iustitia
antwortete am 16.01.05 (23:35):
Jewgenij Jewtuschenko: Babij Jar (übersetzt von Paul Celan)
Über Babij Jar, da steht keinerlei Denkmal. Ein schroffer Hang - der eine unbehauene Grabstein. Mir ist angst. Ich bin alt heute, so alt wie das jüdische Volk. Ich glaube, ich bin jetzt ein Jude. Wir ziehn aus Ägyptenland aus, ich zieh mit. Man schlägt mich ans Kreuz, ich komm um, und da, da seht ihr sie noch: die Spuren der Nägel. Dreyfus, auch er, das bin ich. Der Spießer denunziert mich, der Philister spricht mir das Urteil. Hinter Gittern bin ich. Umstellt. Müdgehetzt. Und bespien. Und verleumdet. Und es kommen Dämchen daher, mit Brüsseler Spitzen, und kreischen und stechen mir ins Gesicht mit Sonnenschirmchen. Ich glaube, ich bin jetzt ein kleiner Junge in Bialystok. Das Blut fließt über die Diele, in Bächen. Gestank von Zwiebel und Wodka, die Herren Stammtisch-Häuptlinge lassen sich gehn. Ein Tritt! mit dem Stiefel, ich lieg in der Ecke. Ich fleh die Pogrombrüder an, ich flehe - umsonst. «Hau den Juden, rette Rußland!» -: der Mehlhändler hat meine Mutter erschlagen. Mein russisches Volk! Internationalistisch bist du, zuinnerst, ich weiß. Dein Name ist fleckenlos, aber oft in Hände geraten, die waren nicht rein; ein Rasselwort in diesen Händen, das war er. Meine Erde - ich kenne sie, sie ist gut, sie ist gütig. Und sie, die Antisemiten, die nieder- trächtigen, daß sie großtun mit diesem Namen: «Bund des russischen Volks»! Und nicht beben und zittern! Ich glaube, ich bin jetzt sie: Anne Frank. Licht- durchwoben, ein Zweig im April. Ich liebe, Und brauche nicht Worte und Phrasen. Und brauche: daß du mich anschaust, daß ich dich anschau. Wenig Sichtbares noch, wenig Greifbares! Die Blätter - verboten. Der Himmel - verboten. Aber einander umarmen, leise,, das dürfen, das können wir noch. Sie kommen? Fürchte dich nicht, was da kommt, ist der Frühling. Er ist so laut, er ist unterwegs, hierher. Rück näher... Mit deinen Lippen. Wart nicht. Sie rennen die Tür ein? Nicht sie. Was du hörst, ist der Eisgang, die Schneeschmelze draußen. Über Babij Jar, da redet der Wildwuchs, das Gras. Streng, so sieht dich der Baum am, mit Richter-Augen. Das Schweigen rings schreit. Ich nehme die Mütze vom Kopf, ich fühle, ich werde grau. Und bin - bin selbst ein einziger Schrei ohne Stimme über tausend und aber tausend Begrabene hin. Jeder hier erschossene Greis -: ich. Jedes hier erschossene Kind -: ich. Nichts, keine Faser in mir, vergißt das je! Die Internationale — ertönen, erdröhnen soll sie, wenn der letzte Antisemit, den sie trägt, diese Erde, im Grab ist, für immer. Ich habe kein jüdisches Blut in den Adern. Aber verhaßt bin ich allen Antisemiten. Mit wütigem, schwieligem Haß, so hassen sie mich – wie einen Juden. Und deshalb bin ich ein wirklicher Jude. (Aus: Paul Celan: Gesammelte Werke. Bd. 5. Übertragungen II. Frankfurt/M. 2000. S. 288ff.)
|