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THEMA:   Gedichte Kapitel 36

 130 Antwort(en).

hl begann die Diskussion am 11.08.05 (12:51) :

Zeit für ein neues Kapitel :-)


 hl antwortete am 11.08.05 (13:08):

Die schöne Buche

Ganz verborgen im Wald kenn ich ein Plätzchen, da stehet
Eine Buche, man sieht schöner im Bilde sie nicht.
Rein und glatt, in gediegenem Wuchs erhebt sie sich einzeln,
Keiner der Nachbarn rührt ihr an den seidenen Schmuck.
Rings, so weit sein Gezweig der stattliche Baum ausbreitet,
Grünet der Rasen, das Aug still zu erquicken, umher;
Gleich nach allen Seiten umzirkt er den Stamm in der Mitte;
Kunstlos schuf die Natur selber dies liebliche Rund.
Zartes Gebüsch umkränzet es erst; hochstämmige Bäume,
Folgend in dichtem Gedräng, wehren dem himmlischen Blau.
Neben der dunkleren Fülle des Eichbaums wieget die Birke
Ihr jungfräuliches Haupt schüchtern im goldenen Licht.
Nur wo, verdeckt vom Felsen, der Fußsteig jäh sich hinabschlingt,
Lässet die Hellung mich ahnen das offene Feld.
- Als ich unlängst einsam, von neuen Gestalten des Sommers
Ab dem Pfade gelockt, dort im Gebüsch mich verlor,
Führt' ein freundlicher Geist, des Hains auflauschende Gottheit,
Hier mich zum erstenmal, plötzlich, den Staunenden, ein.
Welch Entzücken! Es war um die hohe Stunde des Mittags,
Lautlos alles, es schwieg selber der Vogel im Laub.
Und ich zauderte noch, auf den zierlichen Teppich zu treten;
Festlich empfing er den Fuß, leise beschritt ich ihn nur.
Jetzo, gelehnt an den Stamm (er trägt sein breites Gewölbe
Nicht zu hoch), ließ ich rundum die Augen ergehn,
Wo den beschatteten Kreis die feurig strahlende Sonne,
Fast gleich messend umher, säumte mit blendendem Rand.
Aber ich stand und rührte mich nicht; dämonischer Stille,
Unergründlicher Ruh lauschte mein innerer Sinn.
Eingeschlossen mit dir in diesem sonnigen Zauber-
Gürtel, o Einsamkeit, fühlt ich und dachte nur dich!


Eduard Mörike


 Enigma antwortete am 11.08.05 (18:20):

@hl
vielen Dank, dass Du Dich erbarmt und ein neues Kapitel eröffnet hast.

Reduktion

Am Ende braucht
die Schöpfung so
lachhaft wenig:
die sechsundzwanzig
Buchstaben
des Alphabets
die vier Bausteine
der genetischen
Information
das Ja Gottes
das Nein
des Menschen

Ludwig Steinherr
Aus: Zum Teufel, wo geht's in den Himmel?
(heute "Gedicht des Tages" bei Hugendubel)


 Marina antwortete am 11.08.05 (23:45):

Als ich nach Hause kam

Als ich nach Hause kam,
traf ich einen Matrosen in meinem Zimmer,
der mit einem Kahn auf dem Schrank gelandet war
und sich bemühte herunterzukommen, -
den Grund seines Hierseins konnte er nicht erklären.

Gestern überraschte ich eine Ziegenherde,
die die Zotteln meiner Teppiche anfraß,
vorgestern einen Chinesen,
der meine Garderobe anprobierte und vorgab,
die Treppe nicht gefunden zu haben.

Wenn morgen ein Kranichzug ins Fenster fliegt,
dann ist das nicht seltsamer, als wenn übermorgen
ein Elefeant kommt und mich bittet, ihn abzuwaschen.
Ähnliches wiederholt sich in den Nächten.
Ich werde das Zimmer aufgeben.

Christoph Meckel


 Enigma antwortete am 12.08.05 (07:56):


Paul Scheerbart
Kein Gedicht

Ich möchte so gern wie ein Vogel
Durch die Lüfte fliegen.
Ich möchte so gern wie ein Löwe
In der Wüste liegen.
Ich möchte so gern wie ein König
die lange Weile besiegen.
Doch der Glanz der ewigen Sonnen
Begeistert mich heute nicht.
Ich habe Vieles begonnen.
Doch das macht noch kein Gedicht.


Paul Scheerbart
(1863-1915)


 hl antwortete am 12.08.05 (17:52):

Gedicht vom Ich

Ich bin ich,
na klar, oder nicht?
Ich bin ich,
kann jeder Mensch sagen
Aber wer oder was
ist denn nun ein 'Ich'?
Schon bin ich mittendrin im Fragen. -
Wo fängt ich an?
Wo hört ich auf?
Ist 'Ich' immer gleich,
ob ich sitz oder lauf?
Ob ich sieben oder siebzig bin?
Ist mein Körper das 'Ich',
oder steckts mittendrin?
In der Brust, im Herz,
oder unten im Zeh,
oder in den Füßen,
auf denen ich steh'?

Und etwas, was ich auch gern wüßt':
Wenn jemand vor Glück ganz außer sich ist -
'außer sich' heißt doch raus aus dem Ich.
Manchmal versteh ich mich selber nicht.
Jemand ist außer sich vor Wut -
bleibt das Ich dann bei sich
und es geht ihm ganz gut?

Vielleicht hat das Ich auch was ausgeheckt,
als blaues Männchen sich in mir versteckt,
lacht wie's Rumpelstilzchen,
Sagt: Such nur, such!
Kauf dir ein kluges Ich-findungs-buch..
oder auch dreizehn, davon gibts genug,
mach dich auf die Suche nach deinem Ich,
suche und suche,
du findest es nicht.
Es ist kein Persönchen, hat kein Gesicht,
wenn du's finden willst, dann suche es nicht...

Du bist mit allem dein Ich,
was du tust,
wie du gehst, wie du atmest
wachst oder ruhst,
wie du hörst, wie du siehst,
wie du riechst, wie du schmeckst
und dir nach dem Essen die Lippen leckst.
Du brauchst dein Ich nicht
gesondert zu suchen.
Das ist philosophischer Käsekuchen.
Du bist, was du bist in diesem Leben.
Dich kann's auf der ganzen weiten Welt
so, wie du bist
nur einmal geben.
Es ist, wie es ist,
Punkt Komma und Strich:
Viele Grüße von meinem -
an wen?
An dein
Ich.

------------------
© Fredrik Vahle
Aus: Der Himmel fiel aus allen Wolken. Gedichte
Beltz & Gelberg, Weinheim/Basel 1994
Audioproduktion: 2003 M. Mechner, literaturWERKstatt berlin


 Marina antwortete am 12.08.05 (21:47):

Kafka sprach zu Rudolf Steiner:
"Von euch Jungs versteht mich keiner!"
Darauf sagte Steiner: "Franz,
ich versteh dich voll und ganz!"
Steiner sprach zu Hermann Hesse:
"Nenn mir sieben Alpenpässe!"
Darauf sagte Hesse: "Steiner,
sag mal, reicht denn nicht auch einer?"
Steiner sprach zu Thomas Mann:
"Zieh mal dieses Leibchen an!"
Darauf sagte Mann zu Steiner:
"Hast du's nicht 'ne Nummer kleiner?"
Rilke sprach zu Rudolf Steiner:
"Keiner ist so klein wie meiner!"
Tröstend meinte Steiner: "Rainer,
meiner ist noch etwas kleiner!"
Beckmann sprach zu Rudolf Steiner:
"Wird mein Bild nicht immer feiner?"
Darauf knurrte Steiner: "Beckmann,
wisch den Unfug lieber weg, Mann!"

Robert Gernhardt


 hl antwortete am 13.08.05 (08:36):

Der Zauberer Korinthe ...



Es lebte einst ein Zauberer,
Kori, Kora, Korinthe.
Der saß in einem Tintenfaß
und zauberte mt Tinte.

Wenn jemand damit Briefe schrieb
und schmi und schma und schmollte,
dann schrieb er etwas anderes,
als was er schreiben wollte.

Einst schrieb der Kaiser Fortunat
mit Si, mit Sa, mit Siegel:
"Der Kerl, der mich verspottet hat,
kommt hinter Schloß und Riegel!"

Doch hinterher las man im Brief,
vergni, vergna, vergnüglich:
"Der Kerl, der mich verspottet hat,
der dichtet ganz vorzüglich!"

Da schmunzelte der Zauberer,
Kori, Kora, Korinthe
und schwamm durchs ganze Tintenfaß
und trank ein bißchen Tinte.

Ein andres Mal schrieb Archibald,
der Di, der Da, der Dichter:
"Die Rosen haben hierzuland
so zärtliche Gesichter."

Er hat von Ross- und Lilienhaar
geschri, geschra, geschrieben,
doch als das Liedlein fertig war,
erzählte es von Rüben.

Da schmunzelte der Zauberer,
Kori, Kora, Korinthe,
und schwamm duchs ganze Tintenfaß
und trank ein bißchen Tinte.

Heut schrieb der Kaufmann Steenebarg
aus Bri, aus Bra, aus Bremen
an seinen Sohn in Dänemark:
"Du sollest Dich was schämen!"

Doch als der Brief geschrieben war,
mit Schwi, mit Schwa, mit Schwunge,
da stand im Brief:"Mein lieber Sohn,
Du bist ein guter Junge."

Da schmunzelte der Zauberer,
Kori, Kora, Korinthe
und schwamm durchs ganze Tintenfaß
und trank ein bißchen Tinte.

Und wer das Lied nicht glauben will,
vom Schri, vom Schra, vom Schreiben,
der ist wahrscheinlich selber schuld
und läßt es eben bleiben.

James Krüss

:-))


 Enigma antwortete am 14.08.05 (18:03):

Conrad Ferdinand Meyer
Alles war ein Spiel


In diesen Liedern suche du
Nach keinem ernsten Ziel!
Ein wenig Schmerz, ein wenig Lust,
Und alles war ein Spiel.

Besonders forsche nicht danach,
Welch Antlitz mir gefiel,
Wohl leuchten Augen viele drin,
Doch alles war ein Spiel.

Und ob verstohlen auf ein Blatt
Auch eine Träne fiel,
Getrocknet ist die Träne längst,
Und alles war ein Spiel.

C. F. Meyer
(1825-1898)


 Marina antwortete am 14.08.05 (20:45):

Franz Josef Degenhardt
Spiel nicht mit den Schmuddelkindern

Spiel nicht mit den Schmuddelkindern,
sing nicht ihre Lieder.
Geh doch in die Oberstadt,
mach's wie deine Brüder.
So sprach die Mutter, sprach der Vater, lehrte der Pastor.
Er schlich aber immer wieder durch das Gartentor
und in die Kaninchenställe,
wo sie Sechsundsechzig spielten
um Tabak und Rattenfelle,
Mädchen unter Röcke schielten,
wo auf alten Bretterkisten
Katzen in der Sonne dösten,
wo man, wenn der Regen rauschte,
Engelbert, dem Blöden, lauschte,
der auf einen Haarkamm biß,
Rattenfängerlieder blies.
Abends, am Familientisch, nach dem Gebet zum Mahl,
hieß es dann: Du riechst schon wieder nach Kaninchenstall.
Spiel nicht mit den Schmuddelkindern,
sing nicht ihre Lieder.
Geh doch in die Oberstadt,
mach's wie deine Brüder.
Sie trieben ihn in eine Schule in der Oberstadt,
kämmten ihm die Haare und die krause Sprache glatt.
Lernte Rumpf und Wörter beugen.
Und statt Rattenfängerweisen
mußte er das Largo geigen
und vor dürren Tantengreisen
unter roten Rattenwimpern
par coeur Kinderszenen klimpern
und, verklemmt in Viererreihen,
Knochen morsch und morscher schreien,
zwischen Fahnen aufgestellt brüllen, daß man Freundschaft hält.
Schlich er manchmal abends zum Kaninchenstall davon,
hockten da die Schmuddelkinder, sangen voller Hohn:
Spiel nicht mit den Schmuddelkindern,
sing nicht ihre Lieder.
Geh doch in die Oberstadt,
mach's wie deine Brüder.
Aus Rache ist er reich geworden. In der Oberstadt
hat er sich ein Haus gebaut, nahm jeden Tag ein Bad.
Roch, wie bessre Leute riechen,
lachte fett, wenn alle Ratten
ängstlich in die Gullys wichen,
weil sie ihn gerochen hatten.
Und Kaninchenställe riß er
ab. An ihre Stelle ließ er
Gärten für die Kinder bauen.
Liebte hochgestellte Frauen, schnelle Wagen und Musik,
blond und laut und honigdick.
Kam sein Sohn, der Nägelbeißer, abends spät zum Mahl,
roch er an ihm, schlug ihn, schrie: Stinkst nach Kaninchenstall.
Spiel nicht mit den Schmuddelkindern,
sing nicht ihre Lieder.
Geh doch in die Oberstadt,
mach's wie deine Brüder.
Und eines Tages hat er eine Kurve glatt verfehlt.
Man hat ihn aus einem Ei von Schrott herausgepellt.
Als er später durch die Straßen
hinkte, sah man ihn an Tagen
auf 'nem Haarkamm Lieder blasen,
Rattenfell am Kragen tragen.
Hinkte hüpfend hinter Kindern,
wollte sie am Schulgang hindern
und schlich um Kaninchenställe.
Eines Tags in aller Helle
hat er dann ein Kind betört
und in einen Stall gezerrt.
Seine Leiche fand man, die im Rattenteich rumschwamm.
Drum herum die Schmuddelkinder bliesen auf dem Kamm:
Spiel nicht mit den Schmuddelkindem,
sing nicht ihre Lieder.
Geh doch in die Oberstadt,
mach's wie deine Brüder!


 hl antwortete am 14.08.05 (21:08):

Rose Ausländer

Noch bist du da

Wirf deine Angst
in die Luft

Bald
ist deine Zeit um
bald
wächst der Himmel
unter dem Gras
fallen deine Träume
ins Nirgends

Noch
duftet die Nelke
singt die Drossel
noch darfst du lieben
Worte verschenken
noch bist du da

Sei was du bist
Gib was du hast


 hl antwortete am 14.08.05 (21:27):

H. C. Artmann

DEN HORIZONT
ÜBERSCHREITEN

Ein wald hinter einem wald, der vor einem
wald liegt; wer geht in ihm herum, wer tritt
in ihm auf pilze, beeren?

Obgleich man viele dinge über diesen wald
erzählt, man weiß von ihnen nie, ob sie stim-
men, ob sie erfunden sind.

Wenn der wald hier schweigt, hört man die
glocken, aber der wald liegt sehr einsam,
keine dörfer, keine kirchspiele oder städte
weit und breit; nur ein teich darin, sehr dun-
kelhäutig, sehr unergründlich.

Du weißt nicht, wovon du redest, du bist
allein, du ertappst dich unversehens beim
sprechen: worte fern wie glocken, fern wie
die tiefe des teiches, und ein eichhorn, das dir
jeglichen vokal von den lippen stiehlt; was
bleibt, ist ein dürres gerüst gleich der abge-
nadelten fichte.

Der jagdruf des zobels, der hier nicht haust,
läßt nester erzittern: eine excellente mahlzeit
wäre es, aus weißem zerbrechlichen porzellan
zu speisen.

Man sagt, es sei ein wunderbares vergnügen,
durch die länder zu reisen, die wiesen zu be-
gehen, die wälder zu durchqueren; die wald-
rose zählt zu den schönsten, ist die trösterin
verliebter botaniker, ist eine windrose, die
ihre zarten blättlein in alle richtungen ver-
streut.

Über den wald ziehen verschiedene wolken
in ständig sich ändernden bildern: der delfin,
der jaguar, das geweih des hirsches, der zer-
fallende aschenkrug, die fast menschliche
figur...

Der geschmack des waldes ist an gewissen
stellen wie der geruch der besonnten him-
beere, an anderen stellen wie der schatten
beregneter pilze; du weißt nicht, wovon du
redest, aber du erkennst den geruch, den ge-
schmack und die schatten deiner worte.

Der mörderische strahl, der pfeil, im dichten
wald geht er nur sieben bäume tief, dann
copuliert er mit der rinde des achten – ein
paradiesisches irrsal dem flüchtenden.

Du bist der unreinen lust der jagd nicht ver-
bunden, viele sonnen hast du gesehen, wie
gute pfeile trafen ihre strahlen, drangen ein
mit feiner, wohltuender wärme; auf dem
teich schwimmen auch die weißen blüten, es
nagt sie kein wurm, keine schnecke.

Deine hand wird nicht müd, über laubiges zu
streichen, über den saftigen farn, über moos
und die tauigen blätter der coniferen – eine gol-
dene leiter baut dir die sonne an die brust, ein
geschwister des regenbogens...

Internet-Tipp: " target="_blank">


 Marina antwortete am 14.08.05 (22:50):

Der scheidende Sommer

Das gelbe Laub erzittert,
Es fallen die Blätter herab;
Ach, alles, was hold und lieblich,
Verwelkt und sinkt ins Grab.

Die Gipfel des Waldes umflimmert
Ein schmerzlicher Sonnenschein;
Das mögen die letzten Küsse
Des scheidenden Sommers sein.

Mir ist, als müsst ich weinen
Aus tiefstem Herzensgrund;
Dies Bild erinnert mich wieder
An unsre Abschiedsstund'.

Ich musste von dir scheiden,
Und wusste, du stürbest bald;
Ich war der scheidende Sommer,
Du warst der kranke Wald.

Heinrich Heine


 Enigma antwortete am 15.08.05 (08:31):

Max Werner Lenz: Mensch ohne Paß

Ich bin aus aller Ordnung ausgetrieben.
Sie nennen mich ein Emigrantenschwein.
Sie sagen, wärst du doch zu Haus geblieben!
Ich aber wollte ein Charakter sein.
Ich sagte "Guten Tag" statt "Heil" zu rufen,
Da hat man mir die Schutzhaft angedroht,
Doch ich bin nicht zum Märtyrer berufen.
Ich floh- aus einer Not- in andre Not.
Jetzt bin ich ein unangemeldetes Leben,
Ich habe keinen Paß.
Ich stehe daneben und bleibe daneben-
Den Beamten ein ewiger Haß.
Die Staaten haben herrliche Devisen!
Nach Frankreich gewendet:
Hier drüben "Freiheit, Gleichheit, Bruderschaft",
Nach der Schweiz gewendet:
Und dieses Land wird als Asyl gepriesen.
Doch mich erwartet hier und dort nur Haft.
So wie ich bin, so bin ich ungesetzlich.
Zwar schlägt man nicht, man ist zivilisiert,
Doch, bin ich körperlich auch unverletzlich,
Die Seele darf man foltern, ungeniert.
Jetzt bin ich ein unangemeldetes Leben,
Ich habe keinen Paß.
Ich stehe daneben und bleibe daneben-
Den Beamten ein ewiger Haß.
Doch jetzt gibt's Kommissionen, wie ich höre,
Die kümmern sich um uns und meinen's gut;
Denn sie beschließen, daß ich nicht mehr störe,
Doch der Beschluß kommt in Beamten-Hut.
Und bis die Paragraphen sich ergänzen
Braucht's lange Zeit- inzwischen geht's mir schlecht.
Man scheucht mich heimlich über fremde Grenzen.
Bis ich krepiere- durch Gesetz und Recht.
Dann bin ich ein unabgemeldetes Leben,
Und ich brauche keinen Paß.
Dann steh ich darüber und nicht mehr daneben,
Über den Grenzen und über dem Haß.


 Marina antwortete am 15.08.05 (16:50):

Tod der Armen

Es ist der Tod, der Trost und Leben schenkt;
Er ist das Ziel, das einzig Hoffnung macht,
Ein Elixier, das uns berauschend tränkt,
Und Mut gibt, durchzuhalten bis zur Nacht,

Durch Sturm und Schnee ist er das schwache Licht,
Für uns am dunklen Horizont entzündet;
Ist jene Bleibe, die das Buch verspricht,
wo man zur Rast ein Mahl und Schlummer findet,

Ein Engel, dessen Finger lockend zeigen
Den Schlaf und Träume, die uns übersteigen;
Armen und Nackten er ein Bett bereitet;

Der Götter Ruhm, der Speicher, der nie leer,
Der Armen Beutel, Heimat von jeher,
Das Tor, das uns zu fremden Himmeln leitet!

Charles Baudelaire


 hl antwortete am 16.08.05 (08:03):

Worte sind der Seele Bild

Worte sind der Seele Bild -
Nicht ein Bild! sie sind ein Schatten!
Sagen herbe, deuten mild,
Was wir haben, was wir hatten. -
Was wir hatten, wo ist's hin?
Und was ist's denn, was wir haben? -
Nun, wir sprechen! Rasch im Fliehn
Haschen wir des Lebens Gaben.

J. W. v. Goethe, Aussicht,
den 16. August 1815


 Enigma antwortete am 16.08.05 (09:49):

Wenn ich alt bin

Wenn ich alt bin werde ich viel Zeit haben.
Statt meine Wünsche zu vernachlässigen,
pflege ich sie lustvoll wie eine Katze ihr Fell.
Statt mich wie eine Muschel zu verschließen,
suche ich Zugang zu fremden Herzen.
Statt mich in meiner Höhle zu verkriechen,
reise ich der Sonne mit Freude nach.
Statt griesgrämig meiner Jugend nachzutrauern,
verstärke ich lieber meine Lachfalten.
Statt meinen Körper verschämt zu verstecken,
zeige ich stolz die Spuren des Lebens.
Statt Grau zu meiner Farbe zu machen,
wähle ich zartes Frühlingsrosa.
Statt der Stille die Tür zu öffnen,
lade ich meine Freunde ein.
Statt ungenießbar zu werden,
genieße ich die Welt in vollen Zügen.
Statt auf den Tod zu warten,
werde ich bewußt leben.

Wenn ich alt bin, will ich jung sein.

Shadi Haghsheno
Aus: „Im Wirbel der Gefühle“


 Marina antwortete am 17.08.05 (17:43):

Apokalyptische Schwühle (1944)

Farben bröckeln ins Fahle
Blumen blaßten hinter Gittern.
Über Stufen und Portale
ging ein stündliches Verwittern.

Aschenschatten, Dämmergäste,
Schemen wurden die Vertrauten.
Und ein bleicher Himmel preßte
lautlos sich auf Strom und Bauten.

Dächer schrumpften und enblößten
Schuld und Schwäche im Vergleiten
Faulige Konturen lösten
sich in Nichtmehrwirklichkeiten.

In der gandenlosen Schwühle
tödlich lagen wir gefangen.
Mahlte noch die dunkle Mühle
oder war auch sie zergangen?

Manchmal hörten wir ein Knistern
klopften nachts die Totenuhren –
Bis erlösend aus Kanistern
blanke Feuer niederfuhren.

Werner Bergengruen


 Enigma antwortete am 18.08.05 (09:28):

Unzeit

Meine Stunde
Besteht
Aus lauter Stunden
Die noch nicht
Gekommen sind
Was Hand und Fuß hatte
Wurde an Händen
Und Füßen
Amputiert
Mein linkes Aug
Traut
Meinem rechten Auge nicht
Mein blinder Haß
Wird sehend
Eine namenlose Angst
Legt sich
Meinen Namen zu

Dieter Fringeli
Aus: Die schönsten Gedichte der Schweiz


 Marina antwortete am 18.08.05 (23:55):

Die Dämmerung

Ein dicker Junge spielt mit einem Teich.
Der Wind hat sich in einem Baum gefangen
Der Himmel sieht verbummelt aus und bleich,
Als wäre ihm die Schminke ausgegangen.

An einem Fenster klebt ein fetter Mann.
Ein Jüngling will ein weiches Weib besuchen.
Ein grauer Clown zieht sich die Stiefel an.
Ein Kinderwagen schreit und Hunde fluchen

Alfred Lichtenstein


 Enigma antwortete am 20.08.05 (11:50):


Anastasius Grün Botenart



Der Graf kehrt heim vom Festturnei,
Da wallt an ihm sein Knecht vorbei.

Hallo, woher des Wegs, sag an!
Wohin, mein Knecht, geht deine Bahn?

"Ich wandle, daß der Leib gedeih,
Ein Wohnhaus such ich mir nebenbei."

Ein Wohnhaus? Nun, sprich grad heraus,
Was ist geschehn bei uns zu Haus?

"Nichts Sonderlichs! Nur todeswund
Liegt Euer kleiner weißer Hund."

Mein treues Hündchen todeswund!
Sprich, wie begab sich's mit dem Hund?

"Im Schreck Eur Leibroß auf ihn sprang,
Drauf lief's in den Strom, der es verschlang."

Mein schönes Roß, des Stalles Zier!
Wovon erschrak das arme Tier?

"Besinn ich recht mich, erschrak's davon,
Als von dem Fenster stürzt' Eur Sohn."

Mein Sohn? Doch blieb er unverletzt?
Wohl pflegt mein süßes Weib ihn jetzt?

"Die Gräfin rührte stracks der Schlag,
Als vor ihr des Herrleins Leichnam lag,"

Warum bei solchem Jammer und Graus,
Du Schlingel, hütest du nicht das Haus?

"Das Haus? Ei, welches meint Ihr wohl?
Das Eure liegt in Asch und Kohl'!

Die Leichenfrau schlief ein an der Bahr,
Und Feuer fing ihr Kleid und Haar.

Und Schloß und Stall vermodert im Wind,
Dazu das ganze Hausgesind!

Nur mich hat das Schicksal aufgespart,
Euch's vorzubringen auf gute Art."

Anastasius Grün
(1808-1876)
:-))

Internet-Tipp: https://www.litlinks.it/g/gruen_a.htm


 Illona antwortete am 20.08.05 (13:28):


Theodor Fontane

Lied des James Monmouth

Es zieht sich eine blutige Spur
Durch unser Haus von alters,
Meine Mutter war seine Buhle nur,
Die schöne Lucy Walters.

Am Abend war's, leis wogte das Korn,
Sie küßten sich unter der Linde,
Eine Lerche klang und ein Jägerhorn -
Ich bin ein Kind der Sünde.

Meine Mutter hat mir oft erzählt
Von jenes Abends Sonne,
Ihre Lippen sprachen: Ich habe gefehlt!
Ihre Augen lachten vor Wonne.

Ein Kind der Sünde, ein Stuartkind,
Es blitzt wie Beil von weiten:
Den Weg, den alle geschritten sind,
Ich werd' ihn auch beschreiten.

Das Leben geliebt und die Krone geküßt
Und den Frauen das Herz gegeben
Und den letzten Kuß auf das schwarze Gerüst -
Das ist ein Stuart-Leben.

Internet-Tipp: /seniorentreff/de/fontanekindders1234


 Enigma antwortete am 21.08.05 (12:25):


Spuren

Bald breche ich auf zu Wäldern aus Rauch und Beton
Gehe über Straßen feindseliger Städte
Mein Name wird nach einem anderen Namen klingen
Mein Gesicht einem anderen Gesicht gleichen
Deshalb will ich heute Abend
hier bleiben
meine Herde blauer Vulkane von oben betrachten,
zulassen, dass die Landschaft in mir wächst,
der See in meinen Lungen Platz findet,
die Wolken sich in meinem Blut ausdehnen,
Vulkane in meinen Augen aufsteigen,
dass diese Vision von Mythos und Epopöe
meine inneren Flüsse speist
auf denen ich mich halten werde
wenn die Distanz ihren tiefen Graben aushebt.

Gioconda Belli
Aus: Ich bin Sehnsucht - verkleidet als Frau.


 Marina antwortete am 21.08.05 (23:44):

Under der linden

Under der linden
an der heide,
dâ unser zweier bette was,
dâ muget ir vinden
schône beide
gebrochen bluomen unde gras.
vor dem walde in einem tal,
tandaradei,
schône sanc diu nahtegal.

Ich kam gegangen
zuo der ouwe:
dô was mîn friedel komen ê.
dâ wart ich empfangen
hêre frouwe
daz ich bin sælic iemer mê.
kust er mich? wol tûsentstunt:
tandaradei,
seht wie rôt mir ist der munt.

Dô hete er gemachet
alsô rîche
von bluomen eine bettestat.
des wirt noch gelachet
inneclîche,
kumt iemen an daz selbe pfat.
bî den rôsen er wol mac
tandaradei,
merken wâ mirz houbet lac.

Daz er bî mir læge,
wesse ez iemen
(nu enwelle got!), so schamte ich mich.
wes er mit mir pflæge,
niemer niemen
bevinde daz wan er und ich
und ein kleinez vogellîn:
tandaradei,
daz mac wol getriuwe sîn.

Walther von der Vogelweide
1170-1230


 Marina antwortete am 22.08.05 (12:41):

Zwei Fragen: 1.) Muss ich jetzt jedesmal, wenn ich ein Gedicht poste, im Archiv nachsehen, ob es schon einmal gepostet wurde?
2.)Muss ich außerdem erst bei der entsprechenden Website, aus der ich es nehme, anfragen, ob es erlaubt ist (Bezug nehmend auf den Thread "Update der Forenregeln")?


 hl antwortete am 22.08.05 (13:08):

Meine unmassgebliche Meinung dazu:

zu 1: Nein

zu 2: wenn es sich um nicht so bekannte, noch lebende Autoren handelt, würde ich doch einmal dort nachfragen.


 Enigma antwortete am 22.08.05 (15:24):

Hallo Marina,

mit dem Thema hatte ich mich auch schon einmal befasst. Vor einiger Zeit war wohl eine gewisse "Abmahnungswelle" im Hinblick auf Veröffentlichungen im Internet zu verzeichnen. Vor allem die Erben von Hesse und Kästner haben sich da hervorgetan (vielleicht würden sich die berühmten Vorfahren im Grabe umdrehen, wenn sie das wüssten). Aber rein juristisch sind sie oft im Recht. Bei den Homepages mussten einige ganz oder teilweise geschlossen werden, weil die Betreiber, durch die Drohungen der Anwälte eingeschüchtert,
mit satten Schadenersatzforderungen zu rechnen hatten.
Schade,schade, da müsste der Gesetzgeber m.E. unbedingt zu anderen Regelungen kommen.
Bei einigen lebenden Lyrikern/Lyrikerinnen habe ich tatsächlich um Erlaubnis gefragt, ob ich Gesichte von ihnen veröffentlichen dürfte (u.a. Edith Jeske). Es wurde mir sehr nett gestattet. Aber auf Dauer würde es doch sehr lästig, sich jedesmal rückzuversichern, dass man nicht mit kommenden Problemen zu rechnen hat.
Ich stelle mal einen Link ein, der sich mit der Problematik beschäftigt. U.a. auch mit dem Urheberrecht.

Und jetzt zitiere ich ein Gedicht von Tucholsky, der ist jedenfalls 1935 gestorben und die "70-Jahre-Frist" wäre also abgelaufen. :-))

Kurt Tucholsky
Das Lächeln der Mona Lisa:

Ich kann den Blick nicht von dir wenden.
Denn über deinem Mann vom Dienst
hängst du mit sanft verschränkten Händen
und grienst.
Du bist berühmt wie jener Turm von Pisa,
dein Lächeln gilt für Ironie.
Ja... warum lacht die Mona Lisa?
Lacht sie über uns, wegen uns, trotz uns, mit uns, gegen uns -
oder wie -?
Du lehrst uns still, was zu geschehen hat.
Weil uns dein Bildnis, Lieschen, zeigt:
Wer viel von dieser Welt gesehn hat -
der lächelt,
legt die Hände auf den Bauch
und schweigt.

Internet-Tipp: https://www.rettet-das-internet.de/zitate.htm


 Enigma antwortete am 22.08.05 (17:09):

Im Moment fällt mir neben Frau Jeske auch noch Peter Welk ein, den ich ebenfalls - mit Erfolg - darum gebeten hatte, eines seiner Gedichte hier posten zu dürfen.

Es ist mir (so sagt man doch so schön..:-)) wirklich ein Anliegen, beide Gedichte noch einmal hier zu veröffentlichen und mich öffentlich darüber zu freuen, dass es auch gegenwärtig Künstler(innen) gibt, die durch ihre Vielseitigkeit ihren Lebensunterhalt verdienen und trotzdem einen Sinn für das "literarische Gemeinwohl" bewahrt haben.

Edith Jeske
Du gehst mir aus dem Sinn

Wir gelten als ein Paar, das man beneidet.
Man sagt uns nach, uns bringt nichts aus dem Gleis.
Und wenn es heißt " bis dass der Tod euch scheidet" -
dann sind wir zwei womöglich der Beweis.
Oft war's nicht leicht. Doch jede unsrer Krisen
war immer eine Chance und ein Gewinn.
Wie nur erkläre ich mir dann,
was ich mir nicht erklären kann:
Du gehst mir aus dem Sinn.
Ich liebe deine Gesten, die mir sagen,
dass du noch immer jeden Tag genießt,
dein Lachen und die kluge Art zu fragen
und wie du meine Schwächen übersiehst.
Wir teilen schon beinah ein halbes Leben.
Das wirft man nicht aus einer Laune hin.
Dir zu vertraun, war niemals schwer,
Nun hab ich keine Worte mehr.
Du gehst mir aus dem Sinn.
Wir sind so weit gekommen in den Jahren.
Ich hab mir nie was andres vorgestellt.
Was immer auch geschah - wir beide waren
gemeinsam eine Insel in der Welt.
Nun reise ich in schweigenden Gedanken
allein zu meiner eignen Insel hin,
wo niemand mich beim Namen nennt
und wo den deinen keiner kennt,
wo nichts mehr kalt ist oder heiß
und die Erinnerung schwarz-weiß,
wo man sein Herz nicht schlagen hört
und wo kein Traum die Nächte stört
und wo du nicht mehr fragst,
warum ich traurig bin

Etwas mehr erfahren über Edith Jeske könnt Ihr unter folgendem Link:
https://www.musenlust.de


Aber nun auch das Gedicht von Herrn Welk:

Peter Welk
Ins Blaue

Huckenbeck entschließt sich, aus Gedankenstücken
Eine blaugemalte Welt zu schaffen,
Blau die Häuser, blaugemalt die Brücken,
Blau, sofern entstehend, die Giraffen.

Ohne Schöpferplan will Huckenbeck beginnen,
Doch ins Blaue zielt er absichtsvoll,
Um dem Schwarzgemalten zu entrinnen,
Das in seiner Welt nicht gelten soll.

Reines Blau ergießt sich wie aus Himmelskannen
Über Huckenbecks gedachte Welt,
Bläue schäumt in allen Badewannen,
Die er sich in seine Häuser stellt,

Veilchenblaugemalt beginnt der Montagmorgen,
Pflaumenblau läßt Huckenbeck ihn gehen,
Blaue Mädchen haben blaue Sorgen,
Blaue Witwen können sich im Spiegel drehen.

Huckenbeck – als leite ihn ein Zauberwort –
Nickt zu allem, lächelt, und dann hebt
Er die blaue Welt mit Händen hoch und schwebt
Samt der Welt ins ungefähre Blaue fort.

© Peter Welk

Internet-Tipp: https://www.artplanet.de/


 Enigma antwortete am 25.08.05 (08:31):

Regenduft

Schreie. Ein Pfau.
Gelb schwankt das Rohr.
Glimmendes Schweigen von faulem Holz.
Flüstergrün der Mimosen.
Schlummerndes Gold nackter Rosen
Auf braunem Moor.
Weiße Dämmerung rauscht in den Muscheln.
Granit blank, eisengrau.
Matt im Silberflug Kranichheere
Über die Schaumsaat stahlkühler Meere

Max Dauthendey (1867-1918)


 Marina antwortete am 26.08.05 (18:53):

Der Mond

Und grämt dich, Edler, noch ein Wort
Der kleinen Neidgesellen?
Der hohe Mond, er leuchtet dort,
Und läßt die Hunde bellen
Und schweigt und wandelt ruhig fort,
Was Nacht ist, aufzuhellen.

Johann Gottfried Herder
(1744-1803)


 hl antwortete am 26.08.05 (22:36):

Weiß nicht mehr, wo die Erde liegt

Die Raben schreien wie verwundet
Und prophezeien Nacht und Not;
Der Frost hat jede Tür umstellt,
Und der Hungerhund bellt.
Wir halten uns immer noch eng umschlungen,
Im Küssen fanden wir noch kein Wort,
Die Lerchen haben sich tot gesungen,
Und Wolken wälzten den Sommer fort.
Doch dein Haupt, das in meinem Arm
sich wiegt,
Weiß nicht mehr,
wo die Erde liegt.

Max Dauthendey


 hl antwortete am 26.08.05 (22:39):

(aus: Poèmes de Jalousie 1926)

Eifersüchtig bin ich auf die Straße:
Könnte nicht der Schatten einer Frau
Auf deinen Schatten fallen?
Vielleicht betrügst du mich mit einer Sphinx aus Wachs
Im Schaufenster eines Friseurs.
Eine Tram läuft hinter dir her
Wie ein Hund an der Leine.
Wieviele Passanten und Blumen
Kommen vor das Objektiv deiner Augen,
Sammler ultravioletter Blicke!
Eifersüchtig bin ich auf die Straße
Und deine Schritte in C-Moll.

Goll, Claire (eig. Clarisse Liliane, geb. Aischmann),
29. 10. 1891 Nürnberg


 Illona antwortete am 28.08.05 (10:14):

Laotse
Tao te king
Das Buch vom Sinn und Leben

Wer das LEBEN hochhält,
weiß nichts vom LEBEN;
darum hat er LEBEN.
Wer das LEBEN nicht hochhält,
sucht das LEBEN nicht zu verlieren;
darum hat er kein LEBEN.
Wer das LEBEN hochhält,
handelt nicht und hat keine Absichten.
Wer das LEBEN nicht hochhält,
handelt und hat Absichten.
Wer die Liebe hochhält, handelt, aber hat keine Absichten.
Wer die Gerechtigkeit hochhält, handelt und hat Absichten.
Wer die Sitte hochhält, handelt,
und wenn ihm jemand nicht erwidert,
so fuchtelt er mit den Armen und holt ihn heran.
Darum: Ist der SINN verloren, dann das LEBEN.
Ist das LEBEN verloren, dann die Liebe.
Ist die Liebe verloren, dann die Gerechtigkeit.
Ist die Gerechtigkeit verloren, dann die Sitte.
Die Sitte ist Treu und Glaubens Dürftigkeit
und der Verwirrung Anfang.
Vorherwissen ist des SINNES Schein
und der Torheit Beginn.
Darum bleibt der rechte Mann beim Völligen
und nicht beim Dürftigen.
Er wohnt im Sein und nicht im Schein.
Er tut das andere ab und hält sich an dieses.

Internet-Tipp: https://www.iging.com/laotse/LaotseD.htm


 Enigma antwortete am 28.08.05 (18:14):

Paul Scheerbart
Heiter sei mein Abendessen

Heiter sei mein Abendessen,
Wenn's zur Nacht auch traurig geht.
Und der Spott sei nie vergessen,
Wenn auch alles untergeht.
(1892)
:-)


 Enigma antwortete am 31.08.05 (08:15):

Ein Jüngling liebt ein Mädchen,
Die hat einen andern erwählt;
Der andre liebt eine andre,
Und hat sich mit dieser vermählt.
Das Mädchen heiratet aus Ärger
Den ersten besten Mann,
Der ihr in den Weg gelaufen;
Der Jüngling ist übel dran.
Es ist eine alte Geschichte,
Doch bleibt sie immer neu;
Und wem sie just passieret,
Dem bricht das Herz entzwei.
Heinrich Heine
(1797-1856)

:-)


 Marina antwortete am 31.08.05 (16:52):

Ein Weib

Sie hatten sich beide so herzlich lieb,
Spitzbübin war sie, er war ein Dieb.
Wenn er Schelmenstreiche machte,
Sie warf sich aufs Bett und lachte.

Der Tag verging in Freud und Lust,
Des Nachts lag sie an seiner Brust.
Als man ins Gefängnis ihn brachte,
Sie stand am Fenster und lachte.

Er ließ ihr sagen: O komm zu mir,
Ich sehne mich so sehr nach dir,
Ich rufe nach dir, ich schmachte -
Sie schüttelt' das Haupt und lachte.

Um sechse des Morgens ward er gehenkt,
Um sieben ward er ins Grab gesenkt;
Sie aber schon um achte
Trank roten Wein und lachte.

Heinrich Heine

:-(


 mmargarete01 antwortete am 31.08.05 (18:15):

Du da oben

Du der da oben sein sollst,
warum machst du Fehler,
holst unschuldige Kinder,
kann man an dich glauben.
Wenn dir Fehler unterlaufen,
ich dachte, nur auf Erden,
sind Fehler zu verbuchen.
Bist du nicht frei von Fehlern,
nimm dir Mörder und Hehler,
zur Unterhaltung da oben,
ich werde dich nicht loben.
Bringst Leid auf Erden,
du müsstest bestraft werden.
Ist dir dieses Wort tue gutes fremd,
oder hast du auch schon Demenz.

©Margret Nottebrock


 Enigma antwortete am 02.09.05 (16:04):

Bertold Brecht
Die wahre Geschichte vom Rattenfänger von Hameln

Der Rattenfänger von Hameln
Durch die Stadt ist er gegangen
Hat mit seinem Pfeifen all die
Tausend Kindlein eingefangen
Er pfiff hübsch. Er pfiff lang.
's war ein wunderbarer Klang.

Der Rattenfänger von Hameln
Aus der Stadt wollt er sie retten
Daß die Kindlein einen bessern
Ort zum Größerwerden hätten
Er pfiff hübsch. Er pfiff lang.
's war ein wunderbarer Klang.

Der Rattenfänger von Hameln
Wohin hat er sie verführet?
Denn die Kleinen waren alle
Tief im Herzen aufgerühret.
Er pfiff hübsch. Er pfiff lang.
's war ein wunderbarer Klang.

Der Rattenfänger von Hameln
Als er aus der Stadt gegangen
Hat ihm, heißt es, sein Gepfeife
Selbst die Sinne eingefangen.
Ich pfeif hübsch. Ich pfeif lang.
's ist ein wunderbarer Klang.

Der Rattenfänger von Hameln
Um den Berg ist er gebogen
Hat die Kindlein aus Versehn
In die Stadt zurückgezogen.
Pfiff zu hübsch. Pfiff zu lang.
's war zu wunderbarer ein Klang.

Der Rattenfänger von Hameln
Haben sie am Markt gehangen
Aber um sein Pfeifen, Pfeifen
Ist noch lang die Red gegangen.
Er pfiff hübsch. Er pfiff lang.
's war ein wunderbarer Klang.


 Marina antwortete am 05.09.05 (21:52):

Abendphantasie

Vor seiner Hütte ruhig im Schatten sitzt
Der Pflüger, dem Genügsamen raucht sein Herd.
Gastfreundlich tönt dem Wanderer im
Friedlichen Dorfe die Abendglocke.

Wohl kehren itzt die Schiffer zum Hafen auch,
In fernen Städten, fröhlich verrauscht des Markts
Geschäft'ger Lärm; in stiller Laube
Glänzt das gesellige Mahl den Freunden.

Wohin denn ich? Es leben die Sterblichen
Von Lohn und Arbeit; wechselnd in Müh' und Ruh'
Ist alles freudig; warum schläft denn
Nimmer nur mir in der Brust der Stachel?

Am Abendhimmel blühet ein Frühling auf;
Unzählig blühn die Rosen und ruhig scheint
Die goldne Welt; o dorthin nimmt mich
Purpurne Wolken! und möge droben

In Licht und Luft zerrinnen mir Lieb' und Leid! –
Doch, wie verscheucht von töriger Bitte, flieht
Der Zauber; dunkel wirds und einsam
Unter dem Himmel, wie immer, bin ich –

Komm du nun, sanfter Schlummer! zu viel begehrt
Das Herz; doch endlich, Jugend! verglühst du ja,
Du ruhelose, träumerische!
Friedlich und heiter ist dann das Alter.

Friedrich Hölderlin


 Enigma antwortete am 06.09.05 (07:01):

Groeten uit Noordwijk
Tot ziens!


Das Fräulein stand am Meere

Das Fräulein stand am Meere
Und seufzte lang und bang,
Es rührte sie so sehre
Der Sonnenuntergang.
"Mein Fräulein! Sein Sie munter,
Das ist ein altes Stück;
Hier vorne geht sie unter
Und kehrt von hinten zurück."
Heinrich Heine


 eleisa antwortete am 06.09.05 (22:28):

Erfolgloser Liebhaber

Ein Mann wollt sich ein Weib erringen,
doch leider konnts ihm nicht gelingen.
Er ließ sich drum, vor weitren Taten,
von Fraun und Männern wohl beraten:
„nur nicht gleich küssen, tätscheln, tappen!“
„greif herzhaftzu, dann muß es schnappen!“
„Lass deine ernste Absicht spüren!“
Sei leicht und wahllos im Verführen!“
„Der Seele Reichtum lege bloß!“
„Sei scheinbar kalt und rücksichtslos!“
Der Mann hat alles durchgeprobt,
hat hier sich ehrenhaft verlobt,
hat dort sich süß herangeplaudert,
hat zugegriffen und gezaudert,
hat Furcht und Mitleid auferweckt,
hat sich verschwiegen, sich entdeckt,
war zärtlich kühn,war reiner Tor,
doch wie er’s machte- er verlor,
zwar stimmte jeder Rat genau,
doch jeweils nicht für jede Frau.

Eugen Roth


 Marina antwortete am 09.09.05 (21:00):

Herbst-Gefühl

Müder Glanz der Sonne!
Blasses Himmelblau!
Von verklungner Wonne
Träumet still die Au.

An der letzten Rose
Löset lebenssatt
Sich der letzte lose,
Bleiche Blumenblatt!

Goldenes Entfärben
Schleicht sich durch den Hain!
Auch Vergehn'n und Sterben
Däucht mir süß zu sein.

Karl von Gerok


 Enigma antwortete am 10.09.05 (07:32):

Die Nacht am Strande


Sternlos und kalt ist die Nacht,
Es gärt das Meer;
Und über dem Meer, platt auf dem Bauch,
Liegt der ungestaltete Nordwind,
Und heimlich, mit ächzend gedämpfter Stimme,
Wie 'n störriger Griesgram, der gut gelaunt wird,
Schwatzt er ins Wasser hinein,
Und erzählt viel tolle Geschichten,
Riesenmärchen, totschlaglaunig,
Uralte Sagen aus Norweg,
Und dazwischen, weitschallend, lacht er und heult er
Beschwörungslieder der Edda,
Auch Runensprüche,
So dunkeltrotzig und zaubergewaltig,
Daß die weißen Meerkinder
Hoch aufspringen und jauchzen,
Übermutberauscht.

Derweilen, am flachen Gestade,
Über den flutbefeuchteten Sand,
Schreitet ein Fremdling, mit einem Herzen,
Das wilder noch als Wind und Wellen.
Wo er hintritt,
Sprühen Funken und knistern die Muscheln;
Und er hüllt sich fest in den grauen Mantel,
Und schreitet rasch durch die wehende Nacht; -
Sicher geleitet vom kleinen Lichte,
Das lockend und lieblich schimmert
Aus einsamer Fischerhütte.

Vater und Bruder sind auf der See,
Und mutterseelenallein blieb dort
In der Hütte die Fischertochter,
Die wunderschöne Fischertochter.
Am Herde sitzt sie,
Und horcht auf des Wasserkessels
Ahnungssüßes, heimliches Summen,
Und schüttet knisterndes Reisig ins Feuer,
Und bläst hinein,
Daß die flackernd roten Lichter
Zauberlieblich widerstrahlen
Auf das blühende Antlitz,
Auf die zarte, weiße Schulter,
Die rührend hervorlauscht
Aus dem groben, grauen Hemde,
Und auf die kleine, sorgsame Hand,
Die das Unterröckchen fester bindet
Um die feine Hüfte.

Aber plötzlich, die Tür springt auf,
Und es tritt herein der nächtige Fremdling;
Liebesicher ruht sein Auge
Auf dem weißen, schlanken Mädchen,
Das schauernd vor ihm steht,
Gleich einer erschrockenen Lilie;
Und er wirft den Mantel zur Erde,
Und lacht und spricht:

"Siehst du, mein Kind, ich halte Wort,
Und ich komme, und mit mir kommt
Die alte Zeit, wo die Götter des Himmels
Niederstiegen zu Töchtern der Menschen,
Und die Töchter der Menschen umarmten
Und mit ihnen zeugten
Zeptertragende Königsgeschlechter
Und Helden, Wunder der Welt.
Doch staune, mein Kind, nicht länger
Ob meiner Göttlichkeit,
Und, ich bitte dich, koche mir Tee mit Rum;
Denn draußen war's kalt,
Und bei solcher Nachtluft
Frieren auch wir, wir ewigen Götter,
Und kriegen wir leicht den göttlichsten Schnupfen
Und einen unsterblichen Husten."

Heinrich Heine


 eleisa antwortete am 10.09.05 (18:47):

Vergeblicher Anruf

O dünnes sausen in der schwarzen Muschel!
Statt schnellen Herzschlag nur ein leer Geticke!
Dann kommt, wie zwischen sieben Städten, ein Getuschel
Und eine müde Stimme, >> svarer ikke<<.

So muß die ferne Kammer also leer sein!
Du bist nicht hier. Nun bist du auch nicht dort.
Es ist als hörte ich: das Schiff muß auf dem Meer sein
Nach allen Seiten ganz unrufbar fort!

Das Zwiegespräch,das keine Stimmen brauchte
(das ungesprochene wurde doch gehört
und es gab Fragen, ganz neu aufgetauchte!)
nun erst ist unser Zwiegespräch gestört.

Berthold Brecht


 Illona antwortete am 11.09.05 (06:25):

Bertold Brecht: DIE BALLADE VON DER HANNA CASH

Mit dem Rock von Kattun und dem gelben Tuch
Und den Augen der schwarzen Seen
Ohne Geld und Talent und doch mit genug
Vom Schwarzhaar, das sie offen trug
Bis zu den schwärzeren Zeh'n:
Das war die Hanna Cash, mein Kind
Die die "Gentlemen" eingeseift
Die kam mit dem Wind und ging mit dem Wind
Der in die Savannen läuft.

Die hatte keine Schuhe und die hatte auch kein Hemd
Und die konnte auch keine Choräle!
Und sie war wie eine Katze in die große Stadt geschwemmt
Eine kleine graue Katze zwischen Hölzer eingeklemmt
Zwischen Leichen in die schwarzen Kanäle.
Sie wusch die Gläser vom Absinth
Doch nie sich selber rein
Und doch muß die Hanna Cash, mein Kind
Auch rein gewesen sein.

Und sie kam eines Nachts in die Seemannsbar
Mit den Augen der schwarzen Seen
Und traf J. Kent mit dem Maulwurfshaar
Den Messerjack aus der Seemannsbar
Und der ließ sie mit sich gehn!
Und wenn der wüste Kent den Grind
Sich kratzte und blinzelte
Dann spürt die Hanna Cash, mein Kind
Den Blick bis in die Zeh.

Sie "kamen sich näher" zwischen Wild und Fisch
Und "gingen vereint durchs Leben"
Sie hatten kein Bett und sie hatten keinen Tisch
Und sie hatten selber nicht Wild noch Fisch
Und keinen Namen für die Kinder.
Doch ob Schneewind pfeift, ob Regen rinnt
Ersöff auch die Savann
Es bleibt die Hanna Cash, mein Kind
Bei ihrem lieben Mann.

Der Sheriff sagt, daß er ein Schurke sei
Und die Milchfrau sagt: er geht krumm.
Sie aber sagt: Was ist dabei?
Es ist mein Mann. Und sie war so frei
Und blieb bei ihm. Darum.
Und wenn er hinkt und wenn er spinnt
Und wenn er ihr Schläge gibt:
Es fragt die Hanna Cash, mein Kind
Doch nur: ob sie ihn liebt.

(Aus : Die Hauspostille, 1927)


 Marina antwortete am 12.09.05 (23:36):

Mathematik der Feindschaft

Ich hatte einmal einen Feind.
Der hasste mich Tag und Nacht.
Der hätte mich, was mir auch logisch erscheint,
von Herzen gern umgebracht.

Dann aber: bekam ich noch einen Feind.
Und ich dachte: Zwei Feinde, na ja.
Doch was ich dabei übersah:
dass mein zweiter Feind mit dem ersten Feind
schon zehn Jahre verfeindet war.

Das merkte ich erst, als mein erster Feind
mich anrief: "Grüß Gott und blabla,
der Dings, wie mir scheint, ist dein Feind, mein Freund,
ein gemeinsamer Feind, der vereint, mein Freund,
küss die Hand, tatatü, tatata."

Sogleich erschien mir mein zweiter Feind
nicht mehr ganz so schlimm wie er war.
Denn ich dachte: ein Feind, der es feindlich meint,
der kann doch nicht sein meines Feindes Feind.
Ja, ich sah überhaupt nicht mehr klar:

Denn ich hatte zwei feindliche Freunde zum Feind.
Ein Gedanke, so traurig, so schön.
Ich hab mich betrunken, gelacht und geweint.
Feiner Freund, lieber Feind, o du feindlicher Freund.

Ach, niemals wird, wer mit e i n e m Feind,
was Feindschaft ist, zu begreifen meint,
das Geheimnis der Freundschaft verstehn.

Hans Scheibner


 Literaturfreund antwortete am 13.09.05 (05:49):

Heute als "lyrikmail Nr. 1118 - 13.09.2005"
------------------------------
Peter H i l l e:
Lord Byron


Antonius-Bakchos,
Ein ewiger Etonboy,
Erzog dich die Schönheit
Zu weicher Kraft und zu starker Schwäche.
Eine Schicht Held und eine Schicht Unart.
Tagumdrehender Freund der Natur,
Freund der Nacht -
Früh zogst du dir den Schnee aufs lockige Haupt
Und fielest vor deinem Tode als Held
An deines Leibes eigenem Mute.
So recht deinen eignen Tod
Bist du gestorben,
Eigen im Opfer
Nervöser Held.
Deiner Knabenschmerzen holder Trotz,
Sinnenstarke Knabenträume,
In königlichen Willens freien Stolz gefügt
Ragen deines Fühlens Bildnisreihen,
Empörung gegen die Satzung, die anders gewendet,
Du selber verehrtest!
*
Peter Hille (1854-1904)

Aus: Peter Hille: Blätter vom fünfzigjährigen Baum.
*
Zur URL: Aus der Nyland-Bibliothek:

Internet-Tipp: https://www.nyland.de/image/hille1.jpg


 Enigma antwortete am 13.09.05 (07:35):

aus: Hans Scheibner: Spott ist allmächtig - Lästerlyrik; Rowohlt, Reinbek, '77

Hans Scheibner: Ein Lied für meine besonderen Freunde

Ihr guten Freunde all, habt Dank!
Ich danke Euch mit dem Gesang
für Eure harte Kleinarbeit,
mit der ihr mein Gehirn befreit.
Von wahrer Freundschaft schwärmte ich!
Ach, ohne Euch, da wüßt ich nicht:
Mein allerbester Freund- bin ich!
Ihr Lehrer, die ihr mich gelehrt:
Der Mensch an sich ist gar nichts wert.
Ob Bösewicht, ob Frohnatur,
das richtet sich nach der Zensur.
Für Eure Lehr' bedank' ich mich.
Denn ohne Euch, da wüßt' ich nicht:
Mein bester Lehrer- der bin ich.
Ihr Lehrherrn, die ihr mir gezeigt:
Wer lernt, ist dumm. Wer dumm ist, schweigt.
Und wer was weiß, ist prima dran,
solang er es verbergen kann.
Für Eure Güte bedank ich mich.
Denn ohne Euch, da wüßt ich nicht:
Der's gut mit mir meint- das bin ich.
Ihr braven Bürger, gute Leut,
die ihr zu jedem freundlich seid,
der sich, ein Mensch zu sein, geniert
und sich genau wie ihr frisiert.
Für Eure Liebe bedank ich mich.
Denn ohne Euch, da wüßt ich nicht:
Wer mich liebt, wie ich bin? Na, ich!
Ihr Zeitungsschmierer, die ihr mir
vergällt die Freude am Papier
und mir erklärt: Wer schreibt, der bleibt,
wenn er das Vorgeschriebene schreibt.
Für Euer Wort bedank ich mich.
Denn ohne Euch, da wüßt ich nicht:
Wen frag ich nach der Wahrheit? Mich!
Ihr Weihrauchschwenker, fromme Leut,
Gott kommt gleich nach der Obrigkeit.
Er sitzt im Sittlichkeitsverein,
senil und fett und singt Latein.
Für Euren Gott bedank ich mich.
Denn ohne Euch, da wüßt ich nicht:
Am besten glaub ich nur an mich.
Ihr Freiheitskämpfer, die ihr befreit
die Unfreien in die Unfreiheit.
Und Freiheit brüllt und meint, es sei
der Mensch, Euch zu gehorchen, frei.
Für Eure Freiheit bedank ich mich.
Denn ohne Euch, da merkt ich nicht:
Der mich befrein muß- das bin ich!
Ihr Herren Richter: o, wie schön
lehrt ihr mich, Recht recht zu verstehn.
Recht haben: eine schlimme Tat
für jeden Schuft, der sonst nichts hat.
Recht ändert sich. Nicht das Gericht.
Habt Dank, ihr Herren, ihr lehret mich:
Recht, mich zu richten- hab nur ich!
Ja, Freunde habe ich genug,
die meinen's gut und sind sehr klug.
Sie haben alle einen Rat,
wie ich es machen muß, parat.
Ach, sie sind so besorgt um mich.
Und ohne sie, da wüßt ich nicht:
Wenn es drauf ankommt, hab ich- mich.


 Marina antwortete am 13.09.05 (21:53):

Ist der Scheibner nicht Klasse? Ich habe schon gemerkt, dass du ihn auch besonders zu schätzen weißt, Enigma. ;-)Hier noch etwas zum Abend:


Abendstimmung

Der Forst ruht still. Still ruht der Forst.
Der Adler schnarcht in seinem Horst.
Die Adlerin seufzt tief und schwer,
sie denkt an einen Ade-ler.
Die Wildsau sanft im Traume grunzt.
Der stolze Hirsch hat ausgebrunzt.
Die Eule ihr Gefieder spreizt.
Das Käuzchen sitzt im Baum und käuzt.
Der alte Förster Eduard
ging längst zu Bett, indes sein Bart
liegt sorgfältig und höchst apart
auf dem Plumeau breit aufgebahrt.
Der Mond schaut durch das Fenster zu,
und über allen Bettzipfeln herrscht Ruh.

Fred Endrikat


 Marina antwortete am 13.09.05 (21:55):

Karl, hier hakt etwas, beim Posten und bei der Platzverteilung. Könntest du bitte mal nachsehen und die Störung beseitigen? Danke.


 Karl antwortete am 13.09.05 (23:04):

Hallo Marina,

der Grund für die lange Verzögerung beim Posten neuer Beiträge ist die lange E-Mailliste, die das Programm abarbeiten muss. Sehr viele Leser des STs sind von euren Gedichten so begeistert, dass sie sich diese als E-Mail zuschicken lassen. Ich habe jetzt auf meine Wunschliste für technische Verbesserungen gesetzt, dass die Mails erst nach dem Erscheinen des neuen Beitrags im Forum für den Schreiber versendet werden. Die Umsetzung braucht aber Zeit.


 Marina antwortete am 14.09.05 (00:54):

Die Begeisterung der "sehr vielen Leser des STs" ist ja direkt "antörnend". Eine Zeitlang hatte ich keine Lust mehr, aber jetzt sehe ich mich natürlich verpflichtet weiterzumachen, trotz nicht ganz geklärter Copyrightbestimmungen. :-)


 Enigma antwortete am 14.09.05 (09:34):

aus: Wilhelm Schlösser (Hrsg.): Vorwiegend heiter; Europ. Buchclub, Stuttgart/Zürich/Salzburg
Fred Endrikat: Der wahre Menschenfreund

Ein Menschenfreund zu sein, ist nicht so schwer,
wenn Blick und Urteil rein und ungetrübt.
Ein wahrer Menschenfreund ist aber der,
der Menschen kennt - und sie doch trotzdem liebt.


 mmargarete01 antwortete am 14.09.05 (11:07):

Das Raunen hört man im Blätterwald,
der Wind pfeift es wird schon kalt.

Das Zwitschern der Vögel ängstlich hallen,
sie lassen es durch den Wald erschallen.

Aus der Ferne hört man das Grummeln,
Unwetter lässt alle Tiere verstummen.

Sie suchen den Schutz zwischen Zweigen,
es ist als wenn der Wald liegt im Schweigen.

Der weise Wind flüstert leise sehr kalt,
Herbst zieht durchs Land habt ihr’s erkannt.

©Margret Nottebrock


 mmargarete01 antwortete am 14.09.05 (11:16):

Freundschaftsengel

Ich schick dir einen Engel,
der dich zum lachen bringt,
das dein Mund fröhlich singt,
deine Augen wieder glänzen.
Freude in deinem Herzen,
die guten Engel kommen nur,
ein Mensch mit reinem Herzen,
darum bittet, ich bitte darum.
Der Engel lächelt mir zu,
nun weiß ich, mein Herz ist rein,
ich schicke dir das Engelein.

©Margret Nottebrock


 Illona antwortete am 15.09.05 (09:28):

Chamisso, Adalbert von (1781-1838)
Sehnsucht
Sterne und Blumen
Blicke Atem
Töne!
Durch die Räume ziehen
ein Ton der Liebe.
Sehnsucht!
Mit verwandten Tönen
sich vermählen,
glühen,
nie verhallen
und die Blumen
und die Sterne lieben.
Gegenliebe!
Sehnsucht!


 Marina antwortete am 15.09.05 (22:03):

Lieber Gott, gib Deinen Segen,
gib mir Donner, Blitz und Regen,
mach die Erde naß und nasser,
und den Swimmingpool voll Wasser!

Und bist du schon mal zugange,
zögere nicht allzulange,
gib mir auch in Deinem Namen
eine Badehose! Amen.

Internet-Tipp: https://www.bruhaha.de/verdrehte_gebete.html


 Enigma antwortete am 16.09.05 (14:36):


Kurt Tucholsky
Die freie Marktwirtschaft

Ihr sollt die verfluchten Tarife abbauen.
Ihr sollt auf euern Direktor vertrauen.
Ihr sollt die Schlichtungsausschüsse verlassen.
Ihr sollt alles Weitere dem Chef überlassen.
Kein Betriebsrat quatsche uns mehr herein,
wir wollen freie Wirtschaftler sein!
Fort, die Gruppen - sei unser Panier!
Na, ihr nicht. Aber wir.

Ihr braucht keine Heime für eure Lungen,
keine Renten und keine Versicherungen,
Ihr solltet euch allesamt was schämen,
von dem armen Staat noch Geld zu nehmen!
Ihr sollt nicht mehr zusammenstehn
- wollt ihr wohl auseinandergehn!
Keine Kartelle in unserm Revier!
Ihr nicht. Aber wir.

Wir bilden bis in die weiteste Ferne
Trusts, Kartelle, Verbände, Konzerne.
Wir stehen neben den Hochofenflammen

in Interessengemeinschaften fest zusammen.
Wir diktieren die Preise und die Verträge
- kein Schutzgesetz sei uns im Wege.
Gut organisiert sitzen wir hier...
Ihr nicht. Aber wir.


 Marina antwortete am 18.09.05 (23:38):

Bettina von Arnim
Eilt die Sonne nieder zu dem Abend

Eilt die Sonne nieder zu dem Abend,
Löscht das kühle Blau in Purpurgluten,
Dämmrungsruhe trinken alle Gipfel.
Jauchzt die Flut hernieder silberschäumend,
Wallt gelassen nach verbrauster Jugend,
Wiegt der Sterne Bild im Wogenspiegel.

Hängt der Adler, ruhend hoch in Lüften,
Unbeweglich wie in tiefem Schlummer;
Regt kein Zweig sich, schweigen alle Winde.
Lächelnd mühelos in Götterrhythmen,
Wie den Nebel Himmelsglanz durchschreitet,
Schreitet Helios schwebend über Fluren.

Feucht vom Zaubertau der heil'gen Lippen
Strömt sein Lied den Geist von allen Geistern
Strömt die Kraft von allen Kräften nieder
In der Zeiten Schicksalsmelodien,
Die harmonisch ineinander spielen
Wie in Blumen hell und dunkle Farben.
Und verjüngter Weisheit frische Gipfel,
Hebt er aus dem Chaos alter Lügen
Aufwärts zu dem Geist der Ideale.
Wiegt dann sanft die Blumen an dem Ufer,
Die sein Lied von süßem Schlummer weckte,
Wieder durch ein süßes Lied in Schlummer.
Hätt ich nicht gesehen und gestaunet,
Hätt ich nicht dem Göttlichen gelauschet,
Und ich säh den heil'gen Glanz der Blumen,
Säh des frühen Morgens Lebensfülle,
Die Natur wie neugeboren atmet,
Wüßt ich doch, es ist kein Traum gewesen.


 Enigma antwortete am 19.09.05 (08:35):

Hugo Ball
Totentanz 1916

So sterben wir, so sterben wir
Und sterben alle Tage,
Weil es so gemütlich sich sterben lässt.
Morgens noch in Schlaf und Traum,
Mittags schon dahin,
Abends schon zu unterst im Grabe drin.

Die Schlacht ist unser Freudenhaus,
Von Blut ist unsre Sonne,
Tod ist unser Zeichen und Losungswort.
Kind und Weib verlassen wir:
Was gehen sie uns an!
Wenn man sich auf uns nur verlassen kann!

So morden wir, so morden wir
Und morden alle Tage
Unsere Kameraden im Totentanz.
Bruder, reck Dich auf vor mir!
Bruder, Deine Brust!
Bruder, der Du fallen und sterben musst.

Wir murren nicht, wir knurren nicht,
Wir schweigen alle Tage
Bis sich vom Gelenke das Hüftbein dreht.
Hart ist unsre Lagerstatt,
Trocken unser Brot,
Blutig und besudelt der liebe Gott.

Wir danken Dir, wir danken Dir,
Herr Kaiser für die Gnade,
Dass Du uns zum Sterben erkoren hast.
Schlafe Du, schlaf sanft und still,
Bis Dich auferweckt
Unser armer Leib, den der Rasen deckt.

Internet-Tipp: https://www.lyrikwelt.de/autoren/ballhugo.htm


 Marina antwortete am 20.09.05 (22:23):

Hans Magnus Enzensberger
geburtsanzeige

wenn dieses bündel auf die welt geworfen wird
die windeln sind noch nicht einmal gesäumt
der pfarrer nimmt das trinkgeld eh ers tauft
doch seine träume sind längst ausgeträumt
es ist verraten und verkauft

wenn es die zange noch am schädel packt
verzehrt der arzt bereits das huhn das es bezahlt
der händler zieht die tratte und es trieft
von tinte und von blut der stempel prahlt
es ist verzettelt und verbrieft

wenn es im süßlichen gestank der klinik plärrt
beziffern die strategen schon den tag
der musterung des mord der scharlatan
drückt seinen daumen unter den vertrag
es ist versichert und vertan

noch wiegt es wenig häßlich rot und zart
wiviel es netto abwirft welcher richtsatz gilt
was man es lehrt und was man ihm verbirgt
die zukunft ist vergriffen und gedrillt
es ist verworfen und verwirkt

wenn es mit krummern hand die luft noch fremd begreift
steht fest was es bezahlt für milch und telefon
der gastarif wenn es im grauen bett erstickt
und für das weib das es dann wäscht der lohn
es ist verbucht verhängt verstrickt

wenn nicht das bündel das da jault und greint
die grube überhäuft den groll vertreibt
was wir ihm zugerichtet kalt zerrauft
mit unerhörter schrift die schiere zeit beschreibt
ist es verraten und verkauft

Internet-Tipp: https://www.gunnis.de/gedichte/g0050.htm


 Enigma antwortete am 21.09.05 (09:17):

Aleksandr Blok

Das Seltsame, Neue such' ich auf den Seiten
Von Büchern, zerlesen und alt,
Verpasste Momente mein Spürsinn begleitet
Und Vögel aus uralter Zeit.

Vom rauschenden Leben unbändig besessen,
Ein Flüstern, ein Schrei mich berührt,
Der reinweiße Traum ist es, der mich gefesselt
Ans Ufer der Vorzeit entführt.

Du bist die Weiße, die niemals Getrübte,
Im Leben so streng und so zornig,
Die heimlich erregende, heimlich geliebte,
Die Jungfrau, der Dornbusch, der Morgen.

Die Wangen goldlockiger Mädchen erbleichen,
Der Morgen, wie's Träumen, wird fahl.
Die Dornen bekränzen die Friedlichen, Weisen,
Vom Feuer, dem weißen, umstrahlt.

4. April 1902


 eleisa antwortete am 22.09.05 (19:39):

Sie lernte Stenographin,
er war Engros-Kommis.
Im Speisewagen traf ihn
Ein Blick. Er liebte sie.

Auf einer Haltestelle
Brach man die Reise ab,
woselbst er im Hotelle
sie als sein Weib ausgab.

Nicht viel, das man sich fragte.
Doch küssten sie genug.
Und als der Morgen tagte,
ging schon der nächste Zug.

Nach einer kurzen Stunde
Fand ihre Fahrt den Schluß.
Er nahm von ihrem Munde
Noch einen heissen Kuss.

Er sah sie schnupftuchwinkend
Noch stehn zum letzten Mal,
und in sein Auge blinkend
sich eine Träne stahl.

Er soll sie heut noch lieben.
Sie war so drall und jung.
Ihr ist ein Kind geblieben
Und die Erinnerung.


Erich Mühsam


 Citro antwortete am 23.09.05 (09:23):

Zu spät

Die alten Zähne wurden schlecht,
und man begann, sie auszureißen,
die neuen kamen grade recht,
um mit ihnen ins Gras zu beißen. (Heinz Erhardt)
#
Weiß jemand einen (eher lustigen) Text, den meine Mutter zum 50. Geburtstag meines Bruders vortragen kann???


 Enigma antwortete am 24.09.05 (21:42):

@citro
Auf Anhieb nicht. Aber ich werde gerne darüber nachdenken, wenn es dann nicht zu spät ist...

1900-1920
Konstantinos Kavafis/Ithaka

Brichst du auf gen Ithaka,
wünsch dir eine lange Fahrt,
voller Abenteuer und Erkenntnisse.
Die Lästrygonen und Zyklopen,
den zornigen Poseidon fürchte nicht,
solcherlei wirst du auf deiner Fahrt nie finden,
wenn dein Denken hochgespannt, wenn edle
Regung deinen Geist und Körper anrührt.
Den Lästrygonen und Zyklopen,
dem wütenden Poseidon wirst du nicht begegnen,
falls du sie nicht in deiner Seele mit dir trägst,
falls deine Seele sie nicht vor dir aufbaut.

Wünsch dir eine lange Fahrt.
Der Sommermorgen möchten viele sein,
da du, mit welcher Freude und Zufriedenheit!
In nie zuvor gesehene Häfen einfährst;
Halte ein bei Handelsplätzen der Phönizier
Und erwirb die schönen Waren,
Perlmutter und Korallen, Bernstein, Ebenholz
Und erregende Essenzen aller Art,
so reichlich du vermagst, erregende Essenzen,
besuche viele Städte in Ägypten,
damit du von den Eingeweihten lernst und wieder lernst.

Immer halte Ithaka im Sinn.
Dort anzukommen ist dir vorbestimmt.
Doch beeile nur nicht deine Reise.
Besser ist, sie dauere viele Jahre;
Und alt geworden lege auf der Insel an,
reich an dem, was du auf deiner Fahrt gewannst,
und hoffe nicht, dass Ithaka dir Reichtum gäbe.

Ithaka gab dir die schöne Reise.
Du wärest ohne es nicht auf die Fahrt gegangen.
Nun hat es dir nicht mehr zu geben.

Auch wenn es sich dir ärmlich zeigt, Ithaka betrog dich nicht.
So weise, wie du wurdest, in solchem Maße erfahren,
wirst du ohnedies verstanden haben, was die Ithakas bedeuten.


 Marina antwortete am 25.09.05 (17:21):

Enigma, das Gedicht gefällt mir sehr gut. Sind die Jahreszahlen der Titel des Gedichts? Beschreibt das Gedicht eine Reise innerhalb dieser 20 Jahre?

Hier eins von Erich Fried:
Alter

Zuletzt werde ich vielleicht
wie als Kind
wenn ich allein war
wieder freundlich grüßen:
„Guten Morgen, Fräulein Blume“
„Guten Abend, Herr Baum“
und mich verbeugen
und sie mit der Hand berühren
und mich bedanken
daß sie mir ihre Zeit gegönnt haben

Nur daß sie mir antworten
und auch „Guten Morgen“
und „Guten Abend“ sagen
werde ich dann
nicht mehr glauben

Oder vielleicht doch wieder?
Davor habe ich Angst


 Enigma antwortete am 26.09.05 (13:33):

Hallo Marina,
....ja, gefiel mir auch, das Gedicht "Ithaka".
Aber das von Fried natürlich auch.
Die Jahresangaben bei dem Kavafis-Gedicht sollen wohl bedeuten, dass es innerhalb der angegebenen Zeitspanne entstanden ist.
Inzwischen ist mir aber auch bekannt, dass es 1911 entstanden ist. (she folgenden Auszug!)

...„Das Gesamtmotto der Aktivitäten "Neue Wege nach Ithaka" wurde dem Gedicht "Ithaka" (1911) von Konstantinos Kavafis entlehnt, das sich wiederum auf die Odyssee bezieht: "Wenn Du deine Reise / nach Ithaka antrittst, / So hoffe, dass / der Weg lang sei, / Reich an Entdeckungen / und Erlebnissen ...". Es stützt sich auf die Idee, dass die Lektüre eines Buches die Möglichkeit zu einer Reise in die Welt des Denkens, der Phantasie und des ätherischen Genusses bietet. „....
https://www.griechische-botschaft.de/kultur/buchmesse2001/20062001.htm

Und weil es uns gefallen hat, gleich noch eines von ihm:
:-))


DAMIT SIE KOMMEN

Eine Kerze genügt. Ihr Licht, das matte,

fügt sich besser, schmeichelt mehr,

wenn sie kommen, die Schatten, die Schatten der Liebe.

Eine Kerze genügt. Das Zimmer sei heut' abend

ohne helles Licht. Tief in Träumerei versunken,

voll Empfänglichkeit und bei schwachem Licht -

so in Träumerei versunken gebe ich mich Gaukelbildern hin,

damit sie kommen, die Schatten, die Schatten der Liebe

(Konstantin Kavafis)


 Enigma antwortete am 26.09.05 (13:47):

@Citro

Ich bin nicht so recht fündig geworden im Hinblick auf das von dir gewünschte Geburtstagsgedicht.
Da es etwas lustiger sein soll, evtl. das von Eugen Roth?
Obwohl das jetzt auch nicht unbedingt speziell eines zum 50. Geburtstag ist.
Es gibt mehrere Seiten im Web, die Geburtstagsgedichte anbieten, teils ohne, teils mit "Bezahlung".
Eine URL gebe ich dir mal an. Aber ich bin mir über die Qualität dieser Gedichte absolut nicht im klaren. Das müßtest du selbst mal abklären.
Aber nun das von Roth:

Die Torte

Ein Mensch kriegt eine schöne Torte.
Drauf stehn in Zuckerguss die Worte:
"Zum heutgen Geburtstag Glück!"
Der Mensch isst selber nicht ein Stück,
Doch muss er in gewaltgen Keilen
Das Wunderwerk ringsum verteilen.

Das Glück", das "heu",
der "Tag" verschwindet,
Und als er nachts die Torte findet,
Da ist der Text nur mehr ganz kurz.
Er lautet nämlich nur noch: ..."burts" ...
Der Mensch, zur Freude jäh entschlossen,
Hat diesen Rest vergnügt genossen.

Eugen Roth

Internet-Tipp: https://www.festpark.de


 Marina antwortete am 29.09.05 (13:52):

Bürger, schont eure Anlagen

Arbeit lässt sich schlecht vermeiden,
und sie ist der Mühe Preis.
Jeder muss sich mal entscheiden.
Arbeit zeugt noch nicht von Fleiß.

Arbeit muss es quasi geben.
Denn der Mensch besteht aus Bauch.
Arbeit ist das halbe Leben,
und die andre Hälfte auch.

Seht euch vor, bevor ihr schuftet!
Zieht euch keinen Splitter ein.
Wer behauptet, dass Schweiß duftet,
ist (ganz objektiv) ein Schwein.

Zählt die Arbeit zu den Strafen!
Wer nichts braucht, braucht nichts zu tun.
Legt euch mit den Hühnern schlafen.
Wenn es geht: pro Mann ein Huhn.

Manche geben keine Ruhe,
und sie schuften voller Wut.
Doch ihr Tun ist nur Getue,
und es kleidet sie nicht gut.

Lasst euch auf den Sofas treiben!
Gut geträumt ist halb gelacht.
Hände sind zum Händereiben.
Sprecht schon morgens: "Gute Nacht."

Lasst die Wecker ruhig rasseln!
Zeigt dem Krach das Hinterteil.
Lasst die Moralisten quasseln.
Bietet euch nicht täglich feil.

Wozu macht ihr Karriere?
Ist die Erde denn kein Stern?
Tut, als ob stets Sonntag wäre,
denn es ist der Tag des Herrn.

Vieles tun heißt vieles leiden.
Lebt, so gut es geht von Luft.
Arbeit lässt sich schlecht vermeiden,
doch wer schuftet, ist ein Schuft!

Erich Kästner
1899 - 1974

Nach diesem Gedicht bin ich kein Schuft. :-)


 hl antwortete am 29.09.05 (18:03):

Für mlB zum fünften Jahr ;-)


Wie die Geigen des Herbstes mein Herz verwunden
mit tiefem Seufzen, mit schwerem Sehnen
bleich mit stockendem Atem hör' ich die Stunden schlagen
gedenke vergangener Tage und weine

und wandern muß ich weiter im treibenden Wind
hierhin und dorthin
ein welkes Blatt

Verlaine


 Enigma antwortete am 30.09.05 (08:45):

Christina G. Rossetti (1830-94)
Song

When I am dead, my dearest,
Sing no sad songs for me;
Plant thou no roses at my head,
Nor shady cypress tree:
Be the green grass above me
With showers and dewdrops wet;
And if thou wilt, remember,
And if thou wilt, forget.
I shall not see the shadows,
I shall not feel the rain;
I shall not hear the nightingale
Sing on, as if in pain:
And dreaming through the twilight
That doth not rise nor set,
Haply I may remember,
And haply may forget.

Lied
Bin ich einst tot, mein Liebster,
sing keine Trauermessen;
pflanz mir zu Häupten Rosen nicht
noch schattige Zypressen:
Laß grünes Gras mich decken,
das Tau und Regen näßt;
und wenn ihr wollt, gedenket,
und wenn ihr wollt, vergeßt.
Ich sehe nicht die Schatten,
spür nicht des Regens Fall;
hör nicht den schwermutsatten
Gesang der Nachtigall;
und träumend lang im Dämmer,
der nimmer steigt noch fällt,
wer weiß, ob ich gedenke,
ob ich vergeß der Welt.
[aus dem Englischen von Hans Hennecke]

Internet-Tipp: https://www.bautz.de/bbkl/r/rossetti_c_g.shtml


 Marina antwortete am 02.10.05 (22:49):

Heute ist Sonntag

Heute haben sie mich das erste Mal in die Sonne hinausgelassen.
Ich bin das erste mal in meinem Leben
so sehr verwundert darüber dass der Himmel so sehr weit
weg von mir ist so sehr blau ist so sehr großflächig ist
ohne mich zu rühren stand ich da.

Danach setze ich mich mit Ehrfurcht auf die Erde,
meinen Rücken lehnte ich an die Wand.
In diesem Moment dachte ich weder an das Fallen der
Wellen, noch an Streit, noch Freiheit, noch an meine Frau.

Die Erde, die Sonne und ich... Ich bin überglücklich...

Nazim Hikmet


 Marina antwortete am 03.10.05 (11:19):

Jetzt kam meine Bemerkung relativ schnell raus. Hast du schon etwas geändert? Bitte Karl, lösche danach all die Prosa wieder. Sie verdirbt den Gesamteindruck. :-)


 Enigma antwortete am 03.10.05 (11:27):

..,.wird jetzt gleich nochmal von mir probiert, Marina...
:-))

Aus Erich Schairers "Sonntags-Zeitung" 1926
von Tyll alias Josef Eberle alias Sebastian Blau
Ode an die Dummheit

Laß mich um Deinen Sockel Kränze winden
Aus Immortellen und aus Immergrün!
Nie wird die Allmacht Deines Thrones schwinden,
Und Deiner Hand das Zepter zu entwinden,
Ist heißes, doch vergebliches Bemühn.
Wie hehr, wenn Du, von Ochsen und Kamelen
Umringt, an denen Du in Liebe hängst,
Politikern und teutschen Generälen
Und wotanstollen Hakenkreuzlerseelen
Die volle Sonne Deiner Gnade schenkst!
Heil ihm, den Du mit segensreichen Händen
Im Überschwang geruhst zu benedein:
Laut Bibel wird er einst im Himmel länden,
Auf Erden sind die dicksten Dividenden
(Kartoffeln, wie man früher sagte) sein!
Noch nie gelang's, sich Deiner zu erwehren,
Dein Schild ist gegen Hieb und Stoß gefeit.
(Und könnte diese Welt Dich denn entbehren -?)
O laß mich drum in Andacht Dich verehren,
Denn Dein ist Reich und Macht und Herrlichkeit!


 Enigma antwortete am 03.10.05 (17:09):

Wahltag

Wie herrlich ist's, ein freies Volk zu sehen,
das sich in eignem Namen stolz regiert —
von acht bis fünf — indem es schwarz markiert
die Auserwählten, die auf Listen stehen!

Ha, solches Tun erfüllt die innern Zonen
mit dem Bewußtsein höchsten Menschenwerts;
im Herzen, wo die Hochgefühle wohnen,
dampft es vor Stolz und brodelt es und gärt's.

Von acht bis fünf regiert das Volk sich selber,
als wüßt' es nichts von Pferch und Herdenvieh;
und jeder hält die anderen für Kälber,
und er allein ist klug und ein Genie.

Bis dann um fünf die Urnen sich entleeren
und sich enthüllt als Resultat des Tags:
daß alle alten Herren wiederkehren,
gefolgt von jungen Männern alten Schlags.

Und strahlend ziehen sie vor unsern Augen
und hoch erhaben in das Parlament;
sie haben's schriftlich, daß sie etwas taugen
und daß man ihre Weisheit anerkennt.

Wir aber atmen auf, beglückt zu wissen,
daß andere des Selbstregierens Last
von uns zu nehmen eifervollst beflissen;
mag nun die Sorgen tragen, wem das paßt —
wir wühlen uns befriedigt in die Kissen.


1928, 22 Mufti Bufti
(Pseudonym von Max Barth)

Internet-Tipp: https://www.erich-schairer.de/maa/kap059.html


 Marina antwortete am 03.10.05 (22:22):

Hier zur Geschichte von P.Dehmel auch ein Gedicht. Passt sogar zu den letzten Zeilen des vorherigen. :-)

Anziehliedchen

Wer strampelt im Bettchen?
Versteck sich wie'n Dieb?
Das ist der Rumpumpel,
Den haben wir lieb.
Was guckt da für'n Näschen?
Ein Bübchen sitzt dran.
Das ist der Rumpumpel,
Den ziehn wir jetzt an.
Erst wird er gewaschen
Vom Kopf bis zur Zeh;
Er weint nicht, er greint nicht,
Denn es tut ja nicht weh.
Schnell her mit dem Hemdchen:
Da schlüpfen wir fein
Erst rechts und dann links
In die Ärmelchen 'rein.
Fix an noch die Strümpfchen,
Fix an auch die Schuh;
Kommt's Händchen, schnürt's Bändchen,
Schon sind sie zu.
Nun Leibchen und Höschen,
Ein Röckchen kommt auch;
Sonst friert dem Rumpumpel
Sein kleiner runder Bauch.
Das Kämmchen kämmt sachte,
Aber still muß man stehn;
Zuletzt noch das Kleidchen,
Der Tausend, wie schön!
Nun geht er und sagt: Guten Morgen

Paula Dehmel (1862-1918)


 Enigma antwortete am 04.10.05 (11:56):

...niedlich, das Anziehliedchen. :-)

Den Naturdichtern

Titan und Zwerg, das Große, wie das Kleine,
Ist Poesie, und Poesie im Halme,
Wie in des Orientes stolzer Palme,
Und Poesie noch in der Weisen Steine;

Und Poesie die Mück' im Sonnenscheine,
Und Poesie in eines Dampfschiffs Qualme,
Und Poesie auf einer Schweizeralme,
Und Poesie vor allem auch im Weine.

Wo euch des Himmels heil'ge Luft umweht,
Da rauscht die Poesie mit ihren Schwingen;
Sie fehlet nie, oft fehlt nur der Poet.

Wie Gott, ist sie zuletzt in allen Dingen:
Doch wenn einmal ein Löwe vor euch steht,
Sollt ihr nicht das Insekt auf ihm besingen.


Georg Herwegh
(1817-1875)

aus: Lieder eines Lebendigen (1841)

Internet-Tipp: https://www.schule.de/schulen/GHO/fachbereiche/deutsch/herwegh.htm


 Marina antwortete am 04.10.05 (22:11):

Töff töff -Hurra!

Puff puff puff und töff töff töff -
Kindsgeschrei und Hundsgekläff!
Durch die Linden rase, rase!
Patriotisch, mit Emphase!
Hurra, hurra! Ganz Berlin
stinkt nach Gummi und Benzin.

Holla, holla, Polizei!
Halte Platz und Straßen frei,
daß das Auto nicht mehr weichen
oder stolpern über Leichen
braucht, denn das gab erst Geschrei
und 'ne Straßenschweinerei.

Maul gehalten, Bürgersmann!
Was gehn dich die Autos an?
Schleunigst ran zu Huldigungen,
»Deutschland, Deutschland« mitgesungen!
Andernfalls fliegst du ins Loch.
Hurra, hurra - dreimal hoch!

Tutend, pustend kommt's gesaust,
Jubel und Begeist'rung braust.
Mütter krähen, Väter niesen:
Deutschlands Treue ist erwiesen.
Kindsgeplärr und Hundsgekläff -
Deutschland - hoch! hurra! töff töff!

Erich Mühsam
(aus: Der Wahre Jacob, 1903)

Passt es nicht gut zum 3. Oktober? :-)


 Enigma antwortete am 08.10.05 (07:41):

aus: Wilhelm Schlösser (Hrsg.): Vorwiegend heiter
Dr. Owlglass: Prophylaxe

"Säß' ich auf hohen Fürstenthronen -"
... Dein Wunsch blieb leider ungestillt.
"Was tät' ich, hätt' ich Millionen!"
... Da fehlt's ja wohl... die Zähre quillt.
"Wenn ich zum Beispiel Goethe wäre -"
... Nun bist du halt bloß schwachbekopft.
"Ich überwände Raum und Schwere,
gesetzt den Fall -" ... Die Träne tropft.
... O Freund, du sparst dir viele Qualen
von Oberprima bis zum Grab,
gewöhnst du dir die irrealen
Bedingungssätze zeitig ab.


 Marina antwortete am 11.10.05 (18:45):

Kurt Tucholsky
Danach

Es wird nach einem happy end
im Film jewöhnlich abjeblendt.
Man sieht bloß noch in ihre Lippen
den Helden seinen Schnurrbart stippen --
da hat sie nu den Schentelmen.
Na, un denn --?

Denn jehn die Beeden brav ins Bett.
Na ja ... diss is ja auch janz nett.
A manchmal möcht man doch jern wissn:
Wat tun se, wenn se sich nich kissn?
Die könn ja doch nich immer penn ...!
Na, un denn --?

Denn säuselt im Kamin der Wind.
Denn kricht det junge Paar 'n Kind.
Denn kocht sie Milch. Die Milch looft üba.
Denn macht er Krach. Denn weent sie drüba.
Denn wolln sich Beede jänzlich trenn ...
Na, un denn --?

Denn is det Kind nich uffn Damm.
Denn bleihm die Beeden doch zesamm.
Denn quäln se sich noch manche Jahre.
Er will noch wat mit blonde Haare:
vorn dof und hinten minorenn ...
Na, un denn --?

Denn sind se alt. Der Sohn haut ab.
Der Olle macht nu ooch bald schlapp.
Vajessen Kuß und Schnurrbartzeit --
Ach, Menschenskind, wie liecht det weit!
Wie der noch scharf uff Muttern war,
det is schon beinah nich mehr wahr!

Der olle Mann denkt so zurück:
Wat hat er nu von seinen Jlück?
Die Ehe war zum jrößten Teile
vabrühte Milch un Langeweile.
Und darum wird beim happy end
im Film jewöhnlich abjeblendt.

:-(
Resignation pur :-)


 Enigma antwortete am 12.10.05 (07:32):

Theodor Kramer
Wer läutet draußen an der Tür?

Wer läutet draußen an der Tür,
kaum daß es sich erhellt?
Ich geh schon, Schatz. Der Bub hat nur
die Semmeln hingestellt.

Wer läutet draußen an der Tür?
Bleib nur; ich geh, mein Kind.
Es war ein Mann, der fragte an
beim Nachbar, wer wir sind.

Wer läutet draußen an der Tür?
Laß ruhig die Wanne voll.
Die Post war da; der Brief ist nicht
dabei, der kommen soll.

Wer läutet draußen an der Tür?
Leg du die Betten aus.
Der Hausbesorger war's; wir solln
am Ersten aus dem Haus.

Wer läutet draußen an der Tür?
Die Fuchsien blühn so nah.
Pack, Liebste, mir mein Waschzeug ein
und wein nicht: sie sind da.

https://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=7260&ausgabe=200407

Internet-Tipp: https://www.literaturhaus.at/buch/buch/rez/kramer1/bio.html


 Marina antwortete am 12.10.05 (22:13):

Nachtlektuere

Von hinten links, das Buch beleuchtend,
gemütlich warmer Lampenschein...
Du drehst... die Finger sacht befeuchtend
die Seiten um und hüllst dich ein -

ja, mummst dich ein in weiche Decken,
die Schlummerrolle im Genick,
um wohlig dich im Bett zu strecken
gelöst, doch mit gebanntem Blick.

Ringsum schier klösterlicher Frieden
und draussen Schnee, der fällt und fällt...
So liegst du, still und abgeschieden,
und liest, was dich in Spannung hält.

Behext, gefesselt und gefangen
vom heissen Kriminalroman,
drängt dich ein brennendes Verlangen
nach dem Bescheid:" Wer hat's getan?"

Noch eh du zwar den mysteriösen
und heiklen Fall bewältigt hast,
fängst du schon langsam an zu dösen,
und gähnst -u-aaaah! - und schläfst schon fast.!

Auf Seite hundert-sechs-und-dreissig
(das Opfer stöhnt:" Bald ruhst auch du!")
machst du, es schneit noch immer fleissig -
das Buch und dann die Augen zu

Fridolin Tschudi
(1912-1966)


 Enigma antwortete am 13.10.05 (07:32):

Friedrich Stoltze
Ihr könnt in meinen alten Tagen

Ihr könnt in meinen alten Tagen
Mich schleppen vor ein Strafgericht,
Mich sammt der Gicht in's Zuchthaus tragen,
Doch bessern, bessern wird's mich nicht!

Das Uebel ist mir anerzogen,
Und, ach, so etwas haftet schwer;
Es stammt noch von den Demagogen,
Noch aus dem alten "Rebstock" her.

Dort auf dem Arm - als kleines Bübchen -
Nahm mich die Göttin Freiheit schon,
Trug singend mich herum im Stübchen,
Und ich behielt des Liedes Ton.

Von Freiheit muß ich immer singen,
So lang' mein Herz noch fühlt und lebt;
Nach Freiheit, Freiheit muß ich ringen,
So lange, bis man mich begräbt.

Begräbt man mich im schwarzen Röckchen,
Das Meister Hobel hat gefügt,
Ich bitt' um ein paar Blumenglöckchen,
Sonst weiter gar nichts. Das genügt.

Im Leben hatte ich der Schmerzen,
Der Pein, der Sorge so vollauf;
Der Tod nimmt mir den Stein vom Herzen,
O, wälzt mir keinen neuen drauf!

Und wann die Siegeshörner blasen,
Und glüht der Völker Morgenroth,
Heb' ich hinweg den leichten Rasen
Und rufe "Freiheit" noch im Tod.

Internet-Tipp: https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Stoltze


 Marina antwortete am 14.10.05 (18:52):

Dazu passt Heinrich Heine:

Anno 1829

Daß ich bequem verbluten kann,
Gebt mir ein edles, weites Feld!
Oh, laßt mich nicht ersticken hier
In dieser engen Krämerwelt!

Sie essen gut, sie trinken gut,
Erfreun sich ihres Maulwurfglücks,
Und ihre Großmut ist so groß
Als wie das Loch der Armenbüchs.

Zigarren tragen sie im Maul
Und in der Hosentasch die Händ;
Auch die Verdauungskraft ist gut -
Wer sie nur selbst verdauen könnt!

Sie handeln mit den Spezerein
Der ganzen Welt, doch in der Luft,
Trotz allen Würzen, riecht man stet
Den faulen Schellfischseelenduft.

Oh, daß ich große Laster säh,
Verbrechen, blutig, kolossal -
Nur diese satte Tugend nicht,
Und zahlungsfähige Moral!

Ihr Wolken droben, nehmt mich mit,
Gleichviel nach welchem fernen Ort!
Nach Lappland oder Afrika,
Und sei's nach Pommern'- fort ! nur fort!

Oh, nehmt mich mit - Sie hören nicht -
Die Wolken droben sind so klug!
Vorüberreisend dieser Stadt,
Ängstlich beschleun'gen sie den Flug.


 eleisa antwortete am 14.10.05 (22:27):


Der Gast
Berthold Brecht.

Sie fragt ihn viel,wiewohl es draußen nachtet
An sieben Jahre gibt er eilends aus
Und hört: im Hofe wird ein Huhn geschlachtet
Und weiß:es ist kein zweites mehr im Haus.

Er wird vom Fleische wenig essen morgen.
Sie sagt: Greif zu, er sagt: ich bin noch satt.
Wo warst du gestern, vor du kamst?-Geborgen!
Und woher kommst Du?-Aus der nächsten Stadt!

Nun steht er eilends auf,die zeit entflieht!
Er sagt ihr lächelnd: Lebe wohl!- Und du?
Zögernd entfällt ihr seine Hand: sie sieht
Ihr unbekannten Staub auf seinem Schuh.


 Enigma antwortete am 15.10.05 (07:46):

Ich brauche jemanden nur zu sehen-
Und schon weiß ich über ihn Bescheid.
Ich brauche mit jemanden nur ein paar Worte zu wechseln-
Und schon weiß ich, mit wem ich es zu tun habe.
Ich brauche über jemanden nur dieses oder jenes zu hören-
Und schon weiß ich, was für ein Mensch er ist.
Mein Gott,
es ist erschreckend,
wie schnell ich jemanden zu kennen glaube-
und wie lange es dauert,
bis ich mein voreiliges Urteil ändere.
Petrus Ceelen

Internet-Tipp: https://www.autoren-bw.de/inc/su_aut.php?id=135


 Marina antwortete am 18.10.05 (22:18):

Im Atemhaus

Unsichtbare Brücken spannen
von dir zu Menschen und Dingen
von der Luft zu deinem Atem

Mit Blumen sprechen
die du liebst

Im Atemhaus wohnen
eine Menschblumenzeit

Rose Ausländer


 Enigma antwortete am 19.10.05 (08:28):

Alfred Wolfenstein
Städter

Dicht wie die Löcher eines Siebes stehn
Fenster beieinander, drängend fassen
Häuser sich so dicht an, daß die Straßen
Grau geschwollen wie Gewürgte stehn.

Ineinander dicht hineingehakt
Sitzen in den Trams die zwei Fassaden
Leute, ihre nahen Blicke baden
Ineinander, ohne Scheu befragt.

Unsre Wände sind so dünn wie Haut,
Daß ein jeder teilnimmt, wenn ich weine.
Unser Flüstern, Denken ... wird Gegröle ...

- Und wie still in dick verschlossner Höhle
Ganz unangerührt und ungeschaut
Steht ein jeder fern und fühlt: alleine


 Enigma antwortete am 04.11.05 (08:17):

Fedor Tjutcev (1803-1873)

Letzte Liebe

Wie an der Neige unsrer Zeit
Wir zarter, abergläubischer lieben!
Als Abglanz der Vergänglichkeit
Ist, letzte Liebe, dein Strahl geblieben.

Den halben Himmel deckt die Nacht,
Und nur im Westen schweifen Lichter.
Verweile, verweile, du Abendpracht,
Verstrick mich, Zauber, dicht und dichter.

Mag spärlicher das Blut sich regen,
Doch voller Zartheit ist das Herz.
O letzte Liebe, Fluch und Segen
Und Glück und hoffnungsloser Schmerz.
1854

Übersetzt von Dietrich Gerhardt
Literatur: Russische Lyrik. Gedichte aus drei Jahrhunderten. Ausgewählt und eingeleitet von Efim Etkind; Serie Piper 1987


 mmargarete01 antwortete am 04.11.05 (16:29):

Das Wunder Liebe

Das Größte aller Wunder ist die Liebe.
Du kannst sie nie sehen aber fühlen.
Viele Arten der Liebe trägst du in dir,
doch wer die Liebe im Herzen hat,
hat auf Erden in sich den größten Schatz.
Auch für Trauer und Leid ist da Platz,
ohne Liebe würdest du die Trauer nicht fühlen,
so sind verwundbar mit Liebe deine Gefühle.
Lass die Liebe immer in dein Herz,
auch wenn nicht gefeilt vor weltlichen Schmerz,
trägst du dieses größte Gut, Liebe in dir.
Öffne dein Herz, jetzt und hier.
Verschlossen ist es in dir kalt wie Eis,
du verpasst die innere Seligkeit.

©Margret Nottebrock


 kropka antwortete am 06.11.05 (18:17):

Nachträglicher Abschied

Auf einmal und ganz unvermittelt
bleibt man stehn.
Und horcht.

Da war etwas.
Etwas ist vergangen.

(Wir sehen uns bald,
wir werden reden,
wir werden auch zusammen essen gehn.)

Es wäre Zeit gewesen,
zu hören und zu sehn.

Ich wusste, ungenau,
und hatte viel zu tun.

Elisabeth Borchers


 angelottchen antwortete am 06.11.05 (20:41):

Ein Wiegenlied von Atahualpa Yupanqui, (1908-1992):
Er gilt als größter Interpret der Folklore Argentiniens. Als (linkshändiger) Gitarrist, Sänger, Komponist und Dichter hat er ein Werk hinterlassen, das einem die musikalische Seele Südamerikas näher bringt. Yupanqui verstand es gleichermaßen über schlichte ländliche wie über philosophische universelle Themen zu singen, wobei er sich stets der einfachen Sprache der Volksdichtung und des populären Liedes bediente.
"Ich wurde Anfang des Jahrhunderts in einem Dorf in der argentinischen Pampa geboren. Meine Mutter war Baskin und von ihr habe ich die Liebe zur Freiheit. Mein Vater war Indianer und Landarbeiter: Er hat mir den Sinn für die Stille der Wälder und der Steine gegeben. Ich nehme die Not des Volkes in mir auf, die Verlassenheit des Menschen, seinen Schmerz, den ich empfinde, wie einen eigenen Schmerz. Ich glaube der Mensch und sein Lied müssen sich Aufrichtigkeit und Freiheit bewahren."
Soweit Atahualpa Yupanqui, der etwa 1500 Volkslieder seiner Heimat gesammelt hat. Das ist der fruchtbare Humus, auf dem seine Lieder entstanden. Atahualpa Yupanqui, der erst ins Ausland, nach Paris gehen musste, um - auch in seiner Heimat - Erfolg zu haben: Er wurde "entdeckt", als er 1950 an der Seite von Edith Piaf im Pariser "Théâtre de l'Athénée" auftrat.


Duerme, negrito
Text und Musik: Atahualpa Yupanqui

Duerme, duerme negrito,
que tu mamá está en el campo,
negrito.
Sie schafft heran zarte Wachteln nur für dich,
sie schafft heran süße Früchte nur für dich,
sie schafft heran knusprige Rippchen nur für dich,
sie schafft heran alles, alles nur für dich.

Wenn mein Bübchen jetzt nicht einschläft,
kommt der weiße Teufel,
frißt er die kleinen Beinchen
chacapumba, chacapumba, apumba chacapumba.

Schlafe ein, schwarzes Bübchen,
Mama ist schon auf dem Felde, mein Bübchen.

Sie schafft heran zarte Wachteln nur für dich,
sie schafft heran süße Früchte nur für dich,
sie schafft heran knusprige Rippchen nur für dich,
sie schafft heran alles, alles nur für dich.

Sie muß schuften,
muß dort schuften ohne Ende,
muß dort schuften, sí
muß dort schuften ohne Lohn,
muß dort schuften, sí,
muß dort schuften, wenn sie krank ist,
muß dort schuften, sí, muß dort schuften und ist traurig,
muß dort schuften, sí,
für das kleine, schwarze Kindchen,
muß sie schuften, sí,
ohne Ende, sí, und die Krankheit, sí, und die Trauer, sí,
ohne Ende, sí.


Duerme negrito

Duerme, duerme, negrito,
que tu mamá está en el campo,
negrito.

Te va a traer codornices para ti,
te va a traer rica fruta para ti,
te va a traer carne de cerdo para ti,
te va a traer muchas cosas para ti.
Y si el negro no se duerme,
viene el diablo blanco
y ¡zas! le come la patita,
chacapumba, chacapumba, acapumba...
Trabajando, trabajando duramente.
Trabajando, sí
Trabajando y no le pagan.
Trabajando, sí
Trabajando y va tosiendo.
Trabajando, sí
Trabajando y va de luto.
Trabajando, sí
Pa’ el chiquitito.
Trabajando, sí
Duramente, sí.
Va tosiendo, sí.
Va de luto, sí.
Duramente, sí.

Duerme, duerme, negrito,
que tu mamá está en el campo,
negrito.

Internet-Tipp: https://www.plaene-records.de/yupan.htm


 Enigma antwortete am 06.11.05 (21:35):

zu einer Reise in Tönen .....
Auf bald, Blume.
Bis später, Lachen.
Gute Nacht, Anmut.
Wind, guten Tag.
Wenn du mir die Blume gibst,
geb ich dir das Lachen.
Bis später, Anmut.
Auf bald. Wind.
Wenn du mir die Anmut gibst,
geb ich dir den Wind.
Gute Nacht, Blume,
Rose, guten Tag.
Auf bald, Anmut.
Bis später, Wind.
(rafael alberti)

Internet-Tipp: https://de.wikipedia.org/wiki/Rafael_Alberti


 Enigma antwortete am 09.11.05 (08:09):

Klabund

Ich baumle mit de Beene

Meine Mutter liegt im Bette,
Denn sie kriegt das dritte Kind;
Meine Schwester geht zur Mette,
Weil wir so katholisch sind.
Manchmal troppt mir eine Träne
Und im Herzen pupperts schwer;
Und ich baumle mit de Beene,
Mit de Beene vor mich her.

Neulich kommt ein Herr gegangen
Mit 'nem violetten Schal,
Und er hat sich eingehangen,
Und es ging nach Jeschkenthal!
Sonntag war's. Er grinste: "Kleene,
Wa, dein Port'menée is leer?"
Und ich baumle mit de Beene,
Mit de Beene vor mich her.

Vater sitzt zum 'zigsten Male,
Wegen "Hm" in Plötzensee,
Und sein Schatz, der schimpft sich Male,
Und der Mutter tut's so weh!
Ja, so gut wie der hat's keener,
Fressen kriegt er, und noch mehr,
Und er baumelt mit de Beene,
Mit de Beene vor sich her.

Manchmal in den Vollmondnächten
Is mir gar so wunderlich:
Ob sie meinen Emil brächten,
Weil er auf dem Striche strich!
Früh um dreie krähten Hähne,
Und ein Galgen ragt, und er...
Und er baumelt mit de Beene,
Mit de Beene vor sich her.


 Enigma antwortete am 11.11.05 (08:28):

Für Marylin M.

Dein Körper, wie im Rausch,
verbrennt zu weißer Asche,
auf die Vanille-Tränen fallen,
dein Körper, der einmal für Männer
wie eine Kerze brannte
in schwarzen Nächten,
und deine Nacht ist jetzt
zu schwarz für jedes Licht;
wir werden dich vergessen, ein wenig,
das ist nicht nett von uns,
aber lebendige Körper sind uns näher,
und während die Würmer
nach deinen Knochen hecheln,
würde ich dir so gerne sagen
daß so etwas auch Bären und
Elefanten passiert, Tyrannen
und Helden und Ameisen
und Fröschen;
trotzdem, du hast uns etwas gegeben,
so was wie einen kleinen Sieg,
und darum sage ich: gut,
und keine traurigen Gedanken mehr;
eine Blume, verdorrt und weggeworfen,
wir vergessen, wir erinnern uns
wir warten. Kind, Kind, Kind,
mit einem Lächeln hebe ich mein Glas
eine ganze Gedenkminute
lang.
Charles Bukowski

Internet-Tipp: https://www.litlinks.it/bx/bukowski.htm


 Literaturfreund antwortete am 11.11.05 (09:32):

Auf enigmas Klabund-Beitrag hin ein Stück Hunde-Theologie:

Robert Gernhardt:
MEINEM HUNDE GESAGT -

Wenn du ein Tier bist, gibt es einen Gott.
So fremd wie der mir war, bist du mir lange.
Ich nenn mich Mensch und nenn dich Hund, doch du
rufst mich nicht Mensch, du schweigst nur gottergeben.

Da du der Hund bist, bin ich wohl der Mensch.
Daß ich kein Gott bin, wird mir schmerzlich klar,
wenn du mich just so lange anhimmelst,
wie jenes Steak währt, das ich grad verspeise.

Mir bist du fremd, Hund, ich schein dir vertraut.
Machst auf dem Bett dich breit, in meinem Haus
ist bald kein Plätzchen nicht von dir besetzt:
So haust ein Gott in seinem Gotteshaus.

Du kennst dich aus, Hund. Treib es nicht zu bunt.
Ich kann auch anders! Schau, ich gehe fort!
Dreh ich den Schlüssel in der Tür, bin ich
ein freier Mensch, befreit vom Haus und Tier.

Doch nicht von Gott. Sein donnernd »Kehre um!
Mein Hund ist dir nur anvertraut!« hat mich
noch jedesmal zu dir zurückgeführt,
nie ohne Opfer und nie ohne Gabe.

Oh euer beider abgekartet Spiel!
Obwohl ichs längst durchschaut, spiel ich es mit.
Samt Contra, Hund und Gott: zieh ich es durch,
wohl wissend, daß ich in den Miesen lande.

Das ist ein Spiel, bei dem Mansch nur verliert.
Da Hund wie Gott ihm ständig Schuld zuweist,
sind seine Schulden bald nicht mehr zu zählen —
ein Wunder, daß er nicht den "Bettel hinwirft.

Statt dessen misch ich, geb ich aus und weiß doch,
was unterm Tisch sich abspielt. Mag er noch so
treu aus der Wasche schaun, der Hund, und Gott
noch so gekonnt die Vaternummer abziehn.

Sobalds ans Ausspieln geht, ist sonnenklar,
wer hier die Igel sind und wer als Hase
klamm vor die Hunde geht: »Ober, noch mal
das gleiche. Auf des Menschen Deckel! Klar doch!“
*
(In: R. Gernhardt: Im Glück und anderswo. Gedichte. 2004. S.150f.


 Enigma antwortete am 12.11.05 (08:21):

Auf Bergengruen bin ich wieder aufmerksam geworden bei meiner diesjährigen Reise ins Baltikum.Und habe festgestellt, dass er mir immer noch gut gefällt.

Zum Einschlafen

Es rieseln die Sekunden,
An weißen Sand gebunden,
Sie schläfern also hold.
Du atmest kreatürlich,
Du bist so unwillkürlich,
So kätzlich hingerollt.

Der Regen raunt vom Schlafen,
Von schwarz und weißen Schafen,
Der Sand ist durchsiebt.
Du brauchst nicht mehr zu sprechen.
Lass Glied um Glied sich schwächen.
Schlaf! Du erwachst geliebt.

Werner Bergengruen

Internet-Tipp: https://www.dhm.de/lemo/html/biografien/BergengruenWerner/


 Enigma antwortete am 18.11.05 (07:28):

Ossip Mandelstam
Die Amerikanerin

Amerikanerin von beinah zwanzig Jahren
Muss auch Ägypten mal erfahren,
Vergisst, was die »Titanic« rät,
Die tief am Meeresgrunde schläft
Viel finsterer als alle Krypten.

Amerika, du singst und hupst,
Der Wolkenkratzer rote Röhren
Vergehen im verrußten Kuss,
Um kalte Wolken zu betören.

Im Louvre steht die Meerestochter
Viel schöner noch, als Pappeln stehn,
Und weil sie Zuckermarmor möchte,
Springt sie als Haselmaus im Lauf
Noch zur Akropolis hinauf.

Obwohl sie nicht ein Wort versteht,
Liest sie den »Faust« im Bahnabteil,
Und sie bedauert, dass so spät
Kein Ludwig mehr auf Thronen weilt.

1913


 Literaturfreund antwortete am 18.11.05 (08:21):

Antonio Fian:
Deutsche Dichter in Französisch

1.
Jünger.
Heine,
Heidegger.
Lessing!
(Grass)

2.
Y une guerre.
Haine,
ail de guerre.
Les seins!
(Grǎce)

3.
Dort: Ein Krieg.
Hass,
des Krieges Knoblauch.
Die Brüste!
(Gnade)

*
Aus: Antonio Fian: Fertige Gedichte. Literaturverlag Droschl. Granz 2005. 8 €.
- abgeduckt in der ZEIT vom 17.11.2005. S. 47 -
*
Autoren-Vita:

Internet-Tipp: https://www.lyrikwelt.de/autoren/fian.htm


 Literaturfreund antwortete am 19.11.05 (23:17):

Ich hatte zum Thema "Dichterbriefe" das Meisen-Gedicht von Hebbel erwähnt und vergessen, noch zwei andere motivgleiche hier einzustellen:

Friedrich Hebbel

MEISENGLÜCK

Aus dem goldnen Morgenqualm
Sich herniederschwingend,
Hüpft die Meise auf den Halm,
Aber noch nicht singend.

Doch der Halm ist viel zu schwach,
Um nicht bald zu knicken,
Und nur, wenn sie flattert,
mag Sie sich hier erquicken.

Ihre Flügel braucht sie nun
Flink und unverdrossen,
Und indes die Füßchen ruhn,
Wird ein Korn genossen.

Einen kühlen Tropfen Tau
Schlürft sie noch daneben,
Um mit Jubel dann ins Blau
Wieder aufzuschweben.

***
Manfred Hausmann:
MEISEN

Am Spalier, wo die Glyzinien hängen,
Jagen sich zwei blaue Meisen,
Steigen, fallen, drehen sich mit leisen
Hastigen Gesängen.

Tupft ein Flügel eben an die Dolden,
Die im Tau des Morgens schwimmen,
Schauern gleich die Tropfen ab und glimmen
Lichtdurchirrt und golden.

Und die Meisen flattern in den Güssen,
Jetzt sich hassend, jetzt sich segnend,
Jetzt mit schrillen Rufen sich begegnend,
Jetzt mit kleinen Küssen.

Plötzlich lösen sie sieh aus den Ranken,
Gleiten selig in den feuchten
Sonnenmorgen und vergehn im Leuchten
Flüchtig wie Gedanken.

***

Werner Bergengruen
DIE MEISE

Könnte ich dir sagen, kleine Meise,
wie ich dir so wohl gesonnen bin!
Lockend vor denn Fenster liegt die Speise,
doch du Ängstliche wagst dich nicht hin.

Und wie oft du hurtig angeflogen,
zitternd zwischen Bängnis und Begehr,
jedesmal hat's dich zurückgebogen
und gezwungen doch zur Wiederkehr.

Immer wohl im winzigen Flügelleibe
wird das Herz dir vor Erschrecken kalt,
siehst du durch die unbegriffne Scheibe
düster meine riesige Gestalt.

Jetzt! Im Fluge griffest du die Beute,
birgst sie flink im Zweigicht und Genist.
Wüßtest du, daß ich die Nahrung streute,
ohne Feindschaft,, ohne Hinterlist,

daß du Gerngeschenktes fortgetragen,
fürchtig wie gestohlenen Gewinn -
kleine Meise, könnte ich dir sagen,
wie ich dir so wohl gesonnen bin!

Ach, es bangte dir vor keinem Zorne,
kämest wie der fromme Hund zum Herrn,
selig schmaustest du von fettem Korne
und der Sonnenblume süßem Kern.

Ihr in Wipfeln und in grauen Nestern,
ruhelos zwischen Flucht und Schmaus:
Kleine Meisen, meine scheuen Schwestern,
wie getreu sprecht ihr mich selber aus!

Allenthalben ist mein Tisch gerichtet,
weißes Brot und schwarzer Wein im Krug.
Süß und bitter ward mir zugeschichtet,
und der große Wirt ist ohne Trug.

Ach, es bangte mir vor keinem Grimme,
und mich drückte keine Kümmernis;
ach, verstünde ich nur seiner Stimme
stille Ladung: Nimm getrost und iß.
+
URL. von einer Meise:

Internet-Tipp: https://www.naturtagebuch.de/bilder/manfred/MEISE.GIF


 Enigma antwortete am 20.11.05 (08:05):

Werner Bergengruen: Die letzte Epiphanie
1944:

Ich hatte dies Land in mein Herz genommen,
ich habe ihm Boten um Boten gesandt.
In vielen Gestalten bin ich gekommen.
Ihr aber habt mich in keiner erkannt.
Ich klopfte bei Nacht, ein bleicher Hebräer,
ein Flüchtling, gejagt, mit zerrissenen Schuh‘n.
Ihr riefet dem Schergen, ihr winktet dem Späher
und meintet noch, Gott einen Dienst zu tun.
Ich kam als zitternde, geistesgeschwächte
Greisin mit stummen Angstgeschrei.
Ihr aber spracht vom Zukunftsgeschlechte
und nur meine Asche gabt ihr frei.
Verwaister Knabe auf östlichen Flächen,
ich fiel euch zu Füßen und flehte um Brot.
Ihr aber scheutet ein künftiges Rächen,
ihr zucktet die Achseln und gabt mir den Tod.
Ich kam, ein Gefangener, als Tagelöhner,
verschleppt und verkauft, von der Peitsche zerfetzt.
Ihr wandtet den Blick von dem struppigen Fröner.
Nun komm ich als Richter. Erkennt ihr mich jetzt?


 kropka antwortete am 23.11.05 (23:59):

Wenn um Mitternacht
die letzten Gäste kommen und gehen
Wenn die Gedichte den Besitzer wechseln
Wenn der Regen illuminiert
Wenn die Uhr Mitternacht verläßt
und wir, allein gelassen, nicht wissen wohin.

Kein Wolf kein Reh
still ruht der Schnee
Kein Du kein Ich
du hörst mich nicht
Der Himmel aber
bittet um eine Geschichte auf Erden
Uns soll sie werden.

Komm im Flutlicht der Sterne
damit wir uns nicht verfehlen
und mach uns satt
mit Bildern die warten
Der Mond steht nicht im Wege
und ein Engel treibt zur Eile.

Elisabeth Borchers


 Enigma antwortete am 24.11.05 (08:45):

Meine Mutter buk mir die ganze Welt

Meine Mutter buk mir die ganze Welt
in süßen Kuchen.
Meine Geliebte füllte mein Fenster
mit Sternrosinen.
Und die Sehnsucht ist in mir eingeschlossen
wie Luftblasen in einem Brotlaib.
Außen bin ich glatt und still und braun.
Die Welt liebt mich.
Doch mein Haar ist traurig wie das Schilf
in einem ausgetrockneten Sumpf -
alle seltenen, schön gefiederten Vögel
fliehen vor mir.

Jehuda Amichai
Aus: Zeit. Gedichte

"Jehuda Amichai, 1924 in Würzburg geboren, gehört zu den großen Dichtern Israels: Als poetische wie moralische Autorität geachtet, geliebt und verehrt, errang seine Lyrik Weltruhm. Sie wird heute in mehr als dreißig Sprachen übersetzt.
1935 emigrierte Jehuda Amichai mit seiner Familie nach Palästina."

Internet-Tipp: https://www.hugendubel.de/Detail.aspx?gid=21246


 cori antwortete am 25.11.05 (19:47):

Ich suche von Elli MIchler das Gedicht:"Ich wünsche dir einen Schutzengel" oder so ähnlich. Kann mir jemand helfen?


 marie2 antwortete am 25.11.05 (20:00):

Hilft Dir das, cori?

Ich wünsche dir als Begleiter
Die Sonne, die Wolken, den Wind,
die Hoffnung als Wegbereiter,
den Stern, wenn die Nacht beginnt.

Ein treuer Gefährte, wie er auch heißt,
als dankbar empfundenes Glück
stelle sich freundlich neben dir ein!
Wenn du nur weißt:
du brauchst niemals alleine zu sein,
legst du den Lebensweg leichter zurück.

Und will es dir scheinen, du habest ja keinen,
der dein Tun und dein Streben versteht,
dann gibt es in Wirklichkeit lange schon einen
Schutzengel, der dir zur Seite steht.

Elli Michler


 cori antwortete am 25.11.05 (20:10):

Lieben Dank dafür, aber es muss noch ein anderes geben.
Gruß Cori


 whiskas antwortete am 25.11.05 (20:45):

Der Schutzengel in der Tür?


 Enigma antwortete am 26.11.05 (09:12):

Steckbrief

Sie gab mir Bridge- und Englischstunden,
sprach über Freud und las Sanskrit;
doch eines Tags war sie verschwunden
und nahm sechs Silberlöffel mit.

Wir hatten uns so gut verstanden!
Mir kam, als sie von dannen fuhr,
die ganze Heiterkeit abhanden
samt meiner goldnen Armbanduhr.

Sie wirkte überaus japanisch
und steckte Blumen in ihr Haar
sie war, obgleich leicht kleptomanisch,
in mancher Hinsicht wunderbar.

Azur war ihre Lieblingsfarbe
und Saftgulasch ihr Leibgericht.
Sie hatte eine Blinddarmnarbe
seit wann und wo, das weiss ich nicht.

Ich weiss nur, dass sie beim Erwachen
wie eine Lady sich benahm,
auch wenn von meinen Siebensachen
mir dies und das abhanden kam.

Mein Portfeuille kann ich leicht verschmerzen,
selbst den Smaragd- und Siegelring;
sie aber lag mir sehr am Herzen
besonders dann, bevor sie ging.

Mein Steckbrief ist recht unvollständig;
ich weiss bloss, dass sie mich verliess
und sündenschön war und lebendig
und Herta oder Hilde hiess.

Fridolin Tschudi


 cori antwortete am 26.11.05 (09:27):

@ whiskas,

ich weiß es nicht genau.
Gruß Cori


 Enigma antwortete am 27.11.05 (07:51):

Lass dich hier nicht blicken

Yeah, klar werd ich zu Hause sein,
es sei denn, ich bin woanders;
klopf nicht an, wenn kein Licht brennt
oder wenn du Stimmen hörst; es kann auch sein
dass ich gerade Proust lese, falls mir jemand
Proust unter der Tür durchschiebt
oder einen Knochen von ihm,
für meinen Eintopf:
und ich kann dir weder Geld leihen
noch meinen Wagen, oder was davon
noch übrig ist, und telefonieren
kannst du hier auch nicht;
die Zeitung von gestern, die kannst du haben,
ein altes Hemd oder einen Bologna-Sandwich
oder auf der Couch schlafen
falls du nachts nicht schreist,
und reden kannst du auch, über dich,
das ist nur normal;
es sind harte Zeiten für uns alle,
nur dass ich nicht versuche,
mir eine Familie zuzulegen
und Söhne in Harvard studieren zu lassen
oder mir ein Jagdrevier zu kaufen;
ich will nicht hoch hinaus,
ich versuche bloß, noch eine Weile
über die Runden zu kommen;
deshalb wenn du gelegentlich anklopfst,
und ich mach dir nicht auf,
und es ist auch keine Frau hier drin,
dann hab ich vielleicht 'ne gebrochene Kinnlade
und suche gerade nach einem Stück Draht,
oder ich mache Jagd auf
die Schmetterlinge meiner Tapete;
ich meine, wenn ich nicht aufmache
dann mache ich eben nicht auf; und das heißt,
ich bin noch nicht soweit, dass ich dich
umbringen will oder lieben
oder auch nur akzeptieren;
es heißt: ich will nicht reden,
ich hab zu tun, ich bin verrückt, ich bin froh,
oder vielleicht mach ich mir gerade
einen Strick an der Decke fest;
also: auch wenn mal Licht brennt
und du was hörst, so was wie
Atmen oder Beten oder Singen,
das Radio oder das Rollen von Würfeln
oder Tippen - geh weg,
es ist nicht der Tag, die Nacht, die Stunde;
es ist nicht die Unhöflichkeit von einem
der es nicht besser weiß,
ich will keinem weh tun, nicht mal
einer Wanze; es ist nur so, dass mir
manchmal Erkenntnisse kommen, die ich
erst mal sortieren muss,
und deine blauen Augen, falls sie blau sind,
und dein Haar, falls du welches hast,
oder deine Gedanken - die können hier nicht rein,
bis der Strick entweder geknüpft
oder abgeschnitten ist, oder
bis ich mich rasiert habe
vor neuen Spiegeln,
bis die Welt
entweder angehalten
oder aufgesprengt ist
für immer.
Charles Bukowski

Internet-Tipp: https://www.litlinks.it/bx/bukowski.htm


 Enigma antwortete am 29.11.05 (16:42):

Hugo Ball
Ick bin Tempelhof jeboren

Ick bin in Tempelhof jeboren
Der Flieder wächst mich aus die Ohren.
In meinem Maule grast die Kuh.

Ick geh zuweilen sehr und schwanger
Auf einem Blumen-i-o-anger
Mein Vater, was sagst Du dazu?

Wir gleichen sehr den Baletteusen,
Pleureusen – Dösen – Schnösen – lösen.
Gewollt zu haben – selig sein.

Verehrte Herrn, verehrte Damen,
Die um mich hören herzu kamen
Dies widmet der Gesangverein.

Und Jungfraun kamen wunderbar
Geschmeide scheidegelb im Haar
Mit schlankgestielten Lilien.

Der Kakagei und Papadu
Die sahen auch dabei dazu
Und kamen aus Brasilien.

Internet-Tipp: https://www.lyrikwelt.de/autoren/ballhugo.htm


 kropka antwortete am 30.11.05 (10:55):

nachtgesang – may ayim


ich warte nicht mehr
auf besseren zeiten
schwarzblauer himmel über uns
silbersterne dran
hand in hand mit dir
den fluß entlang
bäume links und rechts
sehnsucht auf den ästen
hoffnung im herz

ich räume mein zimmer auf
ich zünde eine kerze an
ich male ein gedicht

ich küsse mich
nicht mehr deinen körper entlang
durch deinen nabel hindurch
in deine träume hinein
meine liebe in deinem mund
dein feuer in meinem schoß
schweißperlen auf der haut

ich ziehe mich ganz warm an
ich zeichne die lippen rot
ich spreche mit den blumen

ich lausche nicht mehr
auf ein zeichen von dir
hole deine briefe hervor
schaue deine bilder an
disskusionen mit dir bis nach mitternacht
visionen zwischen uns
kinder lachen uns zu

ich mache die fenster weit auf
ich schnüre die schuhe fest zu
ich nehme den hut

ich träume nicht mehr
in die einsame stunden
dein gesicht in die zeit
dein schatten ist nur eine kalte gestalt

ich packe die erinnerungen ein
ich blase die kerze aus
ich öffne die tür

ich warte nicht mehr
auf die besseren zeiten
ich gehe auf die straße hinaus
blütenduft auf der haut
den schirm in der hand
den fluß entlang
schwarzblauer himmel über mir
silbersterne dran
bäume
links und rechts
sehnsucht auf den ästen
hoffnung im herz

ich liebe dich
ich warte nicht mehr


Ayim May (1960-1996)
"Blues in schwarz weiß"
Gedichte
Neuauflage 2005


https://www.orlanda.de
Lyrik

Internet-Tipp: https://www.orlanda.de/


 Enigma antwortete am 30.11.05 (18:52):

Hallo kropka,

ja, die May Ayim mag ich auch sehr, sehr gerne.
Auch dies von ihr:

May Ayim
afro-deutsch I

Sie sind afro-deutsch?
... ah, ich verstehe: afrikanisch und deutsch. Ist ja 'ne interessante Mischung!
Wissen Sie, manche, die denken ja immer noch, die Mulatten, die würden's
nicht so weit bringen wie die Weißen.
Ich glaube das nicht. Ich meine, bei entsprechender Erziehung ...
Sie haben ja echt Glück, daß Sie hier aufgewachsen sind. Bei deutschen
Eltern sogar. Schau an!
Wollen Sie denn mal zurück?
Wie, Sie waren noch nie in der Heimat vom Papa? Ist ja traurig ... Also, wenn
Se mich fragen: So 'ne Herkunft, das prägt eben doch ganz schön. Ich z.B.,
ich bin aus Westfalen, und ich finde, da gehör' ich auch hin ...
Ach Menschenskind! Dat ganze Elend in der Welt! Sei 'n Se froh, daß Se nich
im Busch geblieben sind. Da wär'n Se heute nich so weit!
Ich meine, Sie sind ja wirklich ein intelligentes Mädchen. Wenn Se fleißig sind
mit Studieren, können Se ja Ihren Leuten in Afrika helfen: Dafür sind Sie doch
prädestiniert, auf Sie hör'n die doch bestimmt, während unsereins ist ja so 'n
Kulturgefälle ...
Wie meinen Sie das? Hier was machen. Was woll'n Se denn hier schon
machen? Ok., ok., es ist nicht alles eitel Sonnenschein. Aber ich finde, jeder
sollte erstmal vor seiner eigenen Tür fegen!


 kropka antwortete am 30.11.05 (23:59):

... hm, verstehe.
Kannst ja froh sein, daß de keine Türkin bist, wa?
Ich meine: ist ja entsetzlich,
diese ganze Ausländerhetze,
kriegste denn davon auch manchmal was ab?

>>...<<

Na ja, aber die Probleme habe ich auch.
Ich finde, man kann nicht alles
auf die Hautfarbe schieben,
und als Frau hat man’s nirgendwo einfach.
Z.B. ´ne Freundin von mir:
die ist ziemlich dick,
was die für Probleme hat!
Also dagegen wirkst du relativ relaxed.
Ich finde überhaupt,
daß die Schwarzen sich noch so ´ne natürliche
Lebenseinstellung bewahrt haben.
Während hier: ist doch alles ziemlich kaputt.
Ich glaube, ich wäre froh, wenn ich du wäre.

>>.....................<<

May Ayim

Die Gedichtauszüge sind dem Gedicht afro-deutsch II (1985)
in "blues in schwarz weiss" entnommen - Orlanda Verlag
https://www.orlanda.de/


Hallo Enigma,
ja, ich mochte sie sehr.
Im Alter von 36 Jahren nahm sie sich das Leben.

Aber lass uns doch
..wieder von der Liebe reden
wie einst im sogenannten Mai...


sehnsucht

gefrorene kristalle
geliebter erinnerungen
nisten in meinen augenhöhlen
spiegeln mir dein entferntes gesicht
als einen schatten auf mein herz

May Ayim

https://de.wikipedia.org/wiki/May_Ayim

Internet-Tipp: https://www.orlanda.de/


 Enigma antwortete am 01.12.05 (07:51):


Tristan und Isolde
von Heinrich Seidel (1842-1906)

König Marke, wie die Sage meldet,
Liess begraben Tristan und Isolden
Zu den beiden Seiten eines Kirchleins,
Noch im Tod die Liebenden zu trennen.
Doch aus Tristans Hügel schoss ein Weinstock,
Rosen wuchsen aus Isoldens Grabe,
Strebten eilig aufwärts an den Mauern,
Trieben mächt'ge sehnsuchtsvolle Ranken,
Spannen sich empor des Daches Flächen,
Und - ein Wunder war's nach wenig Jahren
Rankten hoch am First schon ineinander
Unzertrennbar Rosenbusch und Rebe.
Rosen blühten leuchtend nun im Weinlaub,
Trauben hingen in den Rosenzweigen!
Dieses holde Wunder zu beschauen,
Pilgerten herbei aus weitem Umkreis
Gern die zärtlich hold verliebten Paare,
Und nachdem voll Andacht sie gestaunet,
Schauten sie sich leuchtend in die Augen,
Ihre Hände rankten ineinander,
Und sie küssten sich und sprachen gläubig:
"Stärker als der Tod ist treue Liebe !"
:-)


 kropka antwortete am 03.12.05 (22:42):

Du, weißt Du...

Du, weißt du, wie ein Rabe schreit?
Und wie die Nacht, erschrocken bleich,
nicht weiß, wohin zu fliehn?
Wie sie verängstigt nicht mehr weiß:
Ist es ihr Reich, ist es nicht ihr Reich,
gehört sie dem Wind oder er ihr,
und sind die Wölfe mit ihrer Gier
nicht zum Zerreißen bereit?

Du, weißt du, wie der Wind schrill heult
und wie der Wald, erschrocken bleich,
nicht weiß, wohin zu fliehn?
Wie er verängstigt nicht mehr weiß:
Ist es sein Reich, ist es nicht sein Reich,
gehört er dem Regen oder der Nacht
und ist der Tod, der schauerlich lacht,
nicht sein allerhöchster Herr?

Du, weißt du, wie der Regen weint?
Und wie ich geh', erschrocken bleich,
und nicht weiß, wohin zu fliehn?
Wie ich verängstigt nicht mehr weiß:
Ist es mein Reich, ist es nicht mein Reich,
gehört die Nacht mir, oder ich, gehör ich ihr,
und ist mein Mund, so blass und wirr,
nicht der, der wirklich weint?

Selma Meerbaum-Eisinger
4.3.1941

https://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/
2005/1121/lokales/0028/index.html

https://www.selma.tv/

Internet-Tipp: https://www.selma.tv/


 Enigma antwortete am 09.12.05 (09:02):

berühmtes gedicht

dieses gedicht wurde
schnell bekannt
kurz darauf berühmt
vielzitiert und variiert
gern besprochen /
kurz es kam in der
richtigen gestalt
zur richtigen zeit
bestach durch seine schlichtheit
fand aufnahme in kollektionen
diente nicht ganz zu unrecht
als aushängeschild für eine epoche
wurde nachgeahmt parodiert und nie mehr erreicht /
wurde volks- und bildungsgut
galt als kontrovers und konkav
als kultgedicht
als referenz an dada
als losungswort für vornehme kreise
war in aller munde
neulich stiess ich darauf
es war zahnlos geworden
ass das gnadenbrot in
einer uneigennützigen
institution und sein gesicht
war nicht wiederzuerkennen

Internet-Tipp: https://www.lyrik.ch/lyrzeit/a_erste/gysi.htm#gedicht


 Enigma antwortete am 12.12.05 (08:17):

Juristisch gesehen

Guter Mann
daß Sie Ihr Kind tagtäglich schlagen
nun ja
abreagieren muß man sich
Ihre Art ist noch die ungefährlichste
Sie mischen sich nicht ein
in Kirche
Politik
und Wirtschaft
Sie beschädigen kein fremdes Eigentum
Was Sie da machen
Schwamm drüber
nur das Geschrei
tagtäglich
die Nachbarn
Sie verstehen

.................................................................................
aus "GANZ NORMAL" / Gebrauchs-Gedichte von Michael Klaus

Internet-Tipp: https://www.lyrikwelt.de/autoren/klaus.htm


 Enigma antwortete am 13.12.05 (07:49):

Alfred Müller-Felsenburg
Poetischer Nonsens

Ach, geliebte Pampelmuse,
niemals nicht 'ne Musepampel,
die bei Rot kreuzt jede Ampel.
Mir bist du die schöne Duse
oder eine süße Suse,
jedenfalls kein Musehampel,
keineswegs ein blöder Trampel.
Nein, o nein, es bleibt dabei:
Meiner Muse meine Treu!
Denn was sollte ich wohl treiben
ohne Pampelmuses Bleiben?
Musepampel, Pampelmuse,
folg' mir in die Dichterkluse!

:-))

Internet-Tipp: https://www.lyrikwelt.de/autoren/muellerfelsenburg.htm


 Marina antwortete am 14.12.05 (19:21):

Edgar Allan Poe
Eulalie

Ich lebte allein
In Kummer und Pein
Und krank an Seele und Leib,
Da ward die liebliche Eulalie
Mein sanftes, lächelndes Weib,
Da ward die blondhaarige Eulalie
Mein jung, errötendes Weib.

Ha, weniger hell
Ist der silberne Quell
Als die Augen der lieben Dirn,
Und kein Wölkchen der Höh'n
Ist so duftig und schön
Wie die Löckchen auf Eulalies Stirn
War's beglänzt vom Mond
Oder war' es besonnt –
Als die Löckchen auf Eulalies Stirn.

Nun bin ich befreit
Von allem Leid,
Da sie mein ist mit Seel' und Leib.
Tagaus, tagein lacht Sonnenschein,
Seit Eulalie mein junges Weib,
Tagaus, tagein lacht Sonnenschein
Auf mein junges, geliebtes Weib.


 Enigma antwortete am 15.12.05 (08:08):

Wie immer

Die Lampe ist noch da,
Der Tisch ist auch noch da,
und ich bin noch im Zimmer
Und meine Sehnsucht,ah,
Seufzt noch wie immer.

Feigheit, bist du noch da?
Und Lüge, auch du?
Ich hör`ein dunkles Ja:
Das Unglück ist noch da,
Und ich bin noch im Zimmer
Wie immer.

Robert Walser


 Marina antwortete am 15.12.05 (17:23):

Weltflucht

Ich will in das Grenzenlose
Zu mir zurück,
Schon blüht die Herbstzeitlose
Meiner Seele,
Vielleicht - ist´s schon zu spät zurück!
O, ich sterbe unter Euch!
Da Ihr mich erstickt mit Euch.
Fäden möchte ich um mich ziehn -
Wirrwarr endend!
Beirrend,
Euch Verwirrend,
Um zu entfliehn
Meinwärts!

(Else Lasker-Schüler)


 kropka antwortete am 15.12.05 (20:17):

Wir haben viel füreinander gefühlt

Wir haben viel füreinander gefühlt,
und dennoch uns gar vortrefflich vertragen.
Wir haben oft "Mann und Frau" gespielt,
und dennoch uns nicht gerauft und geschlagen.
Wir haben zusammen gejauchzt und gescherzt,
und zärtlich uns geküßt und geherzt.
Wir haben am Ende, aus kindischer Lust,
"Verstecken" gespielt in Wäldern und Gründen,
und uns so zu verstecken gewußt,
daß wir uns nimmermehr wiederfinden.

Heinrich Heine


 kropka antwortete am 16.12.05 (10:44):

In der Fremde

Ich hatte einst ein schönes Vaterland.
Der Eichenbaum
Wuchs dort so hoch, die Veilchen nickten sanft.
Es war ein Traum.

Das küsste mich auf deutsch, und sprach auf deutsch
(Man glaubt es kaum
Wie gut es klang) das Wort: "ich liebe dich!"
Es war ein Traum

Heinrich Heine


 Marina antwortete am 16.12.05 (17:06):

Heinrich Seidel
Die gute alte Zeit

Zwei Alte sprechen:

"Das war die gute, alte Zeit,
Sie war so schön und liegt so weit
In blauem Duft begraben,
Und von dem heutigen Geschlecht
Da weiss doch keiner wohl so recht,
Was wir verloren haben.

Die Männer waren besser doch,
Und wirthschaftlich die Frauen noch,
Nicht wie die heut'gen Puppen.
Die laufen zu Musik und Tanz
Und putzen sich mit Flitterglanz
Und kochen schlechte Suppen.

Die Kinder waren nicht so keck
Und nicht so altklug wie ein Geck
Und trugen keine Brillen.
Auf ihre Eltern hörten sie
Und alte Leute ehrten sie
Und hatten keinen Willen.

Und Ordnung herrschte weit und breit,
Und Biederkeit, und Ehrlichkeit,
Man kannte keinen Schwindel.
Doch heut wo Alles fälscht und trügt,
Da glaubt man Keinem, denn es lügt
Das Kind schon in der Windel."

So sprechen sie, die Alten zwei
Und nicken mit dem Kopf dabei
Und wackeln mit den Hauben.
Die Welt blieb jung, sie wurden alt
Und an der neuen Zeit Gehalt
Da können sie nicht glauben.

Die heut im Jugendglanze stehn,
Im Rosenschmuck zu Tanze gehn,
Auch sie einst werden sagen:
"Sie war so schön, sie liegt so weit,
Die liebe, gute, alte Zeit
Aus unsern Jugendtagen!"

;-)


 kropka antwortete am 16.12.05 (21:49):

damals, damals, sagen die leute,
damals, damals, war´s besser als heute.
und die sterne waren noch sterne,
und der winter trug sich noch weiß.

ein ringelspiel war noch ein ringelspiel,
die zwerge waren klein
und die riesen noch groß.

damals, damals, sagen die leute,
doch ich wünsche mir nur das heute.

Andre Heller


 Enigma antwortete am 17.12.05 (08:04):



Fremdwörterbuchsonette

II Die Liebe ist Sieger - rege ist sie bei Leid


Das Palindrom ist nicht Palingenese:
die wäre, übertragen, Anagramm.
Das macht man sonst mit Steinen oder Käse,
doch wer sagt, dass mans nicht mit andren Dingen machen kann?

Ich schüttele den Rucksack, wenn ich gehe,
und auch meine Gedanken sind ja palingen;
ich schüttele im Auge, was ich sehe,
und hoffe, etwas anderes zu sehn.

Sie nämlich, wenn ich in die Fluchten schaue
und mir vor Hoffnungen den Blick nicht senken traue,
und setze Fuß vor Fuß der Mitte zu,
wo man in jede Richtung bis zum Ende schauen kann.
Dort schaue ich das Nichts, und schüttle mich, und dann
nehm ich den ersten besten Weg und finde Ruh.

Nehm ich den ersten besten Weg und finde keine Ruh,
liegt es vielleicht am Weg, vielleicht an mir.
Denn diesen Weg hab ich ja nur genommen,
weil ich geglaubt hab, dieser führt zu dir.

Wie aber, wenn das Ziel sich auch bewegt,
muss man dann nicht, ums zu erreichen, stehen bleiben?
Die Schritte, die den Vorgang weiter treiben
werden in andren Alphabeten hinterlegt.

Zenit wäre schon gut, wäre das Maß bekannt.
Nicht alle Wege aber kommen gut zurück.
Man sollte, wenn man ich ist, vielleicht lieber weitergehen.
Um von den süßen Schmerzen abzusehen,
die C und G und T und A verrücken,
in sich verschlungen, sind sie manchmal redundant.

Ann Cotten

Internet-Tipp: https://www.engeler.de/cotten.html


 Literaturfreund antwortete am 17.12.05 (11:17):

Ann Cotten: Zweimal Regung

Analogisch kracht sie in das Auge,
parallel? eher in einer späten Phase
möglicherweise, kurz. Denn so lang spielt Isanabase,
wie steigend stimmt, was ihrem Auge tauge.

Kracht also in das chlorversetzte Nass
Isanabase unsichtbar: es sind zwei Mädchen,
das Herz an Schnüren, Gliedmaßen an Rädchen,
so scheints. Erhoben wurde aber, dass,

als oder wie, der beiden Mädchen Brüste
nicht gleicher Höhe sind. Als ob sie’s wüsste
dreht sich die eine leicht im Wasser hin

zur andern, welche auf der linken Seite
sich krummer wölbt, verlangt entlang der Breite
die gleiche Gischt der andern Schwimmerin.

Und wie sie lächeln, ganz als wärn sie gleich!
Und jeder kann sie leicht doch unterscheiden!
Von ihren Füßen hebt sich Wasser auf,

von ihren Köpfen, wie das Wasser weicht
den Köpfen, filigran wie von den Glasgeschmeiden,
nehmen die Wellen regelmäßig ihren Lauf.

Gehen die Mädchen dann und hören auf
und sehen asymmetrisch sich im Spiegel an,
fängt langsam hier ein Haar, dort eine Falte an
und hebt sich fröstelnd gegenseitig von der Haut auf,

ein Achselzucken hebt sich wie die Gänsehaut
an ihren Teilen. Keine hebt den Blick.
In andren Betten liegen sie den gleichen Knick.
Ihr Körper tut, als schlief er, da ihnen vorm Morgen graut.
*
Aus: Zwischen den Zeilen Heft 24


 Marina antwortete am 17.12.05 (17:45):

Altes Kaminstück

Draußen ziehen weiße Flocken
Durch die Nacht, der Sturm ist laut;
Hier im Stübchen ist es trocken,
Warm und einsam, stillvertraut.

Sinnend sitz ich auf dem Sessel,
An dem knisternden Kamin,
Kochend summt der Wasserkessel
Längst verklungne Melodien.

Und ein Kätzchen sitzt daneben,
Wärmt die Pfötchen an der Glut;
Und die Flammen schweben, weben,
Wundersam wird mir zu Mut.

Dämmernd kommt heraufgestiegen
Manche längst vergessne Zeit,
Wie mit bunten Maskenzügen
Und verblichner Herrlichkeit.

Schöne Frauen, mit kluger Miene,
Winken süßgeheimnisvoll,
Und dazwischen Harlekine
Springen, lachen, lustigtoll.

Ferne grüßen Marmorgötter,
Traumhaft neben ihnen stehn
Märchenblumen, deren Blätter
In dem Mondenlichte wehn.

Wackelnd kommt herbeigeschwommen
Manches alte Zauberschloss;
Hintendrein geritten kommen
Blanke Ritter, Knappentross.

Und das alles zieht vorüber,
Schattenhastig übereilt -
Ach! da kocht der Kessel über,
Und das nasse Kätzchen heult.

Heinrich Heine (1797-1856)


 Enigma antwortete am 18.12.05 (17:01):

Samuel Taylor Coleridge:
KUBLA KHAN

In Xanadu ließ Kubla Khan
Der Lust geräumigen Dom erstehn,
Wo Alph, das heilige Wasser, rann
Durch Höhlen ohne Maß und Plan
Zu sonnenloser See.
Zehn Meilen so von Furcht und Grund
Umgürtet Wall und Mauerrund,
Die Gärten voll von Rinnsal vielgestalt,
Wo mit dem Laub von Weihrauch Bäume blühn,
Und schwarze Wälder, wie die Hügel alt,
Mit Sonnenflecken zwischen Immergrün.
Doch oh, durch grüne Hügel die romantische Schlucht,
Der tiefe Spalt quer unter Zedernhainen,
O wilde Stätte! Heilig und verflucht,
Wie jene, die ein Weib je heimgesucht,
Dem liebsten der Dämonen nachzuweinen.
Aus diesem Spalt, da wilder Aufruhr kochte,
Als ob die Erd in steten Stößen pochte,
Ohn Aufenthalt hoch eine Springflut sprang,
In deren heißem, ungestaltem Drang
Bruchstücke flogen, rückgeschnellt wie Hagel,
Und wie die Spreu sprühte von des Dreschers Schlegel.
In diesem Tanz der Brocken und Getrümmer
Sprang auf das heilige Wasser, jählings immer.
Fünf Meilen wandernd irren Wandelgang
Durch Wald und Tal das heilige Wasser rann,
Trat in die Höhlen ohne Maß und Plan,
Bis sprudelnd es ins starre Meer versank.
Und Kubla hörte aus den wilden Schlünden
Der Ahnen Stimme fern vom Kriege künden.
Des Freudendomes Schatten schwebte
Und spielte spiegelnd auf der Welle,
Da Rhytmus Rhytmus sich verwebte:
Der Höhlen Echo und der Quell.
Ein seltner Plan und wundersam ersonnen:
Eisgrotten und der Dom der Lust voll Sonnen.
Ein Fräulein mit dem Harfenspiel,
Die einst im Traum ich sah;
Sie kam aus Abessinienland,
Schlug ihre Harfe mit der Hand
Und sang vom Berge Abora.
Strömt' wieder durch die Brust mit
Süß ihr Zusammenklang.
Stieg' aus dem Sange Lust mir,
So daß mit Liedern laut und lang
In Luft ich ließ' den Dom erstehn,
Den Sonnendom! Das Eisverließ!
Und die mich hörten, würden sehn
und rufen: Wunderbar! Wunderbar!
Sein Aug aus Blitz! Aus Sturm sein Haar!
Schlingt dreifach einen Kreis um dies!
Schließt euer Aug vor heiliger Schau,
Denn er genoß vom Honig-Tau
Und trank die Milch vom Paradies.

Nachdichtung: Heinz Politzer
Aus: Die Lyra des Orpheus; Lyrik der Völker in deutscher Nachdichtung
Paul Zsolnay Verlag; Wien, 1952; S. 629f

Internet-Tipp: https://xanadu.de.ki/


 Enigma antwortete am 20.12.05 (07:51):


GYMNASIUM
Es waren eigentlich nur vier kurze Winter.
Mit Thomas Mann und Hesse
und der griechischen Grammatik.
Und dem Kino Skandia.
Heutzutage vergeht so etwa schnell.
Aber damals, zu jener Zeit
war alles so groß, so lang
wie ein halbes Leben.
Die Fahrräder, an denen die Schlösser rosteten.
Das Innerste dieser rostenden Fahrradschlösser:
Eine dieser Stellen,
die wir nicht gründlich genug
studiert haben.

Lars Gustafsson
Aus: Auszug aus Xanadu. Gedichte

https://www.hugendubel.de/Detail.aspx?gid=1239795