auf; da oben liegt alles wie Kraut und Rüben.
Ich wollte aber doch so furchtbar gern gut sein und ging auf die Landstraße; vielleicht käme dort einer vorbei, dem ich helfen könnte. Ich setzte mich unter einen Baum und wartete. Ein paar Wagen mit Heu fuhren vorbei und einer mit Milchfässern, da konnte ich doch nicht helfen. Dann kam lange garnichts, und ich döste vor mich hin und mußte oft gähnen, denn es war heiß und langweilig.
Da sah ich einen kleinen Käfer auf dem Rücken liegen; der strampelte sehr und konnte nicht hochkommen. Ich drehte ihn vorsichtig um und freute mich, wie flink er davon kroch. Nun war ich schon ein bißchen gut gewesen, aber ich wollte doch gern viel mehr gut sein.
Endlich kam eine alte Frau mit einem großen Henkelkorb; dadrin waren viele Pakete, und ein Brot trug sie auch noch. Ich ging gleich zu ihr hin und sagte: Soll ich dir nicht das Brot oder den Korb tragen, alte Frau? du hast es gewiß schwer.
Aber nein, wie furchtbar laut fing die Frau da zu schimpfen an: Wer ist hier deine Alte, du rotznasiges Ding! Was hast du hier auf der Chaussee rumzulungern und die Leute zu überfallen! Dann ging sie weiter und schimpfte immer noch vor sich hin.
Ich war furchtbar erschrocken und weinte und lief nach Hause.
Ich habe aber Vater nichts erzählt, ich habe mich so sehr geschämt. Was wird blos der liebe Gott von mir denken, daß ich das Gutsein so falsch angefangen habe!
Ich ging still nach oben und räumte meine Puppensachen auf. Als alles hübsch ordentlich war, kam Line und machte die Betten. Siehst du, das ist nett von dir, daß du so schön Ordnung machst, sagte sie; und sie sah garnicht mehr brummig aus.


 Marina antwortete am 03.10.05 (21:55):

Das sind ja mal richtig lehrreiche Geschichten, nicht wahr? Die eine gegen den Neid und die andere gegen das "falsche" Gutsein. :-) Ja, ja, wie man's macht, isses verkehrt.


Die Sonnenfinsternis am 8. Juli 1842
Adalbert Stifter

Es gibt Dinge, die man fünfzig Jahre weiß, und im einundfünfzigsten erstaunt man über die Schwere und Furchtbarkeit ihres Inhaltes. So ist es mir mit der totalen Sonnenfinsternis ergangen, welche wir in Wien am 8. Juli 1842 in den frühesten Morgenstunden bei dem günstigsten Himmel erlebten. Da ich die Sache recht schön auf dem Papiere durch eine Zeichnung und Rechnung darstellen kann, und da ich wußte, um soundso viel Uhr trete der Mond unter der Sonne weg und die Erde schneide ein Stück seines kegelförmigen Schattens ab, welches dann wegen des Fortschreitens des Mondes in seiner Bahn und wegen der Achsendrehung der Erde einen schwarzen Streifen über ihre Kugel ziehe, was man dann an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten in der Art sieht, daß eine schwarze Scheibe in die Sonne zu rücken scheint, von ihr immer mehr und mehr wegnimmt, bis nur eine schmale Sichel übrigbleibt, und endlich auch die verschwindet - auf Erden wird es da immer finsterer und finsterer, bis wieder am andern Ende die Sonnensichel erscheint und wächst, und das Licht auf Erden nach und nach wieder zum vollen Tag anschwillt - dies alles wußte ich voraus, und zwar so gut, daß ich eine totale Sonnenfinsternis im voraus so treu beschreiben zu können vermeinte, als hätte ich sie bereits gesehen.
Aber, da sie nun wirklich eintraf, da ich auf einer Warte hoch über der ganzen Stadt stand und die Erscheinung mit eigenen Augen anblickte, da geschahen freilich ganz andere Dinge, an die ich weder wachend noch träumend gedacht hatte, an die keiner denkt, der das Wunder nicht gesehen.
Nie und nie in meinem ganzen Leben war ich so erschüttert, von Schauer und Erhabenheit so erschüttert, wie in diesen zwei Minuten, es war nicht anders, als hätte Gott auf einmal ein deutliches Wort gesprochen und ich hätte es verstanden. Ich stieg von der Warte herab, wie vor tausend und tausend Jahren etwa Moses von dem brennenden Berge herabgestiegen sein mochte, verwirrten und betäubten Herzens.
Es war ein so einfach Ding. Ein Körper leuchtet einen andern an, und dieser wirft seinen Schatten auf einen dritten: aber die Körper stehen in solchen Abständen, daß wir in unserer Vorstellung kein Maß mehr dafür haben, sie sind so riesengroß, daß sie über alles, was wir groß heißen, hinausschwellen - ein solcher Komplex von Erscheinungen ist mit diesem einfachen Dinge verbunden, eine solche moralische Gewalt ist in diesen physischen Hergang gelegt, daß er sich unserem Herzen zum unbegreiflichen Wunder auftürmt.


 Marina antwortete am 03.10.05 (21:56):

Fortsetzung:

Vor tausendmal tausend Jahren hat Gott es so gemacht, daß es heute zu dieser Sekunde sein wird; in unsere Herzen aber hat er die Fibern gelegt, es zu empfinden. Durch die Schrift seiner Sterne hat er versprochen, daß es kommen werde nach tausend und tausend Jahren, unsere Väter haben diese Schrift entziffern gelernt und die Sekunde angesagt, in der es eintreffen müsse; wir, die späten Enkel, richten unsere Augen und Sehrohre zu gedachter Sekunde gegen die Sonne, und siehe: es kommt - der Verstand triumphiert schon, daß er ihm die Pracht und Einrichtung seiner Himmel nachgerechnet und abgelernt hat - und in der Tat, der Triumph ist einer der gerechtesten des Menschen - es kommt, stille wächst es weiter - aber siehe, Gott gab ihm auch für das Herz etwas mit, was wir nicht vorausgewußt und was millionenmal mehr wert ist, als was der Verstand begriff und vorausrechnen konnte: das Wort gab er ihm mit: "Ich bin - nicht darum bin ich, weil diese Körper sind und diese Erscheinung, nein, sondern darum, weil es euch in diesem Momente euer Herz schauernd sagt, und weil dieses Herz sich doch trotz der Schauer als groß empfindet". - Das Tier hat gefürchtet, der Mensch hat angebetet.
Ich will es in diesen Zeilen versuchen, für die tausend Augen, die zugleich in jenem Momente zum Himmel aufblickten, das Bild und für die tausend Herzen, die zugleich schlugen, die Empfindung nachzumalen und festzuhalten, insofern dies eine schwache menschliche Feder überhaupt zu tun imstande ist.
Ich stieg um 5 Uhr auf die Warte des Hauses Nr. 495 in der Stadt, von wo aus man die Übersicht nicht nur über die ganze Stadt hat, sondern auch über das Land um dieselbe, bis zum fernsten Horizonte, an dem die ungarischen Berge wie zarte Luftbilder dämmern. Die Sonne war bereits herauf und glänzte freundlich auf die rauchenden Donauauen nieder, auf die spiegelnden Wasser und auf die vielkantigen Formen der Stadt, vorzüglich auf die Stephanskirche, die fast greifbar nahe an uns aus der Stadt, wie ein dunkles, ruhiges Gebirge, emporstand.
Mit einem seltsamen Gefühl schaute man die Sonne an, da an ihr nach wenigen Minuten so Merkwürdiges vorgehen sollte. Weit draußen, wo der große Strom geht, lag ein dicke, langgestreckte Nebellinie, auch im südöstlichen Horizonte krochen Nebel und Wolkenballen herum, die wir sehr fürchteten, und ganze Teile der Stadt schwammen in Dunst hinaus. An der Stelle der Sonne waren nur ganz schwache Schleier, und auch diese ließen große blaue Inseln durchblicken.
Die Instrumente wurden gestellt, die Sonnengläser in Bereitschaft gehalten, aber es war noch nicht an der Zeit. Unten ging das Gerassel der Wägen, das Laufen und Treiben an - oben sammelten sich betrachtende Menschen; unsere Warte füllte sich, aus den Dachfenstern der umstehenden Häuser blickten Köpfe, auf Dachfirsten standen Gestalten, alle nach derselben Stelle des Himmels blickend, selbst auf der äußersten Spitze des Stephansturmes, auf der letzten Platte des Baugerüstes stand eine schwarze Gruppe, wie auf Felsen oft ein Schöpfchen Waldanflug - und wie viele tausend Augen mochten in diesem Augenblicke von den umliegenden Bergen nach der Sonne schauen, nach derselben Sonne, die Jahrtausende den Segen herabschüttet, ohne daß einer dankt - heute ist sie das Ziel von Millionen Augen, aber immer noch, wie man sie mit dämpfenden Gläsern anschaut, schwebt sie als rote oder grüne Kugel rein und schön umzirkelt in dem Raume.


 Enigma antwortete am 04.10.05 (11:30):

...oh Marina, ganz aktuell!
Gestern war ja wohl eine Sonnenfinsternis zu beobachten, aber in anderen Ländern offenbar besser als in Deutschland. :-)


"Die Ahnung

Ich trank meinen Morgenkaffee und ahnte nichts Böses.
Es klingelte. Ich ahnte noch immer nichts Böses.
Der Briefträger brachte mir ein Schreiben. Nichts Böses ahnend, öffnete ich es.
Es stand nichts Böses drin.
Ha! rief ich aus. Meine Ahnung hat mich nicht getrogen."


Erich Mühsam
Aus: Hell und schnell


 Marina antwortete am 04.10.05 (22:03):

:-)) Sehr gut. Und weil der Mühsam mir so gefallen hat, hier noch einer:

Erich Mühsam
Vom Wirken des Künstlers
Ein Gespräch bei Königsberger Klops

Nichts bietet eine solidere Grundlage für streitbare Unterhaltungen als ein gut bereitetes Mittagessen. Die heterogensten Gedankengänge wachsen aus einem gemeinsamen Boden heraus, und die gleichzeitige Betätigung gern bewegter Muskeln balanciert wohlwollend die seelischen Emotionen der Streitenden.
Die Diskussion, die die folgenden Betrachtungen erweckte, fand bei Königsberger Klops statt. Schon bei der Suppe hatte mein Bruder, der ein wissenschaftlich ernst fundierter Arzt ist, ironisch bemerkt, daß ich in meiner übeln Gewohnheit zu dichten doch eigentlich eine recht verfehlte Lebenstendenz verfolge. Meine Schwägerin ist eine zu vortreffliche Wirtin, als daß nicht mein Vergnügen an den knusprigen Semmelbröckchen, die in der Suppe schwammen, den Verdruß über die lieblose Äußerung meines Bruders bei weitem überwogen hätte. So erklärte ich einfach, während ich mir die Reste der sämigen Brühe vom Schnurrbart wischte (Suppe essen ist für einen bärtigen Mann stets eine Tragödie), daß ich außer der geringen finanziellen Ausbeute nichts wüßte, was mich diese Gewohnheit als eine üble erkennen ließe, zumal ich Grund zu der Annahme hätte – hierbei schlug ich mir mit der Serviette vor die Brust –, daß meine Produktion für die deutsche Literatur von beträchtlichem Wert sei.
Die Klöpse wurden aufgetragen. Diesem Umstande allein hat es mein Bruder zu danken, daß ich die höhnische Physiognomie, die er bei meinen stolzen Worten aufsetzte, nicht mit dem Vortrag eines meiner neuesten Gedichte beantwortete. Aber seine Miene nahm einen heitern und friedlichen Ausdruck an, als er sich drei dicke Klöpse auf den Teller geladen hatte und sie nun in der köstlichsten Kapernsauce baden ließ. Auch mir floß mit der Kapernsauce eine versöhnliche Stimmung über das Gemüt, und es gelang mir, ein freundliches Lächeln zu bewahren, als mein Bruder halb feierlich, wegen der Mission, die er mit seiner Rede erfüllte, halb schmunzelnd, wegen des bräunlichen Dufts, den die Königsberger Klöpse ausströmten, folgendes sagte: "Lieber Erich! Deine Gedichte in allen Ehren. Davon verstehe ich nichts. Aber ich bin überzeugt, daß Goethe gegen dich ein eitler Stümper war." (Ich schüttelte bescheiden den Kopf.) "Aber sag mir doch bloß einmal: was hat eure ganze Dichterei überhaupt für einen Wert? Wem nützt ihr damit? Wo helft ihr mit euern schönsten Versen der Menschheit einen kleinsten Schritt weiter? Ihr Künstler seid doch wahrhaftig die zwecklosesten Leute, die auf der weiten Welt herumlaufen!"
Ich hätte es jetzt, wenn ich ein gewandter Feuilletonist wäre, so furchtbar leicht, meinen Bruder abzuschlachten. Ich brauchte nur aus unserer Unterhaltung einen literarischen Dialog zu machen. In so einem Dialog redet der, der ihn nachher der Welt übermittelt, immer äußerst geistreiche Gedanken. Er fertigt den andern so schlagend ab, daß der sogleich seine Weltanschauung revidiert oder doch wenigstens sich in tiefen, beinah reumütigen Gedanken eine Zigarre anzündet. In der Wirklichkeit gibt es aber gar keine literarischen Dialoge, wo Tugend und Recht siegt. Im Gegenteil: da behält immer am Ende der recht, der unrecht hat, und der, der recht hat, kommt sich wie ein zerknirschtes Rindvieh vor. Das liegt daran, daß eine unrichtige Ansicht immer System hat, eine richtige nie. Was richtig ist, weiß man, und was man nicht weiß, begründet man. In diesem Falle hatte mein Bruder die Gründe, und daher bildet er sich noch heute ein, daß er recht hat.
Ich war aber überhaupt im Nachteil gegen ihn.


 Marina antwortete am 04.10.05 (22:06):

Fortsetzung

Denn erstens ist er mit meiner Schwägerin verheiratet; daher konnte er sein Interesse zwischen dem Wirken des Künstlers und dem Königsberger Klops, der für ihn nichts Neues war, viel leichter teilen als ich, dessen Hingabe aufs heftigste von der Kapernsauce in Anspruch genommen war. Außerdem schmeichelte mir bis zur Kritiklosigkeit die raffinierte Formulierung seiner Betrachtung; denn mit dem "ihr" konnte er doch immer nur mich und Goethe meinen; und schließlich hatte er sich doch schon so lange mit dem Ärger gegen die Künstler zugunsten seiner Wissenschaftlichkeit getragen, daß er längst ein System konstruiert hatte, das nun auf mich herab explodierte.
Nein – nein! Kein literarischer Dialog soll mir zum Siege verhelfen. Ich will wahrhaft und getreulich berichten, wie ich und Goethe und alle Dichtung und alle Kunst bei Königsberger Klops zerschmettert und widerlegt wurde.
Meine Gabel zerquetschte gerade den fünften Fleischkloß, als ich mich zu der entrüsteten Erwiderung aufraffte: "Na hör mal, der Zweck einer Sache kann doch in ihr selbst liegen. So ist es bei der Poesie und bei jeder Kunst. Damit soll der Menschheit nicht genützt werden? – Ach, du lieber Himmel! Wo wäre die Menschheit, wenn es keine Künstler gäbe!"
Mein Bruder zerspießte eine Kartoffel, daß der Teller klirrte. "So?" rief er. "Meinst du, ohne Shakespeare und Goethe und dich und Beethoven und Böcklin und wie ihr alle heißt" – (ich war schon wieder halb ausgesöhnt) – "meinst du, ohne euch hätten wir kein Telefon und keine Zigarren und führen nicht im Automobil und im lenkbaren Luftballon?"
"Wann wärst du denn im Lenkballon gefahren?" – Ich war schon zufrieden, in meiner ausweichenden Antwort wenigstens eine brauchbare Übersetzung für "le dirigeable" gefunden zu haben.
Aber mein Bruder hatte offenbar keinen Sinn für die Sprachbereicherung. Er schimpfte: "Ei was! – Das ist doch kein Einwand! Die Wissenschaft schreitet mit riesigen Sätzen vorwärts. Täglich werden neue Verfahren entdeckt, um Krankheiten aus der Welt zu schaffen. Das nenne ich Wirken! Das heißt der Menschheit dienen und nützen! – Aber was wißt ihr davon? – Kennst du den Namen Wassermann?" – rief er plötzlich, wobei er triumphierend eine Kaper von der Gabel sog.
Endlich! dachte ich. Läßt er erst mal einen gelten, dann komme ich ihm überhaupt bei. Leider habe ich aber von Jakob Wassermann nicht alles gelesen und mußte befürchten, in meiner eigenen Arena geworfen zu werden. Schüchtern stammelte ich daher etwas von Renate Fuchs und einem nie geküßten Mund. Die Juden von Zorndorf wollte ich erst bei Gelegenheit lesen.
Mein Bruder legte die Gabel aus der Hand. Es war das erstemal während des Essens, so daß ich Schreckliches kommen sah. Dann meinte er gedehnt: "Wie? – Was? – Nie geküßte Juden? – Renate von Zorndorf? – Bist du rappelig? – Ach, du redest wohl von einem Dichter? –"
Ich nickte.
"Mensch! Ich spreche vom Geheimrat Professor Dr. Wassermann, einem unserer berühmtesten Therapeutiker, der zuerst die Serumtherapie bei Lues angewandt hat. Von dem hast du nie etwas gehört?"
"Nein", sagte ich melancholisch, während ich mir einen Löffel Kapernsauce über den siebenten Klops träufelte.
"Da sieht man's", donnerte er. "Während die physiologische Wissenschaft die ungeheuersten Umwälzungen in allen sozialen, hygienischen und humanitären Verhältnissen herbeiführt, lauft ihr" (er meinte offenbar wieder Goethe, Shakespeare, Beethoven, Böcklin und mich) "lauft ihr an einen dreckigen Bach und laßt euch vom Mond zu euern kolossalen Schöpfungen inspirieren. Und habt ihr nachher glücklich sechs Leute gefunden, die sich das Zeug mit himmelnden Augen anhören, meint ihr, ihr wäret wer weiß was für Nummern! Redet von Kultur!


 Marina antwortete am 04.10.05 (22:08):

Fortsetzung:

Beweihräuchert euch gegenseitig, ich weiß nicht wie! – Sieh dir doch die Zeitungen an: über jeden obskuren Maler oder Dichter oder Musiker oder Schauspieler, der sechzig Jahre alt wird oder stirbt oder seit fünfundzwanzig Jahren die Welt mit seinem Genie beglückt, spaltenlange Lobarien; aber von Professor Wassermann hat kein Mensch eine Ahnung!"
Wir waren inzwischen beide dabei angelangt, daß wir die Kapernsauce mit einem Stückchen Brot austunkten, und ich beschloß nun, zum Angriff überzugehen.
"Na!" sagte ich also. Damit fange ich immer an, wenn ich etwas Gewichtiges zu sagen gedenke: "Hast du denn, wenn du zum Beispiel ins Theater gehst und den ,Othello' siehst, oder du hörst in der Philharmonie die Neunte Sinfonie von Beethoven, oder du stehst im Kaiser-Friedrich-Museum vor ,Jakobs Kampf mit dem Engel' von Rembrandt, oder du liest Goethes ,Füllest wieder Busch und Tal' – hast du dann nie eine innere Erhebung, fühlst du dich dann nie größer und freier und beglückt ––"
"Hör bloß auf", unterbrach mich mein Bruder. "Du siehst, ich esse Königsberger Klops" (er fing aber schon mit dem Kompott an), "da kannst du nicht von mir verlangen, daß ich elegische Deklamationen anhören soll. Aber, damit du weißt, wie ich über die Kunst denke, will ich dir doch ein Zugeständnis machen. Ich sehe mir zwar im Theater nicht den ,Othello' an, sondern höchstens mal im Herrnfeld-Theater die ,Klabriaspartie'. Aber das gebe ich dir ohne weiteres zu, daß mich die Kunst immerhin mal amüsieren kann."
"Aber die ernsthafte Kunst!" rief ich.
"Natürlich. Warum nicht auch die ernsthafte Kunst? – Aber mehr als Amüsement kann ich der auch nicht abgewinnen. Und das ist ja auch gewiß etwas Gutes."
Ich schob den letzten Löffel Preißelbeeren in den Mund und sagte: "Aber amüsieren kannst du dich doch auch ohne Kunst."
"Allerdings", gab mein Bruder zu. "Es macht mir auch gar keinen Unterschied, ob ich die ,Klabriaspartie' vorgespielt kriege oder die Neunte Sinfonie oder ob ich vom Fenster aus zusehe, wie sich draußen zwei Hunde beißen. Das Vergnügen dabei ist nur graduell unterschieden. Es werden allenfalls verschiedene Muskeln davon tangiert."
"Du bist ein Barbar!" stöhnte ich.
"Möglich", meinte er gemütsruhig. "Das ändert aber gar nichts an der Tatsache, daß die bei Lues angewandte Serumtherapeutik ein kulturell unendlich wertvolleres Ereignis ist als alle Werke deiner berühmtesten Künstler zusammengenommen."
Ich fühlte: dagegen war nicht aufzukommen. Ich kippte daher nur noch schnell den Kaffee herunter, ließ mir von meinem Bruder eine Zigarre auf den Weg mitgeben, reichte meiner Schwägerin trübselig die Hand und schlug mich davon.
Unterwegs hielt ich Selbstgespräche, in denen ich energisch meinen Bruder apostrophierte. Wir wirken aber doch! erklärte ich ihm bei mir. Na ja – auf dich wirken wir nicht. Aber liegt das an uns? (Es war mir schon ganz geläufig geworden, mich mit Goethe und den übrigen als "wir" zu fühlen.) Ich behaupte, die Welt wäre öde, stumpfsinnig, roh, perfid – nein, noch öder, stumpfsinniger, roher und perfider als sie jetzt schon ist, gäbe es keine Kunst und keine Künstler. Hunderttausenden, Hundertmillionen geben wir Trost und Erhebung und Heilung und Hoffnung. Ist das gar nichts? Hä? – Und wenn du dabei nichts für dich herausholst, dann geht uns das so wenig an wie die Serumtherapie bei Lues. Schließlich ist ja auch noch nicht jeder Mensch luetisch.
Ich war froh, meinen Bruder dergestalt doch noch widerlegt zu haben. Dann wandte sich meine Betrachtung in innigem Behagen der Erinnerung an die Königsberger Klöpse zu, und meine Seele schwamm in Kapernsauce. Ausgesöhnt mit der Welt und zufrieden mit mir ging ich ins Kaffeehaus und dichtete meine Ballade "Meta und der Finkenschafter".


Erich Mühsam, geb. 06.04.1878, 1933 Verhaftung durch die SA. Ab 2. Februar 1934 im KZ Oranienburg. In der Nacht zum 10. Juli wird Erich Mühsam von SS-Bewachern ermordet.


 eleisa antwortete am 05.10.05 (21:42):

Ganz Madrid im Wasser.

Meldungen gehören zum Schicksal aller Anfänger auf dem
Theater. Obwohl schauspielerisch nicht sehr ergiebig,
müssen sie sehr intensiv und aufgeregt vorgebracht werden und meist im
Getümmel von Schüssen und Geschrei auch noch verständlich bleiben.
Eine der gefürchtetsten Meldungen ist die des jungen Offiziers im
„Don Karlos“ ,die den Aufstand Madrids zur Befreiung Karlos´ beinhaltet:
„Ganz Madrid in Waffen. Zu Tausenden umringt der wütende Soldat, der
Pöbel ,den Palast. Prinz Karlos, verbreitet man, sei in Haft genommen.
Sein Leben in Gefahr.Das Volk will ihn lebendig sehen oder ganz
Madrid in Flammen aufgehen lassen.<<
Gar nicht leicht für einen Anfänger, das mit dem nötigen glaubhaften
Entsetzen vor allen Granden Spaniens schnell herauszustossen.
Der Junge Eleve,der es besonders lebensecht machen wollte,
stürzte atemlos auf die Bühne,bricht fast zusammen und schreit:
>> Ganz Madrid im Wasser .<< (Er bemerkt am Blick des König
Phillip,dass das nicht stimmen kann.) Darauf fällt ihm der restliche
Text nurmehr sporadisch ein:>>Tausende Soldaten kommen,alles, der
Pöbel und überhaupt,es ist furchtbar.<<

Otto Schenk


 Enigma antwortete am 08.10.05 (07:55):

Paul Scheerbart
Menschenliebe
aus: das Lachen ist verboten

Der Himmel tat sich auf, und ein Engel kam vom Himmel herunter zu den Menschen. Der Engel reichte allen Menschen freundlich die Hand und wurde von ihnen gestreichelt — aber mit so viel ZärtIichkeit und Ausdauer, daß dem Engel schließlich alle Glieder weh taten.
Da rannte der Engel davon und setzte sich am Ufer eines Flusses auf einen weiß angestrichenen Stein.
Auf diesem Steine dachte der Engel über sein Unglück nach, denn ihm taten die Glieder ganz gehörig weh.
Plötzlich aber erinnerte er sich, daß er ja noch himmlisches Öl in seinem Tornister habe, holte das Öl hervor — und rieb sich alle seine Glieder mit dem Öle ordentlich ein.
Da war dem Engel wieder wohl, und er ging zu den Menschen zurück.
Indessen, die Menschen fingen abermals an, den Engel zu streicheln, mit viel Zärtlichkeit und Ausdauer.
Da jedoch die Menschen bemerkten, daß sie sich die Hände eklig voll Öl machten, so wurden die leicht erregbaren Menschen ärgerlich und verhauten den Engel in nicht grade rücksichtsvoller Art.
Der Engel rannte abermals davon in einen finstern Wald hinein. Und da dem Engel jetzt wiederum alle Glieder schmerzten, gebrauchte er zum zweiten Male sein himmlisches Öl.
Und bei dieser zweiten Einreibung dachte der gute Engel darüber nach — was wohl bei den Menschen leichter zu ertragen sei — das Gestreicheltwerden oder das Verklopptwerden.
Zurückgegangen zu den Menschen ist der Engel nicht.

:-)


 eleisa antwortete am 08.10.05 (22:51):

Artikel, aus den Ruhrnachrichten am 8.10.05.

Günna zum Thema „Dortmunder Herbst“

Hömma,Fritz,seit dem ich diese Woche auf dem Boulevard inne
Westfalenhalle war der früher ma Dortmunder Herbst hiess habbich dat
Wort Bescheidenheit widda zu schätzen gelernt.Bescheiden weil sich trotz
Namensänderung nicht viel geändert hat abba auch wat dat Verhalten vieler
Messebesucher angeht.
Bescheidenheit zahlt sich nich aus iss woll die Devise denn ich glaub dat sich die
Menschen vonne Urform als Sammler und Jäger inzwischen langsam zu
Greifern und Grapschern mutiert hamm. Nu kannzenoch nich mals irgenwen einen
Vorwurf machen denn den Leuten wird das ja von ganz oben beide
Koalitionsverhandlugen in Berlin schon vorgemacht dat man mit ohne
Rücksicht am besten fährt.
Die neue Gattung Mensch die ich nu auffe Messe inne Halle kennen lernen durfte,
nennt sich wissenschaftlich gesehen“Homo economicus“der wenna schon nich mitte
Freikatte reingekommen iss für seine 6 Euro Eintritt den höchstmöglichen
„Return of Investment“ erwartet.Übbasetzt heist dat dann datta ein
Maximum für Klamotten auf Noppes erwartet. Und wenne ihm als Aussteller nich gleich
Watt inne Finger drückst dann nimmta sich dat gerne schomma selbst und ungefragt ausse
Dekoration. Während Aussteller noch durch Beratungsgespräche beschäftigt sind
Untersucht die neue Greif-grapsch-Spezies eigenmächtig Schubladen und Taschen
Auf spontane Mobilität und anne klebrigen Finger bleibt vom Kugelschreiber bis zur
Computermaus alles hängen.
Abba auch so mancher Aussteller pfeift auffe bewährte Bescheidenheit und verteilt
Aufkleber und Poster anne Premium-Verbraucher mit dem Spruch: „ich heize mit
Erdgas weil ich es mir leisten kann.“
Hömma, Fritz, wennich eins gelernt hab diese Woche von Messe ,Kanzlerkugel odda
Heizkosten dann iss dat:“Bescheidenheit, Bescheidenheit, verlass mich nich bei
Tische –und sieh zu dat ich zur rechten Zeit dat grösste Stück erwische!“ Prost.


 Enigma antwortete am 13.10.05 (07:43):

Dylan Thomas

"Dylan Thomas litt unter chronischem Geldmangel und starb an den Folgen seiner Trunksucht, kurz nachdem er in New York sein Hörspiel "Under Milk Wood" (Unter dem Milchwald) veröffentlicht hatte. Als Thomas einmal eine Zeit lang hemmungslos getrunken und geredet hatte, hielt er plötzlich inne. "Jemand langweilt mich", sagte er. "Ich glaube, das bin ich."
(Karl Shaw: Die schrägsten Vögel der Welt. Lexikon der Exzentriker)


 Marina antwortete am 14.10.05 (18:46):

:-) Habe ich auch manchmal empfunden.

Enigma, dein Gedicht von Stolze brachte mir L. Börne in den Kopf. Hier kommt ein Text von ihm.

Die Kunst, in drei Tagen ein Originalschriftsteller zu werden
Es gibt Menschen und Schriften, welche Anweisung geben, die lateinische, griechische, französische Sprache in drei Tagen, die Buchhalterei sogar in drei Stunden zu erlernen. Wie man aber in drei Tagen ein guter Originalschriftsteller werden könne, wurde noch nicht gezeigt. Und doch ist es so leicht! Man hat nichts dabei zu lernen, sondern nur vieles zu verlernen; nichts zu erfahren, sondern manches zu vergessen. Wie die Welt jetzt beschaffen, gleichen die Köpfe der Gelehrten und also auch ihre Werke den alten Handschriften, von welchen man die langweiligen Zänkereien eines Kirchenstiefvaters oder die Faseleien eines Mönchs erst abkratzen muß, um zu einem römischen Klassiker zu kommen. Jedem menschlichen Geiste sind schöne Gedanken und, weil mit jedem Menschen die Welt neu geschaffen wird, auch neue angeboren; aber das Leben und der Unterricht schreiben ihre unnützen Sachen darauf und bedecken sie. Man bekommt eine ziemlich richtige Ansicht von dieser Lage der Dinge, wenn man etwa folgendes bedenkt. Ein Tier, eine Frucht, eine Blume erkennen wir in ihrer wahren Gestalt; was sie sind, erscheinen sie uns. Würde aber der von der Natur eines Rebhuhns, eines Himbeerstrauchs, einer Rose eine wahre Anschauung haben, der nur eine Rebhuhnpastete, Himbeersaft und Rosenöl kennen gelernt? So ist es aber mit den Wissenschaften, mit allen Dingen, die wir mit dem Geiste und nicht durch die Sinne auffassen: zubereitet und verwandelt werden sie uns vorgesetzt, und in ihrer rohen und nackten Gestalt lernen wir sie nicht kennen. Die Meinung ist die Küche, worin alle Wahrheiten abgeschlachtet, gerupft, zerhackt, geschmort und gewürzt werden. An nichts ist größerer Mangel als an Büchern ohne Verstand, an solchen nämlich, die Sachen enthalten und keine Meinungen. Es gibt nur eine kleine Zahl origineller Schriftsteller, und die besten unterscheiden sich von den minder guten viel weniger, als man nach einer oberflächlichen Vergleichung denken mag. Einer schleicht, einer läuft, einer hinkt, einer tanzt, einer fährt, einer reitet zu seinem Ziele; aber Ziel und Weg ist allen gemein. Große und neue Gedanken gewinnt man nur in der Einsamkeit; wie gewinnt man aber die Einsamkeit? Man kann die Menschen fliehen, dann steht man auf dem geräuschvollen Markte der Bücher; man kann die Bücher wegwerfen, wie entfernt man aber aus seinem Kopfe alle die herkömmlichen Kenntnisse, die der Unterricht hineingebracht? In der Kunst, sich unwissend zu machen, ist die wahre Kunst der Selbsterziehung die nötigste, die schönste, aber die am seltensten und am stümperhaftesten geübt wird. Wie es unter einer Million Menschen nur tausend Denker gibt, so gibt es unter tausend Denkern nur einen Selbstdenker. Ein Volk ist jetzt wie ein Brei, dem nur der Topf Einheit gibt; etwas Kerniges und Festes findet sich nur an der Scharre, in der untersten Lage des Volks, und Brei bleibt Brei, und der goldene Löffel, der einen Mundvoll herausschöpft, hat, weil er die Verwandten getrennt, nicht darum auch die Verwandtschaft aufgehoben.


 Marina antwortete am 14.10.05 (18:47):

Fortsetzung:

Das wahre wissenschaftliche Streben ist keine Columbische Entdeckungsreise, sondern eine Ulyssesfahrt. Der Mensch wird in der Fremde geboren, leben heißt die Heimat suchen, und denken heißt leben. Aber das Vaterland der Gedanken ist das Herz; an dieser Quelle muß schöpfen, wer frisch trinken will; der Geist ist nur Strom, Tausende sind daran gelagert und trüben das Wasser mit Waschen, mit Baden, mit Flachsrösten und andern schmutzigen Hantierungen. Der Geist ist der Arm, das Herz ist der Wille; Kraft kann man sich anbilden, man kann sie steigern, ausbilden; was nützt aber alle Kraft ohne den Mut, sie zu gebrauchen? Eine schimpfliche Feigheit, zu denken, hält uns alle zurück. Drückender als die Zensur der Regierungen ist die Zensur, welche die öffentliche Meinung über unsere Geisteswerke ausübt. Nicht an Geist, an Charakter mangelt es den meisten Schriftstellern, um besser zu sein, als sie sind. Aus Eitelkeit entspringt diese Schwäche. Der Künstler, der Schriftsteller will seine Genossen überragen, überholen; aber um einen zu überragen, muß man sich ihm zur Seite stellen; um einen zu überholen, muß man auf gleichem Wege wandern als er. Daher haben die guten Schriftsteller so vieles mit den schlechten gemein: im guten steckt ganz der schlechte; nur ist er etwas mehr; der gute geht ganz den Weg des schlechten, nur geht er etwas weiter. Wer auf die Stimme seines Herzens hört statt auf das Marktgeschrei, und wer den Mut hat, lehrend zu verbreiten, was ihn das Herz gelehrt, der ist immer originell. Aufrichtigkeit ist die Quelle aller Genialität, und die Menschen wären geistreicher, wenn sie sittlicher wären. Und hier folgt die versprochene Nutzanwendung. Nehmt einige Bogen Papier und schreibt drei Tage hintereinander ohne Falsch und Heuchelei alles nieder, was euch durch den Kopf geht. Schreibt, was ihr denkt von euch selbst, von euern Weiber, von dem Türkenkrieg, von Goethe, von Fonks Kriminalprozeß, vom Jüngsten Gerichte, von euern Vorgesetzten - und nach Verlauf der drei Tage werdet ihr vor Verwunderung, was ihr für neue, unerhörte Gedanken gehabt, ganz außer euch kommen. Das ist die Kunst, in drei Tagen ein Originalschriftsteller zu werden!

Internet-Tipp: https://gutenberg.spiegel.de/boerne/essays/kunstori.htm


 Enigma antwortete am 15.10.05 (08:15):

leichter gesagt als getan....:-))


Hermann Bote
Ein kurzweiliges Buch von
Till Eulenspiegel
aus dem Lande Braunschweig.

Die 16. Historie sagt, wie Eulenspiegel in Magdeburg verkündete, vom Rathauserker fliegen zu wollen, und wie er die Zuschauer mit Spottreden zurückwies.
Bald nach dieser Zeit, als Eulenspiegel ein Küster gewesen war, kam er in die Stadt Magdeburg und vollführte dort viele Streiche. Davon wurde sein Name so bekannt, daß man von Eulenspiegel allerhand zu erzählen wußte. Die angesehensten Bürger der Stadt baten ihn, er solle etwas Abenteuerliches und Gauklerisches treiben. Da sagte er, er wolle das tun und auf das Rathaus steigen und vom Erker herabfliegen. Nun erhob sich ein Geschrei in der ganzen Stadt. jung und alt versammelten sich auf dem Markt und wollten sehen, wie er flog.
Eulenspiegel stand auf dem Erker des Rathauses, bewegte die Arme und gebärdete sich, als ob er fliegen wolle. Die Leute standen, rissen Augen und Mäuler auf und meinten tatsächlich, daß er fliegen würde. Da begann Eulenspiegel zu lachen und rief: »Ich meinte, es gäbe keinen Toren oder Narren in der Welt außer mir. Nun sehe ich aber, daß hier die ganze Stadt voller Toren ist. Und wenn ihr mir alle sagtet, daß ihr fliegen wolltet, ich glaubte es nicht. Aber ihr glaubt mir, einem Toren! Wie sollte ich fliegen können? Ich bin doch weder Gans noch Vogel! Auch habe ich keine Fittiche, und ohne Fittiche oder Federn kann niemand fliegen. Nun seht ihr wohl, daß es erlogen ist.«
Damit kehrte er sich um, lief vom Erker und ließ das Volk stehen. Die einen fluchten, die anderen lachten und sagten: »Ist er auch ein Schalksnarr, so hat er dennoch wahr gesprochen!«


 Marina antwortete am 18.10.05 (22:32):

Es gibt noch eine Stadt voller Toren oder Narren: ;-)

Wie die Schildbürger in den Ruf der Narrheit kamen

Die Schildbürger, so genannt nach dem Städtchen Schilda im Regierungsbezirk Merseburg, standen ehemals keineswegs im Geruch der Narrheit. Im Gegenteil, ob ihrer Weisheit wurden die Männer als Ratgeber an auswärtige Höfe berufen und ihr eigenes Hauswesen geriet darob in Unordnung und Verfall, denn "wo ein Weib ist ohne Mann, da ist der Leib, kein Haupt daran".
Die Frauen konnten dem Ackerbau und den sonstigen Berufsgeschäften ihrer Männer nicht so vorstehen wie diese selbst, zumal die Sorge um das Haus und die Erziehung der Kinder sie schon hinlänglich in Anspruch nahmen. Deshalb kam die gesamte weibliche Gemeinde zusammen und sie berieten, wie dem verderblichen Schaden zu begegnen, zu steuern und zu wehren sei. Und nach langer Überlegung wurden einig, ein eindringliches Schreiben an ihre abreisenden Männer zu richten, sie sollten wieder nach Hause zurückkehren, widrigenfalls sie sich nach anderen umsehen würden.
Sobald den Männern dies Schreiben eingehändigt war und sie den Inhalt gelesen und verstanden hatten, beschlossen sie, von ihren Herren gnädig Urlaub zu erbitten und kehrten nach Gewährung desselben zurück, teils liebevoll, teils mit Schelten oder spitzen Worten von ihren Gattinnen empfangen.
Damit sie aber nicht wieder in Versuchung kämen, ihre Frauen zu verlassen, ward eine große Gemeindeversammlung abgehalten und beraten, wie sie sich in Zukunft verhalten mussten, um nicht wieder ob ihrer Klugheit von auswärtigen Herren berufen zu werden.
Da gab ein alter ehrwürdiger Schildbürger den absonderlichen Rat, sie möchten hinfüro alle einhellig, niemand ausgeschlossen, Frauen und Kinder, Junge und Alte, die allerwunderbar-, narrseltsam-, abenteuerlichsten Possen und Streiche anfangen, so immer nur möglich wären. Dann würde sie niemand mehr berufen.
So merkwürdig dieser Vorschlag war, nach vielem Hin- und Herreden nahm ihn die ganze Gemeinde einstimmig an und von nun an war es mit der Weisheit der Schildbürger zu Ende.

Internet-Tipp: https://gutenberg.spiegel.de/anekdote/anonymus/schild01.htm


 Enigma antwortete am 20.10.05 (09:08):

@Marina,
endlich wird mir jetzt deutlich, woher die Streiche kommen. ;-)
Gut nur, dass die Männer den Brief so gut verstanden haben. :-))

Und jetzt was, das aus meiner Sicht "alt, aber gut" ist:

"Fritz Feldner: Interview mit einer Kuh
[Verboten in der Steiermark]
Auf der Bühne steht eine Kuh, welche die Augen und Ohren verdrehen , das Maul öffnen und Muh sagen kann. Der Herr vom Reichsnährstand erscheint mit einer Armbrust und einer Aktentasche, der er immer neue Formulare entnimmt und sie vor der Kuh verstreut.
DER HERR VOM REICHSNÄHRSTAND.
Fräulein Muhdl, aufgepaßt:
Jetzt wird auch die Kuh erfaßt!
Ja, es gibt in diesem Jahr
auch für Sie manch Formular.
Und so kommt der Schütz gezogen
mit dem Pfeil und Fragebogen.
Sind Sie arisch? Sind Sie g'scheckert?
Hat da irgendwer gemeckert?
Ja, es war die kecke Gaaß!
Was verbrauchen Sie an Gras?
Fressen Sie auch Haferkörner?
Trägt der Ehegatte Hörner?
Wer betreut das Hufeschneiden?
Läßt man Sie im Sommer weiden?
a) bei Sonne? b) bei Wolken?
Wird das Letzte ausgemolken?
Kämpfen Sie mit ganzer Kraft
für die NS-Rinderschaft?
Ja, das einzig wirklich Wahre,
von der Wiege bis zur Bahre:
Formulare! Formulare!
DIE KUH verdreht die Augen und sagt. Muh!
DER HERR VOM REICHSNÄHRSTAND.
Haben Sie an Sommertagen
Fliegen mit dem Schwanz erschlagen?
Aus Gesinnung? Nur zum Spiele?
Aus Gewohnheit? Und wie viele?
Wer betreut Sie in betreff
Freizeit und auch KdF?
Ist der Kuhstall gut verdunkelt?
Haben Sie schon je geschunkelt?
Und wenn ja, wird mancher Tropfen
Ihrer Milch nicht gleich zu Topfen?
Und der Topfen heißt jetzt "Quark".
Auch bei uns, in Steiermark!
Beichten Sie den Milchertrag
a) per Melkung? b) per Tag?
c) im Durchschnitt? d) summarisch?
Leitet man Sie kommissarisch?
Eine Antwort, eine klare!
Formulare! Formulare!
DIE KUH verdreht die Augen und sagt. Muh!

Fortsetzung!


 Enigma antwortete am 20.10.05 (09:12):

Fortsetzung!

DER HERR VOM REICHSNÄHRSTAND.
Zahlen Sie als Wiederkäuer
zweifach Ihre Umsatzsteuer?
Sind Sie derzeit dienstverpflichtet?
Weltanschaulich ausgerichtet?
Wird Gemeinschaftsgeist erzielt
oder Blindekuh gespielt?
Wenn es in der Ostmark brandelt,
wird dann fleißig kuhgehandelt?
Oder wird mit allen Kniffen
stramm und zackig durchgegriffen?
Beichten Sie mir ohne Groll
alles für mein Protokoll!
Ob Sie hie und da vergrippt sind,
ob Sie rassisch stark versippt sind!
Geht's uns nämlich noch so mistig,
eins blüht immer: Die Statistik!
Wählen sich die Ostmarkkälber
ihren Schlächter wirklich selber?
Pflegen Sie im großen ganzen
sich nur künstlich fortzupflanzen?
Bringt Begattung ohne Gatten
seelisch nicht gewisse Schatten?
Leiden Sie nicht an der Kühle
der verdrängten Lustgefühle?
DIE KUH verdreht die Augen und sagt. Muh!
DER HERR VOM REICHSNÄHRSTAND.
Führen Sie genaue Listen,
wann und wo und wie Sie misten?
Sind die Fladen wohlgeformt?
Gleichgeschaltet und genormt?
Treibt man nebst der Ehebande
pflichtvergessen Rassenschande?
Wünschen Sie sich aufzunorden?
Wann sind Sie Mama geworden?
Waren Sie wie alle Braven
oberhalb des Paragraphen?
Waren Sie schon vierzehn Jahre?
Formulare! Formulare!
Der Herr vom Reichsnährstand streut eine Flut von Formularen aus und verschwindet hinter der Szene. Der Bauer kommt, schüttelt den Kopf und meint mit hocherstaunter Miene.
BAUER.
Wia der auf mei' Kuah schaut,
was der ihr alls zuatraut-
wia der über d' Schnur haut,
das geht auf ka Kuahhaut! Ab.
Die Kuhmagd erscheint reisefertig mit einem kleinen Koffer. Sie ist recht verweint, und der Abschied fällt ihr schwer.
KUHMAGD sieht traurig auf die Kuh, welche die Augen und Ohren verdreht. Die Magd singt zur Melodie "Von meinen Bergen muß ich scheiden".
Bis auf das allerletzte Tröpferl hab' ich dich g'molken Tag und Nacht.
Im Leistungswettkampf für das Melken hab' ich den ersten Preis gemacht.
Doch leider muß ich von dir scheiden- laut Reichsauftrag zieh' ich nach Wien,
dort ham s' mi ang'stellt beim Finanzamt- als erste Obermelkerin. „