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THEMA:   Fräuliche Propheten ins Parlament!

 11 Antwort(en).

emilwachkopp begann die Diskussion am 21.10.06 (03:45) :

Meine Urgroßmutter, die Katherina Natascha Rostanowa von Amalienburg, war sehr abergläubisch. Aber was besagt das schon? Ein Aberglaube ist lediglich ein Glaube, der gegen den Zeitgeist verstößt. Die meisten von uns glaubten damals an die Allmacht der Naturgesetze. Urgroßmutter hingegen glaubte an die Macht der Geisterwelt. Das ist der ganze Unterschied. „Wer die Geheimnisse der Natur erforscht, wird enden wie Sodom und Gomorra. Aus den Ruinen seiner Untaten steigt er geradewegs hinauf ins Fegefeuer.“ Davon war sie überzeugt.
Außer mir und Urgroßmutter gab es noch einen komischen Vogel in unserem Dorf. Das war der Sohn des Gutbesitzers Wilhelm Gallie, der Leo Gallie. Den bekam man allerdings nie zu Gesicht, weil er sich von morgens bis abends im Keller seines Elternhauses verschanzte, um dort Experimente zu machen. Über sechzig Narben soll er allein schon am Kopf gehabt habe, wurde gesagt. So ernst nahm er seine Berufung. Das Essen musste die Magd ihm immer vor die Tür stellen, denn man durfte den Keller zeitweilig ohne Gasmaske und Strahlenschutzanzug gar nicht betreten. Der Vater des Leo Gallie aber war lasch verständnisvoll, womit er sich dieser liberale Ketzer den heiligen Zorn meiner Großmutter zuzog. „Och, laat den Burß man ümmer fohrwarken. Solang he mi de Bood nich in’e Luft jagt.“ „Ins Fegefeuer wird er Euch alle jagen!“
Urgroßmutter hatte bereits dem Papst eine Botschaft übermitteln lassen, in der sie diesen aufforderte, über die Stätte der Sünde unverzüglich den päpstlichen Bann auszusprechen. Als Orthodoxe hielt sie den Papst zwar für unzuverlässig, aber immerhin für unfehlbar in den Augen katholischer Ketzer. Im Dorf aber bereitete man ein großes Fest vor, denn noch nie zuvor ist aus unseren Kreisen ein Erfinder hervorgegangen. Leo Gallie hatte nämlich einen elektrischen Heizkörper erfunden. Da es bei uns im Dorf noch keine Elektrizität gab, konnte er den zu Hause nicht ausprobieren, sondern musste dafür in die große Stadt Hamburg fahren. Eine Ingenieurschule hatte ihm einen Raum im Keller zur Verfügung gestellt. Bei diesem Experiment wäre Leo Gallie fast erfroren. Ja, wenn die Menschen damals geistig schon büschen reifer gewesen wären, denn hätte sie begriffen, dass Leo Gallies Ofen als Eisschrank hätte Verwendung finden können. Leo Gallie hätte sein Ungetüm nur noch etwas dämpfen müssen (denn 300 Grad unter Null waren büschen happig) und hätte dann eben den Kühlschrank und nicht den elektrischen Ofen erfunden. Aber die Menschen waren damals (wie heute) überhaupt nicht auf Draht und haben Leo Gallie arg veralbert, als dieser mit rot verfrorener Nase und ganz verklappert aus dem sibirisch kalten, winterweißen Kellerraum torkelte. „Eiskönig“ haben sie ihn schelmisch genannt. Natürlich musste Leo sich dieser Blamage wegen unverzüglich erhängen. Aber auch das ging schief, weil die Schlinge gleich nach dem Absprung aufging. Er hatte den Knoten mit seinen verfrorenen Händen gar nicht fest genug ziehen können.
Später hat Leo Gallie tatsächlich versucht, einen Kühlschrank zu erfinden. Eigentlich hätte er bloß seinen Ofen umzubauen und zu zügeln brauchen. Aber er wollte keine Erfindung akzeptieren, die im Grunde eine Panne war. So wie der Wilhelm Röntgen. Der wollte Radiostrahlen erfinden, die durch den Menschen hindurch gingen; nicht solche, mit denen man durch den Menschen durchgucken konnte. Auf so einen Pfusch wollte sich Leo Gallie gar nicht erst einlassen. Für ihn war eine Erfindung die Verwirklichung menschlichen Geistes, menschlicher Intention. Der Geist soll die Materie überwinden, nicht die Materie dem Geist einen, wenn auch geistreichen, Streich spielen. Darum wollte Leo etwas ganz Neues erfinden. Etwas, das selbst er für unmöglich halten musste, weil es allen Naturgesetzen widersprach. Aber Leo wollte gleich ein passendes Naturgesetz mit erfinden, damit das, was er erfinden wollte, kein Mysterium war. Das war der Anfang vom Ende.


 emilwachkopp antwortete am 21.10.06 (03:51):

Ich weiß das noch, als wäre es gestern geschehen. Es war schon lange nach Mitternacht, als das Dorf von einem Knall geweckt wurde, der nur mit Hiroshima oder dem Urknall verglichen werden kann. Urgroßmutter war bleich wie eine Leiche, als sie uns befahl, uns unverzüglich gründlich zu waschen und sonntäglich anzukleiden. So sollten wir vor den höchsten Richter treten. Dann stellte sich aber heraus, dass das gar nicht der Weltuntergang sondern bloß Leo Gallies neue Erfindung war. Was er diesmal aus Versehen erfunden hatte, konnte nicht ermittelt werden. Ich nehme aber an, dass diese Frage nur für das Militär von Interesse gewesen sein konnte, denn die RAF gab es damals ja noch nicht.
Urgroßmutter zwang den Bürgermeister, die Ruinen des ehemaligen Gutes der Gallies, „dieses Sodom und Gomorra“, einzuzäunen. Die schicksalsschwere Frage, ob die Gallies in geweihter Erde begraben werden durften oder nicht, erübrigte sich deshalb, weil von ihnen gar nichts übrig geblieben war. Die waren offenbar tatsächlich aus den Ruinen ihrer Untat nach irgendwo hin entschwunden, ohne die geringste Spur zu hinterlassen. Nicht mal Fußabdrücke. Richtig unheimlich war das. Jedenfalls wurde um die „Stätte der Sünde“ herum ein hoher Lattenzaun errichtet, den Urgroßmutter zur Einweihung unaufhörlich mit Weihwasser bespritzte, wobei sie ihre Gebete aufsagte. „Die Ruinen strahlen noch immer das Böse aus“, behauptete sie. „Ach, Herr Jemine, so muss es ja enden, wenn man künstliche Käseglocken erfindet.“

Das mit der Käseglocke hatte Urgroßmutter allerdings in den falschen Hals bekommen. Erstens war das gar keine Käseglocke, und zweitens war das eine sehr brauchbare Erfindung, die Leo Gallie ein paar Monate zuvor gemacht hatte. Das war eine Einmachmaschine. So etwas kennt der Großstädter wahrscheinlich gar nicht. Aber aufs Land haben wir immer viel Früchte eingemacht. In Gläsern mit Glasdeckeln und einem Gummiring dazwischen. Wie die Maschine vom Leo Gallie funktionierte, weiß ich heute nicht mehr, weil ich damals noch ein Kind war. Sie sah aus wie eine riesige Käseglocke. Man stellte das Glas mit dem Eingemachten auf den Boden der Glocke, setzte die Glocke wieder auf und pumpte. Wenn man lange genug gepumpt hatte, war das Einmachglas fest verschlossen.
Die ganze Familie (außer Urgroßmutter) hatte sich in der Küche versammelt und erprobte und bestaunte das mechanische Wunderwerk aus den Händen des Genies Leo Gallies. Wir hatten uns wohlweislich um zwei Uhr nachts versammelt, weil Urgroßmutter dann fest zu schlafen pflegte. Aber diesem alten Gespenst muss etwas ins Ohr geflüstert worden sein, denn plötzlich stand sie in der Tür. In ihrem langen weißen, flatternden Nachthemd, dem aufgelösten Haar, das ihr in Strähnen bis zu den Hüften herabhing und mit ihrem schmalen, leichenblassen Gesicht sah sie aus wie die Zwillingsschwester des Nosferatu. Bloß eben, das Nosferatu keine Zwillingsschwester hatte.


 emilwachkopp antwortete am 21.10.06 (03:57):

Als Urgroßmutter die Einmachmaschine auf dem Küchentisch gewahr wurde, fielen ihr fast die Augen aus den Höhlen. „Was sehe ich dort? Des Teufels Werkstatt in meiner eignen Küche?“ Dann spuckte sie dreimal aus – pfui, pfui, pfui – und schlug ein Kreuz zwischen sich und uns Teufelsbraten.
Vater wollte schlichten und erklärte ihr deshalb die Funktion der Einmachmaschine ganz genau. Aber für Urgroßmutter war alles, was sich naturgesetzlich erklären ließ oder mechanisch funktionierte, Okkultismus und ein Vergehen wider Gottes Schöpfermonopol. „Nur der Schöpfer hat das Recht zu schöpfen. Sich selber zum Schöpfer zu erheben, indem man Lebensgeist in Maschinen bläst, ist Hybris. Darum hört mich an, Sünder, wenn ich euch sage: ‚Höllenfeuer werden das Dunkel der Nacht zerreißen! Laute, wie aus tausend Posaunen gestoßen, werden die Ohren euch verschließen. Stürme werden euch die Gesichter peitschen. Und Gott wird, von Ingrimm ergriffen, unseren Schornstein mit der Faust zertrümmern!’“ Darauf warf sie die Tür krachend zu und verschwand.
Vater, der von seiner Oma allmählich die Nase voll hatte, murmelte leise: „Wenn de olle Hex nich bald vun alleen krepeert, denn hau ik se doot.“ Dann flog die Tür wieder auf und Urgroßmutter erschien noch einmal: „Und ich sage euch: Es werden Zeiten kommen, da der Enkel die Hand wider seine eigne Oma zu erheben trachtet.“ Dann flog die Tür wieder zu und wir waren alle ganz platt.
Noch in derselben Nacht wurde ich von einem garstigen Sturm geweckt, denn ich hatte das Fenster meines Zimmers nur angelehnt. Als ich aus dem Fenster sah, erschrak ich sehr. Es türmten sich am Horizont Wolken auf von solch unheilvoller Schwärze und so rascher Bewegtheit, wie ich es noch nie gesehen hatte. Es schien als würden sie, von gewaltiger, unsichtbarer Hand geführt, genau auf unser Haus zu getrieben. Als die Wolkenmasse sich genau über unsrem Haus zusammengeballt hatte, entlud sich ein Gewitter so gewaltig, dass wir, von Angst ergriffen, in den Keller flohen. Nur Urgroßmutter nicht. Sie ging dort oben mit schweren Schritten auf und ab, bespritzte Möbel und Wände mit Weihwasser und murmelte ihre Gebete. „Ach Herr Jemine, so muss es ja kommen, wenn man des Teufels Schmiede unter seinem Dach beherbergt.“ Dann erfolgte ein Krach, so stark und unbeschreiblich, dass es uns die Ohren verschloss. Nur noch das Sausen im eigenen Kopf war zu hören. Am Tage danach wurde uns die Ursache klar. Ein Blitz hatte uns den Schornstein zertrümmert. „Da seht Ihr’s“, sagte Urgroßmutter und richtete ihren dürren Zeigefinger auf die Trümmer des Schornsteins.
Seither weiß ich, dass es zwei Arten von Propheten gibt: Solche, die genau wissen was kommt und solche, die das überhaupt nicht wissen. Die erste Sorte glaubt gar nichts tun zu können, die zweite weiß immer ganz genau was zu tun ist. Die zweite Sorte geht in die Politik und die erste sieht das Unglück kommen. Vielleicht sollten wir mal die erste Sorte in die Parlamente schicken. Es wird dann zwar nichts oder nur sehr wenig getan, aber wir werden stattdessen immer genau darüber informiert, was sein wird.


 dutchweepee antwortete am 21.10.06 (04:00):

ich bin froh, daß es in der geschichte der menschheit jede menge LEO GALLIEs gab (lach). sonst würden wir noch immer beim kerzenschein auf knien durch gothische gewölbe robben.

die geschichte ist toll!

p.s.: der ultimative nosferatu ist für mich klaus kinski - unübertroffen!

.


 dutchweepee antwortete am 21.10.06 (04:02):

uuuuuuuuuuuuuuuups! ...ich dachte die story sei abgeschlossen.


 pilli antwortete am 21.10.06 (11:55):

soooooooooooo viel geschrieben...frau freut´s!

:-)


 schorsch antwortete am 21.10.06 (15:32):

Der Name dieses Daniel Düsentrieb erinnert mich irgenwie an Galileo Galilei (;-)


 dutchweepee antwortete am 21.10.06 (15:54):

lol - eeeeeeeeeeeeecht?


 greisi antwortete am 21.10.06 (19:02):

Tolle Geschichte. Wirklich.

Gibts mal irgendwann einen Sammelband: Wachkopfs gesammelter Horror?


 plumpudding antwortete am 21.10.06 (19:38):

ich möchte die nächste fortsetzung haben


 rainer antwortete am 21.10.06 (21:09):

ein echter Wachkopp :-))


 schorsch antwortete am 22.10.06 (10:39):

Vielleicht erscheint Emil auf den ersten Blick ein bisschen weltfremd. Aber eins muss ich ihm hoch anrechnen: Er greift nie jemanden an.