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THEMA:   S.Rushdie:Überall wo die Religion den Kurs der Gesellschaft bestimmt kommt es zur Tyrannei

 18 Antwort(en).

lola begann die Diskussion am 02.04.05 (19:17) :

Ich lese gerade einen Artikel Salman Rushdies in der Zeit.
"Und was die soziale Frage angeht, so lautet die Frage ganz einfach: Überall dort, wo die Religion den Kurs einer Gesellschaft bestimmt, kommt es zur Tyrannei, zur Inquisition, zu den Taliban."

Glaubt man den von Rushdie zitierten Umfragen, scheint dies für Europa nicht gerade eine innere Gefahr darzustellen, da nur 21% der Europäer sich überhaupt als religiös bezeichnen.

Etwas ganz anderes aber ist das bereits in Amerika. Dort bezeichnen sich nicht nur 59% als religiös. Diese Tatsache wirkt sich auch nach wie vor unmittelbar auf die Präsidentenwahl und deren von Europäern immer wieder als gefährlich unrational erlebte Politik aus. (Um von anderen hinlänglich bekannten Fundamentalismen hier ganz zu schweigen.)

Aber rechtfertigt derlei wirklich Rushdies unmittelbare Verbindung von Relgion und Tyrannei?

Ist Religion wirklich nur in der Privatsphäre zu dulden und mit jedem Anspruch auf öffentlicher Teilhabe schon gefährlich?

Gab es nicht gerade in Europa auch genug Beispiele von Tyrannei und "Inquisition", die vollkommen areligiös waren?

Ist Religion nicht ursprünglich immer auch ein Versuch das Miteinander zu harmonisieren, den Einzelnen und seine Erfahrung in Beziehung zur Gemeinschaft zu setzen?

Wenn ich Rushdies Zahlen glauben soll, müssten sich die aufgeklärten Europäer eigentlich ordentlich auf die Schulter klopfen und kopfschüttelnd in die Reiche des Irrationalen blicken, die sie umgeben.

Niemand will den Radikalen jedweden Glaubens die Gesellschaft überlassen, aber ist damit wirklich schon alles über die Bedeutung der Religion für die Gesellschaft gesagt?

Internet-Tipp: https://www.zeit.de/2005/14/Relig_Wahn


 schorsch antwortete am 03.04.05 (09:40):

Religion(en) sind so lange keine Gefahr, als sie einander tolerieren. Wo aber eine Religion zur allein herrschenden, alles bestimmenden wird, gibt es keine Toleranz mehr gegenüber Andersgläubigen - Andersgläubige werden verfolgt, ausgegrenzt, gesteinigt, getötet. Und dann ist der Weg nicht mehr weit zur Verfolgung Andersgläubiger in anderen Ländern.....und die Anhänger der zur Staatreligion gewordenen Gläubigkeit werden dazu ermuntert, ihr Leben für Gott (gleich wie immer der auch genannt wird) zu opfern - indem sie sich in die Luft sprengen und damit möglichst viele Ungläubige mit in den Tod reissen.


 Karl antwortete am 03.04.05 (12:08):

Religionen sind deshalb eine Gefahr, weil sie zum Totalitarismus neigen, sie beanspruchen den Menschen ganz mit Haut und Haaren, mit dem Bewusstsein und dem Unterbewußtsein, weshalb mit der Indoktrination schon der Kleinkinder begonnen werden muss.
Wenn die Religion auch die politische Macht hat, wird deshalb alles andere unterdrückt und schwebt in Lebensgefahr. Freiheit wurde vor allem gegen die Religionen durch die Emanzipation des Individuums erkämpft.


 lola antwortete am 03.04.05 (14:45):

Hallo Karl,
Auf ersten Blick klingt dein Beitrag ja wirklich gut. Allein wenn ich so die europäische Geschichte Revue passieren lasse, komme ich doch zu etwas anderen Schlüssen.

War denn wirklich die Religion schuld an den Guillotine-Exzessen der französischen Revolution, an Napoleons Übermut, an den Feldzügen Friedrichs des Großen, an dem falschen Jubel der 1914 die Jugend in den Abgrund gezogen hat, an Hitlers Wahnsinn, an dem gemeingefährlichen Kleingeist des "real existierenden Sozialismus", an den verschiedenen Stilformen deutschen Terrors von rechts wie von links???

Zugegeben nicht immer haben die Kirchenmänner da so eine gute Figur gemacht wie ein ein Bonhoffer, Niemöller, Heinrich Albertz, Eppelmann, Schorlemmer, Pepe Romero, Ernesto Cardenal und die vielen unbekannt gebliebenen bei ihren Versuchen auch aus ihrer Religion heraus gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen.

Zugegeben der 30-jährige Krieg war nicht von Pappe, aber nach wievielen seiner 30 Jahre war der denn überhaupt noch religiös und nicht schon längst eine bloß zerstörerische Anarchie konkurrierender Machtinteressen und marodierender Landsknechte?
Hatte denn Luther wirklich die Schuld daran, oder haben seine Thesen letztlich auch in der Gesellschaft nicht doch mehr verändert, als nur ein paar kircheninterne Beichtpraktiken?

Ich habe großes Verständnis für Rushdies persönliche Situation und auch für seine Sensibilität gegenüber religiösem Fundamentalismus. Aber die Ursprünge unseres europäischen Wertekanons möchte ich deswegen noch lange nicht wegen einer Minderheit extremistischer Fanatiker ausschütten.

Zugegeben nicht alle heute aufkommenden ethischen Fragen werden von den heutigen Gottesmännern wirklich abschließend beantwortet und ob wirklich immer religiös motiviert ist, was sich heute so alles unter dem Banner "christlich" in der Politik ausbreitet, möchte ich auch nicht versprechen.

Aber wenn uns religiöse Lehren daran erinnern können, - außer dem Reiz persönlicher Vorteile - auch ein Gespür für gemeinschaftliche Verantwortung zu entwickeln, dann ist das für mich weder eine reine Privatsache noch im Geringsten verzichtbar.


 Karl antwortete am 03.04.05 (16:25):

Hallo Lola,

leider hast du recht und die Entflechtung der politischen Macht von der religiösen ist keineswegs ein Garant dafür, dass es besser wird. Es stellt sich die Frage, was an die Stelle tritt. Der Nationalsozialismus war auch eine totalitäre Ideologie, die den Menschen ganz in Beschlag nehmen wollte. Das Individuum galt nichts, die Partei, das Volk waren alles. Auch der Stalinismus und der reale Kommunismus waren totalitäre Ideologien und damit Religionen sehr ähnlich. Ich erinnere mich sehr gut an Diskussionen mit "dem Kommunisten" in unserem Dorf. Die Diskussionen verliefen ähnlich wie mit den Pietisten. Es gab einen Punkt, darüber durfte man nicht gehen, das was dann Blasphemie und tabu.


 lola antwortete am 03.04.05 (17:19):

Angst ist kein guter Ratgeber.
Wenn wir in allem nur noch danach suchen, wovor wir Angst haben, verspielen wir dann nicht mehr wertvolle Möglichkeiten, als wir an vermeintlicher Sicherheit gewínnen?

So gerne ich das manchem dogmatischem Fortschrittsskeptiker klerikaler Provinienz ins Brevier schreiben würde, wenn ihn seine Angst vor dem Neuen zur Abwehr der Möglichkeiten von Forschung und Technik veranlassen, so gerne würde ich auch den einen oder anderen überzeugten Kirchenkritiker daran erinnern, was Europa ethisch wie kulturell dem so geschassten Christentum eigentlich verdankt.

Kaum jemandem verdanken wir z.B. die Idee des Fortschritts wohl mehr, als der Heilserwartung des Christentum. Sie ist wie mir scheint schon lange vor allem Kolonisationsunrecht so stark ins europäische Denken eingegangen, dass es sich genau in diesem Punkt über Jahrhunderte am fruchtbarsten von dem der meisten anderen Kulturen der Welt abhob.

Liegt diese Heilserwartung doch ebenso der sozialen Utopie einer - wie auch immer - "gerechten" Gesellschaft zugrunde, wie dem Kampft gegen Leid und Tod in der Medizin und dem Erkenntnisstreben der Wissenschaft.

Noch nie ist die Religion gerecht beurteilt worden, wenn man auf die Exzesse derer schaut, die sie missbrauchten.
Natürlich müssen die kritisiert und gestoppt werden. Das aber ist noch lange nicht die ganze gesellschaftliche Bedeutung der Religion.

Jesus war nicht totalitär und auch seine Botschaft nicht.

Die Bereitschaft aber über die eigenen Interessen hinaus verantwortlich zu handeln, erfordert tatsächlich manchmal mehr Mut und Vertrauen, als die eigenen Ängste zulassen. In den Zeiten säkularen Totalitarismus haben das Christen immer wieder eindrucksvoll bewiesen!(wenn auch leider nicht alle!)
Ich verstehe Rushdies Angst. Ich möchte mich aber nicht von ihr allein bestimmen lassen.

Die große Mehrheit ihrer Wirkungen hat die Religion doch über die Jahrhunderte nicht bei denen entfaltet, deren Verstand und Vernunft von ihr benebelt, sondern bei denen, die durch sie beflügelt wurden.


 Marina antwortete am 03.04.05 (18:09):

lola, ich finde das alles sehr interessant, was du schreibst.
"Noch nie ist die Religion gerecht beurteilt worden, wenn man auf die Exzesse derer schaut, die sie missbrauchten.
Natürlich müssen die kritisiert und gestoppt werden. Das aber ist noch lange nicht die ganze gesellschaftliche Bedeutung der Religion."

Damit triffst du den Kern. Diese einseitige Ablehnung der Wissenschaftler, die meinen, alles nur mit gesicherten naturwissenschaftlichen Erkenntnissen erklären zu können, ist vielleicht auch nicht die einzige alleinseligmachende Wahrheit.
Missbrauch gibt es in jeder Ideologie, auch in der säkularen. Auch in der Medizin oder anderen Naturwissenschaften, die wurden ganz schön missbraucht in nichtchristlichen totalitären Regimes. Missbrauch ist deshalb kein Kriterium zur Beurteilung.


 Karl antwortete am 03.04.05 (22:55):

"Jesus war nicht totalitär und auch seine Botschaft nicht. "

Da stimme ich zu.


 schorsch antwortete am 04.04.05 (10:18):

War Jesus wirklich nie totalitär? Was ist denn von seiner Aussage zu halten: "Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich"? Man kann doch auch neutral sein gegenüber einem Mitmenschen.


 lola antwortete am 04.04.05 (14:55):

Lukas 11:23: "Das steht fest: Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich. Und wer sich nicht ganz für mich einsetzt, der schadet meiner Sache.»

Ja, das ist eine der meist 'entwendeten' Redewendungen des Neuen Testaments und nicht erst seit ein wildgewordenes gerade dem Alkoholismus entrissenes reicher Leute Kind mit Texanergrinsen versucht damit sein jeder Vernunft spottendes weltpolitisches Draufgängertum zu rechtfertigen
läuft es da unserem "old europe" eiskalt den Rücken herunter.

Als Deutscher hätte er sich das wahrscheinlich noch eher verkniffen, nachdem unser letzter Kaiser mit diesem Schlachtruf vor 90 Jahren sein schönes Reich in den Orkus schob. Kein Wunder wenn Thomas Mann es dann auch hämisch seinem exzessiv kaisertreuen "Untertan" in den Mund legt.

Ja, ich kenne diese abscheulichen Beispiele. Aber liest man wenigstens einmal Satz Lukas 11.23. bis Zuende dürfte derlei Tumbheit eigentlich gar nicht aufkommen. Jesus geht es eben nicht einfach um sich selbst und seine angeblich unfehlbare Autorität, sondern um die "Sache" für die er sich einsetzt. Und die ist nie jene der weltlichen Machtkämpfe gewesen. Das allerdings kann nur wissen und verstehen, wer auch etwas mehr von dieser Sache gehört und verstanden hat als, bloß diesen einen Satz.

Ja, ich kenne die Anfälligkeit für den Personenkult gerade bei Religionen, auch dies gehört zum Bade, mit dem ich nicht gleich das eigentliche "Kind" - die viel wertvollere "Sache" - ausschütten möchte!

Mich persönlich stört auch das Gerede vom Sacrificium intellecti, das meint den Glauben gegen Verstand und Vernunft ausspielen zu können.

Den Glauben brauchen wir doch gerdae um die Kraft für das, für alle als gut und richtig erkannte, zu finden und uns nicht durch jedweden egoistischen Einzelinteressen davon ablenken zu lassen.

Dieses auch den geringsten in seine "Sache" einbeziehende Handeln, ist es doch was uns das Neue Testament wirklich beibringen will. Wer nicht den Glauben an eine weiter reichende Verantwortung findet, wird ihr tatsöchlich kaum dienen können.

Eben genau darum brauchen wir einen starken Glauben, um nicht in den Wogen der Angst unterzugehen. Aber keinen Glauben an totalitäre Autoritäten, sondern an die Richtigkeit der "Sache". Dies und nichts anderes kann man von einer eindrucksvollen Reihe mutiger Christen immer wieder lernen.


 schorsch antwortete am 04.04.05 (16:46):

Ich aber meine: Wer nicht FüR mich ist, dem lasse ich seine eigene Meinung. Er darf auch gerne für oder gegen jemand anderen sein. Outet er sich aber in dem Sinne, dass er GEGEN MICH sei, frage ich ihn ganz einfach "warum?":


 lola antwortete am 04.04.05 (20:05):

- Ob über den Wolken ein Marionettenspieler sitzt oder
- ob viellmehr der Urgrund des Seins bloß als göttliches Nooumenon denkbar ist, welches sich in der immer nur unvollständig in ihrer Gesetzmäßigkeit erfassbaren Systematik der erkennbaren Phänomene dem Menschen immer neu lediglich andeutet, oder
- ob einem jede über den bloßen Utilitarismus hinausgehende Sinngebung schlicht zu anstrengend und daher unütz erscheint...
Das mag alles Ansichtssache sein, über die man nach Herzenslust verschiedene Meinungen austauschen kann.
Ja, ich selber lese auch S.Rushdie in dieser Hinsicht mit großen Vergnügen.

Aber...
haben wir wirklich die Wahl zu "Meinungsverschiedenheiten" angesichts der Not anderer z. B. bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Das Ergebnis solcher "Meinungsverschiedenheiten" kann man z.B. an der Untätigkeit der UN in Ruanda (siehe "Hotel Ruanda" Filmstart 7.4.05) und in Darfur sehen. Da wurde und wird zwar von honorigen Würdenträgern der ehrwürdigsten demokratischen Institutionen intensiv diskutiert, Konsens gesucht und Veto eingelegt. Bloß den wirklichen Bedrohten wurde eben praktisch überhaupt nicht geholfen. Für mich zumindest sind dies sind die blutigsten Blamagen missverstandenen säkularen Demokratieverständnis.

Wäre es denn wirklich Totalitarismus wenn einem Meinungsverschiedenheiten in solchen Fragen zuwider sind, wenn man in diesen Fragen lieber zur Entscheidung drängt.

Wie ich das Neue Testament lese, geht es auch darin nicht irgendeine philosophische Spekulationen mit dem Anspruch auf die maßgebende Macht in irgendwelchen Instituten oder Institutionen, sondern den Aufruf zum beherzten Eintretens für jene die wirklich der Hilfe bedürfen, denen nicht mit bloß "toleranten" Debatten, sondern eben nur durch 'entschiedenes' Handeln geholfen wird.

Internet-Tipp: https://www.tobis.de/home/site_scripts/filmseite.php?id=79


 schorsch antwortete am 05.04.05 (08:42):

@ Iola: "... Ob über den Wolken ein Marionettenspieler sitzt..."

Gut beobachtet. Erinnert mich schmunzelnd an eine Passage in meinem 2. Roman "Herbstlaub":


"So sehe ich das aber nicht", antwortete Schreiber leicht verlegen. "Ich komme mir manchmal vor wie ein Marionettenspieler, der seine Puppen an Fäden in der Hand hat. Und hin und wieder, genau gesagt immer öfter, verwirren sich diese Fäden. Dann weiss ich nicht mehr, welcher Faden zu welcher Puppe gehört...."
"Und der andere Puppenspieler bin ich dann, nicht wahr?" Federer musste lauthals herauslachen. Dann aber wurde er ernst. "Sind Sie denn ganz sicher," flüsterte er fast beschwörend, "dass Sie der Puppenspieler sind und nicht die Puppe? Könnte es denn nicht so sein, dass Sie zwar glauben, die Fäden in der Hand zu halten und dabei hält jemand ganz anderer Sie an den Fäden?"
"Sie machen mir Angst", antwortete Schreiber. Könnten Sie mir das Ganze nicht ein wenig verdeutlichen?"
"Gerne", feixte Federer. "Nehmen wir doch einmal an, da sitze irgendwo einer an seiner Schreibmaschine oder seinem Computer und schreibe eine Geschichte, in der wir beide die Hauptrollen spielen sollen. In Wirklichkeit aber spielt er selber die Hauptrolle und wir beide sind nur seine Fantasien, seine Hirngespinste sozusagen. Und er hält uns beide und die anderen Figuren um uns herum an seinen Fäden, und zu gleicher Zeit halten wir beide unsere Marionetten wiederum an Fäden, und auch diese wiederum spielen mit weiteren Puppen undsoweiter undsofort. Und nehmen wir weiter an, das Ganze gebe ein Buch und jemand lese es. Und dieser Leser ist auch nichts weiter als eine Marionette im ganzen verzwickten System. Und wer weiss, vielleicht ist am ende der Autor der Leser und der Leser ist gleichzeitig sein eigener Autor! Und da ist vielleicht noch ein Lektor, der glaubt, er sei der Richter über die ganze Geschichte. Dabei ist er auch nur eine Marionette im ganzen grossen Spiel!?"

....und über allem sitzt Iolas göttlicher Marionettenspieler - der offenbar auch hin und wieder ein Schläfchen macht und dabei die Fäden verliert! (;--))))


 lola antwortete am 05.04.05 (10:21):

Sowenig die kindliche Idee vom Marionettenspieler hinlangt das Phänomen Religion zu erfassen, sowenig trifft die ähnlich naive Furcht vor der "totaliär" bevormundenden Religion, das was sie wirklich zu bieten hat, das wofür wir sie wirklich brauchen. (s.o.)


 schorsch antwortete am 05.04.05 (15:34):

Ich frage mich nur: Wie hat die Menschheit hunderttausend Jahre ohne Religion existieren können?


 Karl antwortete am 05.04.05 (18:49):

@ schorsch,


hat sie das?


 lola antwortete am 05.04.05 (21:28):

Tja wer da gleich in die Hundertausende geht, greift allerdings weit zurück in der Menschheitsgeschichte. Man muss ihm die Daumen Drücken, dass sich die afrikanischen Homo Sapiens sapiens Fundstätten tatsächlich überhaupt mehr als 100 000 Jahre zurückdatieren lassen.

In Europa zumindest sind die netten Herren mit den hohen Stirnen meines Wissens erst seit ca. 35 000 Jahren unterwegs.

Ob man die schon deutlich länger in Europa lebenden Neandertaler noch als "die Menschheit" ansprechen möchte, scheint mir allerdings etwas gewagt, obwohl selbst diese etwas flachschädeligeren Zweibeiner ganz offenbar Bestattungsriten kannten, die "sich ohne komplexere Sprache und transzendentales Bewußtsein sonst nicht erklären lassen". (siehe Link) Einmal abgesehen davon wie areligiös sich die denn in Höhlenmalereien verewigten Vorstellungen unserer entfernten Vorfahren überhaupt erklären lassen.

Über die totalitären Neigungen all dieser frühen Vorfahren wage ich natürlich nicht zu urteilen. Aber zumindest scheint es mir im Gegensatz zu manchen aufgeklärten Religionskritikern nicht gerade auf eine evolutionäre Sackgasse zu deuten, dass diese "Menscheit" - selbst nach zehntausenden von Jahren Menschheitserfahrung - sich nicht davon abhalten lässt, ihrem Denken relgiöse Dimensionen zu geben.

Rushdie mag da seine Totalitarismus-Ängste haben. Dass aber Leute wie Kant oder Einstein damit offenbar entschieden weniger Probleme hatten, lässt mich vermuten, dass es da außer "Totalitarismus" vielleicht doch noch etwas geistvolleres zwischen Himmel und Erde geben mag.

Internet-Tipp: https://www.wissenschaft-online.de/artikel/766094


 schorsch antwortete am 06.04.05 (09:35):

Naja; wo und wann hat die Geschichte der Menschheit begonnen? Das ist etwa die gleiche Frage, wie was zuerst war, das Huhn oder das Ei. Die Antwort für mich ist einfach: Das Datum beider Entwicklungen ist identisch, nämlich dann, als das erste Leben entstand. Es gibt sogar Forscher die behaupten, der Neandertaler sei kein Mensch gewesen.


 lola antwortete am 06.04.05 (12:37):

Es scheint meines wissens nach gegenwärtig sogar ziemlich unwahrscheinlich, dass der Neandertaler ein direkter Vorfahre des modernen Menschen gewesen sein könnte.

Wenn aber selbt der schon religiöse Anwandlungen zeigte, lässt sich auch menschliche Religösität wohl kaum noch auf die paar tausend Jahre beschränken, aus denen heute noch religiöse Überlieferungen wirksam sind. Daher scheint es mir unangemessen, Religion als einen totalitaristischen Spleen einiger wildgewordener Schriftgelehrten abzutun, den wir im Zeitalter der digitalen Aufklärung nur mit ein paar passionierten Feuilletonartikeln korrigieren müssten.

Selbst wenn Menschen ihre Eier eher im Körper ausbrüten, als sich über den Vorrang von Hennen und ihrer Brut zu verbreiten, wer sagt denn, dass nicht auch die Anlage zur Religion quasi "seit Menschengedenken" zur Grundaustattung eines menschlichen Bewußtseins gehört.