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THEMA:   Vergänglichkeit

 18 Antwort(en).

Enigma begann die Diskussion am 20.05.05 (07:36) :




GOTTFRIED BENN

O, NACHT –

O, Nacht! Ich nahm schon Kokain,
Und Blutverteilung ist im Gange.
Das Haar wird grau, die Jahre flieh'n.
Ich muß, ich muß im Überschwange
Noch einmal vorm Vergängnis blühn.

O, Nacht! Ich will ja nicht so viel.
Ein kleines Stück Zusammenballung,
Ein Abendnebel, eine Wallung
Von Raumverdrang, von Ichgefühl.

Tastkörperchen, Rotzellensaum
Ein Hin und Her, und mit Gerüchen;
Zerfetzt von Worte-Wolkenbrüchen –:
Zu tief im Hirn, zu schmal im Traum.

Die Steine flügeln an die Erde.
Nach kleinen Schatten schnappt der Fisch.
Nur tückisch durch das Ding-Gewerde
Taumelt der Schädel-Flederwisch.

O, Nacht! Ich mag dich kaum bemühn!
Ein kleines Stück nur, eine Spange
Von Ichgefühl – im Überschwange
Noch einmal vorm Vergängnis blühn!

O, Nacht, o leih mir Stirn und Haar,
Verfließ Dich um das Tag-verblühte!
Sei, die mich aus der Nervenmythe
Zu Kelch und Krone heimgebar.

O, still! Ich spüre kleines Rammeln:
Es sternt mich an – Es ist kein Spott –:
Gesicht, ich: mich, einsamen Gott,
Sich groß um einen Donner sammeln.

Internet-Tipp: https://www.katz-heidelberg.de/Kontakt/gedicht_und-Bild/bodyGedicht_und_bild.html


 Enigma antwortete am 20.05.05 (07:54):

Hermann Hesse
In Sand geschrieben

Dass das Schöne und Berückende
Nur ein Hauch und Schauer sei,
Dass das Köstliche, Entzückende,
Holde ohne Dauer sei:
Wolke, Blume, Seifenblase,
Feuerwerk und Kinderlachen,
Frauenblick im Spiegelglase
Und viel andre wunderbare Sachen,
Dass sie, kaum entdeckt, vergehen,
Nur von Augenblickes Dauer,
Nur ein Duft und Windeswehen,
Ach, wir wissen es mit Trauer,
Und das Dauerhafte, Starre
Ist uns nicht so innig teuer:
Edelstein mit kühlem Feuer,
Glänzendschwere Goldesbarre;
Selbst die Sterne, nicht zu zählen,
Bleiben fern und fremd, sie gleichen
Uns Vergänglichen nicht, erreichen
Nicht das Innerste der Seelen.
Nein, es scheint das innigst Schöne,
Liebenswerte dem Verderben
Zugeneigt, stets nah dem Sterben,
Und das Köstlichste: die Töne
Der Musik, die im Entstehen
Schon enteilen, schon vergehen,
Sind nur Wehen, Strömen, Jagen
Und umweht von leiser Trauer,
Denn auch nicht auf Herzschlags Dauer
Lassen sie sich halten, bannen;
Ton um Ton, kaum angeschlagen,
Schwindet schon und rinnt von dannen.
So ist unser Herz dem Flüchtigen,
Ist dem Fließenden, dem Leben
Treu und brüderlich ergeben,
Nicht dem Festen, Dauertüchtigen.
Bald ermüdet uns das Bleibende,
Fels und Sternwelt und Juwelen,
Uns in ewigem Wandel treibende
Wind- und Seifenblasenseelen,
Zeitvermählte, Dauerlose,
Denen Tau am Blatt der Rose,
Denen eines Vogels Werben,
Eines Wolkenspieles Sterben,
Schneegeflimmer, Regenbogen,
Falter, schon hinweg geflogen,
Denen eines Lachens Läuten,
Das uns im Vorübergehen
Kaum gestreift, ein Fest bedeuten
Oder wehtun kann. Wir lieben,
Was uns gleich ist, und verstehen,
Was der Wind in Sand geschrieben.

Internet-Tipp: https://www.bibliomaniac.de/hesse/prim/poem1.htm


 iustitia antwortete am 20.05.05 (07:56):

Schönes Beispiel für Bennsche Süchte!
Gute Seite mit express. Extravaganzen – für eine Gesellschaft, die auf der Kippe befand – und so massenhaft wie bei Benn – die falschen politischen Konsequenzen in ihrer Verzweiflung und ihrer religiösen Sehnsucht ergriff.
*
Und häufig waren es durch Alkohol und Drogen überreizte Sinne, die nach Befriedigung auch in der sozialen Revolte suchten.


 Enigma antwortete am 20.05.05 (08:01):

Das Lied vom Kirschbaum

Zum Frühling sagt der liebe Gott-
"Geh, deck dem Wurm auch seinen Tisch!"
Gleich treibt der Kirschbaum Laub um Laub,
vieltausend Blätter, grün und frisch.

Das Würmchen ist im Ei erwacht,
es schlief in seinem Winterhaus;
es streckt sich, sperrt sein Mäulchen auf
und reibt die blöden Augen aus.

Und darauf hat's mit stillem Zahn
an seinen Blätterchen genagt;
es sagt: "Man kann nicht weg davon!
Was solch Gemüs' mir doch behagt!"-

Und wieder sagt der liebe Gott:
"Deck jetzt dem Bienchen seinen Tisch!"
Da treibt der Kirschbaum Blüt' an Blüt",
vieltausend Blüten, weiß und frisch.

Und's Bienchen sieht es in der Früh
im Morgensonnenschein und fliegt heran
und denkt: Das wird mein Kaffee sein;
was ist das kostbar Porzellan!

Wie sind die Täßchen rein gespült!"
Es steckt sein Züngelchen hinein,
es trinkt und sagt: Wie schmeckt das süß!
Da muß der Zucker wohlfeil sein!"

Zum Sommer sagt der liebe Gott:
"Geh, deck dem Spatzen seinen Tisch!"
Da treibt der Kirschbaum Frucht an Frucht,
vieltausend Kirschen, rot und frisch.

Und Spätzchen sagt: "Ist's so gemeint?
ich setz' mich hin, ich hab' App'tit,
das gibt mir Kraft in Mark und Bein,
stärkt mir die Stimm' zu neuem Lied."-

Da sagt zum Herbst der liebe Gott:
"Räum fort, sie haben abgespeist!"
Drauf hat die Bergluft kühl geweht,
und 's hat ein bissel Reif geeist.

Die Blätter werden gelb und rot,
eins nach dem andern fällt schon ab,
und was vom Boden stieg herauf,
zum Boden muß es auch hinab.

Zum Winter sagt der liebe Gott:
"Jetzt deck, was übrig ist, mir zu!"
Da streut der Winter Flocken drauf;
nun danket Gott und geht zur Ruh'!



Johann Peter Hebel

Internet-Tipp: https://www.onlinekunst.de/mai/10_05_Hebel_Johann_Peter.htm


 Enigma antwortete am 20.05.05 (08:08):

Danke iustitia,

ich finde das Dix-Bild auch sehr eindringlich.
Das möchte ich gerne mal nicht nur als Abbildung sehen.

Gruss
Enigma


 Enigma antwortete am 20.05.05 (08:20):

Andreas Gryphius (1616 ‑ 1664):







Es ist alles eitell



Du sihst / wohin du sihst nur eitelkeit auff erden.

Was dieser heute bawt / reist jener morgen ein:

Wo itzund städte stehn / wird eine wiesen sein

Auff der ein schäffers kind wird spilen mitt den heerden.



Was itzund prächtig blüht sol bald zutretten werden.

Was itzt so pocht vnd trotzt ist morgen asch vnd bein.

Nichts ist das ewig sey / kein ertz kein marmorstein.

Izt lacht das gluck vns an / bald donnern die beschwerden.



Der hohen thaten ruhm mus wie ein traum vergehn.

Soll denn das spiell der zeitt / der leichte mensch bestehn.

Ach! was ist alles dis was wir für köstlich achten /



Als schlechte nichtikeitt / als schatten staub vnd windt.

Als eine wiesenblum / die man nicht wiederfindt.

Noch wil was ewig ist kein einig mensch betrachten.

Internet-Tipp: https://www.wolfgang.richardt.info/5-2.htm


 Enigma antwortete am 20.05.05 (08:55):

Marie Luise Kaschnitz

Nicht gesagt (1965)

Nicht gesagt

Was von der Sonne zu sagen gewesen wäre

Und vom Blitz nicht das einzig Richtige

Geschweige denn von der Liebe.

Versuche. Gesuche. Mißlungen

Ungenaue Beschreibung

Weggelassen das Morgenrot

Nicht gesprochen vom Sämann

Und nur am Rande vermerkt

Den Hahnenfuß und das Veilchen.

Euch nicht den Rücken gestärkt

Mit ewiger Seligkeit

Den Verfall nicht geleugnet

Und nicht die Verzweiflung

Den Teufel nicht an die Wand

Weil ich nicht an ihn glaube

Gott nicht gelobt

Aber wer bin ich daß

Internet-Tipp: https://marvin.sn.schule.de/~tzl/fb/deutsch/gedicht.htm


 pamina antwortete am 20.05.05 (12:06):


Blauer Schmetterling
(Hermann Hesse)

Flügelt ein kleiner blauer
Falter vom Wind geweht,
Ein perlmutterner Schauer,
Glitzert, flimmert, vergeht.
So mit Augenblicksblinken,
So im Vorüberwehn
Sah ich das Glück mir winken,
Glitzern, flimmern, vergehn.


 angelottchen antwortete am 20.05.05 (12:15):

Auf seinem Bette liegt Galet,
Weglachend seines Todes Weh.

Er schickt Panard den Morgengruß,
Sechs neue Lieder zum Genuß.

„Erst wollt' ich reimen, liebes Kind!
So viele, als Apostel sind.

„Doch hab' ich's nur auf sechs gebracht,
Weil schon der Totengräber wacht.

„Der Totengräber an der Thür
Mit seinem Spaten lauscht herfür.

„Der hackt mich mit den andern sechs
Bald unter grünes Grasgewächs.

„Leb' wohl, mich dünkt, nun muß es sein,
Der beste Reim ist Rhein und Wein!“


 angelottchen antwortete am 20.05.05 (12:18):

Die junge Magd
(Georg Trakl - Ludwig von Ficker zugeeignet)

Oft am Brunnen, wenn es dämmert,
Sieht man sie verzaubert stehen
Wasser schöpfen, wenn es dämmert.
Eimer auf und nieder gehen.

In den Buchen Dohlen flattern
Und sie gleichet einem Schatten.
Ihre gelben Haare flattern
Und im Hofe schrein die Ratten.

Und umschmeichelt von Verfalle
Senkt sie die entzundenen Lider.
Dürres Gras neigt im Verfalle
Sich zu ihren Füßen nieder.

Stille schafft sie in der Kammer
Und der Hof liegt längst verödet.
Im Hollunder vor der Kammer
Kläglich eine Amsel flötet.

Silbern schaut ihr Bild im Spiegel
Fremd sie an im Zwielichtscheine
Und verdämmert fahl im Spiegel
Und ihr graut vor seiner Reine.

Traumhaft singt ein Knecht im Dunkel
Und sie starrt von Schmerz geschüttelt.
Röte träufelt durch das Dunkel.
Jäh am Tor der Südwind rüttelt.

Nächtens übern kahlen Anger
Gaukelt sie in Fieberträumen.
Mürrisch greint der Wind im Anger
Und der Mond lauscht aus den Bäumen.

Balde rings die Sterne bleichen
Und ermattet von Beschwerde
Wächsern ihre Wangen bleichen.
Fäulnis wittert aus der Erde.

Traurig rauscht das Rohr im Tümpel
Und sie friert in sich gekauert.
Fern ein Hahn kräht. Übern Tümpel
Hart und grau der Morgen schauert.

In der Schmiede dröhnt der Hammer
Und sie huscht am Tor vorüber.
Glührot schwingt der Knecht den Hammer
Und sie schaut wie tot hinüber.

Wie im Traum trifft sie ein Lachen;
Und sie taumelt in die Schmiede,
Scheu geduckt vor seinem Lachen,
Wie der Hammer hart und rüde.

Hell versprühn im Raum die Funken
Und mit hilfloser Geberde
Hascht sie nach den wilden Funken
Und sie stürzt betäubt zur Erde.

Schmächtig hingestreckt im Bette
Wacht sie auf voll süßem Bangen
Und sie sieht ihr schmutzig Bette
Ganz von goldnem Licht verhangen,

Die Reseden dort am Fenster
Und den bläulich hellen Himmel.
Manchmal trägt der Wind ans Fenster
Einer Glocke zag Gebimmel.

Schatten gleiten übers Kissen,
Langsam schlagt die Mittagsstunde
Und sie atmet schwer im Kissen
Und ihr Mund gleicht einer Wunde.

Abends schweben blutige Linnen,
Wolken über stummen Wäldern,
Die gehüllt in schwarze Linnen.
Spatzen lärmen auf den Feldern.

Und sie liegt ganz weiß im Dunkel.
Unterm Dach verhaucht ein Girren.
Wie ein Aas in Busch und Dunkel
Fliegen ihren Mund umschwirren.

Traumhaft klingt im braunen Weiler
Nach ein Klang von Tanz und Geigen,
Schwebt ihr Antlitz durch den Weiler,
Weht ihr Haar in kahlen Zweigen.


 Enigma antwortete am 20.05.05 (16:33):

Danke pamina und angelottchen...:-)

Emanuel Geibel (1815-1884)
Vergänglichkeit


Daß Alles uns so rasch vorübereilet
Und sich die Zeit nicht läßt in Fesseln schlagen,
Es war mir nimmermehr ein Grund zu klagen,
Wenn ich im Kreis der Fröhlichkeit verweilet.
Denn öfter noch hat mir es Trost ertheilet,
Wenn auf der Seele tiefe Schatten lagen;
Der bangen durft' ich dann vertrauend sagen:
Getrost! Der Sand verrinnt, die Wunde heilet.
So hofft' ich stets dem jungen Lenz entgegen,
War ich vom Frost des Winters kalt umschauert,
Und sah mit Ruh den Herbst ins Grab sich legen.
Nur Eines hab' ich immer tief betrauert,
Daß auch die schönste Blum' auf unsern Wegen,
Die Liebe selbst nur zwei Minuten dauert.


 nasti antwortete am 21.05.05 (10:54):

Sehr schöne Gedichte. Und ich habe in meine Augen wieder das bekommen, was mir passt. Schließlich, das "heillig ist der Mensch, welcher zufrieden ist, und noch mehr heillig der, welcher unzufrieden ist."
Muss ich zugeben, nicht jeder Wort habe ich verstanden beim die schöne Gedichten.

Zitate:

"Zufrieden werden, ein Großes Glück. Zufrieden bleiben, ein Meisterstück"

Norbert Blüm:

"Wenn ich zufrieden bin, bin ich tot. Wer sagt, er ist mit sich selbst zufrieden, giert nach Bewunderung. Menschen, die immer gute Laune sind und nur lächeln, sind heuchler."

"Ein Mensch muss bis ende wachsen. Zufriedenheit ist das ende jeden Strebens."

Nasti


 Enigma antwortete am 21.05.05 (12:03):

Ja Nasti, da kann ich auch was beisteuern:

Zu tief angesetzte Zufriedenheit ist ein Hemmschuh Deiner Möglichkeiten.

(Werner Mitsch)

Und noch ein Gedicht zum Thema:
Christine Busta (1915-1987)

Inmitten aller Vergänglichkeit

Einmal wichtig gewesen zu sein,
für jemanden, der einem selber
so wichtig war, dass man glaubte,
alles vorher sei unwichtig gewesen,
und nichts könnte nachher wichtiger werden
als dieses eine Mal –
es bleibt und wird zu erfülltem Leben.

Auch wenn man es längst vergessen wähnt.


 Enigma antwortete am 22.05.05 (17:49):



Sándor Petöfi

Vergänglichkeit ...


Vergänglichkeit - der Könige König.
Diese Welt ist sein mächt'ger Palast.
Er schreitet darein auf und ab,
Und 's ist kein Ort, wohin er nicht geht,
Und wo immer auch aufsetzt sein Tritt,
Läßt er ringsum Verwüstung zurück:
Geborstene Kronen und Blüten
Verwelkt, und gebrochene Herzen.


 nasti antwortete am 22.05.05 (20:15):

Hi Enigma!

Petöfi Sándor ist in deutsche Sprache übersetzt?? Staun!!!.
Als Kind habe ich seine Gedichte gelesen, und ewig von Foto abgemalt sein Gesicht.
Was ich immer suche in Deutsche Sprache, das sind die Gedichte von F.G.Lorca. Finde ich nirgendwo, habe ich in ungarische Sprache. Kannst du mir ein Tip geben, wo ich danach suchen sollte?


LG
Zichy


 Enigma antwortete am 22.05.05 (21:06):

Hallo Nasti,

da müsste ich auch suchen.

Aber eines lässt er Dir - für heute Abend - da, der Lorca: :-))

Frederico Garcia Lorca
Tanz im Garten der Petenera

In der Nacht ihres Gartens-
sechs Zigeunerinnen
in weißen Gewändern
tanzen.

In der Nacht ihres Gartens-
Jasmingewinde
und Rosen aus Papier
auf dem Kopfe.

In der Nacht ihres Gartens-
mit perlmutten Zähnen
schreiben sie den Schatten
den verbrannten.

Und in der Nacht ihres Gartens
längen sich die Schatten,
erreichen maulbeerfarben,
den Himmel.

Bis dann.....
Enigma


 hugo1 antwortete am 22.05.05 (21:30):

hallo nasti guck doch mal unternachfolgender addi nach
da kannste seine Gedichte in/auf deutsch geniessen,
leider ist dieser Mann sehr jung verstorben.

Internet-Tipp: https://www.deutsche-liebeslyrik.de/fremd/petofi.htm#g2


 nasti antwortete am 22.05.05 (22:10):

Danke Enigma,
wo hast du Lorca gefunden? kannst du mir das verraten?

Danke

LG

Zichy


 Enigma antwortete am 23.05.05 (08:01):

Guten Morgen

@Hugo1
Ein sehr schöner Link. Von dem kann ich auch profitieren. :-)

@Nasti
Leider habe ich im Moment auch nur das eine von Lorca gefunden.
Vielleicht später mehr. Aber erstmal fahre ich jetzt etwas weg.
Bis Anfang Juni also.
Ciao

Und noch eines zur "Vergänglichkeit":

Christian Morgenstern
Zwischen Weinen und Lachen

Zwischen Weinen und Lachen
schwingt die Schaukel des Lebens.
Zwischen Weinen und Lachen
fliegt in ihr der Mensch.

Eine Mondgöttin
und eine Sonnengöttin
stoßen im Spiel sie
hinüber, herüber.
In der Mitte gelagert:
Die breite Zone
eintöniger Dämmerung.

Hält das Helioskind
schelmisch die Schaukel an,
übermütige Scherze,
weiche Glückseligkeit
dem Wiege-Gast
ins Herz jubelnd,
dann färbt sich rosig,
schwingt er zurück,
das graue Zwielicht,
und jauchzend schwört er
dem goldigen Dasein
dankbare Treue.

Hat ihn die eisige Hand
der Selenetochter berührt,
hat ihn ihr starres Aug,
Tod und Vergänglichkeit redend,
schauerlich angeglast,
dann senkt er das Haupt,
und der Frost seiner Seele
ruft nach erlösenden Tränen.
Aschfahl und freudlos
nüchtert ihm nun
das Dämmer entgegen.
Wie dünkt ihm die Welt nun
öde und schal.

Aber je höher die eine Göttin
die Schaukel zu sich emporzieht -
je höher
schießt sie auch drüben empor.
Höchstes Lachen
und höchstes Weinen,
eines Schaukelschwungs
Gipfel sind sie.

Wenn die Himmlischen endlich
des Spieles müde,
dann wiegt sie sich
langsam aus.
Und zuletzt
steht sie still
und mit ihr das Herz
des, der in ihr saß.

Zwischen Weinen und Lachen
schwingt die Schaukel des Lebens.
Zwischen Weinen und Lachen
fliegt in ihr der Mensch.

Ist das nicht immer noch sehr lebensnah?

Internet-Tipp: https://gutenberg.spiegel.de/morgenst/phanta/phanta11.htm