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THEMA: Gedichte Kapitel 36
130 Antwort(en).
hl
begann die Diskussion am 11.08.05 (12:51) :
Zeit für ein neues Kapitel :-)
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hl
antwortete am 11.08.05 (13:08):
Die schöne Buche
Ganz verborgen im Wald kenn ich ein Plätzchen, da stehet Eine Buche, man sieht schöner im Bilde sie nicht. Rein und glatt, in gediegenem Wuchs erhebt sie sich einzeln, Keiner der Nachbarn rührt ihr an den seidenen Schmuck. Rings, so weit sein Gezweig der stattliche Baum ausbreitet, Grünet der Rasen, das Aug still zu erquicken, umher; Gleich nach allen Seiten umzirkt er den Stamm in der Mitte; Kunstlos schuf die Natur selber dies liebliche Rund. Zartes Gebüsch umkränzet es erst; hochstämmige Bäume, Folgend in dichtem Gedräng, wehren dem himmlischen Blau. Neben der dunkleren Fülle des Eichbaums wieget die Birke Ihr jungfräuliches Haupt schüchtern im goldenen Licht. Nur wo, verdeckt vom Felsen, der Fußsteig jäh sich hinabschlingt, Lässet die Hellung mich ahnen das offene Feld. - Als ich unlängst einsam, von neuen Gestalten des Sommers Ab dem Pfade gelockt, dort im Gebüsch mich verlor, Führt' ein freundlicher Geist, des Hains auflauschende Gottheit, Hier mich zum erstenmal, plötzlich, den Staunenden, ein. Welch Entzücken! Es war um die hohe Stunde des Mittags, Lautlos alles, es schwieg selber der Vogel im Laub. Und ich zauderte noch, auf den zierlichen Teppich zu treten; Festlich empfing er den Fuß, leise beschritt ich ihn nur. Jetzo, gelehnt an den Stamm (er trägt sein breites Gewölbe Nicht zu hoch), ließ ich rundum die Augen ergehn, Wo den beschatteten Kreis die feurig strahlende Sonne, Fast gleich messend umher, säumte mit blendendem Rand. Aber ich stand und rührte mich nicht; dämonischer Stille, Unergründlicher Ruh lauschte mein innerer Sinn. Eingeschlossen mit dir in diesem sonnigen Zauber- Gürtel, o Einsamkeit, fühlt ich und dachte nur dich!
Eduard Mörike
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Enigma
antwortete am 11.08.05 (18:20):
@hl vielen Dank, dass Du Dich erbarmt und ein neues Kapitel eröffnet hast.
Reduktion
Am Ende braucht die Schöpfung so lachhaft wenig: die sechsundzwanzig Buchstaben des Alphabets die vier Bausteine der genetischen Information das Ja Gottes das Nein des Menschen
Ludwig Steinherr Aus: Zum Teufel, wo geht's in den Himmel? (heute "Gedicht des Tages" bei Hugendubel)
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Marina
antwortete am 11.08.05 (23:45):
Als ich nach Hause kam
Als ich nach Hause kam, traf ich einen Matrosen in meinem Zimmer, der mit einem Kahn auf dem Schrank gelandet war und sich bemühte herunterzukommen, - den Grund seines Hierseins konnte er nicht erklären.
Gestern überraschte ich eine Ziegenherde, die die Zotteln meiner Teppiche anfraß, vorgestern einen Chinesen, der meine Garderobe anprobierte und vorgab, die Treppe nicht gefunden zu haben.
Wenn morgen ein Kranichzug ins Fenster fliegt, dann ist das nicht seltsamer, als wenn übermorgen ein Elefeant kommt und mich bittet, ihn abzuwaschen. Ähnliches wiederholt sich in den Nächten. Ich werde das Zimmer aufgeben.
Christoph Meckel
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Enigma
antwortete am 12.08.05 (07:56):
Paul Scheerbart Kein Gedicht
Ich möchte so gern wie ein Vogel Durch die Lüfte fliegen. Ich möchte so gern wie ein Löwe In der Wüste liegen. Ich möchte so gern wie ein König die lange Weile besiegen. Doch der Glanz der ewigen Sonnen Begeistert mich heute nicht. Ich habe Vieles begonnen. Doch das macht noch kein Gedicht.
Paul Scheerbart (1863-1915)
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hl
antwortete am 12.08.05 (17:52):
Gedicht vom Ich
Ich bin ich, na klar, oder nicht? Ich bin ich, kann jeder Mensch sagen Aber wer oder was ist denn nun ein 'Ich'? Schon bin ich mittendrin im Fragen. - Wo fängt ich an? Wo hört ich auf? Ist 'Ich' immer gleich, ob ich sitz oder lauf? Ob ich sieben oder siebzig bin? Ist mein Körper das 'Ich', oder steckts mittendrin? In der Brust, im Herz, oder unten im Zeh, oder in den Füßen, auf denen ich steh'?
Und etwas, was ich auch gern wüßt': Wenn jemand vor Glück ganz außer sich ist - 'außer sich' heißt doch raus aus dem Ich. Manchmal versteh ich mich selber nicht. Jemand ist außer sich vor Wut - bleibt das Ich dann bei sich und es geht ihm ganz gut?
Vielleicht hat das Ich auch was ausgeheckt, als blaues Männchen sich in mir versteckt, lacht wie's Rumpelstilzchen, Sagt: Such nur, such! Kauf dir ein kluges Ich-findungs-buch.. oder auch dreizehn, davon gibts genug, mach dich auf die Suche nach deinem Ich, suche und suche, du findest es nicht. Es ist kein Persönchen, hat kein Gesicht, wenn du's finden willst, dann suche es nicht...
Du bist mit allem dein Ich, was du tust, wie du gehst, wie du atmest wachst oder ruhst, wie du hörst, wie du siehst, wie du riechst, wie du schmeckst und dir nach dem Essen die Lippen leckst. Du brauchst dein Ich nicht gesondert zu suchen. Das ist philosophischer Käsekuchen. Du bist, was du bist in diesem Leben. Dich kann's auf der ganzen weiten Welt so, wie du bist nur einmal geben. Es ist, wie es ist, Punkt Komma und Strich: Viele Grüße von meinem - an wen? An dein Ich.
------------------ © Fredrik Vahle Aus: Der Himmel fiel aus allen Wolken. Gedichte Beltz & Gelberg, Weinheim/Basel 1994 Audioproduktion: 2003 M. Mechner, literaturWERKstatt berlin
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Marina
antwortete am 12.08.05 (21:47):
Kafka sprach zu Rudolf Steiner: "Von euch Jungs versteht mich keiner!" Darauf sagte Steiner: "Franz, ich versteh dich voll und ganz!" Steiner sprach zu Hermann Hesse: "Nenn mir sieben Alpenpässe!" Darauf sagte Hesse: "Steiner, sag mal, reicht denn nicht auch einer?" Steiner sprach zu Thomas Mann: "Zieh mal dieses Leibchen an!" Darauf sagte Mann zu Steiner: "Hast du's nicht 'ne Nummer kleiner?" Rilke sprach zu Rudolf Steiner: "Keiner ist so klein wie meiner!" Tröstend meinte Steiner: "Rainer, meiner ist noch etwas kleiner!" Beckmann sprach zu Rudolf Steiner: "Wird mein Bild nicht immer feiner?" Darauf knurrte Steiner: "Beckmann, wisch den Unfug lieber weg, Mann!"
Robert Gernhardt
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hl
antwortete am 13.08.05 (08:36):
Der Zauberer Korinthe ...
Es lebte einst ein Zauberer, Kori, Kora, Korinthe. Der saß in einem Tintenfaß und zauberte mt Tinte.
Wenn jemand damit Briefe schrieb und schmi und schma und schmollte, dann schrieb er etwas anderes, als was er schreiben wollte.
Einst schrieb der Kaiser Fortunat mit Si, mit Sa, mit Siegel: "Der Kerl, der mich verspottet hat, kommt hinter Schloß und Riegel!"
Doch hinterher las man im Brief, vergni, vergna, vergnüglich: "Der Kerl, der mich verspottet hat, der dichtet ganz vorzüglich!"
Da schmunzelte der Zauberer, Kori, Kora, Korinthe und schwamm durchs ganze Tintenfaß und trank ein bißchen Tinte.
Ein andres Mal schrieb Archibald, der Di, der Da, der Dichter: "Die Rosen haben hierzuland so zärtliche Gesichter."
Er hat von Ross- und Lilienhaar geschri, geschra, geschrieben, doch als das Liedlein fertig war, erzählte es von Rüben.
Da schmunzelte der Zauberer, Kori, Kora, Korinthe, und schwamm duchs ganze Tintenfaß und trank ein bißchen Tinte.
Heut schrieb der Kaufmann Steenebarg aus Bri, aus Bra, aus Bremen an seinen Sohn in Dänemark: "Du sollest Dich was schämen!"
Doch als der Brief geschrieben war, mit Schwi, mit Schwa, mit Schwunge, da stand im Brief:"Mein lieber Sohn, Du bist ein guter Junge."
Da schmunzelte der Zauberer, Kori, Kora, Korinthe und schwamm durchs ganze Tintenfaß und trank ein bißchen Tinte.
Und wer das Lied nicht glauben will, vom Schri, vom Schra, vom Schreiben, der ist wahrscheinlich selber schuld und läßt es eben bleiben.
James Krüss
:-))
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Enigma
antwortete am 14.08.05 (18:03):
Conrad Ferdinand Meyer Alles war ein Spiel
In diesen Liedern suche du Nach keinem ernsten Ziel! Ein wenig Schmerz, ein wenig Lust, Und alles war ein Spiel.
Besonders forsche nicht danach, Welch Antlitz mir gefiel, Wohl leuchten Augen viele drin, Doch alles war ein Spiel.
Und ob verstohlen auf ein Blatt Auch eine Träne fiel, Getrocknet ist die Träne längst, Und alles war ein Spiel.
C. F. Meyer (1825-1898)
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Marina
antwortete am 14.08.05 (20:45):
Franz Josef Degenhardt Spiel nicht mit den Schmuddelkindern
Spiel nicht mit den Schmuddelkindern, sing nicht ihre Lieder. Geh doch in die Oberstadt, mach's wie deine Brüder. So sprach die Mutter, sprach der Vater, lehrte der Pastor. Er schlich aber immer wieder durch das Gartentor und in die Kaninchenställe, wo sie Sechsundsechzig spielten um Tabak und Rattenfelle, Mädchen unter Röcke schielten, wo auf alten Bretterkisten Katzen in der Sonne dösten, wo man, wenn der Regen rauschte, Engelbert, dem Blöden, lauschte, der auf einen Haarkamm biß, Rattenfängerlieder blies. Abends, am Familientisch, nach dem Gebet zum Mahl, hieß es dann: Du riechst schon wieder nach Kaninchenstall. Spiel nicht mit den Schmuddelkindern, sing nicht ihre Lieder. Geh doch in die Oberstadt, mach's wie deine Brüder. Sie trieben ihn in eine Schule in der Oberstadt, kämmten ihm die Haare und die krause Sprache glatt. Lernte Rumpf und Wörter beugen. Und statt Rattenfängerweisen mußte er das Largo geigen und vor dürren Tantengreisen unter roten Rattenwimpern par coeur Kinderszenen klimpern und, verklemmt in Viererreihen, Knochen morsch und morscher schreien, zwischen Fahnen aufgestellt brüllen, daß man Freundschaft hält. Schlich er manchmal abends zum Kaninchenstall davon, hockten da die Schmuddelkinder, sangen voller Hohn: Spiel nicht mit den Schmuddelkindern, sing nicht ihre Lieder. Geh doch in die Oberstadt, mach's wie deine Brüder. Aus Rache ist er reich geworden. In der Oberstadt hat er sich ein Haus gebaut, nahm jeden Tag ein Bad. Roch, wie bessre Leute riechen, lachte fett, wenn alle Ratten ängstlich in die Gullys wichen, weil sie ihn gerochen hatten. Und Kaninchenställe riß er ab. An ihre Stelle ließ er Gärten für die Kinder bauen. Liebte hochgestellte Frauen, schnelle Wagen und Musik, blond und laut und honigdick. Kam sein Sohn, der Nägelbeißer, abends spät zum Mahl, roch er an ihm, schlug ihn, schrie: Stinkst nach Kaninchenstall. Spiel nicht mit den Schmuddelkindern, sing nicht ihre Lieder. Geh doch in die Oberstadt, mach's wie deine Brüder. Und eines Tages hat er eine Kurve glatt verfehlt. Man hat ihn aus einem Ei von Schrott herausgepellt. Als er später durch die Straßen hinkte, sah man ihn an Tagen auf 'nem Haarkamm Lieder blasen, Rattenfell am Kragen tragen. Hinkte hüpfend hinter Kindern, wollte sie am Schulgang hindern und schlich um Kaninchenställe. Eines Tags in aller Helle hat er dann ein Kind betört und in einen Stall gezerrt. Seine Leiche fand man, die im Rattenteich rumschwamm. Drum herum die Schmuddelkinder bliesen auf dem Kamm: Spiel nicht mit den Schmuddelkindem, sing nicht ihre Lieder. Geh doch in die Oberstadt, mach's wie deine Brüder!
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hl
antwortete am 14.08.05 (21:08):
Rose Ausländer
Noch bist du da
Wirf deine Angst in die Luft
Bald ist deine Zeit um bald wächst der Himmel unter dem Gras fallen deine Träume ins Nirgends
Noch duftet die Nelke singt die Drossel noch darfst du lieben Worte verschenken noch bist du da
Sei was du bist Gib was du hast
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hl
antwortete am 14.08.05 (21:27):
H. C. Artmann
DEN HORIZONT ÜBERSCHREITEN
Ein wald hinter einem wald, der vor einem wald liegt; wer geht in ihm herum, wer tritt in ihm auf pilze, beeren?
Obgleich man viele dinge über diesen wald erzählt, man weiß von ihnen nie, ob sie stim- men, ob sie erfunden sind.
Wenn der wald hier schweigt, hört man die glocken, aber der wald liegt sehr einsam, keine dörfer, keine kirchspiele oder städte weit und breit; nur ein teich darin, sehr dun- kelhäutig, sehr unergründlich.
Du weißt nicht, wovon du redest, du bist allein, du ertappst dich unversehens beim sprechen: worte fern wie glocken, fern wie die tiefe des teiches, und ein eichhorn, das dir jeglichen vokal von den lippen stiehlt; was bleibt, ist ein dürres gerüst gleich der abge- nadelten fichte.
Der jagdruf des zobels, der hier nicht haust, läßt nester erzittern: eine excellente mahlzeit wäre es, aus weißem zerbrechlichen porzellan zu speisen.
Man sagt, es sei ein wunderbares vergnügen, durch die länder zu reisen, die wiesen zu be- gehen, die wälder zu durchqueren; die wald- rose zählt zu den schönsten, ist die trösterin verliebter botaniker, ist eine windrose, die ihre zarten blättlein in alle richtungen ver- streut.
Über den wald ziehen verschiedene wolken in ständig sich ändernden bildern: der delfin, der jaguar, das geweih des hirsches, der zer- fallende aschenkrug, die fast menschliche figur...
Der geschmack des waldes ist an gewissen stellen wie der geruch der besonnten him- beere, an anderen stellen wie der schatten beregneter pilze; du weißt nicht, wovon du redest, aber du erkennst den geruch, den ge- schmack und die schatten deiner worte.
Der mörderische strahl, der pfeil, im dichten wald geht er nur sieben bäume tief, dann copuliert er mit der rinde des achten – ein paradiesisches irrsal dem flüchtenden.
Du bist der unreinen lust der jagd nicht ver- bunden, viele sonnen hast du gesehen, wie gute pfeile trafen ihre strahlen, drangen ein mit feiner, wohltuender wärme; auf dem teich schwimmen auch die weißen blüten, es nagt sie kein wurm, keine schnecke.
Deine hand wird nicht müd, über laubiges zu streichen, über den saftigen farn, über moos und die tauigen blätter der coniferen – eine gol- dene leiter baut dir die sonne an die brust, ein geschwister des regenbogens...
Internet-Tipp: " target="_blank">
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Marina
antwortete am 14.08.05 (22:50):
Der scheidende Sommer
Das gelbe Laub erzittert, Es fallen die Blätter herab; Ach, alles, was hold und lieblich, Verwelkt und sinkt ins Grab.
Die Gipfel des Waldes umflimmert Ein schmerzlicher Sonnenschein; Das mögen die letzten Küsse Des scheidenden Sommers sein.
Mir ist, als müsst ich weinen Aus tiefstem Herzensgrund; Dies Bild erinnert mich wieder An unsre Abschiedsstund'.
Ich musste von dir scheiden, Und wusste, du stürbest bald; Ich war der scheidende Sommer, Du warst der kranke Wald.
Heinrich Heine
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Enigma
antwortete am 15.08.05 (08:31):
Max Werner Lenz: Mensch ohne Paß
Ich bin aus aller Ordnung ausgetrieben. Sie nennen mich ein Emigrantenschwein. Sie sagen, wärst du doch zu Haus geblieben! Ich aber wollte ein Charakter sein. Ich sagte "Guten Tag" statt "Heil" zu rufen, Da hat man mir die Schutzhaft angedroht, Doch ich bin nicht zum Märtyrer berufen. Ich floh- aus einer Not- in andre Not. Jetzt bin ich ein unangemeldetes Leben, Ich habe keinen Paß. Ich stehe daneben und bleibe daneben- Den Beamten ein ewiger Haß. Die Staaten haben herrliche Devisen! Nach Frankreich gewendet: Hier drüben "Freiheit, Gleichheit, Bruderschaft", Nach der Schweiz gewendet: Und dieses Land wird als Asyl gepriesen. Doch mich erwartet hier und dort nur Haft. So wie ich bin, so bin ich ungesetzlich. Zwar schlägt man nicht, man ist zivilisiert, Doch, bin ich körperlich auch unverletzlich, Die Seele darf man foltern, ungeniert. Jetzt bin ich ein unangemeldetes Leben, Ich habe keinen Paß. Ich stehe daneben und bleibe daneben- Den Beamten ein ewiger Haß. Doch jetzt gibt's Kommissionen, wie ich höre, Die kümmern sich um uns und meinen's gut; Denn sie beschließen, daß ich nicht mehr störe, Doch der Beschluß kommt in Beamten-Hut. Und bis die Paragraphen sich ergänzen Braucht's lange Zeit- inzwischen geht's mir schlecht. Man scheucht mich heimlich über fremde Grenzen. Bis ich krepiere- durch Gesetz und Recht. Dann bin ich ein unabgemeldetes Leben, Und ich brauche keinen Paß. Dann steh ich darüber und nicht mehr daneben, Über den Grenzen und über dem Haß.
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Marina
antwortete am 15.08.05 (16:50):
Tod der Armen
Es ist der Tod, der Trost und Leben schenkt; Er ist das Ziel, das einzig Hoffnung macht, Ein Elixier, das uns berauschend tränkt, Und Mut gibt, durchzuhalten bis zur Nacht,
Durch Sturm und Schnee ist er das schwache Licht, Für uns am dunklen Horizont entzündet; Ist jene Bleibe, die das Buch verspricht, wo man zur Rast ein Mahl und Schlummer findet,
Ein Engel, dessen Finger lockend zeigen Den Schlaf und Träume, die uns übersteigen; Armen und Nackten er ein Bett bereitet;
Der Götter Ruhm, der Speicher, der nie leer, Der Armen Beutel, Heimat von jeher, Das Tor, das uns zu fremden Himmeln leitet! Charles Baudelaire
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hl
antwortete am 16.08.05 (08:03):
Worte sind der Seele Bild
Worte sind der Seele Bild - Nicht ein Bild! sie sind ein Schatten! Sagen herbe, deuten mild, Was wir haben, was wir hatten. - Was wir hatten, wo ist's hin? Und was ist's denn, was wir haben? - Nun, wir sprechen! Rasch im Fliehn Haschen wir des Lebens Gaben.
J. W. v. Goethe, Aussicht, den 16. August 1815
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Enigma
antwortete am 16.08.05 (09:49):
Wenn ich alt bin
Wenn ich alt bin werde ich viel Zeit haben. Statt meine Wünsche zu vernachlässigen, pflege ich sie lustvoll wie eine Katze ihr Fell. Statt mich wie eine Muschel zu verschließen, suche ich Zugang zu fremden Herzen. Statt mich in meiner Höhle zu verkriechen, reise ich der Sonne mit Freude nach. Statt griesgrämig meiner Jugend nachzutrauern, verstärke ich lieber meine Lachfalten. Statt meinen Körper verschämt zu verstecken, zeige ich stolz die Spuren des Lebens. Statt Grau zu meiner Farbe zu machen, wähle ich zartes Frühlingsrosa. Statt der Stille die Tür zu öffnen, lade ich meine Freunde ein. Statt ungenießbar zu werden, genieße ich die Welt in vollen Zügen. Statt auf den Tod zu warten, werde ich bewußt leben.
Wenn ich alt bin, will ich jung sein.
Shadi Haghsheno Aus: „Im Wirbel der Gefühle“
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Marina
antwortete am 17.08.05 (17:43):
Apokalyptische Schwühle (1944)
Farben bröckeln ins Fahle Blumen blaßten hinter Gittern. Über Stufen und Portale ging ein stündliches Verwittern.
Aschenschatten, Dämmergäste, Schemen wurden die Vertrauten. Und ein bleicher Himmel preßte lautlos sich auf Strom und Bauten.
Dächer schrumpften und enblößten Schuld und Schwäche im Vergleiten Faulige Konturen lösten sich in Nichtmehrwirklichkeiten.
In der gandenlosen Schwühle tödlich lagen wir gefangen. Mahlte noch die dunkle Mühle oder war auch sie zergangen?
Manchmal hörten wir ein Knistern klopften nachts die Totenuhren – Bis erlösend aus Kanistern blanke Feuer niederfuhren.
Werner Bergengruen
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Enigma
antwortete am 18.08.05 (09:28):
Unzeit
Meine Stunde Besteht Aus lauter Stunden Die noch nicht Gekommen sind Was Hand und Fuß hatte Wurde an Händen Und Füßen Amputiert Mein linkes Aug Traut Meinem rechten Auge nicht Mein blinder Haß Wird sehend Eine namenlose Angst Legt sich Meinen Namen zu
Dieter Fringeli Aus: Die schönsten Gedichte der Schweiz
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Marina
antwortete am 18.08.05 (23:55):
Die Dämmerung
Ein dicker Junge spielt mit einem Teich. Der Wind hat sich in einem Baum gefangen Der Himmel sieht verbummelt aus und bleich, Als wäre ihm die Schminke ausgegangen.
An einem Fenster klebt ein fetter Mann. Ein Jüngling will ein weiches Weib besuchen. Ein grauer Clown zieht sich die Stiefel an. Ein Kinderwagen schreit und Hunde fluchen
Alfred Lichtenstein
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Enigma
antwortete am 20.08.05 (11:50):
Anastasius Grün Botenart
Der Graf kehrt heim vom Festturnei, Da wallt an ihm sein Knecht vorbei.
Hallo, woher des Wegs, sag an! Wohin, mein Knecht, geht deine Bahn?
"Ich wandle, daß der Leib gedeih, Ein Wohnhaus such ich mir nebenbei."
Ein Wohnhaus? Nun, sprich grad heraus, Was ist geschehn bei uns zu Haus?
"Nichts Sonderlichs! Nur todeswund Liegt Euer kleiner weißer Hund."
Mein treues Hündchen todeswund! Sprich, wie begab sich's mit dem Hund?
"Im Schreck Eur Leibroß auf ihn sprang, Drauf lief's in den Strom, der es verschlang."
Mein schönes Roß, des Stalles Zier! Wovon erschrak das arme Tier?
"Besinn ich recht mich, erschrak's davon, Als von dem Fenster stürzt' Eur Sohn."
Mein Sohn? Doch blieb er unverletzt? Wohl pflegt mein süßes Weib ihn jetzt?
"Die Gräfin rührte stracks der Schlag, Als vor ihr des Herrleins Leichnam lag,"
Warum bei solchem Jammer und Graus, Du Schlingel, hütest du nicht das Haus?
"Das Haus? Ei, welches meint Ihr wohl? Das Eure liegt in Asch und Kohl'!
Die Leichenfrau schlief ein an der Bahr, Und Feuer fing ihr Kleid und Haar.
Und Schloß und Stall vermodert im Wind, Dazu das ganze Hausgesind!
Nur mich hat das Schicksal aufgespart, Euch's vorzubringen auf gute Art."
Anastasius Grün (1808-1876) :-))
Internet-Tipp: https://www.litlinks.it/g/gruen_a.htm
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Illona
antwortete am 20.08.05 (13:28):
Theodor Fontane
Lied des James Monmouth
Es zieht sich eine blutige Spur Durch unser Haus von alters, Meine Mutter war seine Buhle nur, Die schöne Lucy Walters.
Am Abend war's, leis wogte das Korn, Sie küßten sich unter der Linde, Eine Lerche klang und ein Jägerhorn - Ich bin ein Kind der Sünde.
Meine Mutter hat mir oft erzählt Von jenes Abends Sonne, Ihre Lippen sprachen: Ich habe gefehlt! Ihre Augen lachten vor Wonne.
Ein Kind der Sünde, ein Stuartkind, Es blitzt wie Beil von weiten: Den Weg, den alle geschritten sind, Ich werd' ihn auch beschreiten.
Das Leben geliebt und die Krone geküßt Und den Frauen das Herz gegeben Und den letzten Kuß auf das schwarze Gerüst - Das ist ein Stuart-Leben.
Internet-Tipp: /seniorentreff/de/fontanekindders1234
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Enigma
antwortete am 21.08.05 (12:25):
Spuren
Bald breche ich auf zu Wäldern aus Rauch und Beton Gehe über Straßen feindseliger Städte Mein Name wird nach einem anderen Namen klingen Mein Gesicht einem anderen Gesicht gleichen Deshalb will ich heute Abend hier bleiben meine Herde blauer Vulkane von oben betrachten, zulassen, dass die Landschaft in mir wächst, der See in meinen Lungen Platz findet, die Wolken sich in meinem Blut ausdehnen, Vulkane in meinen Augen aufsteigen, dass diese Vision von Mythos und Epopöe meine inneren Flüsse speist auf denen ich mich halten werde wenn die Distanz ihren tiefen Graben aushebt.
Gioconda Belli Aus: Ich bin Sehnsucht - verkleidet als Frau.
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Marina
antwortete am 21.08.05 (23:44):
Under der linden
Under der linden an der heide, dâ unser zweier bette was, dâ muget ir vinden schône beide gebrochen bluomen unde gras. vor dem walde in einem tal, tandaradei, schône sanc diu nahtegal.
Ich kam gegangen zuo der ouwe: dô was mîn friedel komen ê. dâ wart ich empfangen hêre frouwe daz ich bin sælic iemer mê. kust er mich? wol tûsentstunt: tandaradei, seht wie rôt mir ist der munt.
Dô hete er gemachet alsô rîche von bluomen eine bettestat. des wirt noch gelachet inneclîche, kumt iemen an daz selbe pfat. bî den rôsen er wol mac tandaradei, merken wâ mirz houbet lac.
Daz er bî mir læge, wesse ez iemen (nu enwelle got!), so schamte ich mich. wes er mit mir pflæge, niemer niemen bevinde daz wan er und ich und ein kleinez vogellîn: tandaradei, daz mac wol getriuwe sîn.
Walther von der Vogelweide 1170-1230
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Marina
antwortete am 22.08.05 (12:41):
Zwei Fragen: 1.) Muss ich jetzt jedesmal, wenn ich ein Gedicht poste, im Archiv nachsehen, ob es schon einmal gepostet wurde? 2.)Muss ich außerdem erst bei der entsprechenden Website, aus der ich es nehme, anfragen, ob es erlaubt ist (Bezug nehmend auf den Thread "Update der Forenregeln")?
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hl
antwortete am 22.08.05 (13:08):
Meine unmassgebliche Meinung dazu:
zu 1: Nein
zu 2: wenn es sich um nicht so bekannte, noch lebende Autoren handelt, würde ich doch einmal dort nachfragen.
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Enigma
antwortete am 22.08.05 (15:24):
Hallo Marina,
mit dem Thema hatte ich mich auch schon einmal befasst. Vor einiger Zeit war wohl eine gewisse "Abmahnungswelle" im Hinblick auf Veröffentlichungen im Internet zu verzeichnen. Vor allem die Erben von Hesse und Kästner haben sich da hervorgetan (vielleicht würden sich die berühmten Vorfahren im Grabe umdrehen, wenn sie das wüssten). Aber rein juristisch sind sie oft im Recht. Bei den Homepages mussten einige ganz oder teilweise geschlossen werden, weil die Betreiber, durch die Drohungen der Anwälte eingeschüchtert, mit satten Schadenersatzforderungen zu rechnen hatten. Schade,schade, da müsste der Gesetzgeber m.E. unbedingt zu anderen Regelungen kommen. Bei einigen lebenden Lyrikern/Lyrikerinnen habe ich tatsächlich um Erlaubnis gefragt, ob ich Gesichte von ihnen veröffentlichen dürfte (u.a. Edith Jeske). Es wurde mir sehr nett gestattet. Aber auf Dauer würde es doch sehr lästig, sich jedesmal rückzuversichern, dass man nicht mit kommenden Problemen zu rechnen hat. Ich stelle mal einen Link ein, der sich mit der Problematik beschäftigt. U.a. auch mit dem Urheberrecht.
Und jetzt zitiere ich ein Gedicht von Tucholsky, der ist jedenfalls 1935 gestorben und die "70-Jahre-Frist" wäre also abgelaufen. :-))
Kurt Tucholsky Das Lächeln der Mona Lisa:
Ich kann den Blick nicht von dir wenden. Denn über deinem Mann vom Dienst hängst du mit sanft verschränkten Händen und grienst. Du bist berühmt wie jener Turm von Pisa, dein Lächeln gilt für Ironie. Ja... warum lacht die Mona Lisa? Lacht sie über uns, wegen uns, trotz uns, mit uns, gegen uns - oder wie -? Du lehrst uns still, was zu geschehen hat. Weil uns dein Bildnis, Lieschen, zeigt: Wer viel von dieser Welt gesehn hat - der lächelt, legt die Hände auf den Bauch und schweigt.
Internet-Tipp: https://www.rettet-das-internet.de/zitate.htm
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Enigma
antwortete am 22.08.05 (17:09):
Im Moment fällt mir neben Frau Jeske auch noch Peter Welk ein, den ich ebenfalls - mit Erfolg - darum gebeten hatte, eines seiner Gedichte hier posten zu dürfen.
Es ist mir (so sagt man doch so schön..:-)) wirklich ein Anliegen, beide Gedichte noch einmal hier zu veröffentlichen und mich öffentlich darüber zu freuen, dass es auch gegenwärtig Künstler(innen) gibt, die durch ihre Vielseitigkeit ihren Lebensunterhalt verdienen und trotzdem einen Sinn für das "literarische Gemeinwohl" bewahrt haben.
Edith Jeske Du gehst mir aus dem Sinn
Wir gelten als ein Paar, das man beneidet. Man sagt uns nach, uns bringt nichts aus dem Gleis. Und wenn es heißt " bis dass der Tod euch scheidet" - dann sind wir zwei womöglich der Beweis. Oft war's nicht leicht. Doch jede unsrer Krisen war immer eine Chance und ein Gewinn. Wie nur erkläre ich mir dann, was ich mir nicht erklären kann: Du gehst mir aus dem Sinn. Ich liebe deine Gesten, die mir sagen, dass du noch immer jeden Tag genießt, dein Lachen und die kluge Art zu fragen und wie du meine Schwächen übersiehst. Wir teilen schon beinah ein halbes Leben. Das wirft man nicht aus einer Laune hin. Dir zu vertraun, war niemals schwer, Nun hab ich keine Worte mehr. Du gehst mir aus dem Sinn. Wir sind so weit gekommen in den Jahren. Ich hab mir nie was andres vorgestellt. Was immer auch geschah - wir beide waren gemeinsam eine Insel in der Welt. Nun reise ich in schweigenden Gedanken allein zu meiner eignen Insel hin, wo niemand mich beim Namen nennt und wo den deinen keiner kennt, wo nichts mehr kalt ist oder heiß und die Erinnerung schwarz-weiß, wo man sein Herz nicht schlagen hört und wo kein Traum die Nächte stört und wo du nicht mehr fragst, warum ich traurig bin
Etwas mehr erfahren über Edith Jeske könnt Ihr unter folgendem Link: https://www.musenlust.de
Aber nun auch das Gedicht von Herrn Welk:
Peter Welk Ins Blaue
Huckenbeck entschließt sich, aus Gedankenstücken Eine blaugemalte Welt zu schaffen, Blau die Häuser, blaugemalt die Brücken, Blau, sofern entstehend, die Giraffen.
Ohne Schöpferplan will Huckenbeck beginnen, Doch ins Blaue zielt er absichtsvoll, Um dem Schwarzgemalten zu entrinnen, Das in seiner Welt nicht gelten soll.
Reines Blau ergießt sich wie aus Himmelskannen Über Huckenbecks gedachte Welt, Bläue schäumt in allen Badewannen, Die er sich in seine Häuser stellt,
Veilchenblaugemalt beginnt der Montagmorgen, Pflaumenblau läßt Huckenbeck ihn gehen, Blaue Mädchen haben blaue Sorgen, Blaue Witwen können sich im Spiegel drehen.
Huckenbeck – als leite ihn ein Zauberwort – Nickt zu allem, lächelt, und dann hebt Er die blaue Welt mit Händen hoch und schwebt Samt der Welt ins ungefähre Blaue fort.
© Peter Welk
Internet-Tipp: https://www.artplanet.de/
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Enigma
antwortete am 25.08.05 (08:31):
Regenduft Schreie. Ein Pfau. Gelb schwankt das Rohr. Glimmendes Schweigen von faulem Holz. Flüstergrün der Mimosen. Schlummerndes Gold nackter Rosen Auf braunem Moor. Weiße Dämmerung rauscht in den Muscheln. Granit blank, eisengrau. Matt im Silberflug Kranichheere Über die Schaumsaat stahlkühler Meere Max Dauthendey (1867-1918)
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Marina
antwortete am 26.08.05 (18:53):
Der Mond
Und grämt dich, Edler, noch ein Wort Der kleinen Neidgesellen? Der hohe Mond, er leuchtet dort, Und läßt die Hunde bellen Und schweigt und wandelt ruhig fort, Was Nacht ist, aufzuhellen.
Johann Gottfried Herder (1744-1803)
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hl
antwortete am 26.08.05 (22:36):
Weiß nicht mehr, wo die Erde liegt
Die Raben schreien wie verwundet Und prophezeien Nacht und Not; Der Frost hat jede Tür umstellt, Und der Hungerhund bellt. Wir halten uns immer noch eng umschlungen, Im Küssen fanden wir noch kein Wort, Die Lerchen haben sich tot gesungen, Und Wolken wälzten den Sommer fort. Doch dein Haupt, das in meinem Arm sich wiegt, Weiß nicht mehr, wo die Erde liegt.
Max Dauthendey
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hl
antwortete am 26.08.05 (22:39):
(aus: Poèmes de Jalousie 1926)
Eifersüchtig bin ich auf die Straße: Könnte nicht der Schatten einer Frau Auf deinen Schatten fallen? Vielleicht betrügst du mich mit einer Sphinx aus Wachs Im Schaufenster eines Friseurs. Eine Tram läuft hinter dir her Wie ein Hund an der Leine. Wieviele Passanten und Blumen Kommen vor das Objektiv deiner Augen, Sammler ultravioletter Blicke! Eifersüchtig bin ich auf die Straße Und deine Schritte in C-Moll.
Goll, Claire (eig. Clarisse Liliane, geb. Aischmann), 29. 10. 1891 Nürnberg
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Illona
antwortete am 28.08.05 (10:14):
Laotse Tao te king Das Buch vom Sinn und Leben
Wer das LEBEN hochhält, weiß nichts vom LEBEN; darum hat er LEBEN. Wer das LEBEN nicht hochhält, sucht das LEBEN nicht zu verlieren; darum hat er kein LEBEN. Wer das LEBEN hochhält, handelt nicht und hat keine Absichten. Wer das LEBEN nicht hochhält, handelt und hat Absichten. Wer die Liebe hochhält, handelt, aber hat keine Absichten. Wer die Gerechtigkeit hochhält, handelt und hat Absichten. Wer die Sitte hochhält, handelt, und wenn ihm jemand nicht erwidert, so fuchtelt er mit den Armen und holt ihn heran. Darum: Ist der SINN verloren, dann das LEBEN. Ist das LEBEN verloren, dann die Liebe. Ist die Liebe verloren, dann die Gerechtigkeit. Ist die Gerechtigkeit verloren, dann die Sitte. Die Sitte ist Treu und Glaubens Dürftigkeit und der Verwirrung Anfang. Vorherwissen ist des SINNES Schein und der Torheit Beginn. Darum bleibt der rechte Mann beim Völligen und nicht beim Dürftigen. Er wohnt im Sein und nicht im Schein. Er tut das andere ab und hält sich an dieses.
Internet-Tipp: https://www.iging.com/laotse/LaotseD.htm
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Enigma
antwortete am 28.08.05 (18:14):
Paul Scheerbart Heiter sei mein Abendessen
Heiter sei mein Abendessen, Wenn's zur Nacht auch traurig geht. Und der Spott sei nie vergessen, Wenn auch alles untergeht. (1892) :-)
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Enigma
antwortete am 31.08.05 (08:15):
Ein Jüngling liebt ein Mädchen, Die hat einen andern erwählt; Der andre liebt eine andre, Und hat sich mit dieser vermählt. Das Mädchen heiratet aus Ärger Den ersten besten Mann, Der ihr in den Weg gelaufen; Der Jüngling ist übel dran. Es ist eine alte Geschichte, Doch bleibt sie immer neu; Und wem sie just passieret, Dem bricht das Herz entzwei. Heinrich Heine (1797-1856)
:-)
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Marina
antwortete am 31.08.05 (16:52):
Ein Weib Sie hatten sich beide so herzlich lieb, Spitzbübin war sie, er war ein Dieb. Wenn er Schelmenstreiche machte, Sie warf sich aufs Bett und lachte. Der Tag verging in Freud und Lust, Des Nachts lag sie an seiner Brust. Als man ins Gefängnis ihn brachte, Sie stand am Fenster und lachte. Er ließ ihr sagen: O komm zu mir, Ich sehne mich so sehr nach dir, Ich rufe nach dir, ich schmachte - Sie schüttelt' das Haupt und lachte. Um sechse des Morgens ward er gehenkt, Um sieben ward er ins Grab gesenkt; Sie aber schon um achte Trank roten Wein und lachte.
Heinrich Heine
:-(
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mmargarete01
antwortete am 31.08.05 (18:15):
Du da oben
Du der da oben sein sollst, warum machst du Fehler, holst unschuldige Kinder, kann man an dich glauben. Wenn dir Fehler unterlaufen, ich dachte, nur auf Erden, sind Fehler zu verbuchen. Bist du nicht frei von Fehlern, nimm dir Mörder und Hehler, zur Unterhaltung da oben, ich werde dich nicht loben. Bringst Leid auf Erden, du müsstest bestraft werden. Ist dir dieses Wort tue gutes fremd, oder hast du auch schon Demenz.
©Margret Nottebrock
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Enigma
antwortete am 02.09.05 (16:04):
Bertold Brecht Die wahre Geschichte vom Rattenfänger von Hameln
Der Rattenfänger von Hameln Durch die Stadt ist er gegangen Hat mit seinem Pfeifen all die Tausend Kindlein eingefangen Er pfiff hübsch. Er pfiff lang. 's war ein wunderbarer Klang.
Der Rattenfänger von Hameln Aus der Stadt wollt er sie retten Daß die Kindlein einen bessern Ort zum Größerwerden hätten Er pfiff hübsch. Er pfiff lang. 's war ein wunderbarer Klang.
Der Rattenfänger von Hameln Wohin hat er sie verführet? Denn die Kleinen waren alle Tief im Herzen aufgerühret. Er pfiff hübsch. Er pfiff lang. 's war ein wunderbarer Klang.
Der Rattenfänger von Hameln Als er aus der Stadt gegangen Hat ihm, heißt es, sein Gepfeife Selbst die Sinne eingefangen. Ich pfeif hübsch. Ich pfeif lang. 's ist ein wunderbarer Klang.
Der Rattenfänger von Hameln Um den Berg ist er gebogen Hat die Kindlein aus Versehn In die Stadt zurückgezogen. Pfiff zu hübsch. Pfiff zu lang. 's war zu wunderbarer ein Klang.
Der Rattenfänger von Hameln Haben sie am Markt gehangen Aber um sein Pfeifen, Pfeifen Ist noch lang die Red gegangen. Er pfiff hübsch. Er pfiff lang. 's war ein wunderbarer Klang.
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Marina
antwortete am 05.09.05 (21:52):
Abendphantasie
Vor seiner Hütte ruhig im Schatten sitzt Der Pflüger, dem Genügsamen raucht sein Herd. Gastfreundlich tönt dem Wanderer im Friedlichen Dorfe die Abendglocke.
Wohl kehren itzt die Schiffer zum Hafen auch, In fernen Städten, fröhlich verrauscht des Markts Geschäft'ger Lärm; in stiller Laube Glänzt das gesellige Mahl den Freunden.
Wohin denn ich? Es leben die Sterblichen Von Lohn und Arbeit; wechselnd in Müh' und Ruh' Ist alles freudig; warum schläft denn Nimmer nur mir in der Brust der Stachel?
Am Abendhimmel blühet ein Frühling auf; Unzählig blühn die Rosen und ruhig scheint Die goldne Welt; o dorthin nimmt mich Purpurne Wolken! und möge droben
In Licht und Luft zerrinnen mir Lieb' und Leid! – Doch, wie verscheucht von töriger Bitte, flieht Der Zauber; dunkel wirds und einsam Unter dem Himmel, wie immer, bin ich –
Komm du nun, sanfter Schlummer! zu viel begehrt Das Herz; doch endlich, Jugend! verglühst du ja, Du ruhelose, träumerische! Friedlich und heiter ist dann das Alter.
Friedrich Hölderlin
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Enigma
antwortete am 06.09.05 (07:01):
Groeten uit Noordwijk Tot ziens!
Das Fräulein stand am Meere
Das Fräulein stand am Meere Und seufzte lang und bang, Es rührte sie so sehre Der Sonnenuntergang. "Mein Fräulein! Sein Sie munter, Das ist ein altes Stück; Hier vorne geht sie unter Und kehrt von hinten zurück." Heinrich Heine
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eleisa
antwortete am 06.09.05 (22:28):
Erfolgloser Liebhaber
Ein Mann wollt sich ein Weib erringen, doch leider konnts ihm nicht gelingen. Er ließ sich drum, vor weitren Taten, von Fraun und Männern wohl beraten: „nur nicht gleich küssen, tätscheln, tappen!“ „greif herzhaftzu, dann muß es schnappen!“ „Lass deine ernste Absicht spüren!“ Sei leicht und wahllos im Verführen!“ „Der Seele Reichtum lege bloß!“ „Sei scheinbar kalt und rücksichtslos!“ Der Mann hat alles durchgeprobt, hat hier sich ehrenhaft verlobt, hat dort sich süß herangeplaudert, hat zugegriffen und gezaudert, hat Furcht und Mitleid auferweckt, hat sich verschwiegen, sich entdeckt, war zärtlich kühn,war reiner Tor, doch wie er’s machte- er verlor, zwar stimmte jeder Rat genau, doch jeweils nicht für jede Frau.
Eugen Roth
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Marina
antwortete am 09.09.05 (21:00):
Herbst-Gefühl
Müder Glanz der Sonne! Blasses Himmelblau! Von verklungner Wonne Träumet still die Au.
An der letzten Rose Löset lebenssatt Sich der letzte lose, Bleiche Blumenblatt!
Goldenes Entfärben Schleicht sich durch den Hain! Auch Vergehn'n und Sterben Däucht mir süß zu sein. Karl von Gerok
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Enigma
antwortete am 10.09.05 (07:32):
Die Nacht am Strande
Sternlos und kalt ist die Nacht, Es gärt das Meer; Und über dem Meer, platt auf dem Bauch, Liegt der ungestaltete Nordwind, Und heimlich, mit ächzend gedämpfter Stimme, Wie 'n störriger Griesgram, der gut gelaunt wird, Schwatzt er ins Wasser hinein, Und erzählt viel tolle Geschichten, Riesenmärchen, totschlaglaunig, Uralte Sagen aus Norweg, Und dazwischen, weitschallend, lacht er und heult er Beschwörungslieder der Edda, Auch Runensprüche, So dunkeltrotzig und zaubergewaltig, Daß die weißen Meerkinder Hoch aufspringen und jauchzen, Übermutberauscht. Derweilen, am flachen Gestade, Über den flutbefeuchteten Sand, Schreitet ein Fremdling, mit einem Herzen, Das wilder noch als Wind und Wellen. Wo er hintritt, Sprühen Funken und knistern die Muscheln; Und er hüllt sich fest in den grauen Mantel, Und schreitet rasch durch die wehende Nacht; - Sicher geleitet vom kleinen Lichte, Das lockend und lieblich schimmert Aus einsamer Fischerhütte. Vater und Bruder sind auf der See, Und mutterseelenallein blieb dort In der Hütte die Fischertochter, Die wunderschöne Fischertochter. Am Herde sitzt sie, Und horcht auf des Wasserkessels Ahnungssüßes, heimliches Summen, Und schüttet knisterndes Reisig ins Feuer, Und bläst hinein, Daß die flackernd roten Lichter Zauberlieblich widerstrahlen Auf das blühende Antlitz, Auf die zarte, weiße Schulter, Die rührend hervorlauscht Aus dem groben, grauen Hemde, Und auf die kleine, sorgsame Hand, Die das Unterröckchen fester bindet Um die feine Hüfte. Aber plötzlich, die Tür springt auf, Und es tritt herein der nächtige Fremdling; Liebesicher ruht sein Auge Auf dem weißen, schlanken Mädchen, Das schauernd vor ihm steht, Gleich einer erschrockenen Lilie; Und er wirft den Mantel zur Erde, Und lacht und spricht: "Siehst du, mein Kind, ich halte Wort, Und ich komme, und mit mir kommt Die alte Zeit, wo die Götter des Himmels Niederstiegen zu Töchtern der Menschen, Und die Töchter der Menschen umarmten Und mit ihnen zeugten Zeptertragende Königsgeschlechter Und Helden, Wunder der Welt. Doch staune, mein Kind, nicht länger Ob meiner Göttlichkeit, Und, ich bitte dich, koche mir Tee mit Rum; Denn draußen war's kalt, Und bei solcher Nachtluft Frieren auch wir, wir ewigen Götter, Und kriegen wir leicht den göttlichsten Schnupfen Und einen unsterblichen Husten."
Heinrich Heine
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eleisa
antwortete am 10.09.05 (18:47):
Vergeblicher Anruf
O dünnes sausen in der schwarzen Muschel! Statt schnellen Herzschlag nur ein leer Geticke! Dann kommt, wie zwischen sieben Städten, ein Getuschel Und eine müde Stimme, >> svarer ikke<<.
So muß die ferne Kammer also leer sein! Du bist nicht hier. Nun bist du auch nicht dort. Es ist als hörte ich: das Schiff muß auf dem Meer sein Nach allen Seiten ganz unrufbar fort!
Das Zwiegespräch,das keine Stimmen brauchte (das ungesprochene wurde doch gehört und es gab Fragen, ganz neu aufgetauchte!) nun erst ist unser Zwiegespräch gestört.
Berthold Brecht
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Illona
antwortete am 11.09.05 (06:25):
Bertold Brecht: DIE BALLADE VON DER HANNA CASH
Mit dem Rock von Kattun und dem gelben Tuch Und den Augen der schwarzen Seen Ohne Geld und Talent und doch mit genug Vom Schwarzhaar, das sie offen trug Bis zu den schwärzeren Zeh'n: Das war die Hanna Cash, mein Kind Die die "Gentlemen" eingeseift Die kam mit dem Wind und ging mit dem Wind Der in die Savannen läuft.
Die hatte keine Schuhe und die hatte auch kein Hemd Und die konnte auch keine Choräle! Und sie war wie eine Katze in die große Stadt geschwemmt Eine kleine graue Katze zwischen Hölzer eingeklemmt Zwischen Leichen in die schwarzen Kanäle. Sie wusch die Gläser vom Absinth Doch nie sich selber rein Und doch muß die Hanna Cash, mein Kind Auch rein gewesen sein.
Und sie kam eines Nachts in die Seemannsbar Mit den Augen der schwarzen Seen Und traf J. Kent mit dem Maulwurfshaar Den Messerjack aus der Seemannsbar Und der ließ sie mit sich gehn! Und wenn der wüste Kent den Grind Sich kratzte und blinzelte Dann spürt die Hanna Cash, mein Kind Den Blick bis in die Zeh.
Sie "kamen sich näher" zwischen Wild und Fisch Und "gingen vereint durchs Leben" Sie hatten kein Bett und sie hatten keinen Tisch Und sie hatten selber nicht Wild noch Fisch Und keinen Namen für die Kinder. Doch ob Schneewind pfeift, ob Regen rinnt Ersöff auch die Savann Es bleibt die Hanna Cash, mein Kind Bei ihrem lieben Mann.
Der Sheriff sagt, daß er ein Schurke sei Und die Milchfrau sagt: er geht krumm. Sie aber sagt: Was ist dabei? Es ist mein Mann. Und sie war so frei Und blieb bei ihm. Darum. Und wenn er hinkt und wenn er spinnt Und wenn er ihr Schläge gibt: Es fragt die Hanna Cash, mein Kind Doch nur: ob sie ihn liebt.
(Aus : Die Hauspostille, 1927)
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Marina
antwortete am 12.09.05 (23:36):
Mathematik der Feindschaft
Ich hatte einmal einen Feind. Der hasste mich Tag und Nacht. Der hätte mich, was mir auch logisch erscheint, von Herzen gern umgebracht.
Dann aber: bekam ich noch einen Feind. Und ich dachte: Zwei Feinde, na ja. Doch was ich dabei übersah: dass mein zweiter Feind mit dem ersten Feind schon zehn Jahre verfeindet war.
Das merkte ich erst, als mein erster Feind mich anrief: "Grüß Gott und blabla, der Dings, wie mir scheint, ist dein Feind, mein Freund, ein gemeinsamer Feind, der vereint, mein Freund, küss die Hand, tatatü, tatata."
Sogleich erschien mir mein zweiter Feind nicht mehr ganz so schlimm wie er war. Denn ich dachte: ein Feind, der es feindlich meint, der kann doch nicht sein meines Feindes Feind. Ja, ich sah überhaupt nicht mehr klar:
Denn ich hatte zwei feindliche Freunde zum Feind. Ein Gedanke, so traurig, so schön. Ich hab mich betrunken, gelacht und geweint. Feiner Freund, lieber Feind, o du feindlicher Freund.
Ach, niemals wird, wer mit e i n e m Feind, was Feindschaft ist, zu begreifen meint, das Geheimnis der Freundschaft verstehn.
Hans Scheibner
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Literaturfreund
antwortete am 13.09.05 (05:49):
Heute als "lyrikmail Nr. 1118 - 13.09.2005" ------------------------------ Peter H i l l e: Lord Byron Antonius-Bakchos, Ein ewiger Etonboy, Erzog dich die Schönheit Zu weicher Kraft und zu starker Schwäche. Eine Schicht Held und eine Schicht Unart. Tagumdrehender Freund der Natur, Freund der Nacht - Früh zogst du dir den Schnee aufs lockige Haupt Und fielest vor deinem Tode als Held An deines Leibes eigenem Mute. So recht deinen eignen Tod Bist du gestorben, Eigen im Opfer Nervöser Held. Deiner Knabenschmerzen holder Trotz, Sinnenstarke Knabenträume, In königlichen Willens freien Stolz gefügt Ragen deines Fühlens Bildnisreihen, Empörung gegen die Satzung, die anders gewendet, Du selber verehrtest! * Peter Hille (1854-1904) Aus: Peter Hille: Blätter vom fünfzigjährigen Baum. * Zur URL: Aus der Nyland-Bibliothek:
Internet-Tipp: https://www.nyland.de/image/hille1.jpg
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Enigma
antwortete am 13.09.05 (07:35):
aus: Hans Scheibner: Spott ist allmächtig - Lästerlyrik; Rowohlt, Reinbek, '77
Hans Scheibner: Ein Lied für meine besonderen Freunde
Ihr guten Freunde all, habt Dank! Ich danke Euch mit dem Gesang für Eure harte Kleinarbeit, mit der ihr mein Gehirn befreit. Von wahrer Freundschaft schwärmte ich! Ach, ohne Euch, da wüßt ich nicht: Mein allerbester Freund- bin ich! Ihr Lehrer, die ihr mich gelehrt: Der Mensch an sich ist gar nichts wert. Ob Bösewicht, ob Frohnatur, das richtet sich nach der Zensur. Für Eure Lehr' bedank' ich mich. Denn ohne Euch, da wüßt' ich nicht: Mein bester Lehrer- der bin ich. Ihr Lehrherrn, die ihr mir gezeigt: Wer lernt, ist dumm. Wer dumm ist, schweigt. Und wer was weiß, ist prima dran, solang er es verbergen kann. Für Eure Güte bedank ich mich. Denn ohne Euch, da wüßt ich nicht: Der's gut mit mir meint- das bin ich. Ihr braven Bürger, gute Leut, die ihr zu jedem freundlich seid, der sich, ein Mensch zu sein, geniert und sich genau wie ihr frisiert. Für Eure Liebe bedank ich mich. Denn ohne Euch, da wüßt ich nicht: Wer mich liebt, wie ich bin? Na, ich! Ihr Zeitungsschmierer, die ihr mir vergällt die Freude am Papier und mir erklärt: Wer schreibt, der bleibt, wenn er das Vorgeschriebene schreibt. Für Euer Wort bedank ich mich. Denn ohne Euch, da wüßt ich nicht: Wen frag ich nach der Wahrheit? Mich! Ihr Weihrauchschwenker, fromme Leut, Gott kommt gleich nach der Obrigkeit. Er sitzt im Sittlichkeitsverein, senil und fett und singt Latein. Für Euren Gott bedank ich mich. Denn ohne Euch, da wüßt ich nicht: Am besten glaub ich nur an mich. Ihr Freiheitskämpfer, die ihr befreit die Unfreien in die Unfreiheit. Und Freiheit brüllt und meint, es sei der Mensch, Euch zu gehorchen, frei. Für Eure Freiheit bedank ich mich. Denn ohne Euch, da merkt ich nicht: Der mich befrein muß- das bin ich! Ihr Herren Richter: o, wie schön lehrt ihr mich, Recht recht zu verstehn. Recht haben: eine schlimme Tat für jeden Schuft, der sonst nichts hat. Recht ändert sich. Nicht das Gericht. Habt Dank, ihr Herren, ihr lehret mich: Recht, mich zu richten- hab nur ich! Ja, Freunde habe ich genug, die meinen's gut und sind sehr klug. Sie haben alle einen Rat, wie ich es machen muß, parat. Ach, sie sind so besorgt um mich. Und ohne sie, da wüßt ich nicht: Wenn es drauf ankommt, hab ich- mich.
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Marina
antwortete am 13.09.05 (21:53):
Ist der Scheibner nicht Klasse? Ich habe schon gemerkt, dass du ihn auch besonders zu schätzen weißt, Enigma. ;-)Hier noch etwas zum Abend:
Abendstimmung
Der Forst ruht still. Still ruht der Forst. Der Adler schnarcht in seinem Horst. Die Adlerin seufzt tief und schwer, sie denkt an einen Ade-ler. Die Wildsau sanft im Traume grunzt. Der stolze Hirsch hat ausgebrunzt. Die Eule ihr Gefieder spreizt. Das Käuzchen sitzt im Baum und käuzt. Der alte Förster Eduard ging längst zu Bett, indes sein Bart liegt sorgfältig und höchst apart auf dem Plumeau breit aufgebahrt. Der Mond schaut durch das Fenster zu, und über allen Bettzipfeln herrscht Ruh.
Fred Endrikat
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Marina
antwortete am 13.09.05 (21:55):
Karl, hier hakt etwas, beim Posten und bei der Platzverteilung. Könntest du bitte mal nachsehen und die Störung beseitigen? Danke.
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Karl
antwortete am 13.09.05 (23:04):
Hallo Marina,
der Grund für die lange Verzögerung beim Posten neuer Beiträge ist die lange E-Mailliste, die das Programm abarbeiten muss. Sehr viele Leser des STs sind von euren Gedichten so begeistert, dass sie sich diese als E-Mail zuschicken lassen. Ich habe jetzt auf meine Wunschliste für technische Verbesserungen gesetzt, dass die Mails erst nach dem Erscheinen des neuen Beitrags im Forum für den Schreiber versendet werden. Die Umsetzung braucht aber Zeit.
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Marina
antwortete am 14.09.05 (00:54):
Die Begeisterung der "sehr vielen Leser des STs" ist ja direkt "antörnend". Eine Zeitlang hatte ich keine Lust mehr, aber jetzt sehe ich mich natürlich verpflichtet weiterzumachen, trotz nicht ganz geklärter Copyrightbestimmungen. :-)
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Enigma
antwortete am 14.09.05 (09:34):
aus: Wilhelm Schlösser (Hrsg.): Vorwiegend heiter; Europ. Buchclub, Stuttgart/Zürich/Salzburg Fred Endrikat: Der wahre Menschenfreund
Ein Menschenfreund zu sein, ist nicht so schwer, wenn Blick und Urteil rein und ungetrübt. Ein wahrer Menschenfreund ist aber der, der Menschen kennt - und sie doch trotzdem liebt.
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mmargarete01
antwortete am 14.09.05 (11:07):
Das Raunen hört man im Blätterwald, der Wind pfeift es wird schon kalt.
Das Zwitschern der Vögel ängstlich hallen, sie lassen es durch den Wald erschallen.
Aus der Ferne hört man das Grummeln, Unwetter lässt alle Tiere verstummen.
Sie suchen den Schutz zwischen Zweigen, es ist als wenn der Wald liegt im Schweigen.
Der weise Wind flüstert leise sehr kalt, Herbst zieht durchs Land habt ihr’s erkannt.
©Margret Nottebrock
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mmargarete01
antwortete am 14.09.05 (11:16):
Freundschaftsengel
Ich schick dir einen Engel, der dich zum lachen bringt, das dein Mund fröhlich singt, deine Augen wieder glänzen. Freude in deinem Herzen, die guten Engel kommen nur, ein Mensch mit reinem Herzen, darum bittet, ich bitte darum. Der Engel lächelt mir zu, nun weiß ich, mein Herz ist rein, ich schicke dir das Engelein.
©Margret Nottebrock
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Illona
antwortete am 15.09.05 (09:28):
Chamisso, Adalbert von (1781-1838) Sehnsucht Sterne und Blumen Blicke Atem Töne! Durch die Räume ziehen ein Ton der Liebe. Sehnsucht! Mit verwandten Tönen sich vermählen, glühen, nie verhallen und die Blumen und die Sterne lieben. Gegenliebe! Sehnsucht!
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Marina
antwortete am 15.09.05 (22:03):
Lieber Gott, gib Deinen Segen, gib mir Donner, Blitz und Regen, mach die Erde naß und nasser, und den Swimmingpool voll Wasser!
Und bist du schon mal zugange, zögere nicht allzulange, gib mir auch in Deinem Namen eine Badehose! Amen.
Internet-Tipp: https://www.bruhaha.de/verdrehte_gebete.html
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Enigma
antwortete am 16.09.05 (14:36):
Kurt Tucholsky Die freie Marktwirtschaft
Ihr sollt die verfluchten Tarife abbauen. Ihr sollt auf euern Direktor vertrauen. Ihr sollt die Schlichtungsausschüsse verlassen. Ihr sollt alles Weitere dem Chef überlassen. Kein Betriebsrat quatsche uns mehr herein, wir wollen freie Wirtschaftler sein! Fort, die Gruppen - sei unser Panier! Na, ihr nicht. Aber wir.
Ihr braucht keine Heime für eure Lungen, keine Renten und keine Versicherungen, Ihr solltet euch allesamt was schämen, von dem armen Staat noch Geld zu nehmen! Ihr sollt nicht mehr zusammenstehn - wollt ihr wohl auseinandergehn! Keine Kartelle in unserm Revier! Ihr nicht. Aber wir.
Wir bilden bis in die weiteste Ferne Trusts, Kartelle, Verbände, Konzerne. Wir stehen neben den Hochofenflammen
in Interessengemeinschaften fest zusammen. Wir diktieren die Preise und die Verträge - kein Schutzgesetz sei uns im Wege. Gut organisiert sitzen wir hier... Ihr nicht. Aber wir.
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Marina
antwortete am 18.09.05 (23:38):
Bettina von Arnim Eilt die Sonne nieder zu dem Abend
Eilt die Sonne nieder zu dem Abend, Löscht das kühle Blau in Purpurgluten, Dämmrungsruhe trinken alle Gipfel. Jauchzt die Flut hernieder silberschäumend, Wallt gelassen nach verbrauster Jugend, Wiegt der Sterne Bild im Wogenspiegel. Hängt der Adler, ruhend hoch in Lüften, Unbeweglich wie in tiefem Schlummer; Regt kein Zweig sich, schweigen alle Winde. Lächelnd mühelos in Götterrhythmen, Wie den Nebel Himmelsglanz durchschreitet, Schreitet Helios schwebend über Fluren. Feucht vom Zaubertau der heil'gen Lippen Strömt sein Lied den Geist von allen Geistern Strömt die Kraft von allen Kräften nieder In der Zeiten Schicksalsmelodien, Die harmonisch ineinander spielen Wie in Blumen hell und dunkle Farben. Und verjüngter Weisheit frische Gipfel, Hebt er aus dem Chaos alter Lügen Aufwärts zu dem Geist der Ideale. Wiegt dann sanft die Blumen an dem Ufer, Die sein Lied von süßem Schlummer weckte, Wieder durch ein süßes Lied in Schlummer. Hätt ich nicht gesehen und gestaunet, Hätt ich nicht dem Göttlichen gelauschet, Und ich säh den heil'gen Glanz der Blumen, Säh des frühen Morgens Lebensfülle, Die Natur wie neugeboren atmet, Wüßt ich doch, es ist kein Traum gewesen.
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Enigma
antwortete am 19.09.05 (08:35):
Hugo Ball Totentanz 1916
So sterben wir, so sterben wir Und sterben alle Tage, Weil es so gemütlich sich sterben lässt. Morgens noch in Schlaf und Traum, Mittags schon dahin, Abends schon zu unterst im Grabe drin.
Die Schlacht ist unser Freudenhaus, Von Blut ist unsre Sonne, Tod ist unser Zeichen und Losungswort. Kind und Weib verlassen wir: Was gehen sie uns an! Wenn man sich auf uns nur verlassen kann!
So morden wir, so morden wir Und morden alle Tage Unsere Kameraden im Totentanz. Bruder, reck Dich auf vor mir! Bruder, Deine Brust! Bruder, der Du fallen und sterben musst.
Wir murren nicht, wir knurren nicht, Wir schweigen alle Tage Bis sich vom Gelenke das Hüftbein dreht. Hart ist unsre Lagerstatt, Trocken unser Brot, Blutig und besudelt der liebe Gott.
Wir danken Dir, wir danken Dir, Herr Kaiser für die Gnade, Dass Du uns zum Sterben erkoren hast. Schlafe Du, schlaf sanft und still, Bis Dich auferweckt Unser armer Leib, den der Rasen deckt.
Internet-Tipp: https://www.lyrikwelt.de/autoren/ballhugo.htm
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Marina
antwortete am 20.09.05 (22:23):
Hans Magnus Enzensberger geburtsanzeige
wenn dieses bündel auf die welt geworfen wird die windeln sind noch nicht einmal gesäumt der pfarrer nimmt das trinkgeld eh ers tauft doch seine träume sind längst ausgeträumt es ist verraten und verkauft
wenn es die zange noch am schädel packt verzehrt der arzt bereits das huhn das es bezahlt der händler zieht die tratte und es trieft von tinte und von blut der stempel prahlt es ist verzettelt und verbrieft
wenn es im süßlichen gestank der klinik plärrt beziffern die strategen schon den tag der musterung des mord der scharlatan drückt seinen daumen unter den vertrag es ist versichert und vertan
noch wiegt es wenig häßlich rot und zart wiviel es netto abwirft welcher richtsatz gilt was man es lehrt und was man ihm verbirgt die zukunft ist vergriffen und gedrillt es ist verworfen und verwirkt
wenn es mit krummern hand die luft noch fremd begreift steht fest was es bezahlt für milch und telefon der gastarif wenn es im grauen bett erstickt und für das weib das es dann wäscht der lohn es ist verbucht verhängt verstrickt
wenn nicht das bündel das da jault und greint die grube überhäuft den groll vertreibt was wir ihm zugerichtet kalt zerrauft mit unerhörter schrift die schiere zeit beschreibt ist es verraten und verkauft
Internet-Tipp: https://www.gunnis.de/gedichte/g0050.htm
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Enigma
antwortete am 21.09.05 (09:17):
Aleksandr Blok
Das Seltsame, Neue such' ich auf den Seiten Von Büchern, zerlesen und alt, Verpasste Momente mein Spürsinn begleitet Und Vögel aus uralter Zeit.
Vom rauschenden Leben unbändig besessen, Ein Flüstern, ein Schrei mich berührt, Der reinweiße Traum ist es, der mich gefesselt Ans Ufer der Vorzeit entführt.
Du bist die Weiße, die niemals Getrübte, Im Leben so streng und so zornig, Die heimlich erregende, heimlich geliebte, Die Jungfrau, der Dornbusch, der Morgen.
Die Wangen goldlockiger Mädchen erbleichen, Der Morgen, wie's Träumen, wird fahl. Die Dornen bekränzen die Friedlichen, Weisen, Vom Feuer, dem weißen, umstrahlt.
4. April 1902
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eleisa
antwortete am 22.09.05 (19:39):
Sie lernte Stenographin, er war Engros-Kommis. Im Speisewagen traf ihn Ein Blick. Er liebte sie.
Auf einer Haltestelle Brach man die Reise ab, woselbst er im Hotelle sie als sein Weib ausgab.
Nicht viel, das man sich fragte. Doch küssten sie genug. Und als der Morgen tagte, ging schon der nächste Zug.
Nach einer kurzen Stunde Fand ihre Fahrt den Schluß. Er nahm von ihrem Munde Noch einen heissen Kuss.
Er sah sie schnupftuchwinkend Noch stehn zum letzten Mal, und in sein Auge blinkend sich eine Träne stahl.
Er soll sie heut noch lieben. Sie war so drall und jung. Ihr ist ein Kind geblieben Und die Erinnerung.
Erich Mühsam
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Citro
antwortete am 23.09.05 (09:23):
Zu spät
Die alten Zähne wurden schlecht, und man begann, sie auszureißen, die neuen kamen grade recht, um mit ihnen ins Gras zu beißen. (Heinz Erhardt) # Weiß jemand einen (eher lustigen) Text, den meine Mutter zum 50. Geburtstag meines Bruders vortragen kann???
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Enigma
antwortete am 24.09.05 (21:42):
@citro Auf Anhieb nicht. Aber ich werde gerne darüber nachdenken, wenn es dann nicht zu spät ist...
1900-1920 Konstantinos Kavafis/Ithaka
Brichst du auf gen Ithaka, wünsch dir eine lange Fahrt, voller Abenteuer und Erkenntnisse. Die Lästrygonen und Zyklopen, den zornigen Poseidon fürchte nicht, solcherlei wirst du auf deiner Fahrt nie finden, wenn dein Denken hochgespannt, wenn edle Regung deinen Geist und Körper anrührt. Den Lästrygonen und Zyklopen, dem wütenden Poseidon wirst du nicht begegnen, falls du sie nicht in deiner Seele mit dir trägst, falls deine Seele sie nicht vor dir aufbaut.
Wünsch dir eine lange Fahrt. Der Sommermorgen möchten viele sein, da du, mit welcher Freude und Zufriedenheit! In nie zuvor gesehene Häfen einfährst; Halte ein bei Handelsplätzen der Phönizier Und erwirb die schönen Waren, Perlmutter und Korallen, Bernstein, Ebenholz Und erregende Essenzen aller Art, so reichlich du vermagst, erregende Essenzen, besuche viele Städte in Ägypten, damit du von den Eingeweihten lernst und wieder lernst.
Immer halte Ithaka im Sinn. Dort anzukommen ist dir vorbestimmt. Doch beeile nur nicht deine Reise. Besser ist, sie dauere viele Jahre; Und alt geworden lege auf der Insel an, reich an dem, was du auf deiner Fahrt gewannst, und hoffe nicht, dass Ithaka dir Reichtum gäbe.
Ithaka gab dir die schöne Reise. Du wärest ohne es nicht auf die Fahrt gegangen. Nun hat es dir nicht mehr zu geben.
Auch wenn es sich dir ärmlich zeigt, Ithaka betrog dich nicht. So weise, wie du wurdest, in solchem Maße erfahren, wirst du ohnedies verstanden haben, was die Ithakas bedeuten.
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Marina
antwortete am 25.09.05 (17:21):
Enigma, das Gedicht gefällt mir sehr gut. Sind die Jahreszahlen der Titel des Gedichts? Beschreibt das Gedicht eine Reise innerhalb dieser 20 Jahre?
Hier eins von Erich Fried: Alter
Zuletzt werde ich vielleicht wie als Kind wenn ich allein war wieder freundlich grüßen: „Guten Morgen, Fräulein Blume“ „Guten Abend, Herr Baum“ und mich verbeugen und sie mit der Hand berühren und mich bedanken daß sie mir ihre Zeit gegönnt haben
Nur daß sie mir antworten und auch „Guten Morgen“ und „Guten Abend“ sagen werde ich dann nicht mehr glauben
Oder vielleicht doch wieder? Davor habe ich Angst
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Enigma
antwortete am 26.09.05 (13:33):
Hallo Marina, ....ja, gefiel mir auch, das Gedicht "Ithaka". Aber das von Fried natürlich auch. Die Jahresangaben bei dem Kavafis-Gedicht sollen wohl bedeuten, dass es innerhalb der angegebenen Zeitspanne entstanden ist. Inzwischen ist mir aber auch bekannt, dass es 1911 entstanden ist. (she folgenden Auszug!)
...„Das Gesamtmotto der Aktivitäten "Neue Wege nach Ithaka" wurde dem Gedicht "Ithaka" (1911) von Konstantinos Kavafis entlehnt, das sich wiederum auf die Odyssee bezieht: "Wenn Du deine Reise / nach Ithaka antrittst, / So hoffe, dass / der Weg lang sei, / Reich an Entdeckungen / und Erlebnissen ...". Es stützt sich auf die Idee, dass die Lektüre eines Buches die Möglichkeit zu einer Reise in die Welt des Denkens, der Phantasie und des ätherischen Genusses bietet. „.... https://www.griechische-botschaft.de/kultur/buchmesse2001/20062001.htm
Und weil es uns gefallen hat, gleich noch eines von ihm: :-))
DAMIT SIE KOMMEN
Eine Kerze genügt. Ihr Licht, das matte,
fügt sich besser, schmeichelt mehr,
wenn sie kommen, die Schatten, die Schatten der Liebe.
Eine Kerze genügt. Das Zimmer sei heut' abend
ohne helles Licht. Tief in Träumerei versunken,
voll Empfänglichkeit und bei schwachem Licht -
so in Träumerei versunken gebe ich mich Gaukelbildern hin,
damit sie kommen, die Schatten, die Schatten der Liebe
(Konstantin Kavafis)
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Enigma
antwortete am 26.09.05 (13:47):
@Citro
Ich bin nicht so recht fündig geworden im Hinblick auf das von dir gewünschte Geburtstagsgedicht. Da es etwas lustiger sein soll, evtl. das von Eugen Roth? Obwohl das jetzt auch nicht unbedingt speziell eines zum 50. Geburtstag ist. Es gibt mehrere Seiten im Web, die Geburtstagsgedichte anbieten, teils ohne, teils mit "Bezahlung". Eine URL gebe ich dir mal an. Aber ich bin mir über die Qualität dieser Gedichte absolut nicht im klaren. Das müßtest du selbst mal abklären. Aber nun das von Roth:
Die Torte
Ein Mensch kriegt eine schöne Torte. Drauf stehn in Zuckerguss die Worte: "Zum heutgen Geburtstag Glück!" Der Mensch isst selber nicht ein Stück, Doch muss er in gewaltgen Keilen Das Wunderwerk ringsum verteilen.
Das Glück", das "heu", der "Tag" verschwindet, Und als er nachts die Torte findet, Da ist der Text nur mehr ganz kurz. Er lautet nämlich nur noch: ..."burts" ... Der Mensch, zur Freude jäh entschlossen, Hat diesen Rest vergnügt genossen.
Eugen Roth
Internet-Tipp: https://www.festpark.de
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Marina
antwortete am 29.09.05 (13:52):
Bürger, schont eure Anlagen
Arbeit lässt sich schlecht vermeiden, und sie ist der Mühe Preis. Jeder muss sich mal entscheiden. Arbeit zeugt noch nicht von Fleiß.
Arbeit muss es quasi geben. Denn der Mensch besteht aus Bauch. Arbeit ist das halbe Leben, und die andre Hälfte auch.
Seht euch vor, bevor ihr schuftet! Zieht euch keinen Splitter ein. Wer behauptet, dass Schweiß duftet, ist (ganz objektiv) ein Schwein.
Zählt die Arbeit zu den Strafen! Wer nichts braucht, braucht nichts zu tun. Legt euch mit den Hühnern schlafen. Wenn es geht: pro Mann ein Huhn.
Manche geben keine Ruhe, und sie schuften voller Wut. Doch ihr Tun ist nur Getue, und es kleidet sie nicht gut.
Lasst euch auf den Sofas treiben! Gut geträumt ist halb gelacht. Hände sind zum Händereiben. Sprecht schon morgens: "Gute Nacht."
Lasst die Wecker ruhig rasseln! Zeigt dem Krach das Hinterteil. Lasst die Moralisten quasseln. Bietet euch nicht täglich feil.
Wozu macht ihr Karriere? Ist die Erde denn kein Stern? Tut, als ob stets Sonntag wäre, denn es ist der Tag des Herrn.
Vieles tun heißt vieles leiden. Lebt, so gut es geht von Luft. Arbeit lässt sich schlecht vermeiden, doch wer schuftet, ist ein Schuft!
Erich Kästner 1899 - 1974
Nach diesem Gedicht bin ich kein Schuft. :-)
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hl
antwortete am 29.09.05 (18:03):
Für mlB zum fünften Jahr ;-)
Wie die Geigen des Herbstes mein Herz verwunden mit tiefem Seufzen, mit schwerem Sehnen bleich mit stockendem Atem hör' ich die Stunden schlagen gedenke vergangener Tage und weine
und wandern muß ich weiter im treibenden Wind hierhin und dorthin ein welkes Blatt
Verlaine
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Enigma
antwortete am 30.09.05 (08:45):
Christina G. Rossetti (1830-94) Song
When I am dead, my dearest, Sing no sad songs for me; Plant thou no roses at my head, Nor shady cypress tree: Be the green grass above me With showers and dewdrops wet; And if thou wilt, remember, And if thou wilt, forget. I shall not see the shadows, I shall not feel the rain; I shall not hear the nightingale Sing on, as if in pain: And dreaming through the twilight That doth not rise nor set, Haply I may remember, And haply may forget.
Lied Bin ich einst tot, mein Liebster, sing keine Trauermessen; pflanz mir zu Häupten Rosen nicht noch schattige Zypressen: Laß grünes Gras mich decken, das Tau und Regen näßt; und wenn ihr wollt, gedenket, und wenn ihr wollt, vergeßt. Ich sehe nicht die Schatten, spür nicht des Regens Fall; hör nicht den schwermutsatten Gesang der Nachtigall; und träumend lang im Dämmer, der nimmer steigt noch fällt, wer weiß, ob ich gedenke, ob ich vergeß der Welt. [aus dem Englischen von Hans Hennecke]
Internet-Tipp: https://www.bautz.de/bbkl/r/rossetti_c_g.shtml
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Marina
antwortete am 02.10.05 (22:49):
Heute ist Sonntag
Heute haben sie mich das erste Mal in die Sonne hinausgelassen. Ich bin das erste mal in meinem Leben so sehr verwundert darüber dass der Himmel so sehr weit weg von mir ist so sehr blau ist so sehr großflächig ist ohne mich zu rühren stand ich da.
Danach setze ich mich mit Ehrfurcht auf die Erde, meinen Rücken lehnte ich an die Wand. In diesem Moment dachte ich weder an das Fallen der Wellen, noch an Streit, noch Freiheit, noch an meine Frau.
Die Erde, die Sonne und ich... Ich bin überglücklich...
Nazim Hikmet
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Marina
antwortete am 03.10.05 (11:19):
Jetzt kam meine Bemerkung relativ schnell raus. Hast du schon etwas geändert? Bitte Karl, lösche danach all die Prosa wieder. Sie verdirbt den Gesamteindruck. :-)
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Enigma
antwortete am 03.10.05 (11:27):
..,.wird jetzt gleich nochmal von mir probiert, Marina... :-))
Aus Erich Schairers "Sonntags-Zeitung" 1926 von Tyll alias Josef Eberle alias Sebastian Blau Ode an die Dummheit
Laß mich um Deinen Sockel Kränze winden Aus Immortellen und aus Immergrün! Nie wird die Allmacht Deines Thrones schwinden, Und Deiner Hand das Zepter zu entwinden, Ist heißes, doch vergebliches Bemühn. Wie hehr, wenn Du, von Ochsen und Kamelen Umringt, an denen Du in Liebe hängst, Politikern und teutschen Generälen Und wotanstollen Hakenkreuzlerseelen Die volle Sonne Deiner Gnade schenkst! Heil ihm, den Du mit segensreichen Händen Im Überschwang geruhst zu benedein: Laut Bibel wird er einst im Himmel länden, Auf Erden sind die dicksten Dividenden (Kartoffeln, wie man früher sagte) sein! Noch nie gelang's, sich Deiner zu erwehren, Dein Schild ist gegen Hieb und Stoß gefeit. (Und könnte diese Welt Dich denn entbehren -?) O laß mich drum in Andacht Dich verehren, Denn Dein ist Reich und Macht und Herrlichkeit!
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Enigma
antwortete am 03.10.05 (17:09):
Wahltag
Wie herrlich ist's, ein freies Volk zu sehen, das sich in eignem Namen stolz regiert — von acht bis fünf — indem es schwarz markiert die Auserwählten, die auf Listen stehen!
Ha, solches Tun erfüllt die innern Zonen mit dem Bewußtsein höchsten Menschenwerts; im Herzen, wo die Hochgefühle wohnen, dampft es vor Stolz und brodelt es und gärt's.
Von acht bis fünf regiert das Volk sich selber, als wüßt' es nichts von Pferch und Herdenvieh; und jeder hält die anderen für Kälber, und er allein ist klug und ein Genie.
Bis dann um fünf die Urnen sich entleeren und sich enthüllt als Resultat des Tags: daß alle alten Herren wiederkehren, gefolgt von jungen Männern alten Schlags.
Und strahlend ziehen sie vor unsern Augen und hoch erhaben in das Parlament; sie haben's schriftlich, daß sie etwas taugen und daß man ihre Weisheit anerkennt.
Wir aber atmen auf, beglückt zu wissen, daß andere des Selbstregierens Last von uns zu nehmen eifervollst beflissen; mag nun die Sorgen tragen, wem das paßt — wir wühlen uns befriedigt in die Kissen.
1928, 22 Mufti Bufti (Pseudonym von Max Barth)
Internet-Tipp: https://www.erich-schairer.de/maa/kap059.html
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Marina
antwortete am 03.10.05 (22:22):
Hier zur Geschichte von P.Dehmel auch ein Gedicht. Passt sogar zu den letzten Zeilen des vorherigen. :-)
Anziehliedchen
Wer strampelt im Bettchen? Versteck sich wie'n Dieb? Das ist der Rumpumpel, Den haben wir lieb. Was guckt da für'n Näschen? Ein Bübchen sitzt dran. Das ist der Rumpumpel, Den ziehn wir jetzt an. Erst wird er gewaschen Vom Kopf bis zur Zeh; Er weint nicht, er greint nicht, Denn es tut ja nicht weh. Schnell her mit dem Hemdchen: Da schlüpfen wir fein Erst rechts und dann links In die Ärmelchen 'rein. Fix an noch die Strümpfchen, Fix an auch die Schuh; Kommt's Händchen, schnürt's Bändchen, Schon sind sie zu. Nun Leibchen und Höschen, Ein Röckchen kommt auch; Sonst friert dem Rumpumpel Sein kleiner runder Bauch. Das Kämmchen kämmt sachte, Aber still muß man stehn; Zuletzt noch das Kleidchen, Der Tausend, wie schön! Nun geht er und sagt: Guten Morgen
Paula Dehmel (1862-1918)
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Enigma
antwortete am 04.10.05 (11:56):
...niedlich, das Anziehliedchen. :-)
Den Naturdichtern
Titan und Zwerg, das Große, wie das Kleine, Ist Poesie, und Poesie im Halme, Wie in des Orientes stolzer Palme, Und Poesie noch in der Weisen Steine;
Und Poesie die Mück' im Sonnenscheine, Und Poesie in eines Dampfschiffs Qualme, Und Poesie auf einer Schweizeralme, Und Poesie vor allem auch im Weine.
Wo euch des Himmels heil'ge Luft umweht, Da rauscht die Poesie mit ihren Schwingen; Sie fehlet nie, oft fehlt nur der Poet.
Wie Gott, ist sie zuletzt in allen Dingen: Doch wenn einmal ein Löwe vor euch steht, Sollt ihr nicht das Insekt auf ihm besingen.
Georg Herwegh (1817-1875)
aus: Lieder eines Lebendigen (1841)
Internet-Tipp: https://www.schule.de/schulen/GHO/fachbereiche/deutsch/herwegh.htm
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Marina
antwortete am 04.10.05 (22:11):
Töff töff -Hurra!
Puff puff puff und töff töff töff - Kindsgeschrei und Hundsgekläff! Durch die Linden rase, rase! Patriotisch, mit Emphase! Hurra, hurra! Ganz Berlin stinkt nach Gummi und Benzin.
Holla, holla, Polizei! Halte Platz und Straßen frei, daß das Auto nicht mehr weichen oder stolpern über Leichen braucht, denn das gab erst Geschrei und 'ne Straßenschweinerei.
Maul gehalten, Bürgersmann! Was gehn dich die Autos an? Schleunigst ran zu Huldigungen, »Deutschland, Deutschland« mitgesungen! Andernfalls fliegst du ins Loch. Hurra, hurra - dreimal hoch!
Tutend, pustend kommt's gesaust, Jubel und Begeist'rung braust. Mütter krähen, Väter niesen: Deutschlands Treue ist erwiesen. Kindsgeplärr und Hundsgekläff - Deutschland - hoch! hurra! töff töff!
Erich Mühsam (aus: Der Wahre Jacob, 1903)
Passt es nicht gut zum 3. Oktober? :-)
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Enigma
antwortete am 08.10.05 (07:41):
aus: Wilhelm Schlösser (Hrsg.): Vorwiegend heiter Dr. Owlglass: Prophylaxe
"Säß' ich auf hohen Fürstenthronen -" ... Dein Wunsch blieb leider ungestillt. "Was tät' ich, hätt' ich Millionen!" ... Da fehlt's ja wohl... die Zähre quillt. "Wenn ich zum Beispiel Goethe wäre -" ... Nun bist du halt bloß schwachbekopft. "Ich überwände Raum und Schwere, gesetzt den Fall -" ... Die Träne tropft. ... O Freund, du sparst dir viele Qualen von Oberprima bis zum Grab, gewöhnst du dir die irrealen Bedingungssätze zeitig ab.
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Marina
antwortete am 11.10.05 (18:45):
Kurt Tucholsky Danach
Es wird nach einem happy end im Film jewöhnlich abjeblendt. Man sieht bloß noch in ihre Lippen den Helden seinen Schnurrbart stippen -- da hat sie nu den Schentelmen. Na, un denn --?
Denn jehn die Beeden brav ins Bett. Na ja ... diss is ja auch janz nett. A manchmal möcht man doch jern wissn: Wat tun se, wenn se sich nich kissn? Die könn ja doch nich immer penn ...! Na, un denn --?
Denn säuselt im Kamin der Wind. Denn kricht det junge Paar 'n Kind. Denn kocht sie Milch. Die Milch looft üba. Denn macht er Krach. Denn weent sie drüba. Denn wolln sich Beede jänzlich trenn ... Na, un denn --?
Denn is det Kind nich uffn Damm. Denn bleihm die Beeden doch zesamm. Denn quäln se sich noch manche Jahre. Er will noch wat mit blonde Haare: vorn dof und hinten minorenn ... Na, un denn --?
Denn sind se alt. Der Sohn haut ab. Der Olle macht nu ooch bald schlapp. Vajessen Kuß und Schnurrbartzeit -- Ach, Menschenskind, wie liecht det weit! Wie der noch scharf uff Muttern war, det is schon beinah nich mehr wahr!
Der olle Mann denkt so zurück: Wat hat er nu von seinen Jlück? Die Ehe war zum jrößten Teile vabrühte Milch un Langeweile. Und darum wird beim happy end im Film jewöhnlich abjeblendt.
:-( Resignation pur :-)
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Enigma
antwortete am 12.10.05 (07:32):
Theodor Kramer Wer läutet draußen an der Tür?
Wer läutet draußen an der Tür, kaum daß es sich erhellt? Ich geh schon, Schatz. Der Bub hat nur die Semmeln hingestellt.
Wer läutet draußen an der Tür? Bleib nur; ich geh, mein Kind. Es war ein Mann, der fragte an beim Nachbar, wer wir sind.
Wer läutet draußen an der Tür? Laß ruhig die Wanne voll. Die Post war da; der Brief ist nicht dabei, der kommen soll.
Wer läutet draußen an der Tür? Leg du die Betten aus. Der Hausbesorger war's; wir solln am Ersten aus dem Haus.
Wer läutet draußen an der Tür? Die Fuchsien blühn so nah. Pack, Liebste, mir mein Waschzeug ein und wein nicht: sie sind da.
https://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=7260&ausgabe=200407
Internet-Tipp: https://www.literaturhaus.at/buch/buch/rez/kramer1/bio.html
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Marina
antwortete am 12.10.05 (22:13):
Nachtlektuere
Von hinten links, das Buch beleuchtend, gemütlich warmer Lampenschein... Du drehst... die Finger sacht befeuchtend die Seiten um und hüllst dich ein -
ja, mummst dich ein in weiche Decken, die Schlummerrolle im Genick, um wohlig dich im Bett zu strecken gelöst, doch mit gebanntem Blick.
Ringsum schier klösterlicher Frieden und draussen Schnee, der fällt und fällt... So liegst du, still und abgeschieden, und liest, was dich in Spannung hält.
Behext, gefesselt und gefangen vom heissen Kriminalroman, drängt dich ein brennendes Verlangen nach dem Bescheid:" Wer hat's getan?"
Noch eh du zwar den mysteriösen und heiklen Fall bewältigt hast, fängst du schon langsam an zu dösen, und gähnst -u-aaaah! - und schläfst schon fast.!
Auf Seite hundert-sechs-und-dreissig (das Opfer stöhnt:" Bald ruhst auch du!") machst du, es schneit noch immer fleissig - das Buch und dann die Augen zu
Fridolin Tschudi (1912-1966)
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Enigma
antwortete am 13.10.05 (07:32):
Friedrich Stoltze Ihr könnt in meinen alten Tagen
Ihr könnt in meinen alten Tagen Mich schleppen vor ein Strafgericht, Mich sammt der Gicht in's Zuchthaus tragen, Doch bessern, bessern wird's mich nicht!
Das Uebel ist mir anerzogen, Und, ach, so etwas haftet schwer; Es stammt noch von den Demagogen, Noch aus dem alten "Rebstock" her.
Dort auf dem Arm - als kleines Bübchen - Nahm mich die Göttin Freiheit schon, Trug singend mich herum im Stübchen, Und ich behielt des Liedes Ton.
Von Freiheit muß ich immer singen, So lang' mein Herz noch fühlt und lebt; Nach Freiheit, Freiheit muß ich ringen, So lange, bis man mich begräbt.
Begräbt man mich im schwarzen Röckchen, Das Meister Hobel hat gefügt, Ich bitt' um ein paar Blumenglöckchen, Sonst weiter gar nichts. Das genügt.
Im Leben hatte ich der Schmerzen, Der Pein, der Sorge so vollauf; Der Tod nimmt mir den Stein vom Herzen, O, wälzt mir keinen neuen drauf!
Und wann die Siegeshörner blasen, Und glüht der Völker Morgenroth, Heb' ich hinweg den leichten Rasen Und rufe "Freiheit" noch im Tod.
Internet-Tipp: https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Stoltze
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Marina
antwortete am 14.10.05 (18:52):
Dazu passt Heinrich Heine:
Anno 1829
Daß ich bequem verbluten kann, Gebt mir ein edles, weites Feld! Oh, laßt mich nicht ersticken hier In dieser engen Krämerwelt!
Sie essen gut, sie trinken gut, Erfreun sich ihres Maulwurfglücks, Und ihre Großmut ist so groß Als wie das Loch der Armenbüchs.
Zigarren tragen sie im Maul Und in der Hosentasch die Händ; Auch die Verdauungskraft ist gut - Wer sie nur selbst verdauen könnt!
Sie handeln mit den Spezerein Der ganzen Welt, doch in der Luft, Trotz allen Würzen, riecht man stet Den faulen Schellfischseelenduft.
Oh, daß ich große Laster säh, Verbrechen, blutig, kolossal - Nur diese satte Tugend nicht, Und zahlungsfähige Moral!
Ihr Wolken droben, nehmt mich mit, Gleichviel nach welchem fernen Ort! Nach Lappland oder Afrika, Und sei's nach Pommern'- fort ! nur fort!
Oh, nehmt mich mit - Sie hören nicht - Die Wolken droben sind so klug! Vorüberreisend dieser Stadt, Ängstlich beschleun'gen sie den Flug.
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eleisa
antwortete am 14.10.05 (22:27):
Der Gast Berthold Brecht.
Sie fragt ihn viel,wiewohl es draußen nachtet An sieben Jahre gibt er eilends aus Und hört: im Hofe wird ein Huhn geschlachtet Und weiß:es ist kein zweites mehr im Haus.
Er wird vom Fleische wenig essen morgen. Sie sagt: Greif zu, er sagt: ich bin noch satt. Wo warst du gestern, vor du kamst?-Geborgen! Und woher kommst Du?-Aus der nächsten Stadt!
Nun steht er eilends auf,die zeit entflieht! Er sagt ihr lächelnd: Lebe wohl!- Und du? Zögernd entfällt ihr seine Hand: sie sieht Ihr unbekannten Staub auf seinem Schuh.
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Enigma
antwortete am 15.10.05 (07:46):
Ich brauche jemanden nur zu sehen- Und schon weiß ich über ihn Bescheid. Ich brauche mit jemanden nur ein paar Worte zu wechseln- Und schon weiß ich, mit wem ich es zu tun habe. Ich brauche über jemanden nur dieses oder jenes zu hören- Und schon weiß ich, was für ein Mensch er ist. Mein Gott, es ist erschreckend, wie schnell ich jemanden zu kennen glaube- und wie lange es dauert, bis ich mein voreiliges Urteil ändere. Petrus Ceelen
Internet-Tipp: https://www.autoren-bw.de/inc/su_aut.php?id=135
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Marina
antwortete am 18.10.05 (22:18):
Im Atemhaus
Unsichtbare Brücken spannen von dir zu Menschen und Dingen von der Luft zu deinem Atem
Mit Blumen sprechen die du liebst
Im Atemhaus wohnen eine Menschblumenzeit
Rose Ausländer
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Enigma
antwortete am 19.10.05 (08:28):
Alfred Wolfenstein Städter Dicht wie die Löcher eines Siebes stehn Fenster beieinander, drängend fassen Häuser sich so dicht an, daß die Straßen Grau geschwollen wie Gewürgte stehn. Ineinander dicht hineingehakt Sitzen in den Trams die zwei Fassaden Leute, ihre nahen Blicke baden Ineinander, ohne Scheu befragt. Unsre Wände sind so dünn wie Haut, Daß ein jeder teilnimmt, wenn ich weine. Unser Flüstern, Denken ... wird Gegröle ... - Und wie still in dick verschlossner Höhle Ganz unangerührt und ungeschaut Steht ein jeder fern und fühlt: alleine
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Enigma
antwortete am 04.11.05 (08:17):
Fedor Tjutcev (1803-1873)
Letzte Liebe
Wie an der Neige unsrer Zeit Wir zarter, abergläubischer lieben! Als Abglanz der Vergänglichkeit Ist, letzte Liebe, dein Strahl geblieben.
Den halben Himmel deckt die Nacht, Und nur im Westen schweifen Lichter. Verweile, verweile, du Abendpracht, Verstrick mich, Zauber, dicht und dichter.
Mag spärlicher das Blut sich regen, Doch voller Zartheit ist das Herz. O letzte Liebe, Fluch und Segen Und Glück und hoffnungsloser Schmerz. 1854
Übersetzt von Dietrich Gerhardt Literatur: Russische Lyrik. Gedichte aus drei Jahrhunderten. Ausgewählt und eingeleitet von Efim Etkind; Serie Piper 1987
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mmargarete01
antwortete am 04.11.05 (16:29):
Das Wunder Liebe
Das Größte aller Wunder ist die Liebe. Du kannst sie nie sehen aber fühlen. Viele Arten der Liebe trägst du in dir, doch wer die Liebe im Herzen hat, hat auf Erden in sich den größten Schatz. Auch für Trauer und Leid ist da Platz, ohne Liebe würdest du die Trauer nicht fühlen, so sind verwundbar mit Liebe deine Gefühle. Lass die Liebe immer in dein Herz, auch wenn nicht gefeilt vor weltlichen Schmerz, trägst du dieses größte Gut, Liebe in dir. Öffne dein Herz, jetzt und hier. Verschlossen ist es in dir kalt wie Eis, du verpasst die innere Seligkeit.
©Margret Nottebrock
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kropka
antwortete am 06.11.05 (18:17):
Nachträglicher Abschied
Auf einmal und ganz unvermittelt bleibt man stehn. Und horcht.
Da war etwas. Etwas ist vergangen.
(Wir sehen uns bald, wir werden reden, wir werden auch zusammen essen gehn.)
Es wäre Zeit gewesen, zu hören und zu sehn.
Ich wusste, ungenau, und hatte viel zu tun.
Elisabeth Borchers
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angelottchen
antwortete am 06.11.05 (20:41):
Ein Wiegenlied von Atahualpa Yupanqui, (1908-1992): Er gilt als größter Interpret der Folklore Argentiniens. Als (linkshändiger) Gitarrist, Sänger, Komponist und Dichter hat er ein Werk hinterlassen, das einem die musikalische Seele Südamerikas näher bringt. Yupanqui verstand es gleichermaßen über schlichte ländliche wie über philosophische universelle Themen zu singen, wobei er sich stets der einfachen Sprache der Volksdichtung und des populären Liedes bediente. "Ich wurde Anfang des Jahrhunderts in einem Dorf in der argentinischen Pampa geboren. Meine Mutter war Baskin und von ihr habe ich die Liebe zur Freiheit. Mein Vater war Indianer und Landarbeiter: Er hat mir den Sinn für die Stille der Wälder und der Steine gegeben. Ich nehme die Not des Volkes in mir auf, die Verlassenheit des Menschen, seinen Schmerz, den ich empfinde, wie einen eigenen Schmerz. Ich glaube der Mensch und sein Lied müssen sich Aufrichtigkeit und Freiheit bewahren." Soweit Atahualpa Yupanqui, der etwa 1500 Volkslieder seiner Heimat gesammelt hat. Das ist der fruchtbare Humus, auf dem seine Lieder entstanden. Atahualpa Yupanqui, der erst ins Ausland, nach Paris gehen musste, um - auch in seiner Heimat - Erfolg zu haben: Er wurde "entdeckt", als er 1950 an der Seite von Edith Piaf im Pariser "Théâtre de l'Athénée" auftrat.
Duerme, negrito Text und Musik: Atahualpa Yupanqui Duerme, duerme negrito, que tu mamá está en el campo, negrito. Sie schafft heran zarte Wachteln nur für dich, sie schafft heran süße Früchte nur für dich, sie schafft heran knusprige Rippchen nur für dich, sie schafft heran alles, alles nur für dich. Wenn mein Bübchen jetzt nicht einschläft, kommt der weiße Teufel, frißt er die kleinen Beinchen chacapumba, chacapumba, apumba chacapumba. Schlafe ein, schwarzes Bübchen, Mama ist schon auf dem Felde, mein Bübchen. Sie schafft heran zarte Wachteln nur für dich, sie schafft heran süße Früchte nur für dich, sie schafft heran knusprige Rippchen nur für dich, sie schafft heran alles, alles nur für dich. Sie muß schuften, muß dort schuften ohne Ende, muß dort schuften, sí muß dort schuften ohne Lohn, muß dort schuften, sí, muß dort schuften, wenn sie krank ist, muß dort schuften, sí, muß dort schuften und ist traurig, muß dort schuften, sí, für das kleine, schwarze Kindchen, muß sie schuften, sí, ohne Ende, sí, und die Krankheit, sí, und die Trauer, sí, ohne Ende, sí. Duerme negrito Duerme, duerme, negrito, que tu mamá está en el campo, negrito. Te va a traer codornices para ti, te va a traer rica fruta para ti, te va a traer carne de cerdo para ti, te va a traer muchas cosas para ti. Y si el negro no se duerme, viene el diablo blanco y ¡zas! le come la patita, chacapumba, chacapumba, acapumba... Trabajando, trabajando duramente. Trabajando, sí Trabajando y no le pagan. Trabajando, sí Trabajando y va tosiendo. Trabajando, sí Trabajando y va de luto. Trabajando, sí Pa’ el chiquitito. Trabajando, sí Duramente, sí. Va tosiendo, sí. Va de luto, sí. Duramente, sí. Duerme, duerme, negrito, que tu mamá está en el campo, negrito.
Internet-Tipp: https://www.plaene-records.de/yupan.htm
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Enigma
antwortete am 06.11.05 (21:35):
zu einer Reise in Tönen ..... Auf bald, Blume. Bis später, Lachen. Gute Nacht, Anmut. Wind, guten Tag. Wenn du mir die Blume gibst, geb ich dir das Lachen. Bis später, Anmut. Auf bald. Wind. Wenn du mir die Anmut gibst, geb ich dir den Wind. Gute Nacht, Blume, Rose, guten Tag. Auf bald, Anmut. Bis später, Wind. (rafael alberti)
Internet-Tipp: https://de.wikipedia.org/wiki/Rafael_Alberti
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Enigma
antwortete am 09.11.05 (08:09):
Klabund
Ich baumle mit de Beene
Meine Mutter liegt im Bette, Denn sie kriegt das dritte Kind; Meine Schwester geht zur Mette, Weil wir so katholisch sind. Manchmal troppt mir eine Träne Und im Herzen pupperts schwer; Und ich baumle mit de Beene, Mit de Beene vor mich her.
Neulich kommt ein Herr gegangen Mit 'nem violetten Schal, Und er hat sich eingehangen, Und es ging nach Jeschkenthal! Sonntag war's. Er grinste: "Kleene, Wa, dein Port'menée is leer?" Und ich baumle mit de Beene, Mit de Beene vor mich her.
Vater sitzt zum 'zigsten Male, Wegen "Hm" in Plötzensee, Und sein Schatz, der schimpft sich Male, Und der Mutter tut's so weh! Ja, so gut wie der hat's keener, Fressen kriegt er, und noch mehr, Und er baumelt mit de Beene, Mit de Beene vor sich her.
Manchmal in den Vollmondnächten Is mir gar so wunderlich: Ob sie meinen Emil brächten, Weil er auf dem Striche strich! Früh um dreie krähten Hähne, Und ein Galgen ragt, und er... Und er baumelt mit de Beene, Mit de Beene vor sich her.
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Enigma
antwortete am 11.11.05 (08:28):
Für Marylin M. Dein Körper, wie im Rausch, verbrennt zu weißer Asche, auf die Vanille-Tränen fallen, dein Körper, der einmal für Männer wie eine Kerze brannte in schwarzen Nächten, und deine Nacht ist jetzt zu schwarz für jedes Licht; wir werden dich vergessen, ein wenig, das ist nicht nett von uns, aber lebendige Körper sind uns näher, und während die Würmer nach deinen Knochen hecheln, würde ich dir so gerne sagen daß so etwas auch Bären und Elefanten passiert, Tyrannen und Helden und Ameisen und Fröschen; trotzdem, du hast uns etwas gegeben, so was wie einen kleinen Sieg, und darum sage ich: gut, und keine traurigen Gedanken mehr; eine Blume, verdorrt und weggeworfen, wir vergessen, wir erinnern uns wir warten. Kind, Kind, Kind, mit einem Lächeln hebe ich mein Glas eine ganze Gedenkminute lang. Charles Bukowski
Internet-Tipp: https://www.litlinks.it/bx/bukowski.htm
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Literaturfreund
antwortete am 11.11.05 (09:32):
Auf enigmas Klabund-Beitrag hin ein Stück Hunde-Theologie:
Robert Gernhardt: MEINEM HUNDE GESAGT -
Wenn du ein Tier bist, gibt es einen Gott. So fremd wie der mir war, bist du mir lange. Ich nenn mich Mensch und nenn dich Hund, doch du rufst mich nicht Mensch, du schweigst nur gottergeben.
Da du der Hund bist, bin ich wohl der Mensch. Daß ich kein Gott bin, wird mir schmerzlich klar, wenn du mich just so lange anhimmelst, wie jenes Steak währt, das ich grad verspeise.
Mir bist du fremd, Hund, ich schein dir vertraut. Machst auf dem Bett dich breit, in meinem Haus ist bald kein Plätzchen nicht von dir besetzt: So haust ein Gott in seinem Gotteshaus.
Du kennst dich aus, Hund. Treib es nicht zu bunt. Ich kann auch anders! Schau, ich gehe fort! Dreh ich den Schlüssel in der Tür, bin ich ein freier Mensch, befreit vom Haus und Tier.
Doch nicht von Gott. Sein donnernd »Kehre um! Mein Hund ist dir nur anvertraut!« hat mich noch jedesmal zu dir zurückgeführt, nie ohne Opfer und nie ohne Gabe.
Oh euer beider abgekartet Spiel! Obwohl ichs längst durchschaut, spiel ich es mit. Samt Contra, Hund und Gott: zieh ich es durch, wohl wissend, daß ich in den Miesen lande.
Das ist ein Spiel, bei dem Mansch nur verliert. Da Hund wie Gott ihm ständig Schuld zuweist, sind seine Schulden bald nicht mehr zu zählen — ein Wunder, daß er nicht den "Bettel hinwirft.
Statt dessen misch ich, geb ich aus und weiß doch, was unterm Tisch sich abspielt. Mag er noch so treu aus der Wasche schaun, der Hund, und Gott noch so gekonnt die Vaternummer abziehn.
Sobalds ans Ausspieln geht, ist sonnenklar, wer hier die Igel sind und wer als Hase klamm vor die Hunde geht: »Ober, noch mal das gleiche. Auf des Menschen Deckel! Klar doch!“ * (In: R. Gernhardt: Im Glück und anderswo. Gedichte. 2004. S.150f.
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Enigma
antwortete am 12.11.05 (08:21):
Auf Bergengruen bin ich wieder aufmerksam geworden bei meiner diesjährigen Reise ins Baltikum.Und habe festgestellt, dass er mir immer noch gut gefällt.
Zum Einschlafen
Es rieseln die Sekunden, An weißen Sand gebunden, Sie schläfern also hold. Du atmest kreatürlich, Du bist so unwillkürlich, So kätzlich hingerollt. Der Regen raunt vom Schlafen, Von schwarz und weißen Schafen, Der Sand ist durchsiebt. Du brauchst nicht mehr zu sprechen. Lass Glied um Glied sich schwächen. Schlaf! Du erwachst geliebt. Werner Bergengruen
Internet-Tipp: https://www.dhm.de/lemo/html/biografien/BergengruenWerner/
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Enigma
antwortete am 18.11.05 (07:28):
Ossip Mandelstam Die Amerikanerin
Amerikanerin von beinah zwanzig Jahren Muss auch Ägypten mal erfahren, Vergisst, was die »Titanic« rät, Die tief am Meeresgrunde schläft Viel finsterer als alle Krypten.
Amerika, du singst und hupst, Der Wolkenkratzer rote Röhren Vergehen im verrußten Kuss, Um kalte Wolken zu betören.
Im Louvre steht die Meerestochter Viel schöner noch, als Pappeln stehn, Und weil sie Zuckermarmor möchte, Springt sie als Haselmaus im Lauf Noch zur Akropolis hinauf.
Obwohl sie nicht ein Wort versteht, Liest sie den »Faust« im Bahnabteil, Und sie bedauert, dass so spät Kein Ludwig mehr auf Thronen weilt.
1913
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Literaturfreund
antwortete am 18.11.05 (08:21):
Antonio Fian: Deutsche Dichter in Französisch
1. Jünger. Heine, Heidegger. Lessing! (Grass)
2. Y une guerre. Haine, ail de guerre. Les seins! (Grǎce)
3. Dort: Ein Krieg. Hass, des Krieges Knoblauch. Die Brüste! (Gnade)
* Aus: Antonio Fian: Fertige Gedichte. Literaturverlag Droschl. Granz 2005. 8 €. - abgeduckt in der ZEIT vom 17.11.2005. S. 47 - * Autoren-Vita:
Internet-Tipp: https://www.lyrikwelt.de/autoren/fian.htm
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Literaturfreund
antwortete am 19.11.05 (23:17):
Ich hatte zum Thema "Dichterbriefe" das Meisen-Gedicht von Hebbel erwähnt und vergessen, noch zwei andere motivgleiche hier einzustellen:
Friedrich Hebbel
MEISENGLÜCK
Aus dem goldnen Morgenqualm Sich herniederschwingend, Hüpft die Meise auf den Halm, Aber noch nicht singend.
Doch der Halm ist viel zu schwach, Um nicht bald zu knicken, Und nur, wenn sie flattert, mag Sie sich hier erquicken.
Ihre Flügel braucht sie nun Flink und unverdrossen, Und indes die Füßchen ruhn, Wird ein Korn genossen.
Einen kühlen Tropfen Tau Schlürft sie noch daneben, Um mit Jubel dann ins Blau Wieder aufzuschweben.
*** Manfred Hausmann: MEISEN
Am Spalier, wo die Glyzinien hängen, Jagen sich zwei blaue Meisen, Steigen, fallen, drehen sich mit leisen Hastigen Gesängen.
Tupft ein Flügel eben an die Dolden, Die im Tau des Morgens schwimmen, Schauern gleich die Tropfen ab und glimmen Lichtdurchirrt und golden.
Und die Meisen flattern in den Güssen, Jetzt sich hassend, jetzt sich segnend, Jetzt mit schrillen Rufen sich begegnend, Jetzt mit kleinen Küssen.
Plötzlich lösen sie sieh aus den Ranken, Gleiten selig in den feuchten Sonnenmorgen und vergehn im Leuchten Flüchtig wie Gedanken.
***
Werner Bergengruen DIE MEISE
Könnte ich dir sagen, kleine Meise, wie ich dir so wohl gesonnen bin! Lockend vor denn Fenster liegt die Speise, doch du Ängstliche wagst dich nicht hin.
Und wie oft du hurtig angeflogen, zitternd zwischen Bängnis und Begehr, jedesmal hat's dich zurückgebogen und gezwungen doch zur Wiederkehr.
Immer wohl im winzigen Flügelleibe wird das Herz dir vor Erschrecken kalt, siehst du durch die unbegriffne Scheibe düster meine riesige Gestalt.
Jetzt! Im Fluge griffest du die Beute, birgst sie flink im Zweigicht und Genist. Wüßtest du, daß ich die Nahrung streute, ohne Feindschaft,, ohne Hinterlist,
daß du Gerngeschenktes fortgetragen, fürchtig wie gestohlenen Gewinn - kleine Meise, könnte ich dir sagen, wie ich dir so wohl gesonnen bin!
Ach, es bangte dir vor keinem Zorne, kämest wie der fromme Hund zum Herrn, selig schmaustest du von fettem Korne und der Sonnenblume süßem Kern.
Ihr in Wipfeln und in grauen Nestern, ruhelos zwischen Flucht und Schmaus: Kleine Meisen, meine scheuen Schwestern, wie getreu sprecht ihr mich selber aus!
Allenthalben ist mein Tisch gerichtet, weißes Brot und schwarzer Wein im Krug. Süß und bitter ward mir zugeschichtet, und der große Wirt ist ohne Trug.
Ach, es bangte mir vor keinem Grimme, und mich drückte keine Kümmernis; ach, verstünde ich nur seiner Stimme stille Ladung: Nimm getrost und iß. + URL. von einer Meise:
Internet-Tipp: https://www.naturtagebuch.de/bilder/manfred/MEISE.GIF
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Enigma
antwortete am 20.11.05 (08:05):
Werner Bergengruen: Die letzte Epiphanie 1944:
Ich hatte dies Land in mein Herz genommen, ich habe ihm Boten um Boten gesandt. In vielen Gestalten bin ich gekommen. Ihr aber habt mich in keiner erkannt. Ich klopfte bei Nacht, ein bleicher Hebräer, ein Flüchtling, gejagt, mit zerrissenen Schuh‘n. Ihr riefet dem Schergen, ihr winktet dem Späher und meintet noch, Gott einen Dienst zu tun. Ich kam als zitternde, geistesgeschwächte Greisin mit stummen Angstgeschrei. Ihr aber spracht vom Zukunftsgeschlechte und nur meine Asche gabt ihr frei. Verwaister Knabe auf östlichen Flächen, ich fiel euch zu Füßen und flehte um Brot. Ihr aber scheutet ein künftiges Rächen, ihr zucktet die Achseln und gabt mir den Tod. Ich kam, ein Gefangener, als Tagelöhner, verschleppt und verkauft, von der Peitsche zerfetzt. Ihr wandtet den Blick von dem struppigen Fröner. Nun komm ich als Richter. Erkennt ihr mich jetzt?
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kropka
antwortete am 23.11.05 (23:59):
Wenn um Mitternacht die letzten Gäste kommen und gehen Wenn die Gedichte den Besitzer wechseln Wenn der Regen illuminiert Wenn die Uhr Mitternacht verläßt und wir, allein gelassen, nicht wissen wohin.
Kein Wolf kein Reh still ruht der Schnee Kein Du kein Ich du hörst mich nicht Der Himmel aber bittet um eine Geschichte auf Erden Uns soll sie werden.
Komm im Flutlicht der Sterne damit wir uns nicht verfehlen und mach uns satt mit Bildern die warten Der Mond steht nicht im Wege und ein Engel treibt zur Eile.
Elisabeth Borchers
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Enigma
antwortete am 24.11.05 (08:45):
Meine Mutter buk mir die ganze Welt
Meine Mutter buk mir die ganze Welt in süßen Kuchen. Meine Geliebte füllte mein Fenster mit Sternrosinen. Und die Sehnsucht ist in mir eingeschlossen wie Luftblasen in einem Brotlaib. Außen bin ich glatt und still und braun. Die Welt liebt mich. Doch mein Haar ist traurig wie das Schilf in einem ausgetrockneten Sumpf - alle seltenen, schön gefiederten Vögel fliehen vor mir.
Jehuda Amichai Aus: Zeit. Gedichte
"Jehuda Amichai, 1924 in Würzburg geboren, gehört zu den großen Dichtern Israels: Als poetische wie moralische Autorität geachtet, geliebt und verehrt, errang seine Lyrik Weltruhm. Sie wird heute in mehr als dreißig Sprachen übersetzt. 1935 emigrierte Jehuda Amichai mit seiner Familie nach Palästina."
Internet-Tipp: https://www.hugendubel.de/Detail.aspx?gid=21246
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cori
antwortete am 25.11.05 (19:47):
Ich suche von Elli MIchler das Gedicht:"Ich wünsche dir einen Schutzengel" oder so ähnlich. Kann mir jemand helfen?
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marie2
antwortete am 25.11.05 (20:00):
Hilft Dir das, cori?
Ich wünsche dir als Begleiter Die Sonne, die Wolken, den Wind, die Hoffnung als Wegbereiter, den Stern, wenn die Nacht beginnt.
Ein treuer Gefährte, wie er auch heißt, als dankbar empfundenes Glück stelle sich freundlich neben dir ein! Wenn du nur weißt: du brauchst niemals alleine zu sein, legst du den Lebensweg leichter zurück.
Und will es dir scheinen, du habest ja keinen, der dein Tun und dein Streben versteht, dann gibt es in Wirklichkeit lange schon einen Schutzengel, der dir zur Seite steht.
Elli Michler
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cori
antwortete am 25.11.05 (20:10):
Lieben Dank dafür, aber es muss noch ein anderes geben. Gruß Cori
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whiskas
antwortete am 25.11.05 (20:45):
Der Schutzengel in der Tür?
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Enigma
antwortete am 26.11.05 (09:12):
Steckbrief
Sie gab mir Bridge- und Englischstunden, sprach über Freud und las Sanskrit; doch eines Tags war sie verschwunden und nahm sechs Silberlöffel mit.
Wir hatten uns so gut verstanden! Mir kam, als sie von dannen fuhr, die ganze Heiterkeit abhanden samt meiner goldnen Armbanduhr.
Sie wirkte überaus japanisch und steckte Blumen in ihr Haar sie war, obgleich leicht kleptomanisch, in mancher Hinsicht wunderbar.
Azur war ihre Lieblingsfarbe und Saftgulasch ihr Leibgericht. Sie hatte eine Blinddarmnarbe seit wann und wo, das weiss ich nicht.
Ich weiss nur, dass sie beim Erwachen wie eine Lady sich benahm, auch wenn von meinen Siebensachen mir dies und das abhanden kam.
Mein Portfeuille kann ich leicht verschmerzen, selbst den Smaragd- und Siegelring; sie aber lag mir sehr am Herzen besonders dann, bevor sie ging.
Mein Steckbrief ist recht unvollständig; ich weiss bloss, dass sie mich verliess und sündenschön war und lebendig und Herta oder Hilde hiess.
Fridolin Tschudi
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cori
antwortete am 26.11.05 (09:27):
@ whiskas,
ich weiß es nicht genau. Gruß Cori
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Enigma
antwortete am 27.11.05 (07:51):
Lass dich hier nicht blicken
Yeah, klar werd ich zu Hause sein, es sei denn, ich bin woanders; klopf nicht an, wenn kein Licht brennt oder wenn du Stimmen hörst; es kann auch sein dass ich gerade Proust lese, falls mir jemand Proust unter der Tür durchschiebt oder einen Knochen von ihm, für meinen Eintopf: und ich kann dir weder Geld leihen noch meinen Wagen, oder was davon noch übrig ist, und telefonieren kannst du hier auch nicht; die Zeitung von gestern, die kannst du haben, ein altes Hemd oder einen Bologna-Sandwich oder auf der Couch schlafen falls du nachts nicht schreist, und reden kannst du auch, über dich, das ist nur normal; es sind harte Zeiten für uns alle, nur dass ich nicht versuche, mir eine Familie zuzulegen und Söhne in Harvard studieren zu lassen oder mir ein Jagdrevier zu kaufen; ich will nicht hoch hinaus, ich versuche bloß, noch eine Weile über die Runden zu kommen; deshalb wenn du gelegentlich anklopfst, und ich mach dir nicht auf, und es ist auch keine Frau hier drin, dann hab ich vielleicht 'ne gebrochene Kinnlade und suche gerade nach einem Stück Draht, oder ich mache Jagd auf die Schmetterlinge meiner Tapete; ich meine, wenn ich nicht aufmache dann mache ich eben nicht auf; und das heißt, ich bin noch nicht soweit, dass ich dich umbringen will oder lieben oder auch nur akzeptieren; es heißt: ich will nicht reden, ich hab zu tun, ich bin verrückt, ich bin froh, oder vielleicht mach ich mir gerade einen Strick an der Decke fest; also: auch wenn mal Licht brennt und du was hörst, so was wie Atmen oder Beten oder Singen, das Radio oder das Rollen von Würfeln oder Tippen - geh weg, es ist nicht der Tag, die Nacht, die Stunde; es ist nicht die Unhöflichkeit von einem der es nicht besser weiß, ich will keinem weh tun, nicht mal einer Wanze; es ist nur so, dass mir manchmal Erkenntnisse kommen, die ich erst mal sortieren muss, und deine blauen Augen, falls sie blau sind, und dein Haar, falls du welches hast, oder deine Gedanken - die können hier nicht rein, bis der Strick entweder geknüpft oder abgeschnitten ist, oder bis ich mich rasiert habe vor neuen Spiegeln, bis die Welt entweder angehalten oder aufgesprengt ist für immer. Charles Bukowski
Internet-Tipp: https://www.litlinks.it/bx/bukowski.htm
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Enigma
antwortete am 29.11.05 (16:42):
Hugo Ball Ick bin Tempelhof jeboren
Ick bin in Tempelhof jeboren Der Flieder wächst mich aus die Ohren. In meinem Maule grast die Kuh.
Ick geh zuweilen sehr und schwanger Auf einem Blumen-i-o-anger Mein Vater, was sagst Du dazu?
Wir gleichen sehr den Baletteusen, Pleureusen – Dösen – Schnösen – lösen. Gewollt zu haben – selig sein.
Verehrte Herrn, verehrte Damen, Die um mich hören herzu kamen Dies widmet der Gesangverein.
Und Jungfraun kamen wunderbar Geschmeide scheidegelb im Haar Mit schlankgestielten Lilien.
Der Kakagei und Papadu Die sahen auch dabei dazu Und kamen aus Brasilien.
Internet-Tipp: https://www.lyrikwelt.de/autoren/ballhugo.htm
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kropka
antwortete am 30.11.05 (10:55):
nachtgesang – may ayim
ich warte nicht mehr auf besseren zeiten schwarzblauer himmel über uns silbersterne dran hand in hand mit dir den fluß entlang bäume links und rechts sehnsucht auf den ästen hoffnung im herz
ich räume mein zimmer auf ich zünde eine kerze an ich male ein gedicht
ich küsse mich nicht mehr deinen körper entlang durch deinen nabel hindurch in deine träume hinein meine liebe in deinem mund dein feuer in meinem schoß schweißperlen auf der haut
ich ziehe mich ganz warm an ich zeichne die lippen rot ich spreche mit den blumen
ich lausche nicht mehr auf ein zeichen von dir hole deine briefe hervor schaue deine bilder an disskusionen mit dir bis nach mitternacht visionen zwischen uns kinder lachen uns zu
ich mache die fenster weit auf ich schnüre die schuhe fest zu ich nehme den hut
ich träume nicht mehr in die einsame stunden dein gesicht in die zeit dein schatten ist nur eine kalte gestalt
ich packe die erinnerungen ein ich blase die kerze aus ich öffne die tür
ich warte nicht mehr auf die besseren zeiten ich gehe auf die straße hinaus blütenduft auf der haut den schirm in der hand den fluß entlang schwarzblauer himmel über mir silbersterne dran bäume links und rechts sehnsucht auf den ästen hoffnung im herz
ich liebe dich ich warte nicht mehr
Ayim May (1960-1996) "Blues in schwarz weiß" Gedichte Neuauflage 2005
https://www.orlanda.de Lyrik
Internet-Tipp: https://www.orlanda.de/
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Enigma
antwortete am 30.11.05 (18:52):
Hallo kropka,
ja, die May Ayim mag ich auch sehr, sehr gerne. Auch dies von ihr:
May Ayim afro-deutsch I
Sie sind afro-deutsch? ... ah, ich verstehe: afrikanisch und deutsch. Ist ja 'ne interessante Mischung! Wissen Sie, manche, die denken ja immer noch, die Mulatten, die würden's nicht so weit bringen wie die Weißen. Ich glaube das nicht. Ich meine, bei entsprechender Erziehung ... Sie haben ja echt Glück, daß Sie hier aufgewachsen sind. Bei deutschen Eltern sogar. Schau an! Wollen Sie denn mal zurück? Wie, Sie waren noch nie in der Heimat vom Papa? Ist ja traurig ... Also, wenn Se mich fragen: So 'ne Herkunft, das prägt eben doch ganz schön. Ich z.B., ich bin aus Westfalen, und ich finde, da gehör' ich auch hin ... Ach Menschenskind! Dat ganze Elend in der Welt! Sei 'n Se froh, daß Se nich im Busch geblieben sind. Da wär'n Se heute nich so weit! Ich meine, Sie sind ja wirklich ein intelligentes Mädchen. Wenn Se fleißig sind mit Studieren, können Se ja Ihren Leuten in Afrika helfen: Dafür sind Sie doch prädestiniert, auf Sie hör'n die doch bestimmt, während unsereins ist ja so 'n Kulturgefälle ... Wie meinen Sie das? Hier was machen. Was woll'n Se denn hier schon machen? Ok., ok., es ist nicht alles eitel Sonnenschein. Aber ich finde, jeder sollte erstmal vor seiner eigenen Tür fegen!
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kropka
antwortete am 30.11.05 (23:59):
... hm, verstehe. Kannst ja froh sein, daß de keine Türkin bist, wa? Ich meine: ist ja entsetzlich, diese ganze Ausländerhetze, kriegste denn davon auch manchmal was ab?
>>...<<
Na ja, aber die Probleme habe ich auch. Ich finde, man kann nicht alles auf die Hautfarbe schieben, und als Frau hat man’s nirgendwo einfach. Z.B. ´ne Freundin von mir: die ist ziemlich dick, was die für Probleme hat! Also dagegen wirkst du relativ relaxed. Ich finde überhaupt, daß die Schwarzen sich noch so ´ne natürliche Lebenseinstellung bewahrt haben. Während hier: ist doch alles ziemlich kaputt. Ich glaube, ich wäre froh, wenn ich du wäre.
>>.....................<<
May Ayim
Die Gedichtauszüge sind dem Gedicht afro-deutsch II (1985) in "blues in schwarz weiss" entnommen - Orlanda Verlag https://www.orlanda.de/
Hallo Enigma, ja, ich mochte sie sehr. Im Alter von 36 Jahren nahm sie sich das Leben.
Aber lass uns doch ..wieder von der Liebe reden wie einst im sogenannten Mai...
sehnsucht
gefrorene kristalle geliebter erinnerungen nisten in meinen augenhöhlen spiegeln mir dein entferntes gesicht als einen schatten auf mein herz
May Ayim
https://de.wikipedia.org/wiki/May_Ayim
Internet-Tipp: https://www.orlanda.de/
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Enigma
antwortete am 01.12.05 (07:51):
Tristan und Isolde von Heinrich Seidel (1842-1906)
König Marke, wie die Sage meldet, Liess begraben Tristan und Isolden Zu den beiden Seiten eines Kirchleins, Noch im Tod die Liebenden zu trennen. Doch aus Tristans Hügel schoss ein Weinstock, Rosen wuchsen aus Isoldens Grabe, Strebten eilig aufwärts an den Mauern, Trieben mächt'ge sehnsuchtsvolle Ranken, Spannen sich empor des Daches Flächen, Und - ein Wunder war's nach wenig Jahren Rankten hoch am First schon ineinander Unzertrennbar Rosenbusch und Rebe. Rosen blühten leuchtend nun im Weinlaub, Trauben hingen in den Rosenzweigen! Dieses holde Wunder zu beschauen, Pilgerten herbei aus weitem Umkreis Gern die zärtlich hold verliebten Paare, Und nachdem voll Andacht sie gestaunet, Schauten sie sich leuchtend in die Augen, Ihre Hände rankten ineinander, Und sie küssten sich und sprachen gläubig: "Stärker als der Tod ist treue Liebe !" :-)
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kropka
antwortete am 03.12.05 (22:42):
Du, weißt Du...
Du, weißt du, wie ein Rabe schreit? Und wie die Nacht, erschrocken bleich, nicht weiß, wohin zu fliehn? Wie sie verängstigt nicht mehr weiß: Ist es ihr Reich, ist es nicht ihr Reich, gehört sie dem Wind oder er ihr, und sind die Wölfe mit ihrer Gier nicht zum Zerreißen bereit?
Du, weißt du, wie der Wind schrill heult und wie der Wald, erschrocken bleich, nicht weiß, wohin zu fliehn? Wie er verängstigt nicht mehr weiß: Ist es sein Reich, ist es nicht sein Reich, gehört er dem Regen oder der Nacht und ist der Tod, der schauerlich lacht, nicht sein allerhöchster Herr?
Du, weißt du, wie der Regen weint? Und wie ich geh', erschrocken bleich, und nicht weiß, wohin zu fliehn? Wie ich verängstigt nicht mehr weiß: Ist es mein Reich, ist es nicht mein Reich, gehört die Nacht mir, oder ich, gehör ich ihr, und ist mein Mund, so blass und wirr, nicht der, der wirklich weint?
Selma Meerbaum-Eisinger 4.3.1941
https://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/ 2005/1121/lokales/0028/index.html
https://www.selma.tv/
Internet-Tipp: https://www.selma.tv/
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Enigma
antwortete am 09.12.05 (09:02):
berühmtes gedicht
dieses gedicht wurde schnell bekannt kurz darauf berühmt vielzitiert und variiert gern besprochen / kurz es kam in der richtigen gestalt zur richtigen zeit bestach durch seine schlichtheit fand aufnahme in kollektionen diente nicht ganz zu unrecht als aushängeschild für eine epoche wurde nachgeahmt parodiert und nie mehr erreicht / wurde volks- und bildungsgut galt als kontrovers und konkav als kultgedicht als referenz an dada als losungswort für vornehme kreise war in aller munde neulich stiess ich darauf es war zahnlos geworden ass das gnadenbrot in einer uneigennützigen institution und sein gesicht war nicht wiederzuerkennen
Internet-Tipp: https://www.lyrik.ch/lyrzeit/a_erste/gysi.htm#gedicht
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Enigma
antwortete am 12.12.05 (08:17):
Juristisch gesehen
Guter Mann daß Sie Ihr Kind tagtäglich schlagen nun ja abreagieren muß man sich Ihre Art ist noch die ungefährlichste Sie mischen sich nicht ein in Kirche Politik und Wirtschaft Sie beschädigen kein fremdes Eigentum Was Sie da machen Schwamm drüber nur das Geschrei tagtäglich die Nachbarn Sie verstehen
................................................................................. aus "GANZ NORMAL" / Gebrauchs-Gedichte von Michael Klaus
Internet-Tipp: https://www.lyrikwelt.de/autoren/klaus.htm
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Enigma
antwortete am 13.12.05 (07:49):
Alfred Müller-Felsenburg Poetischer Nonsens
Ach, geliebte Pampelmuse, niemals nicht 'ne Musepampel, die bei Rot kreuzt jede Ampel. Mir bist du die schöne Duse oder eine süße Suse, jedenfalls kein Musehampel, keineswegs ein blöder Trampel. Nein, o nein, es bleibt dabei: Meiner Muse meine Treu! Denn was sollte ich wohl treiben ohne Pampelmuses Bleiben? Musepampel, Pampelmuse, folg' mir in die Dichterkluse!
:-))
Internet-Tipp: https://www.lyrikwelt.de/autoren/muellerfelsenburg.htm
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Marina
antwortete am 14.12.05 (19:21):
Edgar Allan Poe Eulalie
Ich lebte allein In Kummer und Pein Und krank an Seele und Leib, Da ward die liebliche Eulalie Mein sanftes, lächelndes Weib, Da ward die blondhaarige Eulalie Mein jung, errötendes Weib.
Ha, weniger hell Ist der silberne Quell Als die Augen der lieben Dirn, Und kein Wölkchen der Höh'n Ist so duftig und schön Wie die Löckchen auf Eulalies Stirn War's beglänzt vom Mond Oder war' es besonnt – Als die Löckchen auf Eulalies Stirn.
Nun bin ich befreit Von allem Leid, Da sie mein ist mit Seel' und Leib. Tagaus, tagein lacht Sonnenschein, Seit Eulalie mein junges Weib, Tagaus, tagein lacht Sonnenschein Auf mein junges, geliebtes Weib.
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Enigma
antwortete am 15.12.05 (08:08):
Wie immer
Die Lampe ist noch da, Der Tisch ist auch noch da, und ich bin noch im Zimmer Und meine Sehnsucht,ah, Seufzt noch wie immer.
Feigheit, bist du noch da? Und Lüge, auch du? Ich hör`ein dunkles Ja: Das Unglück ist noch da, Und ich bin noch im Zimmer Wie immer.
Robert Walser
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Marina
antwortete am 15.12.05 (17:23):
Weltflucht
Ich will in das Grenzenlose Zu mir zurück, Schon blüht die Herbstzeitlose Meiner Seele, Vielleicht - ist´s schon zu spät zurück! O, ich sterbe unter Euch! Da Ihr mich erstickt mit Euch. Fäden möchte ich um mich ziehn - Wirrwarr endend! Beirrend, Euch Verwirrend, Um zu entfliehn Meinwärts!
(Else Lasker-Schüler)
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kropka
antwortete am 15.12.05 (20:17):
Wir haben viel füreinander gefühlt
Wir haben viel füreinander gefühlt, und dennoch uns gar vortrefflich vertragen. Wir haben oft "Mann und Frau" gespielt, und dennoch uns nicht gerauft und geschlagen. Wir haben zusammen gejauchzt und gescherzt, und zärtlich uns geküßt und geherzt. Wir haben am Ende, aus kindischer Lust, "Verstecken" gespielt in Wäldern und Gründen, und uns so zu verstecken gewußt, daß wir uns nimmermehr wiederfinden.
Heinrich Heine
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kropka
antwortete am 16.12.05 (10:44):
In der Fremde
Ich hatte einst ein schönes Vaterland. Der Eichenbaum Wuchs dort so hoch, die Veilchen nickten sanft. Es war ein Traum.
Das küsste mich auf deutsch, und sprach auf deutsch (Man glaubt es kaum Wie gut es klang) das Wort: "ich liebe dich!" Es war ein Traum
Heinrich Heine
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Marina
antwortete am 16.12.05 (17:06):
Heinrich Seidel Die gute alte Zeit
Zwei Alte sprechen:
"Das war die gute, alte Zeit, Sie war so schön und liegt so weit In blauem Duft begraben, Und von dem heutigen Geschlecht Da weiss doch keiner wohl so recht, Was wir verloren haben.
Die Männer waren besser doch, Und wirthschaftlich die Frauen noch, Nicht wie die heut'gen Puppen. Die laufen zu Musik und Tanz Und putzen sich mit Flitterglanz Und kochen schlechte Suppen.
Die Kinder waren nicht so keck Und nicht so altklug wie ein Geck Und trugen keine Brillen. Auf ihre Eltern hörten sie Und alte Leute ehrten sie Und hatten keinen Willen.
Und Ordnung herrschte weit und breit, Und Biederkeit, und Ehrlichkeit, Man kannte keinen Schwindel. Doch heut wo Alles fälscht und trügt, Da glaubt man Keinem, denn es lügt Das Kind schon in der Windel."
So sprechen sie, die Alten zwei Und nicken mit dem Kopf dabei Und wackeln mit den Hauben. Die Welt blieb jung, sie wurden alt Und an der neuen Zeit Gehalt Da können sie nicht glauben.
Die heut im Jugendglanze stehn, Im Rosenschmuck zu Tanze gehn, Auch sie einst werden sagen: "Sie war so schön, sie liegt so weit, Die liebe, gute, alte Zeit Aus unsern Jugendtagen!"
;-)
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kropka
antwortete am 16.12.05 (21:49):
damals, damals, sagen die leute, damals, damals, war´s besser als heute. und die sterne waren noch sterne, und der winter trug sich noch weiß.
ein ringelspiel war noch ein ringelspiel, die zwerge waren klein und die riesen noch groß.
damals, damals, sagen die leute, doch ich wünsche mir nur das heute.
Andre Heller
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Enigma
antwortete am 17.12.05 (08:04):
Fremdwörterbuchsonette
II Die Liebe ist Sieger - rege ist sie bei Leid
Das Palindrom ist nicht Palingenese: die wäre, übertragen, Anagramm. Das macht man sonst mit Steinen oder Käse, doch wer sagt, dass mans nicht mit andren Dingen machen kann?
Ich schüttele den Rucksack, wenn ich gehe, und auch meine Gedanken sind ja palingen; ich schüttele im Auge, was ich sehe, und hoffe, etwas anderes zu sehn.
Sie nämlich, wenn ich in die Fluchten schaue und mir vor Hoffnungen den Blick nicht senken traue, und setze Fuß vor Fuß der Mitte zu, wo man in jede Richtung bis zum Ende schauen kann. Dort schaue ich das Nichts, und schüttle mich, und dann nehm ich den ersten besten Weg und finde Ruh.
Nehm ich den ersten besten Weg und finde keine Ruh, liegt es vielleicht am Weg, vielleicht an mir. Denn diesen Weg hab ich ja nur genommen, weil ich geglaubt hab, dieser führt zu dir.
Wie aber, wenn das Ziel sich auch bewegt, muss man dann nicht, ums zu erreichen, stehen bleiben? Die Schritte, die den Vorgang weiter treiben werden in andren Alphabeten hinterlegt.
Zenit wäre schon gut, wäre das Maß bekannt. Nicht alle Wege aber kommen gut zurück. Man sollte, wenn man ich ist, vielleicht lieber weitergehen. Um von den süßen Schmerzen abzusehen, die C und G und T und A verrücken, in sich verschlungen, sind sie manchmal redundant.
Ann Cotten
Internet-Tipp: https://www.engeler.de/cotten.html
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Literaturfreund
antwortete am 17.12.05 (11:17):
Ann Cotten: Zweimal Regung
Analogisch kracht sie in das Auge, parallel? eher in einer späten Phase möglicherweise, kurz. Denn so lang spielt Isanabase, wie steigend stimmt, was ihrem Auge tauge.
Kracht also in das chlorversetzte Nass Isanabase unsichtbar: es sind zwei Mädchen, das Herz an Schnüren, Gliedmaßen an Rädchen, so scheints. Erhoben wurde aber, dass,
als oder wie, der beiden Mädchen Brüste nicht gleicher Höhe sind. Als ob sie’s wüsste dreht sich die eine leicht im Wasser hin
zur andern, welche auf der linken Seite sich krummer wölbt, verlangt entlang der Breite die gleiche Gischt der andern Schwimmerin.
Und wie sie lächeln, ganz als wärn sie gleich! Und jeder kann sie leicht doch unterscheiden! Von ihren Füßen hebt sich Wasser auf,
von ihren Köpfen, wie das Wasser weicht den Köpfen, filigran wie von den Glasgeschmeiden, nehmen die Wellen regelmäßig ihren Lauf.
Gehen die Mädchen dann und hören auf und sehen asymmetrisch sich im Spiegel an, fängt langsam hier ein Haar, dort eine Falte an und hebt sich fröstelnd gegenseitig von der Haut auf,
ein Achselzucken hebt sich wie die Gänsehaut an ihren Teilen. Keine hebt den Blick. In andren Betten liegen sie den gleichen Knick. Ihr Körper tut, als schlief er, da ihnen vorm Morgen graut. * Aus: Zwischen den Zeilen Heft 24
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Marina
antwortete am 17.12.05 (17:45):
Altes Kaminstück
Draußen ziehen weiße Flocken Durch die Nacht, der Sturm ist laut; Hier im Stübchen ist es trocken, Warm und einsam, stillvertraut.
Sinnend sitz ich auf dem Sessel, An dem knisternden Kamin, Kochend summt der Wasserkessel Längst verklungne Melodien.
Und ein Kätzchen sitzt daneben, Wärmt die Pfötchen an der Glut; Und die Flammen schweben, weben, Wundersam wird mir zu Mut.
Dämmernd kommt heraufgestiegen Manche längst vergessne Zeit, Wie mit bunten Maskenzügen Und verblichner Herrlichkeit.
Schöne Frauen, mit kluger Miene, Winken süßgeheimnisvoll, Und dazwischen Harlekine Springen, lachen, lustigtoll.
Ferne grüßen Marmorgötter, Traumhaft neben ihnen stehn Märchenblumen, deren Blätter In dem Mondenlichte wehn.
Wackelnd kommt herbeigeschwommen Manches alte Zauberschloss; Hintendrein geritten kommen Blanke Ritter, Knappentross.
Und das alles zieht vorüber, Schattenhastig übereilt - Ach! da kocht der Kessel über, Und das nasse Kätzchen heult.
Heinrich Heine (1797-1856)
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Enigma
antwortete am 18.12.05 (17:01):
Samuel Taylor Coleridge: KUBLA KHAN
In Xanadu ließ Kubla Khan Der Lust geräumigen Dom erstehn, Wo Alph, das heilige Wasser, rann Durch Höhlen ohne Maß und Plan Zu sonnenloser See. Zehn Meilen so von Furcht und Grund Umgürtet Wall und Mauerrund, Die Gärten voll von Rinnsal vielgestalt, Wo mit dem Laub von Weihrauch Bäume blühn, Und schwarze Wälder, wie die Hügel alt, Mit Sonnenflecken zwischen Immergrün. Doch oh, durch grüne Hügel die romantische Schlucht, Der tiefe Spalt quer unter Zedernhainen, O wilde Stätte! Heilig und verflucht, Wie jene, die ein Weib je heimgesucht, Dem liebsten der Dämonen nachzuweinen. Aus diesem Spalt, da wilder Aufruhr kochte, Als ob die Erd in steten Stößen pochte, Ohn Aufenthalt hoch eine Springflut sprang, In deren heißem, ungestaltem Drang Bruchstücke flogen, rückgeschnellt wie Hagel, Und wie die Spreu sprühte von des Dreschers Schlegel. In diesem Tanz der Brocken und Getrümmer Sprang auf das heilige Wasser, jählings immer. Fünf Meilen wandernd irren Wandelgang Durch Wald und Tal das heilige Wasser rann, Trat in die Höhlen ohne Maß und Plan, Bis sprudelnd es ins starre Meer versank. Und Kubla hörte aus den wilden Schlünden Der Ahnen Stimme fern vom Kriege künden. Des Freudendomes Schatten schwebte Und spielte spiegelnd auf der Welle, Da Rhytmus Rhytmus sich verwebte: Der Höhlen Echo und der Quell. Ein seltner Plan und wundersam ersonnen: Eisgrotten und der Dom der Lust voll Sonnen. Ein Fräulein mit dem Harfenspiel, Die einst im Traum ich sah; Sie kam aus Abessinienland, Schlug ihre Harfe mit der Hand Und sang vom Berge Abora. Strömt' wieder durch die Brust mit Süß ihr Zusammenklang. Stieg' aus dem Sange Lust mir, So daß mit Liedern laut und lang In Luft ich ließ' den Dom erstehn, Den Sonnendom! Das Eisverließ! Und die mich hörten, würden sehn und rufen: Wunderbar! Wunderbar! Sein Aug aus Blitz! Aus Sturm sein Haar! Schlingt dreifach einen Kreis um dies! Schließt euer Aug vor heiliger Schau, Denn er genoß vom Honig-Tau Und trank die Milch vom Paradies.
Nachdichtung: Heinz Politzer Aus: Die Lyra des Orpheus; Lyrik der Völker in deutscher Nachdichtung Paul Zsolnay Verlag; Wien, 1952; S. 629f
Internet-Tipp: https://xanadu.de.ki/
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Enigma
antwortete am 20.12.05 (07:51):
GYMNASIUM Es waren eigentlich nur vier kurze Winter. Mit Thomas Mann und Hesse und der griechischen Grammatik. Und dem Kino Skandia. Heutzutage vergeht so etwa schnell. Aber damals, zu jener Zeit war alles so groß, so lang wie ein halbes Leben. Die Fahrräder, an denen die Schlösser rosteten. Das Innerste dieser rostenden Fahrradschlösser: Eine dieser Stellen, die wir nicht gründlich genug studiert haben.
Lars Gustafsson Aus: Auszug aus Xanadu. Gedichte
https://www.hugendubel.de/Detail.aspx?gid=1239795
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