Zur Autorenübersicht | Neuere Autoren | Impressum | Inhaltsverzeichnis "Ein deutscher Junge"

bitterbösen Briefes, in dem der Onkel mich des Raubes wertvoller

Briefmarken bezichtigte. Ich beschwor bei Gott und meiner Ehre als

Jungvolkjunge meine Unschuld - und meine Eltern glaubten mir. Zu-

tiefst verletzt beschloß ich, den bösen Onkel Max für ewige Zeiten mit

Nichtbeachtung zu strafen.

Die dritte Begebenheit hat mich nicht so nachhaltig beeindruckt, wie

sie es eigentlich hätte tun müssen: Es war die sogenannte

Reichskristallnacht im November 1938. Von den Hintergründen dieses

Naziverbrechens wußte ich nichts, und ich konnte die allgemeine Auf-

regung in der Bevölkerung kaum verstehen. Zwar hatte man der Be-

völkerung und auch uns Kindern wieder und wieder eingeimpft, ,,der

Jude sei an allem schuld", aber was konnte sich ein Elfjähriger darun-

ter vorstellen?

Auch in Gaarden gab es Geschäfte geachteter jüdischer Mitbürger,

die dem räuberischen Terror der SA zum Opfer fielen. Am Morgen des

9. November mußte ich zu meinem Entsetzen ansehen, wie sich Män-

ner in braunen Uniformen aus der Fensterauslage eines zerstörten

Juweliergeschäftes in der Johannesstraße Schmuck und Uhren in die

Taschen stopften. Der jüdische Besitzer des Ladens, so sagte man,

sei in der Nacht ,,abgeholt" worden. Die Bevölkerung stand diesem

Treiben rat- und hilflos gegenüber und schwieg betroffen zu den Vor-

gängen; es mag auch sein, daß man einzelne SA-Rowdys für die Aus-

schreitungen verantwortlich machte. Das Wort ,,Wenn das der Führer

wüßte!" ging um. Ich konnte das alles nicht verstehen.


In den Monaten vor Kriegsausbruch schien das Unheil in der Luft zu
liegen. Die Lage spitzte sich von Tag zu Tag mehr zu. Immer häufi-

ger berichteten Presse und Rundfunk von polnischen Übergriffen ge-

gen die deutschen Bevölkerung. Doch auch in den Jahren zuvor hatte

es mehrere schlimme politische Krisen gegeben, aber der sich als

Friedensfreund aufspielende Hitler hatte sie ja alle gemeistert. So war

die allgemeine Stimmung der meisten Deutschen zuversichtlich, daß

der Führer auch diesmal die Dinge zum Guten wenden würde. Und


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