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THEMA:   Menschen, die nie bemerkt werden

 9 Antwort(en).

emilwachkopp begann die Diskussion am 27.03.07 (01:40) :

Doktor Knolle nannten wir ihn. Seiner Nase wegen. Wie sein richtiger Name war, habe ich mit der Zeit vergessen. Von Menschen, an deren Spitzname man sich gewöhnt hat, vergisst man sehr bald den richtigen Name. Jedenfalls war Dr. Knolle nicht nur Arzt, sondern – da Emil es sagt, über jeden Zweifel erhaben – Deutschlands bester Arzt. Wahrscheinlich sogar Europas bester. Darum war es doch damals für uns, seine getreue Patientenschaft, so ein unersetzbarer Verlust, dass er so relativ früh schon das Zeitliche segnete.
Wenn’s noch ein Autounfall gewesen oder ihm ein Dachziegel auf den Kopf gefallen wäre. Aber ausgerechnet von einer Krankheit musste dieser Meister der Heilkunst dahingerafft werden! An Lungenkrebs ist er verendet. Und zwar, weil dieser nicht behandelt worden ist. D.h. behandelt worden ist er, bloß eben verkehrt. Dr. Knolle selbst hatte ihn behandelt. Aber nicht als Krebs, sondern als Gastritis. Magengastritis auch noch! Wenn’s wenigstens Lungengastritis gewesen wäre!
Dr. Knolle war im Grunde Spezialist für leichte Erkrankungen. Mit den schwereren kannte er sich schlecht aus. Deshalb musste man als sein Patient auch immer eine gute Intuition haben und selber eine Grobdiagnose vornehmen, aufgrund welcher man dann entscheiden musste, ob man sich Dr. Knolle anvertrauen konnte oder ob es sich vielleicht um eine ernsthafte Krankheit handelte. Mit Dr. Knolle war in dieser Beziehung nicht so zu rechnen, weil er grundsätzlich jede Krankheit als leichte Krankheit diagnostizierte und sie als eine leichte Krankheit behandelte. Jedenfalls erkannten wir, seine treue Patientenschaft, sehr bald die Spezialkompetenz des Medizinmannes, so dass sich schnell der Weizen von der Spreu trennte. Am Ende drängten sich nur noch kerngesunde bis federleicht erkrankte Stammpatienten in Dr. Knolles Heilwerkstatt. Es nimmt daher nicht Wunder, dass Dr. Knolle selbst, dank seiner kompetenten Patientenschaft, der erste und letzte Todesfall in seiner nur knapp zehnjährigen Praxis war.

Wir schätzten Doktor Knolle besonders darum, weil diagnostizierbare Krankheit keine notwendige Voraussetzung war, um von ihm krankgeschrieben zu werden. Doktor Knolle war medizinischer Relativist und rechnete daher stets mit dem potentiellen Vorhandensein noch unbekannter und noch unerkannter Krankheiten, die sich – analog zu mancher Religion – nur dem Patienten (dem Einfältigen), nie aber dem Arzt (dem Weisen) offenbarten. „Der Patient ist der bessere Arzt“, lautete Doktor Knolles Wahlspruch. Und auf ihn selber gemünzt war der Wahlspruch auch, was schwere Krankheiten anbetraf, zweifelsfrei goldrichtig. In Bezug auf leichte Krankheiten lässt sich das allerdings nur schwer sagen, da diese schließlich oft von allein ausheilen, gleichgültig wie sie behandelt werden. Ein Schnupfen heilt auch dann aus, wenn man ihn mit einem Magenpulver behandelt. Zum Glück! Jedenfalls war das Wartezimmer von morgens bis zum späten Nachmittag stets gerammelt voll, und an schönen Sommertagen (sowie vor Fußballweltmeisterschaften) bildete sich manchmal eine Menschenschlange von dreizehn bis vierzehn Kilometern vor dem Wallfahrtsort, d.h. vor der Praxis des Dr. Knolle.


 emilwachkopp antwortete am 27.03.07 (01:43):

Eigentlich handelt diese Geschichte gar nicht so sehr von Doktor Knolle, auch wenn ihm eine entscheidende Nebenrolle zukommt. Aber über Wolfgang, dem eigentlichen Hauptdarsteller, lässt es sich so schwer berichten. Rein logisch gesehen muss es diesen Wolfgang gegeben haben, da sich ja sonst nichts über ihn sagen ließe. Wer er aber war oder wie er aussah, das wusste entweder nur sein Vater oder sonst niemand. Auch ich habe Wolfgang niemals – zumindest nicht deutlich – gesehen. Schlimmer: Was ich da undeutlich gesehen habe, muss nicht einmal Wolfgang gewesen sein. Es gibt dafür keinerlei Beweise.
Wolfgang war ein Mensch, dessen Gegenwart niemand wahrnahm. Wir wissen deshalb nicht, wo Wolfgang überall gegenwärtig gewesen sein kann. Wir können nur den Schluss ziehen, dass er irgendwo gegenwärtig gewesen sein muss, da es ihn ja sonst nicht gegeben hätte. Das Eigentümliche aber ist, dass Wolfgangs Abwesenheit ebenfalls nie von irgendjemand jemals bemerkt worden ist. Seine Umwelt nahm weder sein An- noch seine Abwesenheit wahr. Und hätte es nie Ausnahmen von dieser Regel gegeben, wären wir besser beraten von Wolfgangs Nichtexistenz auszugehen.
Es gab aber Ausnahmen, und eine dieser Ausnahmen war Wolfgangs Vater, der ihn zumindest einmal gesehen haben muss. Hätte er ihn das Mal nämlich nicht gesehen, wäre der folgende Vorfall unverständlich.
Es war zu dem Zeitpunkt da Wolfgangs Schulabschluss nahe bevorstand. Da ging er zu seinem Herrn Vater und jammerte so laut, dass ein Nachbar es hörte: „Die wollen mir kein Abschlusszeugnis von die Volksschule geben.“ Worauf der Vater erbost erwidert haben soll: „Die heiz ich ein!“ Er war nämlich beruflich Heizer. Doch wo er einheizte, das wusste kein Mensch.


 emilwachkopp antwortete am 27.03.07 (01:54):

In der Schule stand man vor einem Rätsel. Eines Tages erhielt die Schulleitung den schriftlichen Antrag auf ein Abschlusszeugnis von einem Wolfgang X, d.h. von einer Person, die weder Lehrer, Schüler noch Schulleitung jemals gesehen hatten. Und dennoch ist der Knabe ordnungsgemäß eingeschult und jedes Jahr ebenso ordnungsgemäß versetzt worden.
„Ja, haben Sie denn die Abwesenheit meines Sohnes nie bemerkt?“ grölte der erboste Heizer den verdatterten Klassenlehrer an.
„Nein, das ist es ja gerade.“
„Nun, dann muss er doch da gewesen sein!“
„Äh ..wie?“
„Weil Sie sonst seine Abwesenheit bemerkt haben müssten. Oder sind Sie vielleicht etwas plemplem?“
„Äh ..ich. Ja selbstverständlich. So muss es ja sein.“
„Wo jetzt die Anwesenheit meines Sohnes über jeden Zweifel erhaben erwiesen ist, stellt sich die Frage, warum ihm das Abschlusszeugnis verweigert wird.“
„Nun, es gibt keinerlei Leistungsnachweise von ihrem Sohn. Eigentlich nicht einen einzigen.“
„Und warum gibt es die nicht? Weil Sie die alle verbummelt haben!“
„Ich bitte Sie! Das ist eine Unterstellung!“
„Eben nicht, denn sonst hätten Sie als verantwortungsbewusster Lehrer den Mangel an Leistungsnachweisen längst bemerkt und beanstandet. Oder sind Sie vielleicht so ein Gammler, der nur seine Kommune III und freies Vög …[Zensur] in Kopp hat?“
„Ich muss doch sehr bitten! Das ist eine freche Unterstellung!“
„Dann werden Sie geständig und geben Sie zu, dass Sie alle Leistungsnachweise meines Sohnes verbummelt haben. Was bei dem Lotterleben, das sie gelebt haben, auch kein Wunder ist.“
„Ich muss doch sehr bitten!“
„Es könnte allerdings auch die Schulleitung gewesen sein. Haben Sie den Rektor mal gesehen?“
„Natürlich, ich sehe ihn jeden Tag.“
„Nun, dann wissen Sie, wie ich, dass dem alles zuzutrauen ist."
„Was ist ihm zuzutrauen."
„Dass der in seinem ständigen Dusel alles verbummelt und vertüdert. ‚Mit wem habe ich bitte die Ehre’, fragt mich der Tüderjochen, obwohl ich hier seit 25 Jahren Heizer bin. Was sagen Sie dazu?“
„Sie sind hier Hei ..? Hei der Daus! Und das hat der Rektor vergessen?“
„Genau! Deshalb trau ich dem alles zu, und Sie müssen seine Patzer wieder ausbügeln.“
„Ja, das Los eines Lehrers ist ein Schreckliches. Warum habe ich nicht auf meine selige Mutter gehört und bin Schaffner bei der U-Bahn geworden?“
„Aber wer wird denn da gleich weinen? Die Schaffner werden doch bald alle entlassen, weil die Züge automatisch gesteuert werden."
"Im Ernst?"
"Aber sicher. Bleiben Sie Ihrer Berufung treu und verschaffen Sie sich ein wenig Karma, idem Sie den üblen Fehler Ihres Rektors ausbügeln."
"Ich werde mein Möglichtes tun."
Darauf verschwand der Heizer und wurde von niemandem je wieder gesehen. Wolfgang aber bekam ein Bombenzeugnis, denn die Schule wollte sich vor allem davor hüten, ihm ein Unrecht widerfahren zu lassen. Ob oder wie Wolfgang dieses Zeugnis jemals für irgendwelche Zwecke verwandt hat, ist uns nicht bekannt.


 emilwachkopp antwortete am 27.03.07 (01:59):

Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass ich Wolfgang selber einmal gesehen habe, obwohl es sich auch nicht mit Sicherheit sagen lässt. Ich war, weil ich auf meinem Arbeitsplatz durch Schlafsucht etwas ungünstig aufgefallen bin, zum Strafdienst in den Brauereikeller beordert worden. Dieser sollte, da er seit den Tagen Papst Clements des IV nicht mehr benutzt worden war, entrümpelt werden. Als ich ein paar schon fast verrottete Bierfässer von einer Wand wegrollte, da sah ich schemenhaft (oder war es nur eine Vision?) in der Wandnische eine Gestalt liegen. Dem Aussehen nach eher ein Gespenst als ein Mensch, so dass ich sehr erschrak und fragte. „Wer sind Sie denn? Und was machen Sie da in der Wand?“ „Urlaub“, antwortete die Gestalt. „Stellen Sie bitte die Fässer zurück! Ich vertrage das Licht nicht.“

Wolfgang tauchte, wie aus heiterem Himmel, eines Tages im Röntgenapparat des Dr. Knolle auf. Zwar nur als Rückgrad, doch wo ein Rückgrad ist, vermutet man mehr. Aber ich sollte, um den Zusammenhang verständlich zu machen, etwas zurückgreifen. Ich saß im Wartezimmer des Doktors. Ich saß da in der optimistischen Erwartung, den Verdacht auf latenten Heuschnupfen – wie die Diagnose lautete, deretwegen ich schon seit sechs Monaten krankgeschrieben war – noch ein wenig zur innerlichen Erholung nutzen zu können. Da brüllte es aus dem Sprechzimmer, wie es bis dahin wahrscheinlich noch nie aus einem Sprechzimmer jemals gebrüllt hat: „Was machen Sie da in meinem Röntgenapparat? Wer sind Sie überhaupt?“ Wolfgang (denn er muss es gewesen sein) sprach (denn er muss gesprochen haben) so leise, das nur der Doktor es gehört haben kann (denn er muss es gehört haben). Im nächsten Augenblick flog die Tür der Praxis mit so einer Wucht auf, dass sie einem Patienten, der nahe der Tür saß, an den Kopf knallte. Dieser glitt wort- und geräuschlos vom Stuhl und blieb auf dem Fußboden liegen. Nun gab es in der Praxis des Herrn Doktor Knolle tatsächlich einen Kranken! Rot im Gesicht vor unbeherrschtem Zorn brüllte der Doktor nach seiner Sprechstundengehilfin: „Fräulein Scharf!!! Wo steckt denn die blöde Nudel bloß wieder?“ „Hinterm Schreibtisch, Herr Doktor. Bin in etwa fünf Minuten wieder einsatzfähig.“ „Was machen Sie denn hinterm Schreibtisch?“ „Entspannungsübungen.“ „Ja, lassen Sie doch jetzt mal den Unsinn und sagen Sie mir, [knöpfen Sie sich die Bluse gefälligst besser zu], ob wir einen Wolfgang X kennen.“ „Wolfgang X? Nie gehört, nie gesehen.“ „Na bitte.“ „Moment! Hier gibt es tatsächlich einen Wolfgang X in der Kartei. Der wird sogar gegenwärtig hier behandelt.“ „Seit wann?“ „Seit sechs …, nein, seit sieben Jahren“ „Wofür?“ „Verdacht auf latente Hypsiphobie. Krankgeschrieben ist er ebenfalls.“ „Wie lange?“ „Äh .., seit sieben Jahren.“
Dann flog die Tür mit solcher Wucht zu, dass sich zwei deutliche Risse in der Wand oberhalb und neben dieser bildeten. Sodann ertönte aus dem Inneren des Sprechzimmers ein Urschrei. Der erregte Doktor packte den Röntgenapparat und warf ihn, mitsamt dem Wolfgang, zum geschlossenen Fenster raus. Es klang wie die Explosion einer Bombe und manch einer fragte sich, was denn plötzlich in den Dr. Knolle gefahren sein könne. Sodann flog die Tür zum Sprechzimmer noch einmal auf und der Doktor brüllte, noch immer unter dem Einfluss seiner unbändigen Wut: „Falls hier sonst noch jemand krankgeschrieben werden will, geht er denselben Weg.“ Dann flog die Tür wieder zu und das Sprechzimmer war kurz darauf leer. Nur der Patient, den der Doktor selber mit der Tür so zugerichtet hatte, blieb liegend zurück. Aber der Unfallwagen war schon auf dem Wege.


 emilwachkopp antwortete am 27.03.07 (02:01):

Die unwirsche Behandlung, die dem Wolfgang widerfahren war, hatte Folgen, denn Wolfgang reichte unverzüglich die Invalidenrente ein. Allerdings müssen wir ihn deshalb gar nicht bedauern. Er bekam, trotz aller Rentenreformen, eine Bombenrente. Und das lag daran, dass er etwa 40 Jahre lang auf 25 verschiedenen Arbeitsplätzen gleichzeitig ganztags gearbeitet hatte. Zwar hatte man ihn auf keinem dieser Arbeitsplätze jemals gesehen, aber es ist ihm regelmäßig jeden Monat ein Gehalt ausgezahlt worden, und auch die Steuern und Sozialabgaben sind pünktlich und ordnungsgemäß entrichtet worden. Es hatte scheinbar alles seine Ordnung, wie unergründlich diese Ordnung auch anmuten mag.
Wolfgang soll sogar 40 Jahre lang in unserer Brauerei beschäftigt gewesen sein. Und zwar als mein Beifahrer!
Nun, ich kann das weder bestätigen noch bestreiten. Zwar habe ich Wolfgang niemals bemerkt, aber ich kann doch unmöglich vierzig Jahre lang die Arbeit für Zwei gemacht haben!


Sollte unter den Lesern jemand sein, der Wolfgang kennt oder mehr über diesen zu sagen hat, so mag er die Geschichte weiter erzählen.


 Medea. antwortete am 27.03.07 (07:47):

Oh mein Emilwachkopp,
was hast Du da wieder für eine Geschichte vom S-tapel gelassen ....
Lögenhaft to vertellen un ek hebb mi allwedder hafdotlacht.


 nasti antwortete am 27.03.07 (11:22):

Hi Medea,

die Sprache ist mir sehr bekannt!!!! So in voriges Jahrhundert /1999/ haben wir hir in ST so gechattet.
Warst du etwa dabei???


 rainer antwortete am 28.03.07 (10:25):

Ick segg die medea, dat is jümmers so ne Geschich, wo ick mi bannig freun tu, dat Schmunzeln is mi int Gesicht geschrieven.

Grooten Dank, Emil :-)


 mart antwortete am 28.03.07 (10:59):

Eins ist sicher, Emil, der wache Kopf, der Klarseher, der Durchblicker, ist ein Mensch, der nie nicht bemerkt wird!!!


 Vera antwortete am 28.03.07 (17:51):

Warum muß ich fast alles im ST lesen?

Weil ich Angst habe ich könnte eine der köstlichen Geschichten verpassen. Man weiß ja nie hinter welcher Überschrift sich Emilwachkopp bereit hält.

Emil kannst Du nicht ein Zeichen setzen? Vielleicht drei Sterne oder so?

Dein Fan Vera