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Im Donaulager

 

Das Donaulager war ein großer und düsterer Barackenkomplex. Das auf drei Ebenen angelegte Pritschensystem war so dicht gestaffelt, dass sich in den engen Gassen eine Block-Nummerie­rung bewährt hatte. In die­sen Gassen brannte von früh bis spät elektrisches Licht, damit man überhaupt etwas sehen konnte.

Was beeindruckte, war die ausgezeichnete Lagerorganisation. Der Lagerälte­ste machte auch ganz persönlich einen sehr guten Eindruck. Aber auch das Wirken der ANTIFA konnte man hier positiv bewerten. Was an Veranstaltun­gen ange­boten wurde, konnte sich gut sehen las­sen. Bei der obligatorischen Wandzei­tung traf das allerdings schon nicht mehr zu.

Für den Ersten Mai, dem traditionellen 'Festtag der Werktätigen', war eine Feier ausgerichtet worden. Der Kunstmaler, der Adolf und mir kürz­lich noch das 'Muttertagswasser' abgraben wollte, hatte hier die äußere Stirnseite einer Baracke gestaltet: Das Mittelfeld war von einem Kreis ausgefüllt, in dem sich zwei Hände ineinander schlossen. Links daneben war ein Arbeiter mit Hammer und Amboss abgebildet. Rechts sah man eine Schnitterin, die ein Ährenbündel auf dem Arm trug. Links außen stand in großen Lettern: 1848 FREIHEIT, rechts außen 1948 EINHEIT.

Ahnungslos, wie wir waren, machten wir uns darüber noch keine weite­ren Gedanken. Vor dieser festlichen Kulisse war eine Freilichtbühne auf­gebaut.

Wir waren im Festprogramm natürlich mit einem Chorkonzert vertreten, unter­stützt durch den Chor des 'Vierten Lagers' und einem Orchester des Belgrader Offizierslagers. Das Programm war, bis auf den Schlusschor 'Feiger Gedan­ken, bängliches Schwanken' von Kurt Lissmann, unpoli­tisch.

Im Anschluss an dieses Konzert fand eine vielbeachtete Sportveranstal­tung statt. Es wurden Boxkämpfe ausgetragen. Aber nicht etwa zwi­schen der ehe­maligen Luftwaffe und der Kriegs­marine. Man möchte es nicht glauben! Eine Gefangenenauswahl des Donaulagers trat gegen eine Militärauswahl des hie­si­gen Standorts an. Wenn ich daran zurück­denke, möchte heute mein Herz noch einmal höher schlagen. Es schafft es nicht mehr. Es braucht fürs ganz Normale schon einen Schrittmacher.

Da gingen also, selbstverständlich im Reglement der Gewichtsklassen, Jugo­slawen und Deut­sche nach den Regeln des Boxsports aufeinander los. Eine Gesamtwertung konnte nicht ermit­telt werden, weil dieses Spektakel frühzeitig abgebrochen werden musste. Ein jugoslawischer Fighter war so unglücklich getroffen worden, dass er wie ein nasser Sack auf die Bretter krachte und in einer beängstigenden Starre verblieb. Er lag auf dem Bauch, aber Kopf und Beine berühr­ten den Boden nicht. Das war jetzt nichts mehr für den Ringrich­ter. Der Arzt musste schleunigst her. An was mag sich unser Mann bei diesem har­ten Haken wohl erin­nert haben? - Von unse­rem Jugoslawen haben wir nichts mehr gehört. Boxen, das blieb das Thema der Woche.

In jenen Tagen geschah im Donaulager und in Belgrad noch etwas schier Unglaubliches. Unser Lagerführer drillte höchstpersönlich etwa hundertzwan­zig handverlesene Übergrößen im Para­demarsch. Eine Bel­grader Filmproduk­tion drehte einen Film mit dem Titel 'Der Fall Belgrads'. In dieser Filmhandlung sollte die deutsche Siegesparade nachgestellt und abgedreht werden. Die Regie hatte die Idee und den Mut, für die­sen Vorbeimarsch echte deutsche Soldaten zu ver­pflichten. Das Hono­rar: Sechs Wochen Sonderver­pflegung, damit die Uniformen wie ange­gossen saßen.

Die Parade vollzog sich an historischer Stelle, auf der Terasia, der heuti­gen Marschala Tita. Auf einer Tribüne hatte sich die 'Generalität mit ihren Stäben' in Position gebracht. Der gedoubelte 'Chef der 2.Armee, Generaloberst Frhr.v.Weichs', derzeit im Donaulager auf Sonderverpfle­gung gesetzt, nahm bei klingender Musik die Siegesparade der deut­schen Eroberer ab. Als die auf Hochglanz gebrachte Paradekompanie an besagter Tribüne vorbeimar­schierte, drängten sich auf der gegen­überliegenden Straßenseite die Men­schen. Damals, im Original, wird es nicht anders gewesen sein. Diesmal erhiel­ten die Marschierer Beifall aus der Zuschauermenge. So wird es damals, im Original, sicherlich nicht gewesen sein. Immerhin, die Belgrader Bevölke­rung hatte sich einen Sinn für Effekte erhalten.

Und was bei der Parade und hinterher im Film auch nicht zu sehen war: Aus allen Karabinern hatte man vorsorglich die Schlagbolzen entfernt. Vielleicht war das der erste Versuch einer 'Null-Lösung', von der nie etwas an die Öffent­lich­keit gedrungen ist.

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Vom Donaulager bis zu unserem Holzplatz waren es nur noch zehn Minu­ten. Das ließ man sich gefallen. Nach einer Woche wurde ich aber zu einem ande­ren Arbeitskommando versetzt.

Jenseits der Save, dort, wo bei der Insel 'Veliko ratno ostrava', der Insel 'Des großen Krieges', die Save in die Donau fließt, sollte eine neue Stadt, sollte NEU BELGRAD gegründet und erbaut werden. Man sprach von dem größten Bau­projekt Jugoslawiens. Man veranschlagte eine Bau­zeit von fünfzehn Jah­ren.

Ich hatte dort, gewiss durch meine Chorarbeit begünstigt, einen sehr guten Job gefunden. Wer einmal nach Neu-Belgrad kommen sollte, ich habe dort im 'Park prijateljstva', im 'Park der Brü­derlichkeit', die Boden­vermessungen durch­geführt. Das ist doch schon was. Ich kann dabei nicht schlecht gewesen sein, denn man bot mir dort einen Dauerjob als technischer Zeichner und Lichtpau­ser an. Nach drei Jahren Schaufel und Spitzhacke war das ein ganz verlo­ckendes Angebot. Außerdem hätte ich nach Neu-Belgrad in ausgezeich­nete Unterkünfte umzie­hen 'müs­sen'. - Ich tat es nicht. Ich wollte mich nicht von unserem Chor tren­nen. Jetzt kann es ja auch gesagt werden: Wir bildeten uns ein, man hatte uns sogar versprochen, dass wir zum Lohn für unsere Chorar­beit auf eine Konzert-Tournee in die russische Besatzungszone geschickt und von dort aus in die Heimat entlassen würden. Es war also nichts mit Neu-Belgrad.

Belgrad war ein Projekt, zu dessen Verwirklichung die gesamte eu­ropäi­sche Jugend zu einem 'Friedensdienst' eingeladen war. Diesem Aufruf sind zahlrei­che junge Menschen aus den mei­sten westlichen Län­dern gefolgt. Die jungen Leute kamen aus Frankreich, aus England, Schwe­den, Norwegen und Holland. Ich weiß nicht, woher sie alle kamen. Deutschland war durch uns ver­treten, sehr gut vertreten sogar, und das möchte ich hier erzählen.

Für das weit ausladende Jugendlager mussten 'ganz auf die Schnelle' eine große Anzahl fabrik­neuer Holzbaracken aufgestellt werden. Die ANTIFA hatte alle Zimmerleute aus den Räumen Belgrads, des Banats und der Woiwodina zusammengezogen. Sie bildeten die 'deutsche Bri­gade' für dieses Lagerpro­jekt.

Um den Aufbau dieser Baracken zu beschleunigen, hatte die Zentrale Baulei­tung einen Grup­pen-Akkord ausgearbeitet, der für die jugoslawi­schen und die deutschen Zimmerleute in gleicher Weise ausgeschrieben wurde. Während die jugoslawischen Holzwerker schon mächtig 'heran­klotzten', tat sich bei den Deutschen noch so gut wie nichts.  Zumindest sah es so aus.

In Wirklichkeit saßen unsere Leute über den Konstruktionsplänen, simulier­ten und legten Arbeitsabläufe fest. Dann begann man mit der Monta­ge. Sogleich wurden die Istzeiten mit den Plandaten verglichen, die Abläufe neu aufeinan­der abgestimmt, die Arbeitskräfte neu verteilt. Und dann war es soweit. Nach etwa acht Tagen stellten unsere Zimmerleute die Baracken auf, als ob sie zu einem Wanderzirkus gehörten. Das Ganze war eine einzige Show. Die jugo­slawi­schen Kollegen kratzten sich unter der Mütze und mochten es nicht glau­ben. Da wuchsen die Baracken aus dem Boden, ohne Hektik, Palaver und Ge­schrei.

Die vereinbarte Montageprämie wurde gezahlt. Aber dann gab es doch Krach. Die jugoslawi­schen Zimmerleute hatten ihre Gewerkschaft eingeschaltet. Das ging ja wohl nicht mit rechten Dingen zu. Die deut­schen Zimmerleute brachten es mittlerweile auf ein Monatseinkommen von eintausendzweihundert bis -vier­hundert Dinare. Das war doch nahezu das Doppelte von dem, was die Jugo­slawen einstrichen. Weit über tausend Dinare im Monat, wer verdiente das sonst noch in Bel­grad?- Die Einwände, jetzt auch von der Gewerkschaft betrie­ben, mussten im Arbeitsministerium entschieden werden. Das Ministerium ent­schied: Die Gewerkschaften hatten die Montageprämie vorgeschla­gen, jetzt blieb es auch dabei. In etwa zwei Monaten war dieser Barackenzauber sowieso vorbei. Was hätte unser Normforscher aus dem Lager Banjiza, was hätte der zu dieser Show gesagt?

Ich habe mir diese Erfahrung ganz dick hinter die Ohren geschrieben. Sehr viel später, vierzig Jahre danach ergab es sich, dass mir aus berufli­chen Grün­den diese Beobachtungen einmal sehr nützlich wurden.

Nachdem ich mich nicht für NEU-BELGRAD entschieden hatte, wurde ich einem anderen Arbeitskommando zugeteilt. Ich wurde Transportar­beiter beim Jugoslawischen Roten Kreuz.

Ich bin noch einmal in Neu-Belgrad gewesen, zu einem Chorkonzert. Ein Teil der neuen Barac­kensiedlung war bereits von jungen Ausländern bezogen. Auch junge Frauen und Mädchen waren dabei. Sie schienen hingerissen von unse­rem Tenor, unserem Fritz Nellen. Was hat er alles gesungen? 'Vor mei­nem Vaterhaus steht eine Linde', 'Es wollte sich ein­schlei­chen, ein kleines Lüftelein' und 'Rose weiß, Rose rot'. Großen Beifall fand unse­re finnische Volksweise 'Lobet mir mein Schätzchen fein'. Die­ses Konzert umfasste sie­benundzwanzig Programmpunkte!

 

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Fortsetzung: Beim Jugoslawischen Roten Kreuz

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