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THEMA:   Andersen, ein ganzes Jahr

 22 Antwort(en).

iustitia begann die Diskussion am 02.04.05 (14:49) :

Märchenzeit...? Andersens Geburtstag -

da erinnert sich wohl jede(r) an Lieblingsmärchen, an Bilder, an Geschichten..

Wer erzählt von seinen Erfahrungen?

*

HCA hat aber auch Reisegeschichten, Romane, Feuilletons, Tagebuchaufzeichnungen verfasst, die so viele Überaschungen bieten, dass man merkt:
"Märchen" waren für ihn nur eine bildhaft vordergründige Art, einen erzählerischen und poetischen Tiefgang zu erzielen, der viel "Unerhörtes" verbergen, also auch subtil-intensiv offenbaren, also: verständlich machen sollte.
*
Einige Beiträge zu Themen und Märchen zu HCA kann man finden unter URL:

https://f27.parsimony.net/cgi-bin/topic-thread.cgi?Nummer=66372&Phase=Phase1&ThreadNummer=2157

Internet-Tipp: /seniorentreff/de/dSbzmZLPk


 Enigma antwortete am 03.04.05 (09:18):

Guten Morgen,
ja, Märchen und Geschichten habe ich schon sehr gerne, besonders auch orientalische.
Aber da hier von Andersen die Rede ist, möchte ich mich auf ihn beschränken.
Natürlich habe ich früher auch Märchen von ihm gelesen.
Aber die wurden von mir als Kind bzw. Jugendliche nach bestimmten Kriterien beurteilt. Meist mussten sie, damit ich sie richtig "schön" finden konnte, auch ein Happy End haben. Ich weiss nicht, ob alle Kinder "Ende gut, alles gut" lieben, ich jedenfalls zu der Zeit schon.
Und so fiel denn z.B. "Die kleine Seejungfer" schon mal aus, weil die traurige kleine Seejungfer ja ihren geliebten Prinzen nicht bekommen hatte.
Da spielte es auch keine Rolle, dass sie doch mehrere Chancen bekam, eine unsterbliche Seele zu erhalten. Das war mir wahrscheinlich zu abstrakt damals.
Gelesen habe ich auch "Die roten Schuhe". Aber das war mir zu brutal. Dass das arme Mädchen sich von dem Scharfrichter ihre Füßchen abhacken lassen musste, um mit dem Tanzen aufhören zu können...nein, das gefiel mir doch ganz und gar nicht.
(Im übrigen ist nach dieser literarischen Vorlage ein ganz toller Film entstanden gleichen Namens. Das hatte ich mal in einem Filmlexikon gelesen. Und ich habe ihn wiedergefunden unter: www.dvd-inside.de/db/details.php?id=20707).

Mein "Andersen-Renner" zur Jugendzeit war eindeutig:
"Das häßliche junge Entlein". Das Märchen empfand ich als zauberhaft, die Wandlung des vermeintlichen Entleins, das nichts von seiner eigentlichen Herkunft wusste, zum stolzen Schwan - das war doch was. Da wurde der kleine Schwan doch endgültig schön und glücklich und zufrieden.
Aber nachdem ich mir gestern das Märchen noch einmal durchgelesen habe, empfinde ich es eigentlich als ein Märchen der eher schlimmen Sorte.
Denn steckt nicht darin, dass man nur akzeptiert und verstanden und als schön empfunden werden kann in seiner eigenen und vertrauten Umgebung - biologisch oder auch kulturell?
Und dass alles Fremde und Neue abgelehnt und als bedrohlich empfunden wird? Und dass das eigentlich unveränderbar ist?
Und diese Aussage kann einfach heute nicht mehr gültig sein!
Oder irre ich mich gewaltig mit dieser Interpretation?

Was meint Ihr dazu?

Internet-Tipp: https://gutenberg.spiegel.de/andersen/maerchen/entlein.htm


 schorsch antwortete am 03.04.05 (09:44):

Ach wie vielen Menschen wird doch aufgeschwatzt, sie seien nur hässliche Entlein....

Bei mir ging es Jahrzehnte, bis ich merkte, dass ich ein Schwan war (:--))))

Naja; inzwischen ist aus dem Schwan ein gerupftes Huhn geworden ):--((((


 iustitia antwortete am 03.04.05 (12:39):

Stephanie Drissen-Vorberg:
Von der „besseren“ Ente in einem selbst…

Andersen: „Selbst der Flieder bog sich mit den Zweigen gerade zu ihm in das Wasser hinunter, und die Sonne schien so warm und so mild! Da brausten seine Federn, der schlanke Hals hob sich, und aus vollem Herzen jubelte er: ‚Soviel Glück habe ich mir nicht träumen lassen, als ich noch das häßliche Entlein war!’"
*
Ja, die Erinnerung an die erste produktive Vorstellung mit der Geschichte vom Entlein, das sich mauserte, sich glücklich verwandelte:
Mit den zwei eigenen Kindern in einem Stadtpark, die ältere fast fünf. Schwäne, mit diesen hässlichen Jungkindern. „Was ist das da?“ Das sind - und fast atemlos wird dem Glück gelauscht, wenn mit Andersen spannend erlebt wird, wie man sich in seiner Vorstellung wandeln kann vom hässlichen, gemobbten Entlein – zum strahlenden Schwanenkind. Sich neu verstehen lernt, sich s e l b s t.
*
Erst als wir – 20 Jahre später - der Donau entlang fuhren, mit den Rädern, mit Tagesrationen im Korb, und mehrere Schwanenfamilien gesehen hatte – und einmal picknickten am Ufergrün. Wie die Langhalsväter ihre Federnschar hüten in Ufernähe und den Schiffen unbeteiligt den Rücken zudrehen…
Da nahm ich den Apparat, näherte mich dem Ufer, um eine Schar grau-bräunlicher Schwänchen zu fotografieren. Die Mutter scharte die Kleinen lockend ganz nah um sich. Und der Schwanen-Herr schwamm paddelnd auf mich zu: schnatternd, drohend; näherte sich dem Ufer, entstieg schon dem Wasser, Flügel schlagend.
Ich zog mich zurück. Knipste noch, aber das große Bild von der besonders kinderreichen Familie gelang mir nicht.
Seitdem weiß ich, dass Andersens wunderbares Märchen – ökologisch gesehen – eine veränderte, für die menschliche Aussage wichtige Version vom natürlichen Tierverhalten ist: Schwäne bewachen ihre kostbaren Blagen, mit verteilten Rollen, energisch. (Auch gegen Füchse, erfuhr ich später.) Und auf einem Bauernhof sind sie nicht geduldet. Dort siedeln sie sich auch nicht an, wie die Störche auf den Hochnestern in den Dörfern, nahe den Froschgewässern.
Die dumme Verwechslung von hässlich mit nicht attraktiv - vorerzählt in der miterlebbaren Verwandlung des Entchens zum schönsten Vogel unserer nordeuropäischen Welt. Bei uns in Parks, und bei Andersen.

URL: Schwäne an der Donau:

Internet-Tipp: /seniorentreff/de/xueInFjhU


 Enigma antwortete am 04.04.05 (09:42):

Das folgende Andersen-Märchen gefällt mir auch:

Hans Christian Andersen
Das ist wirklich wahr

"Das ist ja eine schreckliche Geschichte" sagte ein Huhn, und zwar an dem Ende des Dorfes, wo die Geschichte nicht passiert war. "Das ist ja eine schreckliche Geschichte im Hühnerhaus. Ich getraue mich gar nicht, heute nacht allein zu schlafen! Es ist nur gut, daß wir soviele im Stalle sind" - Und dann erzählte es, daß sich den anderen Hühnern die Federn sträubten und der Hahn den Kamm sinken ließ. Es ist wirklich wahr.

Aber wir wollen von Anfang anfangen, und der war am anderen Ende des Dorfes in einem Hühnerhaus. Die Sonne ging unter und die Hühner flogen auf. Eins von ihnen, es war weißgefiedert und kurzbeinig, legte seine vorgeschriebene Anzahl Eier und war, als Huhn, in jeder Weise respektabel. Als es die Leiter hinaufstieg, krause es sich mit dem Schnabel, und dabei fiel ihm eine kleine Feder aus.

"Hin ist hin!" sagte es. "Je mehr ich mich putze, desto schöner werde ich noch!" Das war scherzhaft hingesprochen; denn es war das lustigste unter den Hühnern, im übrigen war es, wie gesagt, sehr respektabel; und dann schlief es ein.

Ringsum war es dunkel, Huhn an Huhn saß auf der Stange; aber das, was am nächsten dabei gesessen hatte, schlief noch nicht. Es hörte halb, halb hörte es nicht, wie man es ja in dieser Welt handhaben soll, um seine Gemütsruhe zu bewahren. Aber seiner anderen Nachbarin mußte es doch noch schnell zuflüstern: "Hast Du gehört, was hier gesprochen worden ist? Ich nenne keinen Namen, aber es gibt hier ein Huhn, das sich rupfen will, um schön auszusehen! Wenn ich ein Hahn wäre, würde ich es verachten."

Gerade gegenüber den Hühnern saß die Eule mit ihrem Eulenmann und den Eulenkindern; in dieser Familie hat man scharfe Ohren, sie hörten jedes Wort, was das Nachbarhuhn sagte. Und sie rollten mit den Augen und die Eulenmutter fächelte sich mit den Flügeln: "Hört nur nicht hin! Aber Ihr habt es wohl doch gehört, was dort drüben gesprochen wurde? Ich hörte es mit meinen eigenen Ohren, und man hört ja viel ehe sie abfallen! Da ist eins unter den Hühnern, was in einem solchen Grade vergessen hat, was sich für ein Huhn schickt, daß es sitzt und sich alle Federn vom Leibe zupft und es den Hahn mit ansehen läßt!"

"Prenez garde aux enfants!" sagte der Eulenvater, "das ist nichts für die Kinder."

Fortsetzung!!


 Enigma antwortete am 04.04.05 (09:48):

Fortsetzung!

"Ich will es doch der Nachbareule erzählen! Das ist eine so ehrenwerte Eule im Umgang!" damit flog die Mutter fort.

"Hu-Hu! uhuh!" tuteten die beiden gerade in den gegenüberliegenden Taubenschlag zu den Tauben hinein. "Habt Ihr schon gehört? uhuh! Da ist ein Huhn, daß sich alle Federn ausgerupft hat wegen des Hahns. Es wird totfrieren, wenn es nicht schon tot ist, uhuh!" "Wo? Wo?" kurrten die Tauben.

"Im Nachbarhofe! Ich habe es so gut wie selbst gesehen. Es ist zwar eine etwas unanständige Geschichte, aber es ist wirklich wahr!"

"Glaubt nur, glaubt nur jedes einzige Wort" sagten die Tauben und kurrten zu ihrem Hühnerstall hinab: "Da ist ein Huhn, ja, einige sagen sogar, es seien zwei, die sich alle Federn ausgerupft haben, um nicht wie die anderen auszusehen und dadurch die Aufmerksamkeit des Hahns zu erregen. Das ist ein gewagtes Spiel, man kann sich dabei erkälten und am Fieber sterben, nun sind sie beide tot!"

"Wacht auf! Wacht auf! krähte der Hahn und flog auf den Zaun. Der Schlaf saß ihm noch in den Augen, aber er krähte trotzdem: "Es sind drei Hühner aus unglücklicher Liebe zu einem Hahn gestorben! Sie haben sich alle Federn ausgerupft! Das ist eine häßliche Geschichte, ich will sie nicht für mich behalten, laßt sie weitergehen!"

"Laßt sie weitergehen!" pfiffen die Fledermäuse, und die Hühner kluckten und der Hahn krähte: "Laßt sie weitergehen! Laßt sie weitergehen!" Und so eilte die Geschichte von Hühnerhaus zu Hühnerhaus und endete zuletzt bei der Stelle, von wo sie ausgegangen war.

"Da sind fünf Hühner," hieß es, "die sich alle die Federn ausgerupft haben, um zu zeigen, welches von ihnen am magersten vor Liebeskummer um den Hahn geworden wäre, und sie hackten auf einander los, bis das Blut floß und fielen tot zur Erde, ihrer Familie zu Schimpf und Schande und dem Besitzer zu großem Verlust."

Das Huhn, das die lose, kleine Feder verloren hatte, erkannte sich natürlich in der Geschichte nicht wieder, und da es ein respektables Huhn war, sagte es: "Diese Hühner verachte ich. Aber es gibt mehr von dieser Art. So etwas soll man nicht vertuschen, ich will jedenfalls das meinige dazu tun, daß die Geschichte in die Zeitung kommt, dann geht sie durch das ganze Land, das haben die Hühner verdient und die Familie auch!"

Und es kam in die Zeitung und wurde gedruckt und es ist wirklich wahr: Aus einer kleinen Feder können schnell fünf Hühner werden!
:-))


 iustitia antwortete am 05.04.05 (17:04):

Vom
„MÄRZVEILCHEN“

Der Himmel wölbt sich rein und blau,
Der Reif stellt Blumen aus zur Schau.
(…)
Eine Seite zu Andersen:

Internet-Tipp: https://www.onlinekunst.de/april/02_04_andersen.html


 iustitia antwortete am 05.04.05 (17:07):

Zum typischen Optimismus der Andersenschen Märchen:
Das Leben ist das schönste Märchen... Und wir kommen selber darin vor.

*
(Oder so ähnlich; das muss sowieso jeder für sich formulieren:
Das Märchen, das Glück - und - und ich –
Es sei denn, ich mag mich nich...

Internet-Tipp: /seniorentreff/de/NHIz55fR4


 Enigma antwortete am 07.04.05 (14:43):

Es soll eine ganze Menge Anekdoten über Andersen geben.
U.a. auch die nachfolgende:

Der Märchendichter Hans Christian Andersen war ein ausgesprochener Hypochonder. Er hatte auch eine krankhafte Furcht davor, daß man ihn einmal lebend begraben könnte. Jeden Abend, bevor er ins Bett ging, schrieb er folgende Worte auf einen Zettel; "Ich bin nicht tot, nur scheintot." Diesen Zettel legte er auf die Mitte seines Bettvorlegers, wo er jedem sofort auffallen mußte. Und an jedem Morgen hob sein Diener die Mitteilung auf, betrachtete sie, ohne dabei eine Miene zu verziehen, und warf den Zettel dann weg.


 Enigma antwortete am 08.04.05 (09:06):

Und noch eine Anekdote:

Während eines Mittagessens in Wien bekam Hans Christian Andersen etwas in die "falsche Kehle". Er mußte, begleitet von den Gastgebern, vom Tische aufstehen, an dem es ganz still wurde. Andersen jedoch im Nebenraum hustete und spuckte. Trotz des Protestes der Haufrau behauptete er, im Fleisch hätte sich eine Stecknadel befunden, die er geschluckt hätte und deutlich im Hals spüre. Am Abend und auch noch am nächsten Tag war er sehr beunruhigt wegen der möglichen Folgen. Seine Angst war so groß, daß dadurch die Befürchtung vertrieben wurde, ein kleiner Pickel über der einen Augenbraue könne zu einer großen Geschwulst werden, wodurch dann das Auge zuschwellen könnte. Dieses wiederum ließ ihn vergessen, daß er möglicherweise einen Bruch bekäme, weil ihn jemand mit einem Stock in der Magengegend berührt hatte. Diese Sorge führte dazu, daß er den Gedanken aufgab, der ihn bei seiner Ankunft in Wien sehr beschäftigte, er könne Wasser im Knie haben. Auf diese Weise trieb er - wie ein geflügeltes Wort sagt - den Teufel mit Beelzebub aus.

Internet-Tipp: https://www.bibliomaniac.de/texte/misc/anekdot.htm


 Marina antwortete am 08.04.05 (10:59):

Vielleicht hat ihn diese Kettenreaktion zu seiner Hühnergeschichte veranlasst? :-)

Ich lese sehr gern hier, danke für die schönen Geschichten.


 iustitia antwortete am 08.04.05 (13:07):

MÄrchen und Interpretation:
Hans Christian Andersen. Die Glocke

In den engen Straßen der großen Stadt hörte bald der eine, bald der andere am Abend, wenn die Sonne unterging und die Wolken zwischen den Schornsteinen golden aufleuchteten, einen wunderlichen Laut, fast wie der Ton einer Kirchenglocke, aber man hörte ihn nur für einen Augenblick, dann wurde er wieder von dem Geräusch der rasselnden Wagen und des Straßenlärms übertönt. "Nun läutet die Abendglocke." sagte man, "nun geht die Sonne unter."

Wenn man außerhalb der Stadt war, wo die Häuser von Gärten und kleinen Feldern umgeben waren und weiter voneinander entfernt standen, sah man den Abendhimmel noch prächtiger und hörte den Glockenklang weit stärker. Es war, als käme der Ton von einer Kirche tief in dem stillen, duftenden Walde; und die Leute blickten hinüber und wurden ganz andächtig.
(...)
(www.Gutenberg....- Andersen...)
*
Erling Nielsen:
Erläuterungen zu Andersens allegorischem Märchen „Die Glocke“
(Zuerst 1958; in: Erling Nielsen: Andersen mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Hamburg 1995. romono 5. S. 148-152)

Wie viele Seiten von Andersens Kunst sind nicht in diesem Stück zusam­mengefaßt, der Krone der ganzen romantischen Glockenpoesie. Lyri­sche Naturstimmungen sind mit literarischer Satire verflochten (der eine machte ein ganzes Lied darauf), kleine, launige Bemerkungen sind mit freigebiger Hand über die Seiten ausgestreut: romantisch - das war et­was, was man nicht alle Tage vorgesetzt bekam, die Konfirmanden hielten einander bei den Händen, denn sie waren ja noch nicht in Amt und Würden, aber ebenso sicher greift der Dichter in die pathetischen Sai­ten. Von der Ebene des Alltags zu Anfang wird das Märchen gegen Schluß auf die Ebene der Vision hinauf gehoben. Trotz der vielen Seiten­sprünge ist die Linie der Erzählung klar: Mit jeder neuen Etappe näher an die Glocke heran wird das Naturerlebnis intensiver. Stärker und stär­ker ertönt die Glocke - aber sie war es dennoch nicht. Als der Königs­sohn dann die anderen verläßt, und das ist der Wendepunkt in der Ge­schichte, tönt es schwächer und schwächer hinter seinem Rücken von den zurückgelegten Stationen, aber vorn braust es wie mit Orgelklän­gen. Jetzt kommen die sublimen Höhen näher, der Dichter muß die frü­heren Natureindrücke verdunkeln und alles hell in hell malen (die Äpfel sind wie funkelnde Seifenblasen) Rind phantastische Farben anwenden (himmelblaue Tulpen und weiße Lilien mit blutroten Staubfäden), als aber die geheimnisvolle Landschaft im Begriff ist, sieb wie eine Fata Morgana zu verflüchtigen, werden die Wasserschlangen und die Kröten eingeführt als handfeste Vertäuungen in der Wirklichkeit, und der Hym­nus an die große Natur, das Meer, den Himmel und den Wald kann frei erschallen.

Und wie viele von des Dichters Motiven sind in dieser zentralen Para­bel enthalten! Von jedem Satz laufen Fäden zu anderen Dichtungen von ihm. Ein paar Beispiele: die Vorstellung, daß die Poesie nicht auf dem Pflaster gedeiht (die Glocke wird nur einen Augenblick in der Stadt ver­nommen, denn es war solch ein Geratter von Wagen und solch ein Geschrei, und das stört), kehrt auch im Schatten wieder, wo der gelehrte Mann rund heraus sagt, daß die Poesie oftmals ein Einsiedler in den gro­ßen Städten sei. Wenn der arme Knabe allein losgegangen ist, denn die Glocke ertönte so kräftig, so tief, er mußte hinaus, so entspricht das ge­nau dem häßlichen Entlein, das bei der alten Frau mit der Katze und dem Huhn unwillkürlich an die frische Luft und den Sonnenschein den­ken mußte! Es kriegte solch eine wunderliche Lust, auf dem Wasser zu schwimmen, zuletzt konnte es gar nicht widerstehen, es mußte es der Hen­ne sagen - und beide Stellen stimmen prächtig mit dem Bericht aus dem Märchen meines Lebens über den Aufbruch aus Odense überein: Er mußte fort. Es war ein völlig unerklärlicher Trieb, der mich zog.
(Forts. folgt)

Internet-Tipp: https://www.Gutenberg.spiegel.de/andersen/maerchen/glocke.htm


 iustitia antwortete am 08.04.05 (13:09):

Nielsen:
Interpretation zu:
Andersens Märchen "Die Glocke"
(Teil 2)

Ebenso wie das biblische Gleichnis von dem großen Abendmahl, aus dem Andersen die Anregung entnommen hat, läßt Die Glocke eine Deutung jeder einzigen Schriftstelle zu. In dem bis ins einzelne gehenden Bericht über die vielen fehlgeschlagenen Expeditionen zur Glocke hinaus hat der Dichter sich bei jedem einzelnen Ausflug das Seine gedacht, und es ist nicht schwierig, gewisse Vertreter idealen, über den Alltag hinausgehenden Strebens zu identifizieren. Der eine, der mit einer ungefähren Erklärung heimkehrt und seine alljährliche Abhandlung über die Eule schreibt, soll die spekulative Philosophie darstellen, die keine gründlichen Untersuchungen auf dem Gebiet anstellt. Er kommt bei der Universität an. Der, welcher sich an der Quelle niederläßt, das muß man richtig studieren, soll dagegen die Fachwissenschaft in pedantischer Ausgabe vorstellen. Die Waldglocke, die nicht sehr weit zu hören ist und der Töne ermangelt, die ein Menschenherz bewegen können, ist die Heibergsche Kunstpoesie, klein und fein! Aber das wichtigste von allem - und hierin liegt die positive Idee der Parabel: der Königssohn und der arme Knabe, die einzigen, die das Mysterium erleben, symboli­sieren Wissenschaft und Kunst. Der eine sucht die Wahrheit, der andere die Schönheit, aber es stellt sich heraus, daß in der großen Kirche der Natur und der Poesie das Ziel dasselbe ist.
Daß der arme Knabe mit den zu lang geratenen Handgelenken der Dichter selber ist, dürfte kaum zu bezweifeln sein, und alles spricht dafür, daß der Königssohn mit dem Mann übereinstimmt, der in entscheidender Weise Andersens Vorstel­lungswelt geprägt hat, nämlich H. C. Örsted. Ebenso wie das Verständ­nis für die 'Wissenschaft verdankte er dem genialen Naturforscher den Kulturoptimismus - die sozialen Überlegungen dahingegen sind «eigene Erfindung», wie er von dem originalen Märchen im Gegensatz zu den Nachdichtungen sagte. Und der Grundgedanke, von dem das ganze Märchenwerk getragen ist: das Dasein ist voller Wunder, dieser Gedanke ist ebenfalls mit Örsteds Hauptgedanken identisch, wie er in dessen Abhandlung «Der Geist in der Natur» entwickelt wird, dessen Inhalt schon aus dem Titel ersichtlich ist: Es gibt keine Kluft zwischen Geist und Natur, der Geist ist in der Natur.
Andersens großartigster Ausdruck für diese monistische Weltanschauung ist die Schlußvision in der Glocke, aber darüber hinaus ist seine ganze Dichtung davon durchsetzt. Wohl ist sie ein Ergebnis seiner persönlichen Erfahrungen, aber es ist die Frage, ob er es gewagt hätte, ihr einen so kühnen Ausdruck zu verleihen, wenn nicht Örsted ihn angespornt hätte.
„Auf meine geistige Entwicklung hatte er (Örsted) eine starke Einwirkung und war derjenige von allen, welcher mir in meiner ganzen Entwicklung als Dichter geistig eine Stütze war, heißt es im Märchen meines Lebens.“ [HCA]
*
Johan Ludvig Heiberg = um 1807 in Kopenhagen tätiger Philosoph, Nielsen nennt ihn einen „Kunstrichter“.
Hans Christian Örsted = dänischer Naturforscher, Entdecker des Elektromagnetismus, Freund HCA.s; von ihm ist die Anerkennung des Dichters überliefert: „Sollten Ihre Romane Sie berühmt machen, so werden Ihre Märchen Sie unsterblich machen.“ (Nielsen S. 15)


 Enigma antwortete am 11.04.05 (11:21):

Es gibt eine Seite im "Netz", von der aus man sich Andersen-Märchen nicht nur anhören, sondern auch als Hörstücke legal herunterladen kann.
Ich habe schon einiges zusammenbekommen, und wenn ich mal keine Lust zum Lesen habe, dann vielleicht die zum Anhören der schönen Märchen.

Ich gebe die Seite mal in die URL ein, falls es dafür Interessenten geben sollte;

Internet-Tipp: https://www.vorleser.net/html/andersen.html


 Marina antwortete am 12.04.05 (11:17):

@Enigma, danke für alles.
Ich habe, angeregt durch diese Texte, jetzt auch wieder angefangen, die Märchen zu lesen und mir mal Gedanken gemacht zu deinen Worten über "Das häßliche junge Entlein". Es stimmt, was du sagst, aber gerade das wollte Andersen ja aufspießen und damit die Philister anklagen, die nur das dulden, was sie kennen. Es gibt in der neuen Ausgabe von Diogenes ein Vorwort von Egon Friedell, der drückt es so aus: "Eine der Haupteigenschaften des Philisters besteht darin, daß er sich für den Mittelpunkt der Welt hält und seine Funktionen als die allerwichtigsten, ja im Grunde als die alleinwichtigen ansieht; er beurteilt den Wert seiner Mitgeschöpfe nur nach dem Grade, in dem sie ihm ähnlich sind, und nimmt an, daß alles, was anders ist als er, schon dadurch naturgemäß minderwertig sei."
Firdell interpretiert später diese Erzählung als die Schilderung eines Schicksals und Entwicklungsgangs des Genies, das sich vor allem durch seine Bescheidenheit auszeichnet und sich zuerst für minderwertig hält, weil es anders ist als die übrigen, die es verhöhnen und zurücksetzen.
Ob man der Interpretation mit dem Genie zustimmen muss, wage ich zu bezweifeln, aber es leuchtet mir sehr ein, dass es um Andersartigkeit geht, die von den Spießbürgern immer wieder abgelehnt wird. Insofern finde ich dieses Märchen höchst aktuell und fast schon politisch wie auch "Des Kaisers neue Kleider", das ist eigentlich auch ein politisches oder soziologisches Märchen, meine ich.


 Enigma antwortete am 12.04.05 (15:30):

Hallo Marina,

ja, Ihr, Du und iustitia heisst das, habt natürlich recht.

Das wurde mir schlagartig klar, als nach meiner ersten Aussage iustitia im darauffolgenden Beitrag die schöne Geschichte erzählte und in dieser Geschichte von einer eigenen Verwandlung, davon, dass man sich selbst neu findet, die Rede war. Da war klar, dass ich die vordergründig erzählte Geschichte als Maßstab genommen hatte und nicht das implizit darin enthaltene Gleichnis über die Selbstfindung, die Selbstverwandlung eines Menschen (im übrigen noch meinen Dank, iustitia, dass Du mir so diskret und elegant gesagt hast, dass ich auf dem Holzwege war. :-)
Und heute Du auch, Marina.
Dir auch meinen Dank, denn es bringt ja nichts, wenn man nicht mal einen Irrtum (in dem Fall meinen) aufdecken und besprechen kann.
In einer weiteren Interpretation der Geschichte habe ich inzwischen gelesen, dass das Märchen Fragen stellt zum Thema Individualität, zur Bedeutung der Fremd- und Selbstwahrnehmung. Dass wir uns durch Rückbesinnung und durch Auseinandersetzung mit den Wahrnehmungen unserer Mitmenschen ständig verändern (können).
Eine Mahnung an uns alle also, auch jedem Menschen das Recht einzuräumen, sich zu entwickeln...

Und das Allerschönste:
Ich bin auf einen Mathias Jung gestossen, der - wahrscheinlich? - Therapeut oder so etwas ähnliches ist. Der hat ein Buch geschrieben über "das hässliche Entlein".
Und dieses Buch wird wie folgt beschrieben:
"Mit seinem Kunstmärchen beschrieb Hans Christian Andersen bereits 1845 den Archetypus des unverstandenen Kindes und Außenseiters. Wie der dänische "Goethe der Kinderwelt" die abgründige Verzweiflung des armen Wesens, seine Selbstmordgefährdung und Selbstpreisgabe, aber auch seine kühne Entwicklung zum stolzen Schwan zeigt, das verrät eine tiefe künstlerische Vertrautheit des Außenseiters Andersen mit den Abgründen und der fast unerschöpflichen Wandlungsfähigkeit der Kreatur Mensch."
Und dieses Buch ist bestellt und geht morgen bei mir ein.
Darauf freue ich mich schon.....


 Enigma antwortete am 12.04.05 (15:40):

Und Andersen`s Märchen vom hässlichen Entlein hat wahrscheinlich autobiografische Züge, nehme ich an.

Denn er selbst, durch Herkunft und Äusseres irgendwie auch stigmatisiert, hat doch später, durch Erfolg und Weiterentwicklung gefördert, eine entscheidende Wandlung erfahren.....


 Marina antwortete am 12.04.05 (18:47):

Liebe Enigma,
was du schreibst, ist sehr interessant. Aber ich widersprehe dir, wenn du schreibst: " . . .wenn man nicht mal einen Irrtum (in dem Fall meinen) aufdecken und besprechen kann".
Deine Überlegungen waren kein Irrtum, sie stimmten; ich fand sie so wichtig, dass ich deshalb das Märchen neu gelesen habe. Das einzige, worauf mich Fridell gebracht hat (du siehst, war auch nicht auf meinem Mist gewachsen) war, dass Andersen die von dir richtig benannten Missstände satirisch aufgespießt hat und nicht so darstellen wollte, als sei er damit einverstanden.
Das mit den autobiographischen Zügen stimmt wohl auch. Vielleicht meinte Fridell deshalb, dass es um den Schicksals- und Entwicklungsgangs eines Genies geht. Eben wegen der Identifikation mit Andersen selbst.
Das Buch von Jung ist bestimmt gut. Ob er ein Nachkomme von dem berühmten Analytiker ist? Die von dir zitierten Sätze hören sich sehr interessant an.

Viele Grüße.


 iustitia antwortete am 13.04.05 (08:04):

2. April 2005:
HC-Andersen-Tag - in einem Kalender, der kulturelle, wissenschaftliche und religiöse Daten aufnimmt - also eine aktuellere Form des Kalendariums bietet.
**
Ob der "Intternationale Tag der Ruhe" dort aufgenommen ist...?
Und der "Tag der Lehrer"?
Und der "Tag der Senioren?
Und der "Tag der senioren Lehrer, die der Ruhe bedürfen"?

Internet-Tipp: /seniorentreff/de/ZAUVg3Rb3


 Enigma antwortete am 13.04.05 (10:33):

Guten Morgen alle,

hallo Marina,
das ist ja gerade der entscheidende Schritt, dass man das "Gemeinte" und nicht das, was vordergründig beschrieben ist, erkennt.
Aber ich bin sowieso über Irrtümer nicht böse, weil sie mir meist Gewinn bringen, wenn ich mich dann etwas eingehender mit der Materie beschäftige.
Über den Autor Mathias Jung, der u.a. "Das Hässliche Entlein" geschrieben hat, konnte ich nur folgendes finden:
she. URL!

Hallo iustitia,
die senioren Foristen, die hier schreiben, wollen wahrscheinlich alles andere als Ruhe haben. (Die haben sie ja möglicherweise noch lange genug).
Ganz im Gegenteil denke ich, dass sie noch "mitmischen", teilhaben am Leben wollen...... :-)

Internet-Tipp: https://www.deutschesfachbuch.de/info/detail.php?isbn=3891890966


 Marina antwortete am 16.04.05 (11:43):

Was so ein kleines einfaches Märchen doch alles auslösen kann! Irgendwo kam es mir heute Nacht wieder in den Kopf und deine Gedanken, Enigma, dazu. Und über diese Gedanken kam mir auf einmal "Andorra" von Frisch in den Kopf, und ich habe gedacht, dass es da eigentlich Parallelen gibt. Dann habe ich versucht zu ergründen, worin die Unterschiede liegen. Das hässliche Entlein wird ja abgelehnt, weil es vermeintlich zwar von der gleichen Art einer Gruppe, aber trotzdem abweichend ist. Und der Protagonist in Andorra wird abgelehnt aus umgekehrtem Grund: weil er vermeintlich anderer Art bzw. "Rasse" ist, was sich dann als Irrtum herausstellt. Leider geht das Drama dann ja nicht so gut aus wie das Märchen.

Jetzt wiederhole ich mal deine Worte, Enigma, die mich auf diese Parallele gebracht haben:
"Denn steckt nicht darin, dass man nur akzeptiert und verstanden und als schön empfunden werden kann in seiner eigenen und vertrauten Umgebung - biologisch oder auch kulturell?
Und dass alles Fremde und Neue abgelehnt und als bedrohlich empfunden wird? Und dass das eigentlich unveränderbar ist?
Und diese Aussage kann einfach heute nicht mehr gültig sein!"

Diese deine Worte passen doch für beide Geschichten, nicht wahr?


 Enigma antwortete am 17.04.05 (09:29):

....ja, vielleicht, leider Marina.

Im übrigen habe ich das Buch von Mathias Jung wie einen Krimi verschlungen.
Er hat mir für mich wichtige Erkenntnisse über den Menschen Andersen eröffnet. Wie objektiv die sind, kann man ja víelleicht nie so genau beurteilen?!
Aber was er sagt. klingt plausibel und würde einige Widersprüche in seinem Leben erklären, wie z.B. sein Verhältnis zu Frauen....
Interessant jedenfalls, was das Märchen alles aus der Sicht eines Therapeuten aussagt.
Und noch mehr fast "die kleine Seejungfrau".

Gruss und ein schönes WE
Enigma


 Marina antwortete am 17.04.05 (11:47):

"Die kleine Seejungfrau" war sogar früher mein Lieblingsmärchen. Ich habe mich voll mit ihr identifiziert (nach dem Motto: Wer liebt, muss leiden - stimmt ja leider oft ;-) ). Ich finde es auch immer noch sehr schön und poetisch, aber doch furchtbar traurig.