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Pik Bube

Belgrad - Banjiza

 

Aus meiner Verlegung nach Belgrad ergaben sich recht bedeutsame und positive Veränderungen, an die ich mich aus zwei Gründen gerne erinnere: Ich wurde Mitglied in einem ganz ausgezeichneten Männerchor, über den es noch zu berichten gibt. Außerdem fand ich in diesem Chor einen Freund, dem ich wohl bis an mein Lebensende verbunden bleibe.

Selbstverständlich fand sich auch nützliche Arbeit, mit der ich erst einmal beginnen will.

In einem ganz wesentlichen Punkte hatte sich natürlich nichts geändert. Immer und überall waren wir von bewaffneten Wachleuten begleitet. Wir nannten das scherzhaft und versöhnlich 'Feuerschutz'. Die meisten von ihnen waren brave Kerle, die so ihre Militärzeit zu Ende brachten. Hier in Belgrad, nicht weiter als zwanzig Kilometer von Nova Pazova entfernt, gab es weder Mord noch Totschlag. Wer jetzt noch zu Tode kam, der war entweder an einer der üblichen Lagerkrankheiten gestorben, zu der inzwischen auch die Tuberkulose gehörte, oder man hatte ihn auf der Flucht erschossen. Dann konnte man sich noch selber aufhängen. Das geschah mitunter auch noch. Aber wie pflegte unser Kompanieführer während der Straßenkämpfe in Belgrad zu sagen:

"Kameraden! Das alles hier ist pure Nervensache!" Dieser Schlachtruf war ein verlässliches Zeichen, dass er wieder mal besoffen war. Jetzt war ich wieder in Belgrad. Meine Nerven waren stabil. Mir war weder nach Aufhängen noch nach Flucht zu Mute.

Das Lager, in dem ich gelandet war, galt als Außenstelle des großen Donaulagers. Es befand sich an der Uliza Raschka und nannte sich Lager BANJIZA. Es bestand aus einer einzeiligen, einstöckigen Steinbaracke, der man nicht ansehen konnte, welchen Zwecken sie ursprünglich einmal gedient hatte. Die Ausmaße der Unterkünfte lagen bei etwa acht mal zwanzig Metern, also etwa hundertsechzig im Quadrat. In diesen Räumen waren wir mit jeweils achtzig Mann untergebracht. Als außerordentlich fortschrittlich fand ich, dass hier erstmals Tische und Bänke aufgestellt waren. Zwar hatte ich bisher nicht wie ein Affe auf Bäumen gelebt, habe aber, nun schon im dritten Jahr, auch nicht mehr wie ein Mensch an einem Tisch gesessen. Hier konnte ich es wieder.

Trat man aus dieser Unterkunft heraus, hatte man auf etwa fünf Meter Abstand eine mannshohe Mauer vor sich, die durch eine Treppe unterbrochen war. Stieg man diese hoch, ging es linker Hand zur Latrine, die von einem primitiven Holzschuppen umbaut war. Rechts befanden sich Küche und Kantine. Jawohl, eine Kantine. Wir bekamen nämlich für unsere Arbeit auf der Baustelle fünf Dinare pro Tag. Das war nicht viel. Immerhin, wer sich fürs Rauchen entschied, der hatte zu rauchen. Bevorzugte man statt dessen regelmäßigen Brotbelag oder gelegentlich einen Krug Bier, dem reichten diese fünf Dinare auch.

Diese bescheidene Löhnung galt natürlich nur für die Ungelernten. Dazu gehörten Professoren, der Lehrberuf ganz allgemein, Kaufleute, ganz einfach alle, die kein Bauhandwerk erlernt hatten und auch für die Bauaufsicht und Bauverwaltung keine Kenntnisse einbrachten. Hier wurde gebaut. Ein beachtliches Projekt, das nach Fertigstellung angeblich als Nobelherberge für ausländische Besucher und für Staatsgäste vorgesehen war. Ich habe nur den Rohbau kennengelernt.

Meistens stand ich an einer der großen 'Speispfannen' und löschte Kalk. Ich erinnere mich, dass mir der Wind einmal eine Wolke ungelöschten Kalk in die Augen blies, dass ich glaubte, ich würde mein Augenlicht verlieren. Wie sich zeigte, halten die Augen einiges aus.

Interessant fand ich die Konstruktion und die entsprechenden Vorbereitungen für den Guss der Etagendecken. Unsere Fachleute hatten an der Baustelle eisenarmierte Trageelemente gegossen, die sie, sicherlich nicht der Jahreszeit wegen, 'Herbstträger' nannten. Diese Träger wurden in gleichem Abstand auf den tragenden Mauern und Wänden hochkant aufgestellt. Dabei ergaben sich zwischen den Trägern beiderseits schmale Auflagekanten. Auf diesen Kanten wurden die Zwischenräume mit kurzen Holzbrettern abgedeckt, die nach dem Deckenguss von unten wieder herausgeschlagen werden konnten. Über diesen Herbstträgern hatten unsere Eisenbieger ein kunstvoll verflochtenes Netzwerk von Eisenstäben angebracht. War auch diese Arbeit abgeschlossen, so konnte der Deckenguss beginnen. Die Zementmischung hierfür trugen wir mit Handtragen auf die Stockwerke wie zu König Pharaos Zeiten. Vorne gingen die Kleinen und Krummen, hinten die verhinderten Basketballspieler. Kein Wunder, dass wir uns nur fünf Dinare am Tag verdienen konnten.

Unsere Eisenbieger wurden mit Abstand am besten entlohnt. Die Auszahlung an die Bauleute und einschlägigen Facharbeiter war um das zehn- bis zwanzigfache höher als unser Hilfslohn. Ich stelle das ganz neidlos fest, weil mich das an den Prinzipien sozialistischer und marxistischer Gesinnung zweifeln ließ. Bauleute und deren voller Arbeitseinsatz waren also sehr gefragt. Für wohlklingende Parolen nahm man hier noch keine Hand aus der Tasche. Da musste schon was anderes klingeln. Und unsere ANTIFA? Nun ja, für sie waren das alles Errungenschaften, die sie ihrem Einfluss zuschrieben. Ich hatte nichts dagegen.

Es gab da aber doch ein Problem. Wer war letztendlich in der Lage festzustellen, wie viel Leistung überhaupt erbracht werden musste. Mit dem Leistungslohn kam unvermittelt die Frage nach dem entsprechenden Arbeitsergebnis auf. Hierfür mussten aber erst noch differenzierte Richtwerte ermittelt und vorgegeben werden. Den Jugoslawen selbst fehlte in dieser Hinsicht noch jede Erfahrung.

Ein bis dahin 'Ungelernter' kam auf die zündende Idee, diese Vorgabedaten 'wissenschaftlich' zu ermitteln und in einem Normenkatalog zusammenzutragen. Dieser sollte künftig jeder Leistungsbemessung zugrunde gelegt werden. Für uns Hilfslohnempfänger änderte sich durch diese Leistungsdatenerfassung natürlich nichts.

Also empfahl sich unser Mann als 'Normforscher'. Als Sohn eines durch und durch kapitalistischen Textilfabrikanten aus Sachsen schien er die erforderlichen Voraussetzungen unbesehen einzubringen.

Diese Normforscherei betrachteten wir zu Anfang als die Hochform eines Schwindels, ohne körperliche Arbeit und Anstrengung am Bau relativ gut zu verdienen. Er betrieb seinen Job mit unnachahmlicher Eleganz und Überzeugungskraft, ohne sich bei uns, bei seinen Leuten, auch nur im geringsten unbeliebt zu machen. Wie hat er das geschafft?

Er beantragte über die Bauleitung eine Garnitur Arbeitskleidung, die seiner verwaltungstechnischen Stellung entsprach. Diesem Antrag wurde nicht widersprochen. Selbstverständlich gab es auch für ihn nichts anderes als diese braun eingefärbten Ami-Uniformen. Dagegen hatte er nichts einzuwenden. Feldbluse, Hose und Mantel, die er sich aussuchte, waren aber mindestens zwei Nummern zu klein. Das war nicht etwa ein Versehen. Er verfolgte damit eine kluge Maskierung. Wenn er mit viel zu kurzen Ärmeln und Hosenbeinen daherkam, so hieß das unverkennbar, dass er unser Mann geblieben war. Das wurde auch so aufgefasst, ohne dass darüber gesprochen werden musste. Zu dieser Maskerade gehörte noch eine karierte Schlägermütze englischen Stils und eine stets qualmende Pfeife. Sein Arbeitsgerät waren ein Klammerbrett mit verwendbaren Formblättern, eine richtige Stoppuhr und Schreibzeug.

So lustig unser Normforscher auch aussehen mochte, so ernsthaft betrieb er seine Arbeit, in sinnvoller Abstimmung mit unseren Facharbeitern. Diese hatten sofort erkannt, dass aus dieser Leistungsdatenerfassung etwas zu machen war. Für sie war diese Tätigkeit auch nicht so ganz neu. Selbstverständlich zweifelte niemand daran, dass hier Standardwerte erforscht wurden, die auch auf das jugoslawische Bauhandwerk Anwendung finden würden. Da mussten die Relationen schon stimmen. Aus dieser Einsicht kam ein Leistungskatalog zustande, an dem es nichts zu rütteln gab. Rationalisierungseffekte, das Salz an jeder Suppe, behielten die Bauleute natürlich für sich.

Es stellte sich sehr schnell heraus, dass die Leistung unseres Normforschers sichtbare Ergebnisse einbrachte. Schon nach sehr kurzer Zeit war sein Ansehen bei der Bauleitung unumstritten.

Welche Autorität er bei der zivilen Bauleitung wirklich besaß, lässt sich an einer recht lustigen Episode demonstrieren. Aber das war es ja; bei ihm war immer alles lustig und ohne Probleme.

Der Bauleiter hatte seine Tochter als Sekretärin in seinem Stab eingestellt. Allein das war schon nicht so ganz korrekt. Diese Tochter war aber außerdem ein sehr gut aussehender und ausgekochter Feger, auf die der Vater offensichtlich nicht den geringsten Einfluss mehr besaß. Der einzige, der sie noch ab und zu einmal strammstehen ließ, war eben unser Normforscher. Sie kam nämlich mit ihrem Taschengeld nicht aus und erbat sich bei ihm hin und wieder einen kleinen Zuschuss. Als er einmal der Meinung war, dass sie es übertreibt, herrschte er sie an:

"So, jetzt nimm diese zwanzig Dinare. Wenn du mir diese Woche noch einmal kommst, haue ich dir den Arsch voll!"

Der dankbare Blick des geplagten Vaters ist ihm dabei nicht verborgen geblieben. Es ist jammerschade, dass ich den Namen unseres Normforschers nicht mehr im Gedächtnis habe. Gerade er hätte einen freundlichen Nachruf verdient.

Der Autoritätsgewinn unseres Normforschers erwies sich in mancher Hinsicht als sehr hilfreich. An seinem Ansehen partizipierten wir aber in keiner Weise. So jagte man uns während der ersten Wochen am frühen Vormittag, immer um die gleiche Zeit, in die rohbaumäßig fertiggestellten Kellerräume. Warum das geschah, wollte uns anfangs niemand verraten. Irgendwann fand man dieses Versteckspiel wohl doch so albern, dass man es aufgab. Jetzt erfuhren wir auch den Grund für dieses Kellertheater. Titos Dienstweg, von seiner Residenz zum Parlament, führte direkt an unserer Baustelle vorbei. Ob wir nun ihn oder er uns nicht sehen sollten, das wusste der liebe Himmel. Vielleicht wollte man auch viel Schlimmerem vorbeugen. In seiner schwarzen russischen SIL-Limusine wirkte er in seiner weißen, reich mit Gold verzierten Uniform schier überwältigend. Es scheint mir heute, dass wir zu dieser Zeit noch einen ausgeprägten Sinn für prachtvolle Uniformen hatten. Der Himmel bewahre mich davor, einen unpassenden Vergleich zwischen Göring und Tito anzustellen. Ein Gruppenbild der beiden wäre aber an Glanz nicht zu übertreffen gewesen.

Dann war da noch Titos Sohn Mirko. Auch er kam nicht zu Fuß daher. Er fuhr einen Traum von einem weinrot lackierten Buick. Neben ihm saß fast immer eine schwarze Schöne, seine junge Frau, von der es hieß, dass sie eine Russin sei. Von ihr und von diesem Buick schwärmten wir ausnahmslos. Wenn sie in diesem Rahmen an uns vorüberglitt, erschien sie uns mit jedem Mal schöner und begehrenswerter. Und was dieses Auto betraf, so waren wir neidlos glücklich, dass solch schöne Dinge wieder entworfen und gebaut wurden.

Mirko hatte, ich weiß nicht mehr wo, einen Arm verloren. Dass diese schöne Russin ihn trotzdem zum Manne genommen hatte, das war doch schon fast wie im Märchen. Beneidenswert glücklicher Mirko! -

Sein kleiner Bruder Sharko, der kam noch zu Fuß. Seine Gouvernante führte den kleinen Buben gelegentlich auf unsere Baustelle. Dann erklärte sie ihm an unseren Köpfen und Profilen die mannigfachen Merkmale verbrecherischer Physiognomie. Der kleine Sharko war ein außerordentlich hübscher Bub. Die ersten Lektionen über das Phänomen verräterischer Körpermerkmale waren vermutlich in den Wind gesprochen. Sie werden ihn jedenfalls nicht nachhaltig beeindruckt haben. Und was sollŐs. Ich für meinen Teil war sicher, dass es zu Hause liebenswerte Menschen gab, die meinen Schädel so mochten, wie er nun mal war.

Allmählich machte sich der herannahende Winter bemerkbar. Da war ein jeder froh, wenn er am späten Nachmittag das Lager wieder erreicht hatte. Die Steinbaracken waren zwar nicht beheizt; wenn wir alle achtzig Mann auf unsere Pritschen stiegen, beschlugen einem momentan die Brillengläser. Was brauchten wir also eine Heizung.

Das Abendprogramm begann immer auf die gleiche Weise. Erst 'Donnerbalken', dann Waschrinne, hernach zur Kantine. Bis zur Essenausgabe blieb dann noch etwas Zeit.

Wenn das Glück es zuließ, hatte man Post von den Lieben zu lesen oder sogar ein Paket zu plündern. War bei der Postverteilung nichts dabei, dann war es auch schön anzuschauen, mit wie viel Neugier und Spannung sich der Nachbar über seinen Brief hermachte. Sinnvoller war es natürlich, wenn man sich hinsetzte und die vorliegende Post beantwortete. Aber dafür musste man in der entsprechenden Stimmung und Verfassung sein.

Feierabend, das war ein Wort wie Musik. Das gab es nicht einmal am Sonntag. Feierabend, das war wie ein Etappenziel, das man, wenn es gut gelaufen war, ohne Blessuren erreicht hatte. Feierabend, das war weit mehr als bloße Freizeit. Oft verbrachte man diesen Rest des Tages in Gesellschaft eines Kameraden, dem man gerade heute während der Arbeit nähergekommen war.

Ich denke da jetzt an einen Mann, der Abend für Abend bäuchlings, dem Licht zugewandt, in der Bibel las und blätterte. Sein Pritschenplatz lag mir genau gegenüber. So werden ihm auch meine Gewohnheiten vertraut gewesen sein, falls ihn das überhaupt interessiert hat.

Nachdem wir uns einen ganzen Tag bei der Arbeit über dieses und jenes unterhalten hatten, ohne dass wir dabei die Arbeit vergaßen, wagte ich die Frage nach dem Grund für seine eifrigen Bibellesungen. Was ich dann erstaunlich freimütig erfuhr, erschien mir wahrhaft sensationell. Dabei erklärte sich auch, warum er mir bisher noch nicht auf der Baustelle begegnet war.

Normalerweise ging er in der Früh als 'Einzelkämpfer' aus dem Lager. Dann war er mit einem weißen Drillich bekleidet. In der Hand trug er einen Eimer, der Glätttraufel, Reibebrett und Maurerkelle enthielt. In einem Papiersack hatte er stets eine kleine Menge Kalk oder Gips dabei. In der anderen Hand schwang er die Wasserwaage, wie sich das für einen Meister seines Fachs gehörte.

Es war nun schon länger als ein Jahr her, dass er in einem 'Kultur-Dom', einem Kulturhaus, eine sehr aufwendige Stuckdecke restauriert hatte. Diese Arbeit war ihm so gut gelungen, dass er von diesem Zeitpunkt an überall in der Stadt Restaurierungsaufträge erhielt. Er galt, als Stuckateur, bei den jugoslawischen Behörden als Künstler seines Fachs. Schon sehr früh stellte man ihm eine Bescheinigung aus, eine 'Potvrda', die ihm gestattete, ohne Wachposten seine Arbeitsstellen in der Stadt aufzusuchen. Ich glaube, er hätte in Belgrad eine Nachtbar aufsuchen können; brachte er seinen Eimer mit, dann war das schon in Ordnung.

In Jugoslawiens Hauptstadt machte sich eine Behörde breit, deren Aufgaben und Zuständigkeiten ständig zu wachsen schienen. Für ihre Diensträume bevorzugten sie Villengrundstücke, die nach Möglichkeit von Parks umgeben waren. Die ehemaligen Eigentümer waren entweder ins Ausland geflohen, oder man hatte sie nach der Machtübernahme umgebracht. Jetzt machte sich in diesen Villen Titos Geheimdienst, die OZNA (sprich Osna) breit. Die OZNA war allgegenwärtig, wie in Russland die GPU oder der NKWD, bei den Nazis die GESTAPO oder der SD und heute in der DDR der STASI. Es gab auf den Straßen Belgrads eine makabre Redensart. Fragte man jemanden, wohin er gehe, kam häufig die Antwort: "Zur OZNA".

Diese Villengrundstücke hatten während des Krieges, und ganz besonders während der Straßenkämpfe im Oktober 1944, sehr gelitten. Ein Restaurator hätte hier auf Jahre hinaus seine Beschäftigung gefunden. In diesen Villen also ging unser Mann seit über einem Jahr ein und aus. Die Stempel seiner Bescheinigung ließen jeden Wachposten zur Seite treten.

Schon bald war er dahintergekommen, dass die Keller mit Gefangenen voll belegt waren, die wegen 'Kriegsverbrechen' oder anderer, staatsfeindlicher Delikte bereits zum Tode durch Erschießen verurteilt waren. Da wurden Delinquenten zur Exekution weggeschafft und immer wieder kamen neue Verurteilte hinzu. Auch unsere ANTIFA hatte mit ihrer Lebenslaufaktion für reichen Nachschub gesorgt. Diese Kellertragödie war auch der Hauptgrund dafür, dass sich die OZNA bevorzugt dieser Parkvillen bediente.

Der jugoslawische Arzt, dem die medizinische Betreuung der Todeskandidaten in mehreren dieser Keller überantwortet war, hatte mit großem Mut Kontakt mit unserem Stuckateur aufgenommen. Seitdem enthielt der zerknautschte Papiersack nicht nur einige Kilo Gips. Unter dem weißen Pulver waren bald ein- und ausgehende Briefe versteckt.

Mein Gesprächspartner hatte bei diesem Postdienst ein raffiniertes Schlüsselsystem entwickelt. Alle Absender und Empfänger wurden bei ihm unter einem Nummernschlüssel verwaltet, der einer Seitenzahl in seiner Bibel entsprach. In ihr hatte er in der Falz der Bibelseiten die jeweiligen Heimatadressen in winzig kleiner Schrift eingetragen. Hatte er zum Beispiel einen Brief mit dem Nummernschlüssel '245' aus dem Haftgebäude herausgebracht, so fand er auf dieser Bibelseite die Empfängeranschrift in Deutschland oder oft sogar hier in Belgrad selbst. Dorthin leitete er diese Post dann weiter. Erhielt er von den Angehörigen Antwort, dann hatten auch sie im Brief eine Nummer angegeben, über die er in seiner Bibel den inhaftierten Empfänger ermittelte. Die Briefe der Inhaftierten ließ er frankiert auf dem normalen Postweg befördern.

Um diese Post hin und her weiterleiten zu können, musste er alle die an ihn geleiteten Sendungen öffnen, um den Adressencode zu finden. Auf diese Weise wurde er Zeuge sich ständig wiederholender Tragödien. Die Todeskandidaten berichteten über das Prozedere und die erfolglose Praxis von Gnadengesuchen. Der jugoslawische Arzt hatte mehrmals die Seiten der Gnadengesuche ganz leicht zusammengeklebt. Bei der Ablehnung erhielten die Delinquenten ihre Schriftstücke zurück. Die vom Arzt gesetzten Markierungen klebten noch aufeinander. Das ließ darauf schließen, dass solche Gesuche nach einer gewissen Schmor- und Wartezeit ungelesen verworfen wurden.

In den Briefen war von einem makabren Autoraten die Rede, das inzwischen in einigen dieser Keller praktiziert wurde. Zu raten war zwischen vorfahrenden normalen PKW's, Versorgungs- und Exekutionsfahrzeugen. Die Verlierer hatten an die Gewinner jeweils eine Zigarette zu zahlen. Dazu wäre anzumerken, dass es für die Verurteilten täglich Verpflegungszigaretten gab, falls sie nicht wegen irgendwelcher Widrigkeiten entzogen wurden.

Unser Stuckateur war ein gläubiger Mensch, dem die Bibel noch sehr viel mehr zu sagen hatte. Vielleicht hat er auch den Gedanken gehabt, dass er auf diese Weise das Los und die Leiden dieser Menschen dem lieben Gott direkt ans Herz legen wollte. Wer weiß das?

*

Das feierabendliche Treiben konnte sich aber auch völlig anders darstellen. Da schloss sich zum Beispiel gleich hinter der Latrine und den Wirtschaftsräumen ein jugoslawisches Kasernengelände an. Weibliches Militär war dort stationiert. Unmittelbar hinter dem Stacheldrahtzaun befanden sich die Wasch- und Duschräume, die zu uns hin großflächig mit Blindscheiben verglast waren. Wenn die tapferen Schönen morgens und abends unter die Brause gingen, und zu diesen Tageszeiten war es entweder noch oder schon wieder dunkel, führte das zu unbeabsichtigt aufreizenden Schattenspielen. Für einige von uns war dies bald der täglich heiß herbeigesehnte Fernsehabend. Als diese Weiber merkten, dass sich da ein Stammpublikum herausbildete, betrieben sie in völliger Anonymität ihre Schattenspiele bewusst und obszön aufreizend. Da standen nun die Kameraden mit triefenden Lefzen in der Dunkelheit und legten sich ihre Träume zurecht.

Wollte ich ansonsten über das Sexualverhalten meiner Mitgefangenen berichten, dann müsste ich erst noch eine Geschichte erfinden. Ich bin in den verschiedenen Lagern etwa mit zehntausend Menschen zusammengekommen. Dass wir auf engstem Raum zusammengepfercht waren, galt als die Regel. Wenn ich einmal von dem Tripper unseres Dolmetschers in Putinci und dem soeben geschilderten Schattenkabinett absehe, so ist mir zu diesem Thema nichts weiter, aber überhaupt nichts weiter begegnet. Sexualität war in dem Maße wie heute sowieso nie ein Thema. Wie hätte man denn für lange Zeit mit zweimal zwanzig Tagen Heimaturlaub im Jahr miteinander zurechtkommen wollen.

Als 1946 der Postverkehr mit der Heimat aufgenommen wurde, war die schlimmste, die lebensgefährliche Zeit, vorbei. Bis zu diesem Zeitpunkt weiß ich mich nicht zu erinnern, dass sich mal jemand aufgehängt hätte. Jeder wollte leben und überleben. Als aber die Post hin und her geschrieben wurde, da hat so manch einer Schluss gemacht. Nicht mit seiner Frau. Nein, mit sich selbst. Hier hatte die Ehefrau sich einem anderen zugewandt. Vielleicht hatte, oder bekam sie dazu auch noch ein Kind von ihm. Oder die Braut hatte sich mittlerweile anderweitig gebunden. Zu dieser Zeit gab es noch keine Pille, die, wenn sie schon kein Vertrauen schaffen konnte, doch die Folgen der Untreue verhindern half.

Die dann da auf ihren Pritschen die Knie unters Kinn zogen, um stumpf und dumpf hinüberzudämmern, oder die Kurzentschlossenen, die sich aufhingen, weil sie die Kraft für einen neuen Anfang nicht mehr aufzubringen glaubten, die hatten jetzt erst diesen verdammten Krieg verloren. Im Grunde war es ja nichts Ungewöhnliches, was man von den Frauen und Bräuten erwartete. Aber zwei oder drei Jahre Treue und Enthaltsamkeit, die Kriegsjahre nicht einmal gerechnet, das verlangte einem schon etwas ab. Das wollte beizeiten geübt sein.

Grünet die Hoffnung, halb hab ich gewonnen.

Blühet die Treue, so hab ich gesiegt.

 

Es gab aber in unseren Lagern noch eine andere Form lustvoller Betätigung. Sie bestand darin, Kochrezepte zu sammeln. Jeder, der mit einer Schreibkladde daherzog, hielt unter Garantie Ausschau nach neuen Kochrezepten. Wer mag das heute noch nachempfinden, wenn der Pritschennachbar eine völlig geschmacklose Graupensuppe aus seinem Napf löffelte und dann zu seinem Kumpel sagte:

"Du musst mir aber noch einmal erklären, womit du die Ente gefüllt hast."

Man sollte darüber gar nicht lachen. Dieses Rezeptesammeln hielt alle jene Sinne wach, die uns nicht zuletzt auch vom Tier unterscheiden. Da fängt es ja schon an. - Ich selbst träumte immer die Vorstellung, wie das einmal war, dass ich aufhörte zu essen, obwohl noch etwas da war.

Neben der verständlichen Sehnsucht und Begierde nach Zärtlichkeit, den Träumen von Glück und Wohlbefinden, die sich in die ferne Zukunft richteten, erstand uns hier vor Ort eine große Trösterin: Das Musikschaffen eines hervorragenden Männerchors. Wilhelm Dignus hatte vor dem Kriege im Stuttgarter Raum als Chorleiter einen guten Namen. Gegen Ende des Krieges erreichte ihn noch die niederschmetternde Nachricht, dass seine Frau mit ihren beiden Kindern in einer Bombennacht ums Leben gekommen war. Er ist mit diesem Schicksal nie fertig geworden.

So kann es nicht verwundern, dass er sich hier in der Kriegsgefangenschaft nach intensiver musikalischer Betätigung umschaute. Mittlerweile leitete er einen Fünfzig-Mann-Chor, der weit über Belgrad hinaus bekannt war. Wilhelm Dignus betrieb diese Chorarbeit mit unbeschreiblicher Verbissenheit. Was er seinen Sängern ständig abverlangte, das wäre unter normalen Verhältnissen unvorstellbar gewesen.

Nachdem ich mir einige Chorproben angehört hatte, man probte zu dieser Zeit 'Heilige Nacht, oh gieße du' und Mozarts 'Oh Schutzgeist alles Schönen', bat ich um Aufnahme in diesen Chor. Wilhelm prüfte meine Stimme und fand sie verwendbar für den Zweiten Bass.

Unsere Bauarbeiten waren mit Einbruch des Winters eingestellt worden. Der Rohbau war aber auch so gut wie fertiggestellt. Den ganzen Winter über wurden wir zu kleinen Arbeitskommandos eingeteilt. Meistens handelte es sich um irgendwelche Dienste in Funktionärshaushalten, wie Teppichklopfen, Fensterputzen, Holzspalten; es fand sich immer etwas.

Einmal war's, dass es um einen Umzug ging. Eine ganz mysteriöse Angelegenheit war das. Da wurde zwischen zwei Wohnungen getauscht. Das Mobiliar aus Parterre musste hoch in den fünften Stock, eine Dachgeschosswohnung mit schrägen Wänden, und die Dachbewohner wechselten in das Parterre. Das war eine Schinderei! Rauf wie runter, stets war man schwer beladen. Nachdem wir einige Stunden immer wieder um einen Fahrstuhlschacht herum gebuckelt hatten, wollte ich doch wissen, was mit dem Aufzug los war. Die Frau, die unsere Umzugsarbeiten beaufsichtigte, wusste nur, dass der Lift "nicht arbeitet". Und überhaupt verstand sie nichts von diesem technischen Kram. Ich verstand zwar auch nichts davon. Es war die Neugierde, die mich auf den Dachboden trieb. Und siehe da, es war fast nicht zu glauben: Die Sicherung für die Stromversorgung des Motors war herausgeschraubt und stand nutzlos auf dem Sicherungskasten. Ich schraubte die Sicherung in die entsprechende Fassung. Für den Rest des Umzugs benutzten wir den Lift. Die alte 'Hacke' im Erdgeschoss lamentierte, dass wir den Fahrstuhl ruinieren würden; aber wir verstanden kein Wort. Als wir endlich alles an Ort und Stelle hatten, bin ich unters Dach und habe die Sicherung wieder an ihren alten Platz zurückgestellt. So machte ich den letzten Abstieg zu Fuß.

Ich erinnere mich auch, dass wir mit den Schranktüren unsere liebe Not hatten. Sie klappten auf dem Transport immer wieder auf, weil es keine Schlüssel zum Abschließen gab. Die Alte vom Parterre klärte uns auf, dass dieses volksdeutsche Gesindel alle Schlüssel mitgenommen habe. - Na, so ein Gesindel!

*

Um die Weihnachtszeit wurde allenthalben viel von Entlassung geredet und geschrieben. In der Heimatpresse war immer wieder die Rede von neuen und 'zuverlässigen' Terminen. Da aus den westlichen Ländern alle Kriegsgefangenen längst zu Hause waren, wurde über die Rundfunksender der russischen Besatzungszone immer wieder der Eindruck verbreitet, dass wir schon auf den gepackten Koffern säßen.

Diese Parolenstrategie sollte wohl uns und unsere Angehörigen zu Hause mürbe machen. Es war schon schlimm, wenn die in der Heimat immer wieder auf diesen Unfug hereinfielen, was sie dann hoffnungsfrohe und mitunter überschwängliche Willkommensbriefe schreiben ließ. Hinzu kam, dass die Angehörigen dann vielfach auch keine Paketsendungen mehr auf den Weg brachten.

Es war gut, dass ich diesem Chor beigetreten war. Dreimal in der Woche probten wir zwei Stunden konzentriert. Anfang Februar machten wir eine Konzertreise mit der Bahn. Nicht weit; aber wir fuhren mit der Bahn - bis Panschevo, auf der anderen Seite der Donau, wo wir gleich zwei Konzerte aufzuführen hatten. Am Vormittag sangen wir im dortigen Lager und wurden hier auch beköstigt. Am Nachmittag wiederholten wir dieses Programm im Lazarett, in dem unsere Kranken aus dem ganzen Banat versorgt wurden. Die dankbare Freude der Patienten übertrug sich auf uns, und so traten wir in bester Stimmung die Rückreise nach Belgrad an.

Auf dieser Fahrt hatten wir eine Schulklasse mit ihrer Lehrerin im durchgehenden Waggon. Auch dieses verrückte Weibsbild machte sich daran, den ihr anvertrauten Kindern unsere verräterische Physiognomie zu analysieren. Diesen Schülern erging es also wie dem kleinen Sharko auf unserer Baustelle, mit dem Unterschied, dass sie einige Jahre älter und somit eher zu beeinflussen waren. Was hätte diese Lehrerin erst für Augen gemacht, wenn sie meines Fritz Barufke von der Brigade Klotz ansichtig geworden wäre. Am Ende hätte sie noch einen Satz durchs Fenster gemacht.

Ich habe auf dieser Heimfahrt, es war draußen schon finster, die Augen geschlossen und mir eingebildet, dass dieses Rattata, Rattata, Rattata, mich geradewegs nach Hause brächte. In einer so guten Stimmung konnte man sich das leisten, ohne dabei trübe Augen zu bekommen.

*

Die Probenarbeit und die Choreinsätze konnten meine Gemütslage vortrefflich stabilisieren. So hatte man immer und für jeden einen Witz oder einen Trost auf Lager. Das führte dazu, dass ich bei den achtzig Mann meiner 'Korporalschaft' allerseits bekannt und nicht unbeliebt war. Als sich unsere Leute zum Überfluss eine Katze zulegten, nannten sie dieses Vieh PIT. Rief künftig jemand Pit durch dieses Pritschenlabyrinth, auf das ich mich meldete, so hatte man die Katze gemeint. Störte ich mich nicht an diesen Anruf, dann war's die Katze natürlich nicht. Diese Alberei hielt sich aber in Grenzen.

In unserer Chorgemeinschaft traf ich auf einen Studenten aus einer norddeutschen Großstadt, mit dem ich mich sehr schnell anfreundete. Wir hatten sehr vieles gemeinsam, nur dass er in allen Dingen etwas klüger und besonnener war. Das wiederum kam meiner Eitelkeit entgegen. Adolf Rippe sang im Ersten Bass und sprach gelegentlich auch Rezitationen, die Wilhelm Dignus in seine Konzertprogramme einfügte. Beide waren wir einem Mädchen versprochen. Unseren Beschreibungen nach hätten diese Schönen recht gut zusammengepasst, was sich später auch bestätigte. Adolfs Hauptinteressen waren bei der Musik und der englischen Sprache zu finden. Ich glaube, für ihn gab es da keinen großen Unterschied. Schon seine Gegenwart machte mich froh gestimmt. Er war stets von einer Kultur umgeben, die mich mit Hoffnung auf eine neue gute Zeit erfüllte.

Wir richteten es ein, dass wir zu den gleichen Arbeitskommandos eingeteilt wurden. Im Augenblick arbeiteten wir am Donauufer auf einem Holzplatz. Schon um halb fünf Uhr wurden wir geweckt und um halb sechs zogen wir los, damit wir um sieben Uhr auf dem Holzplatz waren. Um fünfzehn Uhr war Feierabend. Das ergab eine glatte Rechnung: acht Kilometer - acht Stunden - acht Kilometer. Bei aller Freude am Wandern und an edlen Hölzern wünschten wir uns doch eine baldige Veränderung herbei. Da aber täglich neue Schiffsladungen gelöscht wurden, ließ nichts auf Veränderung schließen.- Das musste man schon selber in die Hand nehmen.

Es erschien mir zwar kein Engel in der Nacht, aber meine Idee war, wie sich herausstellte, trotzdem gut.

Doch erst hatte ich wieder einmal Geburtstag. Nun war es schon der siebenundzwanzigste. Adolf und ich hatten unsere Schuhe in Reparatur gegeben, was so viel wie 'Schuhkrank' hieß. Ja, das gab es, bedeutete aber nur Schonung für einen Tag. Ich wollte meinen Geburtstag auch nicht länger feiern. Wir nutzten diesen Tag redlich, indem wir für den Chor von früh bis spät im Eiltempo Noten schrieben. Bei der Probe am Abend konnten wir den Chor mit einem kompletten Notensatz für den 'Gondelfahrer' von Schubert überraschen.

Aber es blieb nicht bei dieser einen Überraschung. Als wir alle unseren Probenplatz eingenommen hatten, trat unser Sprecher, ein Studienrat, der sich aufs Reden besonders gut verstand, in den Halbkreis und forderte mich auf, an seine Seite zu treten. Mit wohlgewählten Worten gab er bekannt, dass sich der gesamte Chor allen Geburtstagswünschen meines 'Lieselchens' anschließen möchte.

Da stand mir ja noch einiges bevor. Der Chor erhob sich und sang mir als Geburtstagsständchen 'Droben stehet die Kapelle'. Anschließend probten wir den 'Gondelfahrer', wobei wir uns ganz sacht im Rhythmus imaginärer Wellen wiegten.

Nach dieser Probe habe ich Adolf in meine Unterkunft zu einer kleinen Nachfeier eingeladen. Ich hatte etwas anzubieten: Stara Slivovitza, einen angeblich acht Jahre alten Pflaumenschnaps. Unsere Unterhaltung, für die anderen ein leises Gemurmel, dauerte bis um zwei Uhr in der Frühe. Dass sich darüber niemand beschwerte, mag auch etwas an der Popularität unserer Katze Pit gelegen haben.

Wenn ich mir's heute so bedenke, war wohl die Flasche Slivovitz der Engel jener Nacht. Als wir zu früher Stund auseinander gingen, stand es fest: Wir gründeten für die nächste Zeit einen Kalligraphischen Verlag. Der Muttertag war in Sicht, und Geburtstage gab es zu Hause allemal. Wir hatten sogar schon den Spruchtext festgelegt:

Die Kunst glücklich zu sein

ist die Kunst verzichten zu können.

Das passte zu dieser Zeit immer und überall.

Gleich am nächsten Tag habe ich mich vom Holzplatz weggestohlen, um Schreibzeug, geeignetes Papier, Tusche, Federhalter und breite Schreibfedern zu kaufen. In guten Schreibwarengeschäften gab es das damals schon. Oder noch? -

Ins Quartier zurückgekehrt, wurde sofort ein Probeexemplar gepinselt. Zwei Tage später, es war an einem Wochenende, bin ich zur Lagerleitung und habe für Adolf und mich eine Beurlaubung beantragt. Mein Musterexemplar fand Gefallen. Mein Angebot auch. Für jede verkaufte Karte wollte ich zwei Dinare in die Lagerkasse zahlen. Na, Lagerkasse, was war das schon. Es blieben jedenfalls eine ganze Menge und genug Dinare für uns. Das war doch etwas. Das war's überhaupt! - Die Kunst, glücklich zu sein. Adolf und ich, wir beide waren's - fast.

Wir hatten einen großen Zulauf. Unsere Karten gefielen so gut, dass man mit allem Möglichen, mit selbstverfassten Versen, sogar mit Entwürfen für Grabinschriften zu uns kam. Aber nein, da blieben wir hart und eisern. Entweder die Kunst glücklich zu sein oder überhaupt keine Kunst. Ich weiß, sehr nobel war das nicht. Aber jetzt wollten wir wirklich Geld machen, ohne so recht zu wissen, wozu.

Adolf schablonierte die Raumaufteilung und fügte zum Schluss elegante Kringel an meine Frakturbuchstaben. Es sah alles wirklich recht gut aus.

Natürlich machten wir Ausnahmen, aber nur und ausschließlich für unsere Mütter und Bräute. Auf keinen Fall machten wir es für Geld.

Meiner Mutter schrieb ich einen doppelseitigen Spruch von Julie Weidenmann. Mein Vater hat diese Spruchkarte sehr schön eingerahmt. Fortan hat Mutter ihre Rosenkränze bis zu meiner Heimkehr angesichts dieser Verse gebetet. Zu jener Zeit war dieser Text so recht zum befreienden Weinen geeignet.

Dir liebe Mutter1 zu Deinem Ehrentag

*

Ich geh' durch meiner Heimat Gassen, wie man durch alte Kirchen geht,

laß mich ergreifen und erfassen, und alles Schreiten ist Gebet.

Der Häuser Augen schau'n und grüßen, urmächtig rauscht der breite Strom.

Ich möchte knien, die Erde küssen, weil ich von fernen Wegen komm.

Und wie in dunkler, kirchenstiller Verborgenheit ein Heiligenbild

find ich die Mutter. Lauter Güte  erstrahlt ihr Lächeln weich und mild.

Ihr Wort ist Tau und Abendsegen  und fällt in mich wie reife Frucht.

Ich fühle tief, der Mutter wegen  hab' ich der Heimat Licht gesucht.

 


Mein Schätzchen bekam ihre Spruchkarte zum Geburtstag, mit Versen von Rainer Maria Rilke. Auch sie wurde sorgfältig aufbewahrt:

Wie soll ich meine Seele halten, dass sie nicht an deine rührt?

Wie soll ich sie hinheben über dich zu anderen Dingen?

Ach, gerne möchte ich sie bei irgend etwas Verlorenem unterbringen

an einer fremden, stillen Stelle, die nicht weiterschwingt,

wenn deine Tiefen schwingen.

Doch alles, was uns berührt, dich und mich, nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich,

der aus zwei Saiten eine Stimme zieht.

Auf welches Instrument sind wir gespannt? Und welcher Spieler hat uns in der Hand?

Oh, süßes Lied.

 

Im Donaulager hatte sich Konkurrenz aufgetan: Ein Kunstmaler und jemand, der es uns nachzumachen versuchte. Und das war kein Geringerer als unser General Hauser, der auf diesem Wege etwas Geld für sich und seine inhaftierten Offizierskameraden, überwiegend Generäle, erarbeiten wollte. Sie waren in einer separaten Unterkunft im Komplex des Donaulagers untergebracht, wo sie ihrer Aburteilung als 'Kriegsverbrecher' entgegensahen. Die eingekauften Musterexemplare zeigten aber, dass beide keine ernsten Wettbewerber waren. Um eine entsprechende Deklassierung deutlich zu machen, setzten wir unseren Kartenpreis um zwei Dinare herauf. Diesen Aufschlag haben wir dann aber nicht mehr 'versteuert'.

In den ersten Apriltagen wurden die Mitglieder unseres Chors in das Donaulager verlegt. Bevor wir unsere Sachen packten, veranstalteten wir noch ein fröhliches Abschiedssingen. Es wurde ein richtiges Fest daraus.

Bei dieser Gelegenheit brachte sich auch unser Normforscher noch einmal in Erinnerung. Er veranstaltete eine lustige Modenschau. Seine Top-Kreation: Der hemdlose Kragen mit Knopfleiste. Es war das, was von einem alten Hemd übrig blieb, wenn man alles Übrige als Flicken sonst wo verarbeitet und vernäht hatte.

Unsere graphische Verlagsanstalt wurde liquidiert. Die Flasche Slivovitz, die uns zu dieser Firmengründung inspiriert hatte, neu aufgelegt. - Schnaps in der Gefangenschaft. Wenn das Helmut Tietze miterlebt hätte!

 

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Fortsetzung: Im Donaulager

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