Meine Zeit
in Unterdickt
erzählt
von Elisabeth Dorothea Krämer Meine Schulzeit
beginnt Im April 1926 vollendete ich mein
sechstes Lebensjahr, und so stand meine Einschulung bevor. Das Christkind
brachte mir schon den Schulranzen, die Tafel und die Griffeldose. Sie
waren ein Geschenk meines Patenonkels, der ein Geschäft besaß, in
dem er diese Artikel verkaufte. Der braune Ranzen war aus so gutem Leder, dass
er alle acht Jahre meiner Volksschulzeit ausgehalten hat. Wahrscheinlich
bin ich aber auch recht pfleglich mit ihm umgegangen. Die Einschulung brachte ein Problem
mit sich, denn die Schule, die ich eigentlich hätte besuchen
müssen, war zweieinhalb Stunden weit entfernt. Nicht zumutbar
für einen Erstklässler, hieß es. Also stellten meine Eltern einen
Antrag, damit ich die nächstgelegene Schule besuchen durfte. Diese lag in
der angrenzenden Gemeinde. So wurde ich dort, wie meine älteren
Geschwister schon vorher, als Gastschülerin geführt. Es handelte sich
um eine zweiklassige Dorfschule. Im unteren Klassenraum wurden das
erste bis vierte Schuljahr unterrichtet, von einem einzigen Lehrer,
versteht sich; und auf der ersten Etage die fünften bis achten Schuljahre.
Die jeweiligen Lehrpersonen bewohnten die dem Klassenraum
gegenüberliegenden Wohnräume. Am ersten Tag begleitete mich mein
Vater zur Schule. Ich fand das alles sehr aufregend und neu. Der Lehrer war
für mich kein Fremder. Zwischen ihm, seiner Frau und meinen Eltern
fanden schon seit längerem hin und wieder Besuche statt. Nur so
viele Kinder auf einmal, - damit musste ich Einsiedler erst noch fertig werden.
Dann die engen Schulbänke! Darin stundenlang ruhig zu sitzen war für
mich eine harte Probe. Am ersten Tag setzte ich mich jedenfalls erst einmal
oben auf die zum Schreiben und nicht zum Sitzen vorgesehene Fläche. Das
gab mir eine gewisse Freiheit für den Anfang, und der Lehrer erzählte
hinterher meinen Eltern, dass ich ununterbrochen geredet hätte,
während die anderen Kinder meist ängstlich auf das Ende der
Stunde warteten. Schultüten kannte man damals
noch nicht; aber es war Sitte, mit einer sauberen Schürze zu
erscheinen. Wochen bevor ich eingeschult wurde, bestellten also meine Eltern
unsere Näherin, die mir einen angemessenen Vorrat davon anfertigte.
Ich besitze noch mein erstes Schulbild, mit Schürze natürlich, und
einer Tafel, auf der die Jahreszahl zu lesen ist. Es war meine Tafel, weil sie
den saubersten und hellsten Rahmen hatte. Darauf war ich ganz stolz. Am zweiten Tag marschierte ich schon
allein zur Schule. Der Weg war mir nicht fremd. Schon oft ging ich ihn vorher
mit meinen Eltern zur sonntäglichen Messe oder auch um etwas einzukaufen. Großeinkäufe wurden
einmal im Monat im zwölf Kilometer entfernten Städtchen mit der
Pferdekutsche gemacht. Nur was wir zwischendurch im Alltag benötigten,
holten wir im Dorf. Es gab dort einen kleinen Kolonialwarenladen.
Später machten sich zwei unverheiratete Töchter in einem Neubau
selbständig und führten außer Putz- und Lebensmittel auch noch
Textilien und Schreibwaren. Kurzum, man konnte fast alles kaufen und was
nicht im Sortiment war, konnte man auf Bestellung nach ein bis zwei Tagen
abholen. Diese Wegstrecke hatte ich also nun
täglich vor mir. Es führte ein breiter Fahrweg bis ins Dorf.
Doch der war bei nassem Wetter so morastig und bei Trockenheit so staubig, dass
man ihn wirklich nur mit dem Pferdegespann passieren konnte. Parallel
dazu verlief ein schmaler Pfad, der Schulweg. Dieser führte nach etwa
zweihundert Metern über eine kleine Brücke, unter der ein Bach
plätscherte. Dieser Bach schlängelte sich durch ein langgestrecktes
Wiesenthal, das diesem Umstand den Namen 'Bachwiese' verdankte. Im Winter oder im frühen
Frühjahr kam es nicht selten vor, dass sich nach einer Schneeschmelze der
Bach in einen kleinen Fluss verwandelte. Die kleine Brücke fasste das
Wasser nicht mehr und wurde überflutet. Gummistiefel kannte man
damals noch nicht. Wie gut hätten wir sie gebrauchen können. Ich
weiß heute nicht mehr, von wem dieser geniale Einfall kam, die Stelzen zu
benutzen, die uns der Schreiner irgendwann einmal angefertigt hatte. Ihre
Handhabung war für uns Routine, stolzierten wir doch oft zum
Zeitvertreib damit herum. In diesem Falle ermöglichten sie uns das
Hochwasser zu überwinden und trockenen Fußes über diesen
Bach zu gelangen. Im weiteren Verlauf führte unser Schulweg dann in den
Hochwald hinein. Bei rauem, stürmischem Wetter
empfand ich diesen Wald immer wie einen schützenden Mantel. Der Wind
rauschte mächtig in den hohen Wipfeln und konnte einem doch nichts anhaben.
Nach einiger Zeit tauchte wieder eine Wiese auf; ringsum vom Wald
eingeschlossen. Fast immer konnte man hier mit Reh- oder Rotwild rechnen, ganz
gleich zu welcher Tageszeit. Wahrscheinlich machte die einsame Lage
die Tiere so unbefangen. Wir schlichen uns auf dem Weg zur Schule daher sehr
vorsichtig an diese freie Fläche heran und bekamen fast immer Tiere
zu sehen. Um sie nicht zu vergrämen, gingen wir einen kleinen Umweg. Vater
brachte uns schon früh bei, dass man das Wild nicht stören darf.
Wo das von ihm verwaltete Revier zu Ende war, hörte auch der schützende
Wald auf. Jetzt liefen wir das letzte Drittel
des Weges zwischen Feldern her, die den Bauern im Dorf gehörten.
Im Winter fegte hier oft ein so eisiger Wind über die freie Fläche,
dass das Gesicht schmerzte. Wir wickelten dann den Kopf mit einem langen,
dicken Wollschal so ein, dass nur noch die Augen herausschauten. Gut
verpackt machte mir kein Wetter etwas aus, und Krankheiten kannte ich
kaum. Selbst die üblichen Kinderkrankheiten überließ ich
alle meinem jüngeren Bruder, der von Geburt an etwas zarter
schien. Außer den Masern blieb ich von allem verschont, obwohl ich
manchmal, um dem kranken Bruder die Zeit zu vertreiben, an seinem Bett
saß und ihm Geschichten vorlas. Wenn er eine ansteckende Krankheit, wie
Keuchhusten oder Diphtherie auskurierte, durfte ich ja auch nicht zur Schule
gehen, damit keine Bazillen übertragen wurden. Das konnte mir nur
recht sein, obschon ich sehr gerne die Schule besuchte. Nun herrschte ja nicht das ganze
Jahr über Winter. Die Wege durch den Schnee hatten auch ihre schönen
Seiten. Wenn er sich zu hoch türmte, spannte Josef, von dem ich schon
erzählte, eines der Pferde vor den Schleppschlitten, um einen Weg zu
bahnen. Dieser Schlitten hatte die Form eines Dreiecks und war aus
schwerem, massivem Holz gefertigt, damit er das notwendige Gewicht
auf den Boden brachte. Wenn dann auch noch ein Mann darauf stand, der Mann, der
das Pferd führte, ließ sich der Schnee leicht zur Seite schieben. Es
kam jedoch vor, dass morgens geschleppt worden war und mittags
türmten sich vor uns wieder hohe Schneewehen. Das passierte schon mal auf
den freien Feldern. Nahm der Wald uns wieder auf, empfand man seine
schützende Geborgenheit. Nicht selten fielen aber solche
Mengen Schnee, dass Kinderbeine einfach nicht mehr durchkamen. Uns
schleppte Josef eine Spur frei, aber die Jungen und Mädchen aus den
Dörfern saßen zu Hause fest. Einen winterlichen Straßendienst,
wie man ihn heute bis in die entlegensten Winkel kennt, gab es damals
nicht. Lediglich die Strecke für den Postbus hielt man einigermaßen
frei. Und doch geschah es nicht selten, dass dieser Bus bei seiner ersten
Fahrt am frühen Morgen im Straßengraben landete und
umkippte. So kam es, dass außer ein paar
Kindern aus dem Schuldorf nur ich noch zum Unterricht erschienen war.
Dafür den hohen, runden Gussofen im Klassenraum zu heizen, lohnte sich
nicht. Der Lehrer führte uns in sein Wohnzimmer, nachdem wir uns
vorher der Schuhe entledigten und zum Trocknen in Ofennähe gestellt
hatten. Seine Frau brachte uns einen heißen Kakao. Es wurde eine
spannende Geschichte vorgelesen, und nach einer Stunde des Aufwärmens machten
wir uns wieder auf den Heimweg. Für manche winterliche Strapaze
entschädigte uns die übrige Zeit des Jahres. Was gab es dann nicht
alles zu beobachten, zu pflücken und zu essen. Auf dem Hinweg zur Schule
konnten wir uns natürlich keine zeitraubenden Abstecher
erlauben. Doch dass der Heimweg oft doppelt so viel Zeit in Anspruch nahm,
daran hatte Mutter sich schon gewöhnt. Wild sah man fast alle Tage.
Natürlich versuchte man sich anzuschleichen. Turnte ein Eichhörnchen
im Geäst, lief man ein Stück hinterher, wenn es von Baum zu Baum
sprang. Kaninchen huschten hier und da in ihren Bau, und nicht selten schnürte
ein Fuchs daher und war von seinem Jagdfieber so gepackt, dass er ganz nahe
herankam, die 'versteinerte Gestalt' plötzlich wahrnahm oder Wind bekam
und dann wie die Kugel aus der Flinte verschwand. Himbeeren, Brombeeren, Waldbeeren
und wilde Erdbeeren standen am Wege. Ich kannte die einzelnen Stellen genau. An
dieser wohlschmeckenden und gesunden Nascherei vorbeigehen konnte man
unmöglich. Da, wo die Brücke über den
Bach führte, tummelten sich kleine Fische im Wasser, und darüber
standen blaugrüne Libellen. In der Böschung wuchs ein
riesiger Schwarzdornstrauch, der im Frühjahr herrlich blühte und
später voller Früchte hing. Doch die waren erst nach dem ersten Frost
genießbar. Wen wunderte es also, dass ich so viel Zeit für den
Heimweg aus der Schule brauchte und außerdem absolut keinen Hunger
auf das appetitliche Mittagessen mitbrachte. Mutter konnte mich dann nur
mit einem einzigen Gericht zum essen bewegen. Ich erwähne das hier, weil
sich diese Vorliebe scheinbar später auch auf einige meiner Kinder vererbt
hat, und ich dieses Gericht heute noch genau so gerne esse, wie damals. Es
bestand lediglich aus zerdrückten Salzkartoffeln, einem Stich Butter und
etwas Milch. Kartoffelpüree könnte man sagen, und doch war es nicht
das Gleiche. Lag es daran, dass die Kartoffeln nur grob zerknetet waren,
die Butter selber hergestellt, oder die Milch würziger schmeckte, ich
weiß es nicht. Es war ganz einfach mein Lieblingsgericht. An Schulaufgaben erinnere ich mich
kaum. Jedenfalls machten sie mir keine Schwierigkeiten. Für Aufsätze
nahm ich mir allerdings viel Zeit, besonders dann, wenn ich das Thema selber
wählen durfte. Dass Natur, Tiere und Pflanzen meine Phantasie
beflügelten, war klar. Mein längster Aufsatz, so erinnere ich
mich, füllte ein halbes Schreibheft. Wohlgemerkt ein Heft und keine
Kladde. Ein einziges Mal bin ich mit einer Hausaufgabe in Bedrängnis
geraten. Wir sollten Schillers 'Lied von der Glocke' auswendig lernen, und
ausgerechnet diesen Bandwurm vergaß ich überm Spiel total. Kurz
vor Mitternacht, ich hatte den ersten Schlaf schon hinter mir, erwachte ich
plötzlich mit dem Gedanken: "Du hast das Gedicht vergessen!"
Meine Mutter riet mir, wenigstens einen Teil davon noch zu lernen. Meist
wurde ein so langes Werk ohnehin aufgeteilt, und wenn ich Glück
hatte, fiel auf mich ein Abschnitt, den ich konnte. Ich hatte Glück. Mein
lückenhaftes Wissen fiel nicht auf. Den ganzen Text hatte ohnedies
niemand geschafft. Auswendig zu lernen machte mir keine
Schwierigkeiten. Daher wurde ich auch immer auserkoren, ein Gedicht
aufzusagen, wenn irgendein Anlass dazu bestand. Wurde ein neuer Lehrer oder
Pastor eingeführt, musste ich ein Gedicht vortragen. Stand die
Glockenweihe an und der Bischof erschien, ich sprach zur Begrüßung
ein Gedicht. An alle kann ich mich nicht mehr erinnern, aber es wurden im Laufe
von acht Jahren eine ganze Reihe. Einmal jedoch passierte mir eine
Panne. Die älteste Bürgerin der
Gemeinde war verstorben und just am Tage der Beerdigung fiel dem Lehrer
ein, dass sich eigentlich die Schule daran beteiligen müsse. Ich wurde vom
Unterricht suspendiert, in das Wohnzimmer des Lehrers geführt,
bekam ein ganz trauriges Gedicht mit fünf langen Strophen in die Hand
gedrückt und man ließ mich damit allein. Es blieben mir anderthalb
Stunden Zeit, und ich wurde nach dieser Frist abgehört. Es klappte auch so
leidlich, doch blieb mir während des Trauergottesdienstes ja noch eine Galgenfrist.
Nachdem später am Grab dann einige Reden gehalten waren, kam die Reihe an
mich. Der Anfang war auch noch flüssig. Doch dann, einmal ins Stottern
geraten, war plötzlich mein Kopf leer. Geistesgegenwärtig reichte mir
mein Lehrer das Skript, und so brachte ich meine Aufgabe mit einigem
Anstand zu Ende. Solche kleinen Bedrängnisse bleiben jedoch ein Leben lang
in Erinnerung. Zu Beginn des vierten Schuljahres,
damals geschahen die Versetzungen noch vor den Osterferien, stand für
mich das Fest der Erstkommunion bevor. Der Vorbereitungsunterricht und die
Religionsstunden an zwei Tagen in der Woche gab der Pastor selbst. Wir
schrieben das Jahr 1929, und Ostern fiel damals besonders früh.
Entsprechend zeitiger im Jahr wurde also auch der Weiße Sonntag gefeiert. Weil aber damit gerechnet werden
konnte, dass um diese Zeit das Wetter noch kalt und unfreundlich wäre,
beschloss man, die Erstkommunion ausnahmsweise auf Christi Himmelfahrt zu
verlegen. Wie sich hinterher herausstellte, war dies keine gute Entscheidung.
Am Weißen Sonntag schien die Sonne, von Regen oder Schnee keine Spur.
Christi Himmelfahrt aber herrschte ein solches Unwetter, dass ich in
meinen Werktagskleidern und derben Schuhen bis zum Dorf ging, um mich dort
erst festlich anzukleiden. Schnee, Regen, Hagel, alles hatte das Wetter
anzubieten. Die männlichen Festtagsgäste krempelten sich die
Hosenbeine hoch, und ihre verwöhnten Stadtschuhe sahen hinterher recht mitgenommen
aus. Trotz dieser schlechten
äußeren Bedingungen nahm die Feier in der Kirche für mich
einen erhebenden Verlauf. Nach Beendigung der Messe bot sich der
Patenonkel meiner Kommunionpartnerin an, mich und alle weiblichen
Gäste mit seinem Auto nach Haus zu fahren, während die Männer
die Schlammschlacht noch einmal auf sich nehmen mussten. Mir wurde zwar im
Auto sehr übel, doch die Fahrt war kurz und wurde relativ gut
überstanden. * Als ich nach Absolvierung der ersten
vier Klassen in die 'Oberstufe', sprich fünftes Schuljahr, aufstieg, wurde
mein jüngerer Bruder eingeschult. Ein wenig tröstete ihn wohl der
Gedanke, dass seine größere Schwester in Reichweite sei. Sein Pech
bestand darin, dass sein Lehrer von übermäßiger
Größe war und außerdem immer mit hochrotem Gesicht erschien.
Dazu kam, dass sein Gesicht von unzähligen Pickel übersät war.
Der arme Mann hatte an seinem Aussehen natürlich keine Schuld und muss
sein Spiegelbild auch nicht gerade schön gefunden haben. Er litt hochgradig
an Zucker und trank aus diesem Grunde während der Unterrichtsstunden
literweise Wasser. Auf dem Katheder stand ein Glaskrug von der Form eines
Bierseidels. Wenn dieser Krug fast leer war, musste eines der Kinder ungefragt
aufstehen und ihn am Wasserhahn wieder füllen. Mein Bruder hatte vor
diesem Lehrer einfach Angst, und keine guten Worte, auch nicht von Seiten der
Eltern, konnten ihn beruhigen. So musste ich in den ersten zwei Wochen den Platz
neben ihm einnehmen, bis er sich langsam eingewöhnte und feststellte,
dass sich hinter der etwas furchterregenden Fassade ein weicher Kern
befand. Während der Schulpausen war mir
meist eine kleine Arbeit aufgetragen. Einmal waren die Blumen zu
pflegen, dann die Tafel sauber zu wischen oder Staub zu putzen. Ein anderes Mal
musste Kartenmaterial aufgehängt, oder Hefte für eine
Klassenarbeit ausgeteilt werden. Im Winter zog ich diese
Aufträge so in die Länge, dass ich im warmen Klassenzimmer
bleiben konnte. In der milden Jahreszeit jedoch beeilte ich mich, um
draußen am Spiel teilzunehmen. Hin und wieder kam es vor, dass mich
jemand alarmierte, weil mein Bruder in Bedrängnis war. Ich bewaffnete mich
dann mit dem langen Zeigestock, rannte auf den Schulhof und hinter den
Missetätern her. Beim nächsten Besuch im Forsthaus erzählte mein
Lehrer dann den Eltern, wie ich den Bruder verteidigt hatte. Später
legte sich seine Scheu und Zurückhaltung nach und nach. Der
Schwächere war schon immer die Zielscheibe der Angeber. Das wird auch
heute noch so sein. Von der dritten Klasse an besuchte
ich jeden Dienstag und Freitag die Schulmesse. Sie begann im Sommer um
sieben Uhr in der Frühe und im Winter eine halbe Stunde später. Auch
der Schulunterricht war entsprechend gestaffelt. Im Sommer, wenn
schon vor sechs Uhr die Sonne aufging, brachte das keine Probleme. In den
Wintermonaten dagegen mussten wir uns auf den Weg machen, wenn es noch
stockfinster war. Mit der Taschenlampe fanden wir natürlich immer den Weg
ins Dorf. Ich glaube, wir hätten ihn auch ohne Licht gefunden. Wie oft
wurde ich schon von der Dunkelheit überrascht, wenn am Nachmittag noch
eine Chor- oder Theaterprobe oder die Vorbereitung einer Schulfeier kein Ende
nehmen wollte. Die Füße kannten fast jede Wurzel und jeden Stein.
Notfalls konnte man auch nach oben schauen, wo die Baumwipfel entlang des
Pfades die Sterne oder den Wolkenhimmel in einem schmalen Streifen
durchschimmern ließen. Zur Orientierung genügte das. Die Augen
gewöhnten sich daran. Im Wald gibt es eben keine Laternen. Bis auf den heutigen
Tag mache ich die Feststellung, dass ich bei Dunkelheit gut sehe und zwar ohne
Brille, auf die ich bei Tage angewiesen bin. Ich behaupte daher scherzhaft,
dass ich Eulenaugen habe. An einem Morgen im zeitigen
Frühjahr, wo also mein Weg noch grau und finster vor mir lag, packte
ich meinen Ranzen, um rechtzeitig zur Schulmesse zu kommen. Mein älterer
Bruder, der im Dorf Besorgungen zu machen hatte, wollte mich mit dem Fahrrad
begleiten. Ich machte mich also auf den Weg in der Gewissheit, dass er mich
spätestens auf halber Strecke einholen würde. Im letzten
Waldstück, wo der Pfad durch hohe Tannen führte, gab es eine kleine
Insel mit jungem dichtem Baumbestand. Wind- und Schneebruch hatten eine
Lücke in den Hochwald gerissen. Aus dieser Dickung, etwa
fünfzig Quadratmeter groß, hörte ich schon von Weitem heftige
Schnarchgeräusche. In der damaligen Zeit gab es noch viel Fahrendes Volk
und so manchen Tippelbruder. So vermutete ich erst einmal, jemand würde hier
im Schutze des Waldes die Nacht verbringen. Mein Bruder musste jeden Augenblick
mit dem Fahrrad auftauchen. Wenn er mich mitnahm, kam ich noch früh
genug zur Messe. Ich wartete also. Als er eintraf, überlegten wir
gemeinsam, wer da im Traum möglicherweise den ganzen Wald zersägen
könnte. Zu sehen war nichts. Also brachte mein Bruder mich ins Dorf und
machte sofort kehrt, um Vater auf den Plan zu rufen. Gemeinsam gingen sie dem Schnarchen
auf den Grund und fanden ein Reh, das von der Rachenbremse befallen war. Diese
Schadinsekten legen ihre Eier im Rachenbereich der Tiere in den
Schleimhäuten ab. Schlüpfen später die Maden, ernähren sie
sich an Ort und Stelle, gewinnen schnell an Größe und Umfang
und schnüren so dem Reh mehr und mehr die Luft ab. In den meisten
Fällen können die geplagten Tiere durch starkes Husten ihre
Schmarotzer loswerden, doch manche gehen auch elend daran ein. In diesem
Falle sah das Reh schon sehr mager und krank aus. Mein Vater gab ihm den
Gnadenschuss. Auf dem Heimweg aus der Schule hörte ich kein
Schnarchen mehr und erfuhr zu Hause, was geschehen war. Es hielt sich damals öfter
Fahrendes Volk irgendwo am Waldrand auf. Ein beliebter Lagerplatz befand sich
etwa fünfhundert Meter weit von der Stelle, wo unser Schulpfad eine
schmale Straße kreuzte. Die meist alten brüchigen Wagen wurden noch
von kleinen Pferdchen gezogen, nicht von dicken Straßenkreuzern, wie
man es heute sehen kann. Mich beschlich immer ein wenig Angst, wenn ich an
solchen Wagen vorbei musste. Zu viele Schauergeschichten rankten sich um
diese Leute, mochten es auch Märchen sein. Gehörten schulpflichtige
Kinder der Truppe an, mussten diese pro Tag wenigstens zwei Stunden am
Unterricht teilnehmen. Ein kleines schmutziges Buch registrierte jeweils
den Schulbesuch mit Unterschrift des Lehrers. Solche Gäste in der Klasse
waren für uns natürlich eine Sensation. Die meist braunhäutigen
dunklen Gestalten mit den schwarzen Augen und glänzendem schwarzen Haar,
schienen aus einer fremden Welt zu kommen. Aus dem regulären Unterricht
wurde an einem solchen Vormittag nicht viel. Interessanter schien uns, was diese
Kinder zu erzählen wussten und wo sie herumgekommen waren. Manche
warteten mit Talenten auf, die man bei ihnen nicht vermutet hätte. So
zeigte ein etwa zwölfjähriger Junge uns seine Zauberkunststücke.
Damit trat er hin und wieder auf, um ein wenig zum Unterhalt der großen
Familie beizutragen. Ein anderer Junge besaß eine überraschend
gute Stimme. Was lag also näher, als einen ausgiebigen Musikunterricht
aufzuziehen. Als unser Lehrer seine Gitarre dazuholte, stellte sich
heraus, dass dieses Naturtalent auch damit umzugehen wusste. Nicht selten brachten am
nächsten Tag einige Kinder Kleiderpäckchen mit zur Schule. Sie wurden
stets dankbar angenommen. Dabei kam es auf Größen nicht an. Da waren
wohl Geschwister jeder Größe. Einmal passierte es, dass der
älteste Sohn unseres Schweizers in der Pause mit einem Zigeunerjungen
Krach bekam. Um was es sich damals handelte, weiß ich heute nicht mehr.
Wie üblich war ich in der Klasse geblieben, um meine kleinen Aufträge
zu verrichten. Nach dem Unterricht wunderte ich mich nur, dass mein Kumpel
nicht wie üblich mit nach Hause ging, sondern einen Umweg über
das nächste Dorf machte, um Verwandte zu besuchen. Ich erfuhr es von
Schulkameraden, also machte ich mich alleine auf den Heimweg. Die Sache kam mir schon etwas
merkwürdig vor. Am Morgen war von dem Verwandtenbesuch keine Rede gewesen.
Als ich mich dem Lagerplatz der Zigeuner näherte, wurde ich aufmerksam.
Etwa alle fünfzig Meter entlang der Straße, die ich
überqueren musste, stand ein männliches Mitglied der Sippe. Ich
ahnte, dass irgend etwas nicht stimmte, ging einige hundert Meter zurück
und schlich dann in gebückter Haltung zwischen zwei Roggenfeldern zur
Straße. Hinter einer Kehre rannte ich schnell auf der anderen Seite,
wieder geschützt durch Felder und Buschwerk, auf Umwegen nach Haus.
Später klärte sich dieser merkwürdige Verwandtenbesuch
auf. Der Zigeunerjunge hatte ihm nach dem Streit gedroht: "Wenn Du nach
Hause gehst, warten meine Leute mit Messern auf Dich." - Darüber
hätte er mich eigentlich informieren müssen. In den acht Jahren meiner Schulzeit
gab es ansonsten nie eine Begebenheit, die mir Angst eingejagt
hätte. Zumindest nicht durch menschliche Begegnungen. Nur ein
Erlebnis blieb mir zeitlebens in Erinnerung. Das hatte allerdings mit
einem Unwetter zu tun. Statt nach der Schule gleich den
Heimweg anzutreten, spielte ich noch mit einigen Kindern. Es war gerade
'Murmel-Zeit'. Mit dem Schuhabsatz bohrte man rasch eine kleine Vertiefung in
die Erde, und das Spiel konnte beginnen. Dabei achtete ich nicht darauf, wie
sich das Wetter veränderte. An schwülen Tagen können sich
binnen kurzer Zeit Gewitterwolken bilden, die dann plötzlich das
heftigste Unwetter bescheren. Ich wurde erst aufmerksam, als mit
einem Mal die Sonne verschwand. In der Richtung, in die ich gehen musste, stand
eine schwarze, bedrohliche Wolkenwand. Schleunigst packte ich meinen
Ranzen und rannte mehr als ich ging, nach Haus, in der Hoffnung, vor Ausbruch
des Unwetters daheim zu sein. Doch es zog so rasch auf mich zu, dass ich genau
in den beginnenden Regen hineinlief. Ich glaube, an diesem Tag schaffte
ich die Strecke im Laufschritt in einer Viertelstunde. Genau meinen Weg musste
sich das Gewitter gewählt haben. Zwischen Blitz und Donner blieben
kaum ein paar Sekunden Zeit. Es groß in Strömen, und der sonst
so schützende Wald schien mir zur Gefahr zu werden. Man konnte nie wissen,
ob der Blitz nicht einen der hohen Wipfel treffen würde. Es krachte nur
noch um mich herum. Mir ging schon fast der Atem aus. So kam ich völlig
verausgabt und nass bis auf die Haut zu Hause an. Meine Eltern hatten
angenommen, ich würde das Unwetter im Dorf abwarten. Seit dieser Zeit waren Gewitter für
mich ein Trauma. Erst als auf unserem gesamten Hofkomplex Blitzableiter
installiert wurden, legte sich das wieder. Ich erinnere mich, dass die
Gewitter damals besonders stark waren. Ob das mit der geographischen Lage zu
tun hatte, es waren einige kleine Berge in der Umgebung, oder ob man als
Kind in anderen Dimensionen denkt und empfindet. Jedenfalls erinnere
ich mich an eine Nacht, wo sich ein solches Unwetter mit Blitz und Donner
über uns austobte, dass am nächsten Morgen eine von drei
mächtigen, hohen Tannen, die etwa zwanzig Meter vom Haus entfernt
standen, von oben bis unten gespalten und zersplittert war. In dieser
Nacht hatte Renno in seiner Verzweiflung einen dicken Draht, der den
Knebel am Schloss seines Zwingers zusätzlich sicherte, durchgebissen und
war ins Haus geflüchtet. Seitdem holten wir ihn jedes Mal aus
dem Zwinger, wenn auch nur die geringsten Anzeichen für ein Gewitter
vorhanden waren. Das sollte dem armen Kerl nicht wieder passieren. * In diese Zeit etwa fiel zu Hause ein freudiges Ereignis. Unsere
Dackelhündin 'Hexe' hatte fünf Junge bekommen. Den Weg aus der
Schule schaffte ich ab sofort in kürzester Zeit. Der Ranzen flog in die
Ecke, das Essen wurde hastig heruntergeschlungen, und dann zog es mich zu den
Kleinen in den Stall. Tierkinder und Menschenkinder mochten sich wohl
schon immer. Jedenfalls war ich ab sofort nur noch bei den Hunden zu finden.
Diesmal sollte auch nicht das Gleiche passieren wie damals, wo das von uns
ausgesuchte Tierchen am Ende doch noch einen anderen Herrn fand. Der Erstgeborene und kräftigste
Welpe wurde von vornherein zum Bleiben bestimmt. Er war schwarz mit
brauner Brust und braunen Pfötchen. Ein typischer 'Waldi' also. Alle
seine Geschwister hatten die Farbe der Mutter geerbt, wobei lediglich einer
etwas dunkler braun, der andere etwas heller ausfiel. Der Jüngste und Kleinste in der
Runde bekam den Namen 'Männe' und war einem Vetter von mir versprochen.
Dieser führte am Geburtsort meiner Mutter, einem Weinort am Rhein, das
großelterliche Anwesen. Eine Restauration und Gastwirtschaft schien
jedoch nicht so ganz im Sinne von 'Männe' zu sein. Er konnte Gästen
gegenüber recht aggressiv werden. Auch Kindern, die den possierlich
aussehenden kleinen Kerl lediglich streicheln wollten, konnte er unversehens
einen Biss verpassen. Nach einem solchen Vorfall, nach dem
der kleine Junge eine Tafel Schokolade als Trostpflaster erhalten hatte,
verfolgte meine Tante folgenden Dialog: "Woher hast Du die
Schokolade?" wurde er von einem Spielkameraden gefragt. Die Antwort: "Lass Dich auch von
'Männe' beißen, dann bekommst Du auch Schokolade." Dabei muss man wissen, dass
Schokolade damals bedeutend höher im Kurs stand als heute. Ich persönlich machte mir aus
Süßigkeiten überhaupt nichts. Bonbons verschenkte ich
grundsätzlich. Dafür hatten auch andere später die
schlechteren Zähne. Ein Schokoladennikolaus mit Eselchen, fein in Stanniol
verpackt, stand mindestens zwei Jahre auf einer Kommode im Schlafzimmer,
ehe ich mich entschloss, ihn zu verspeisen. Doch als ich die Verpackung
löste, sah die Schokolade darunter grau und unappetitlich aus. Ich
musste alles wegwerfen. Ein einziges Mal bekam ich etwas zum
Naschen geschenkt, was mir im Geschmack unübertroffen schien. Es war
ein großer, harter Lutscher mit Stiel, der aus mehreren Lagen Schokolade
und Vanillemasse bestand. Damit mir dieser Genuss möglichst lange
erhalten blieb, verwahrte ich ihn in einer Dose im Schrank. Hin und wieder
holte ich den Lutscher hervor, leckte ein wenig daran und schloss ihn
wieder ein. Wie lange er mir auf diese Weise erhalten blieb, weiß ich
heute nicht mehr. Jedenfalls hielten alle anderen Süßigkeiten keinem
Vergleich stand und blieben somit für mich uninteressant. Als mein Lehrer wieder einmal mit
seiner Frau einer Einladung meiner Eltern folgte, blieben sie noch bis zum
Abendessen. Bei Anbruch der Dämmerung mussten die Lichter angezündet
werden. Damals gab es im Forsthaus noch keinen Strom und somit auch
keine elektrische Beleuchtung. Vielmehr hing über dem rustikalen
Eichentisch eine Art Kronleuchter mit vier Petroleumlampen. Diese
konnten zum Reinigen und Füllen aus einem schmiedeeisernen Reifen herausgehoben
werden. Die Behälter für das Petroleum waren aus buntbemaltem
Porzellan. Diese Beleuchtung verbreitete ein
warmes, gemütliches Licht, wenn auch nicht so hell, wie die heutigen
elektrischen Lampen. Das Petroleum war in großen Fässern
angeliefert worden und lagerte in der Nachbarförsterei bei einem Kollegen.
Wir holten es dort bei Bedarf mit Kanistern ab. So geschah es auch an diesem
Tag, wo der Besuch erwartet wurde. Die Lampe war auf Hochglanz gebracht
und frisch gefüllt. Doch mir schien, dass sie anders brannte als sonst.
Die Farbe der Flamme, das unruhige Flackern und ein leises Zischen ließen
mich aufmerksam werden. Vater, der sich angeregt mit den Gästen
unterhielt, beachtete die Lampen nicht. Mutter trug das Abendessen auf und
blieb dadurch abgelenkt. Während ich noch
überlegte, die Fenster ein wenig zu öffnen, um im Notfall die
Krüge mit dem Petroleum rasch nach draußen zu befördern,
klingelte das Telefon. Jemand fragte aufgeregt, ob aus der neuen Lieferung
schon Brennstoff eingefüllt worden sei. Nachdem meine Mutter dies
bejahte, erfuhren wir, dass versehentlich Benzol statt Petroleum abgefüllt
worden war. So konnte, wahrscheinlich in letzter Minute Schlimmes
verhütet werden. Später wunderte ich mich überhaupt, dass
mit den Petroleumlampen nie etwas passiert ist. In alle Ställe, in die
Scheune, den Keller, auf den Speicher und in alle Wohnräume nahm man eine
Lampe mit. Neben jeder Tür befand sich ein Haken, an dem man das Licht
aufhing. Abends saß die Familie oft um
eine 'Glockenlampe' herum, jeder mit einer Beschäftigung. Waren wir zu
Bett gegangen, blies Mutter das Licht aus und wünschte uns eine gute Nacht.
Oft hätte ich gerne noch das spannende Kapitel eines Buches zu Ende
gelesen. Dann kramte ich versteckte Zündhölzer hervor um die
Lampe wieder anzuzünden. Aufmerksam horchte ich, ob nicht einer der
Eltern den langen Flur herunter, in Richtung Schlafzimmer kam. Am Spalt unter
der Tür konnte man nämlich erkennen, ob noch Licht im Zimmer brannte.
Hörte ich also jemanden kommen, blies ich schnell die Lampe aus. Erwischt
wurde ich aber doch. Der Zylinder war dann noch heiß. Meinem Vater
passierte es einmal, dass er bei Verwandten zu Besuch weilte und abends, um das
Licht zu löschen, in gewohnter Manier auf den Schalter blies. So kann man
eine elektrische Birne natürlich nicht löschen. Anfangs gab es im Forsthaus auch
kein fließendes Wasser. Ein Brunnen im Hof versorgte Mensch und Tier.
Später installierte man auf dem Heuboden ein großes,
geschlossenes Bassin, pumpte das Brunnenwasser nach oben und konnte in
Küche und Waschküche aus dem Wasserhahn das unentbehrliche Nass
bequem entnehmen. Wieder einige Jahre später wurde jedoch eine Quelle,
die in einiger Entfernung auf einer Anhöhe entsprang und bis zu dieser
Zeit als Bach durch die Wiesen plätscherte, in ein großes Reservoir
geleitet und für die Wasserversorgung genutzt. Diese Quelle war so
ergiebig, dass auch in sehr heißen und trockenen Sommermonaten nie
ein Engpass entstand; selbst dann nicht, als das Anwesen zu einem Gutsbetrieb
erweitert wurde. Der Brunnen diente eine Zeitlang noch als
Gießwasser für den Garten und zum Reinigen von Gerätschaften.
Als später die Pumpe nicht mehr funktionierte, deckte man ihn mit einer
zentnerschweren Steinplatte ab. Der Garten, vor allem der
Blumengarten, war meines Vaters liebstes Hobby. Schon früh lehrte er uns
Kinder die Namen der einzelnen Blumen, Stauden und Bäume. Fast alle
Pflanzen zog er aus Samen in einem Frühbeet, ob sie nun für den
Ziergarten oder für den Nutzgarten gebraucht wurden. Dabei sah er es
gerne, wenn wir Kinder ihm zuschauten, und er erklärte uns viel Wissenswertes
dabei. Wir reichten ihm die zarten Pflänzchen an, wenn sie vorsichtig
in die gut vorbereitete Erde gebracht wurden, und in meinen späteren
Leben kam mir oft zugute, was ich damals lernte. Sicher hätte ich manchmal
lieber gespielt, doch Vater wusste uns für die Dinge zu interessieren,
dass wir am Ende stolz auf 'unser' Werk waren. Nicht selten konnten wir
erleben, dass Passanten am Gartenzaun verweilten, um sich diese
Blumenpracht anzuschauen. Direkt vor meinem
Schlafzimmerfenster befand sich ein kleines Rasenstück, gesäumt
von Buschrosen. In der Mitte hatte Vater ein rundes Blumenbeet aufgefüllt
und prächtig bepflanzt. Eines Tages stellten wir fest, dass Kaninchen
ausgerechnet diesen Platz für ihren Bau und die Aufzucht der Jungen
gewählt hatten. Ließen die Eltern ihre Kleinen für eine kurze
Zeit allein, verschlossen sie den Eingang locker mit Erde. Daran konnte man
erkennen, dass Nachwuchs im Bau wohnte. Es dauerte jedoch kaum zehn Tage,
da hatte die Katze diese Behausung entdeckt. Drei der kleinen Tierchen fanden
wir tot zwischen den Blumen. Eines jedoch hockte in der Buchenhecke, die den
Garten einzäunte und konnte von uns gerettet werden. Wir richteten ihm eine große
Holzkiste als Stall her, füllten weiches Heu hinein und zerbrachen uns den
Kopf, wie wir den Winzling ernähren könnten. Etwas anderes als Milch
kam in dem Alter noch nicht in Frage. Ich versuchte es erst einmal mit einem
Schälchen und goss ganz wenig verdünnte Kuhmilch hinein. Doch
damit wusste es nichts anzufangen. Jetzt goss ich mir einige Tropfen
Milch in eine Hand, in der Hoffnung, dass es durch den Hautkontakt vielleicht
zum Saugen angeregt würde. Und siehe da, ganz allmählich schien es zu
begreifen und nahm etwas Milch zu sich. Diese Methode konnte natürlich nur
über den Augenblick hinweghelfen. Mir fielen die kleinen, mit
sogenannten 'Liebesperlchen' gefüllten Fläschchen ein, die ich
oft an Kirmesbuden gesehen hatte. Mit einem so kleinen Schnuller müsste
man das Tierchen sicher füttern können. Am gleichen Tag noch
brachte mir jemand aus einem Süßwarengeschäft solch ein
Fläschchen, und mit viel Geduld konnte ich das Kaninchen zum Trinken bewegen. Es machte große Freude zu
erleben, wie das Tierchen mit der Zeit immer zutraulicher wurde. Allerdings
kümmerte ich mich alleine um seine Aufzucht, damit es sich leichter
mit seiner Situation abfinden konnte. Ich gab ihm den Namen
'Hänschen', und nach einer Weile hörte es sogar darauf. In der großen,
mit Heu gefüllten Kiste konnte es sich verstecken wie in einem Bau. Nach
zwei bis drei Wochen reagierte es schon auf meinen Anruf, indem es gegen die
Bretter trommelte und schnell hervorkam, um sein Fläschchen zu
trinken. Als ich einmal einen Tag lang von zu
Hause weg war, beauftragte ich meine Tante, das Kaninchen zu füttern.
Am Abend empfing sich mich schon mit den Worten: "Du musst gleich dem Tierchen
Milch bringen. Es hat von mir nichts angenommen." Nicht einmal finden konnte sie es im
Heu, und alles Rufen half nichts. Als es dann meine Stimme hörte, kam es
gleich aus dem Versteck und nahm gierig die Flasche. Langsam gewöhnte ich den
kleinen Kerl jetzt auch an Grünfutter. Zarte Kleeblättchen bot
ich ihm an und frisches Gras. So bereitete ich es langsam auf die Zeit vor, wo
es sich alleine ernähren musste; denn wenn der Zeitpunkt richtig schien,
wollte ich es wieder aussetzen und ihm die Freiheit zurückgeben. Bei meinen Streifzügen in die
Umgebung schaute ich mich nach einem Kaninchenbau um, in dem eine Familie
hausen musste. Etwa einen Kilometer vom Hause entfernt schien ich etwas
Geeignetes gefunden zu haben. Am Tage vor Pfingsten setzte ich mein
'Hänschen' in einen Korb und transportierte es zu dem besagten Bau. Es
schnupperte aufgeregt herum, hoppelte hin und her und verschwand dann
plötzlich in der Erde. Ich wartete in einiger Entfernung noch ein wenig,
doch als es sich nicht mehr sehen ließ, ging ich mit einem lachenden und
einem weinenden Auge nach Haus. Es mochten etwa zwei Wochen
vergangen sein, da kam ich mit dem Fahrrad an der Stelle vorbei, wo ich
meinen Schützling ausgesetzt hatte. Im Gras sah ich tatsächlich ein
junges Kaninchen sitzen. Ich stieg ab und rief einige Male
'Hänschen'. Darauf spitzte es die Löffel (Ohren), machte ein
Männchen und schaute zu mir herüber. Es lief aber nicht weg. Ich war
überzeugt, mein Kaninchen wiedergesehen zu haben. Dies war nicht das einzige Mal, dass
ich mich mit der Aufzucht eines Findlings beschäftigte. Einmal
brachte Vater einen jungen Eichelhäher, ein anderes Mal eine Wildtaube mit
nach Hause. In beiden Fällen gelang mir die Aufzucht unter Vaters Anleitung.
Später konnte ich diese Tiere, nachdem sie selbständig genug waren,
wieder in die Freiheit entlassen. Zu den Haustieren gehörten
neben Kühen, Schweinen, Hühnern, Hunden und einer Katze auch
Gänse. Der Ganter (Gänserich) machte sich bei uns Kindern dadurch
unbeliebt, dass er sich bei jeder Gelegenheit angriffslustig und mit lautem
Geschnatter auf uns stürzen wollte. Neben der Haustür stand darum
immer ein dicker Knüppel. Damit konnten wir uns einigermaßen Respekt
verschaffen. Die Gänsefrauen legen nicht das
ganze Jahr über Eier, sondern nur im Frühjahr. Sie beginnen
damit etwa Mitte März. An einem eigens dafür hergerichteten und
mit Stroh gepolsterten Platz fanden wir dann auch regelmäßig ein
schönes, großes Gänseei; aber eben nur eines. Die zweite Gans
musste sich also einen anderen Platz für die Ablage gesucht haben. Es
heißt, eine Gans dürfe nie sehen, wenn man ihr ein Ei aus dem Nest
nimmt, sonst gehe sie woanders hin. Eben das schien sich hier zu bewahrheiten.
Wir Kinder wurden beauftragt, vorsichtig zu spionieren, wohin die Gans
ihre Eier trug. Auf einer abgeholzten Fläche
nahe beim Haus, wo inzwischen Unkräuter jeder Art wucherten, sahen
wir plötzlich etwas Weißes. Das musste unser Ausreißer sein.
Wir warteten, bis die Gans sich von ihrem selbstgebauten Nest erhob und
schauten aus der Ferne zu, wie sie behutsam ihr Gelege mit dürrem Gras
abdeckte. Das machen übrigens alle Gänse. Auch im Stall decken sie
ihr frisch gelegtes Ei zu. Erst nachdem dieser Ausreißer also das Gelände
verlassen hatte, schlichen wir vorsichtig zum Nest. Dort erwartete uns eine
große Überraschung. Mehr als zwanzig Gänseeier
buddelten wir hervor. Immer wieder hatte sie ihr Gelege zugedeckt, so dass sie
schon auf einem Hügel aus Gras und Ästen saß. Mutter verwendete
die älteren Produkte nur nach eingehender Kontrolle und zum Backen.
Gebrauchen konnte man sie aber noch alle. Vom Wohnzimmer aus hörte ich
einmal an einem Sonntagnachmittag lautes, aufgeregtes Gänsegeschnatter.
Ein Fuchs hatte sich angeschlichen. Ich sah, wie die weißen Federn
umherstoben. Die Gans kämpfte um ihr Leben. Schnell holte ich Vater,
der vom Fenster aus die Flinte mit dem Zielfernrohr anlegte und den Fuchs aus
dem wirbelnden Knäuel herausschoss. Seitdem zweifelte ich nie mehr an
Vaters Schießkunst. Das war ein Meisterschuss! - Die Gans kam mit dem
Schrecken und einem gebrochenen Flügel davon. Dieser wurde geschient und
heilte langsam wieder. Wir konnten übrigens beobachten, dass ein
Fuchs, der seinen Bau in der Nähe unseres Hauses hatte, nie unsere
Hühner holte. Immer waren es Räuber, deren Behausung weiter
entfernt lag. Wir konnten das an den dort umherliegenden Federn erkennen. Die
Fuchseltern 'servieren' ihren Kleinen nie ein Huhn mit Federkleid. Sie
rupfen ihre Beute vorher. Man spricht also nicht umsonst vom schlauen
Fuchs. Doch nicht nur vom Fuchs drohte
unserem Federvieh Gefahr. Da gab es auch noch den Hühnerhabicht, der
mit seinen scharfen Augen jede Bewegung am Boden verfolgte. Um dieser Gefahr
von oben etwas auszuweichen, hielten wir nie weiße Tiere. Doch trotz
dieser Tarnfarben fehlte immer wieder einmal eine gute Legehenne. Bekanntlich gehen Hühner
früh zu Bett, und es war lustig anzuschauen, wie der stolze Hahn mit viel
Imponiergehabe und lautem Krähen sein Volk am Abend zusammenrief. Dann,
mit einem Mal vermissten wir diese übliche Zeremonie. Kein
Hahnenschrei. Nichts war zu hören. Mit bösen Vorahnungen machten
wir uns auf die Suche und entdeckten ihn schließlich in einer dichten
Hecke. Ein Habicht hatte ihm seine Fänge (Krallen) in den Rücken
geschlagen. Dabei muss er sich so gewehrt haben, dass ein großes
Stück Fleisch fehlte. Man sah Lunge und Herz pulsieren. In solchen Situationen
überlegte ich nicht lange, sondern schlug dem armen Kerl schnell den Kopf
ab, um ihn von seinen Leiden zu erlösen. Von dem Braten am folgenden
Tage konnte ich allerdings nichts essen. So gab es neben vielen schönen
Erlebnissen auch ab und zu einmal ein trauriges. Dazu gehörte auch
der Abschied von 'Hexe', unserer Dackelhündin. Sie starb zwar an
Altersschwäche und somit eines ganz natürlichen Todes. Als ich
meine Schulferien bei Verwandten verbracht hatte, war sie bei meiner Rückkehr
nicht mehr da. Ich musste mich mit Waldi und Renno trösten und war ganz
froh, dieses Drama nicht miterlebt zu haben. Im gleichen Jahr bekamen wir einen
neuen Hund. Dieses Mal einen Wachtel. Es war ein kräftiger Rüde,
braun, und sein Fell sah aus, als hätte ein Friseur ihn onduliert. Bald
stellte sich aber heraus, dass er sich mit Renno und Waldi überhaupt
nicht vertrug. Wir mussten sehr darauf achten, dass sie sich nicht begegneten,
sonst war die schönste Beißerei im Gange. Einmal mussten wir sie mit
kaltem Wasser trennen, das wir eimerweise über die Kampfhähne
kippten. Ich bin mit 'Alf', so hieß der Neue, nie recht warm geworden.
Meinen älteren Bruder biss er einmal in die Nase, als dieser mit ihm
spielen wollte. Hunde, die nicht mehr ganz jung
sind, wenn sie ihren Herrn wechseln, werden häufig aggressiv.
Natürlich spielt auch die Veranlagung eine Rolle. Renno und Waldi
betrachteten 'Alf' ohnehin als Eindringling und verteidigten ihr angestammtes
Revier . Als wir eines Morgens die Hunde
füttern wollten, stellte sich heraus, dass alle drei krank waren. Der
herbeigerufene Tierarzt diagnostizierte eine Vergiftung. Alf und Waldi gingen
elend daran ein. Nur Renno überstand die Misere. Seine Rettung war, dass
er literweise Wasser trank, um es anschließend wieder zu erbrechen. Das,
so meinte der Tierarzt, habe ihm das Leben gerettet. Wer ein Interesse daran
haben konnte, die Tiere auf diese Weise umzubringen, ist uns immer ein
Rätsel geblieben. Schon bald nach diesem traurigen
Ereignis schaute Vater sich nach einem neuen Dackel um. Seine Suche dauerte
nicht lange. Im Bekanntenkreis war ein Wurf 'dürrlaubfarbener Rauhhaardackel'
angekommen. Eines Tages brachte man uns eine Hündin mit dem wohlklingenden
Namen 'Amsel von der Sonnenau'. Wir schlossen den kleinen Kerl gleich in
unser Herz und riefen sie der Einfachheit halber kurz 'Ami'. Ich nehme an, dass Vater mit Bedacht
eine Hundedame gewählt hatte, denn so gab es mit Renno von vornherein
keine Komplikationen. Damen gegenüber war er ein Kavalier. Der
Lieblingsplatz von 'Ami' waren die Steinplatten unter dem großen
Küchenherd, weil sie eine angenehme Wärme reflektierten. Wenn Ami Vater nicht in den Wald
begleiten konnte, lag sie dort mit unserer Katze. Mit ihr schloss sie schon am
ersten Tag dicke Freundschaft, und meist war einer des anderen Ruhekissen. Die Nacht verbrachte Ami im warmen
Kuhstall. Eine eigens für sie mit Heu ausgepolsterte Ecke wurde
sofort von ihr angenommen. Nicht selten gesellte sich auch die Katze dazu;
doch eigentlich begann für sie in der Dämmerung die Jagd auf
Mäuse. Und so entwickelte mit der Zeit auch Ami eine besondere Vorliebe
für die Mäusejagd. In den Räumen, wo Roggen,
Weizen und Hafer lagerten, siedelten sich zwangsläufig auch Mäuse an.
Fachwerkhäuser bieten zudem eine ideale Möglichkeit zum Nestbau.
In den Zwischenräumen von Mauerwerk und Fachwerk trieben sie ihr
Unwesen. Bei dem Wort 'Mäuschen' konnte Ami aus dem tiefsten Schlaf
wie elektrisiert aufspringen. Selbst wenn nur jemand den Schlüssel zum
Kornspeicher vom Brett nahm, wusste sie schon, um was es ging und
gebärdete sich ganz aufgeregt. Schlichen wir dann leise zur Tür, um diese
mit einem raschen Ruck zu öffnen, versuchten immer einige Mäuse
noch das rettende Loch zu erreichen. Für die meisten aber war
Ami zu schnell, trotz ihrer kurzen Dackelbeine. Neben Ami und der Katze gab es noch
einen dritten Jäger im Haus. Ein Mauswiesel suchte ebenfalls seine
Beute. Diese Tiere sind aufgrund ihrer kleinen, schlanken Figur in der Lage, in
jedes Mauseloch zu schlüpfen. Wenn es am späten Abend im Hause ruhig
wurde, ging nicht selten eine wilde Jagd in den Wänden los. Dann wussten
wir, unser Mauswiesel ging wieder auf Beute. Über meinem Schlafzimmer lagen
in einer Speicherecke Tannenzapfen auf einen Berg getürmt. Wir Kinder
sammelten diese Samenträger sackweise und Josef brachte sie mit dem
Pferdekarren nach Haus. Im nassen, geschlossenen Zustand verwendeten meine
Eltern sie zum Räuchern. Schinken, Speck und Wurst bekamen so ein
besonders feines Aroma. Im übrigen dienten sie, wie schon an früherer
Stelle erwähnt, zum Anzünden der Öfen. Lagen diese Zapfen
eine Zeitlang auf dem Speicher, trockneten sie natürlich so weit aus,
dass die Samen sich lösten und herausfielen. Hinter diesem Samen waren die
Mäuse her. Jedenfalls hörten wir manchmal in der Nacht, wie die
Zapfen über den Speicher kullerten. Am nächsten Morgen lag
einiges verstreut umher, und wir kehrten alles wieder zusammen. Was uns jedoch am meisten
störte, das waren die Ratten. War im Herbst das Getreide eingefahren,
sammelten sie sich in der Scheune an. Wenn hinterher die vollen Garben in die
Dreschmaschine wanderten, dann kam so manches Rattennest zum Vorschein.
Aber auch in den Räumen, in denen Futter für die Tiere
aufbewahrt oder hergerichtet wurde, trieben sie sich herum. In der
Wagenremise, wo an einer Wand ein dicker Balken angebracht war, an dem altes,
ausgedientes Sattelzeug hing, bauten sie ebenfalls gerne ihre Nester.
Manche Tür war am unteren Ende angeknabbert. So verschafften sie sich
Zugang zu den Räumen, in denen sie Futter finden konnten. Unser Schreiner
hatte schon etliche Kastenfallen gebaut, nur hatten diese den Nachteil,
dass die Tiere lebend gefangen wurden. Sie anschließend zu töten war
keine schöne Aufgabe. Meist ließ Josef sie in einen
Kartoffelsack laufen und schlug sie dann tot. Manchmal verschlossen wir
auch alle Türen am Hof, holten Renno und Ami dazu, bewaffneten uns mit
Reiserbesen, und dann konnte die Jagd beginnen. Für Renno war
das immer eine tolle Hatz. Er packte sich die Ratte im Genick und schleuderte
sie so lange hin und her, bis sie kein Lebenszeichen mehr von sich gab. Ami
machte es grundsätzlich ebenso, aber, obwohl er voller Jagdeifer
dabei war, konnte es passieren, dass die Beute sich in seine Lefzen
verbiss. Dann jaulte er, und Renno kam ihm zu Hilfe. Mit vielen Mitteln versuchten wir
die Plagegeister los zu werden. Vater kam dabei auf die Idee, uns Kindern
für jeden Rattenschwanz, den wir anbrachten, einen Groschen zu bezahlen.
Da ein Groschen damals mindestens so viel wert war wie heutzutage eine Mark,
stachelte das unseren Eifer natürlich mächtig an. Wir bekamen
große Klappfallen, versahen sie mit einem Köder aus Speck, der
über der Herdflamme kurz angeräuchert wurde, damit er auch weithin
seinen Duft verbreitete, und dann war unser erster Gang am Morgen zu den
aufgestellten Fallen. Mit einem ausrangierten Beil wurde der Schwanz
abgehackt und voller Stolz unserem Vater präsentiert. Vater warf dann die
Schwänze in ein Holzfeuer, wohl deshalb, damit wir nicht für
einen Rattenschwanz zweimal kassierten. Wer weiß, welche
Geschäftstüchtigkeit wir wohl entwickelt hätten. Als ich mir
später mein erstes Gebetbuch kaufte, mit echtem Goldschnitt und braunem
Ledereinband, da musste ich natürlich an meine Spardose gehen, und
sicher waren auch noch Rattenschwanzgroschen dabei. * Der Speicher dehnte sich über
den gesamten Wohnbereich aus, auch noch über die Waschküche und
den Arbeitsraum mit anschließender Schreinerwerkstatt. An manchen
kalten, unfreundlichen Wintertagen drehten wir Kinder hier oben sogar mit
dem Fahrrad unsere Runden. Über den Wohnräumen befand sich noch ein
Trockenspeicher. Dort stand ein alter, aber tadellos erhaltener
Billardtisch. Er stammte noch aus dem ehemaligen Schloss. Ferner hing ein
Messingkronleuchter für Kerzen in einer Ecke und ein paar dicke,
gesteppte Pferdedecken. Eines Tages beobachteten wir, wie
ein Zaunkönigpärchen durch eine Giebelluke ständig aus und
einflog. Sie trugen dabei Nistmaterial im Schnabel, planten also irgendwo
in dem Trockenraum eine Kinderstube. Bald entdeckten wir auch das
fast fertige, kugelige Nest in einer Messingschale des alten Leuchters.
Sie diente ursprünglich dazu, herunterlaufendes Wachs aufzufangen.
Jetzt, so fanden diese winzigen Tierchen, eignete sich dieser Platz
vorzüglich als Baustelle für ihr Nest. In den folgenden Wochen beobachteten
wir den Zaunkönig täglich, allerdings aus angemessener
Entfernung, um dieses kleine Völkchen nicht zu stören. Eines Tages
zeigte ein leises Piepen an, dass die Jungen geschlüpft waren. Emsig
schafften die Vogeleltern Futter herbei. Zwar bekam man die Brut in dem
kugeligen Nest mit der kleinen, kreisrunden Öffnung nie zu sehen, doch als
es nach ein paar Wochen still wurde, und keine Vögel im Giebel mehr ein-
und ausflogen, da wussten wir, dass die Kleinen flügge geworden
waren. Später begegneten wir der ganzen Familie manchmal
draußen im Garten und freuten uns an ihrem munteren Gezwitscher. Der Zaunkönig, neben dem
Goldhähnchen der kleinste Vogel hierzulande, verfügt
über eine erstaunlich kräftige Stimme. Man möchte dem winzigen
Kerl seinen melodischen Gesang kaum zutrauen. Nun fragten wir uns
natürlich, ob sie im nächsten Frühjahr wiederkommen und auf
unserem Trockenspeicher nisten würden. Zu unser aller Freude stellten sie
sich wieder ein. Dieses Mal bauten sie ihr Nest jedoch in eine der dicken Pferdedecken.
Mit dem kleinen, spitzen Schnabel zupften sie eine Öffnung, gerade
groß genug um ein- und ausschlüpfen zu können. Das
Nistmaterial fanden sie an Ort und Stelle, denn die Füllung der Decke
bestand aus einem Gemisch von Rosshaar und Wolle. Auch dieses Mal beobachteten wir ihr
emsiges Treiben bis zum Schlüpfen der Kleinen. Dass sie ihr altes
Nest nicht wieder benutzten, lässt mich vermuten, dass der Zaunkönig
in jedem Jahr einen 'Neubau' errichtet. Das ist eine runde Leistung,
betrachtet man seine Körpergröße. Doch nicht nur der Zaunkönig;
eine bunte Vogelvielfalt stellte sich im Frühling wieder ein und gesellte
sich zu denen, die den Winter über bei uns geblieben waren. An der
Futterstelle draußen konnte man feststellen, wer nicht in den
Süden zog. Merkwürdigerweise sahen wir nie einen Spatz. Sie scheinen
Dorfbewohner zu sein und einsam gelegene Höfe zu meiden. Im Schulort
gab es sie massenhaft. Man hörte beim Näherkommen schon von
weitem ihr Gezeter und Geschrei. Man möchte meinen, dass sie dauernd
Streit miteinander haben. An unserem Forsthaus waren die
Goldammern in der Überzahl und natürlich alle Meisenarten. Auch der
Dompfaff mit seinem herrlichen Federkleid gehörte zu den Gästen, und
in ganz harten Wintern, wenn es im Wald wirklich nichts zu finden gab, wagte
auch ein Eichelhäher oder eine Wildtaube sich an den Futterplatz.
Meist suchten sie jedoch die Wildfütterung auf, denn damals bot man den
Tieren kein maschinell vorbereitetes Trockenfutter an, das ganz sicher seine
Vorzüge hat und auf die speziellen Bedürfnisse der Tiere abgestimmt
ist. Damals verfütterte man Heu, Rüben, Kastanien und Eicheln. Nach dem langen Winter erwarteten
wir in jedem Jahr sehnsüchtig die Rückkehr der Schwalben.
Waren sie nach der langen, weiten Reise eines Morgens wieder zurück,
wussten wir, dass der Frühling nicht mehr weit sein konnte. Schwalben
führen ein Leben lang eine Einehe. Eine Schwalbe sucht sich nur dann einen
neuen Partner, wenn der alte auf irgendeine Weise ums Leben gekommen ist. War die Luft erst wieder
erfüllt von ihrem fröhlichen Gezwitscher, dann wurde einem wohler ums
Herz; während im Herbst einfach etwas fehlte, wenn sie in den Süden
gezogen waren. Schwalben könnte man fast zu den Haustieren
zählen, weil sie so zutraulich werden. In allen Ställen und Zweckräumen
befanden sich halbrunde Nester der Rauchschwalben. Ohne Scheu schauten
sie unserer Arbeit und unserem Treiben zu und segelten im Tiefflug über
die Köpfe hinweg. Etwas vorsichtiger waren da schon
die Mehlschwalben. Sie klebten ihre rundum geschlossenen Nester
buchstäblich an die Hauswände und ließen nur einen kleinen
Einschlupf frei. Es sah lustig aus, wenn später eines der Kleinen neugierig
den Kopf durch die Öffnung steckte. Fast in jedem Jahr kamen einige
Schwalbennester dazu. Die alten wurden zwar immer wieder ausgebessert
und bewohnt, aber hin und wieder fiel auch einmal eines durch Witterungseinflüsse
oder Altersschwäche herunter. Einmal fand ich beim letzten Haus im
Dorf ein Schwälbchen, das offensichtlich aus dem Nest gefallen war.
Vorsichtig transportierte ich es in der hohlen Hand nach Haus, ließ mir
eine Leiter bringen und setzte es zu Pflegeeltern ins Nest. Zu meiner
großen Freude wurde es problemlos mit den anderen gefüttert und auch
zur gleichen Zeit flügge. In witterungsbegünstigten Jahren
brüteten manche Schwalbenpärchen zweimal. Wenn der
Frühling zeitig kam und der Herbst lange mild blieb, war das keine
Seltenheit. * Die Eifel, in der unser Forsthaus
lag, ist bekanntlich ein Mittelgebirge. Mit achthundert Meter ist in der
näheren Umgebung der Michelsberg die höchste Erhebung. Seinen
Namen verdankt er wohl der alten Kirche, die fromme Gläubige zu Ehren des
hl. Michael erbauten. Zahlreiche Prozessionen aus Nah und Fern
pilgerten jeden Sommer zu dieser Gebetsstätte, um die Hilfe und den
Segen des großen Heiligen zu erbitten. Der Michaelstag wurde dabei
besonders feierlich begangen. Auch unsere Pfarrei zog jahrein,
jahraus, in festlicher Prozession, singend und betend zu dieser
Wallfahrtskirche. Dabei führte ihr Weg durch das
Tal einer Nachbarpfarrei, zu der der Michelsberg gehörte. Niemand
wusste im Nachhinein so recht, wer die Sitte oder Unsitte aufgebracht
hatte. Jedenfalls stimmten die Männer immer dann, wenn man durchs
benachbarte Kirchdorf zog, ein Lied an, in dem es hieß: "Hier in diesem
Jammertale, du erhörest Groß und Klein ...". Das mit 'diesem Jammertal' war
natürlich eine wenig christliche Hänselei. Die Betroffenen wiederum
versuchten zu kontern, indem sie ihren Kindern auftrugen, diesen
scheinheiligen Prozessionsgesang mit Zurufen, wie "Da kommt wieder das
Jammertal!" zu empfangen. Zugegeben, eine fromme Sitte war das
natürlich nicht. Aber sie reihte sich ein in die kleinen Rivalitäten,
die es auf dem Lande wohl auch heute noch gibt. Grundsätzlich pilgerte man
aber in guter Absicht, und ein jeder trug seine Anliegen auf den
Michelsberg. So kam es auch vor, dass
Bittprozessionen veranstaltet wurden, wenn wochenlang der Regen ausblieb,
und die Felder, von denen das leibliche Wohl der Landbevölkerung abhing,
zu verdorren drohten. Dabei soll es immer wieder Prozessionsteilnehmer
gegeben haben, deren Vertrauen zu diesem volksnahen Heiligen so
groß gewesen sei, dass sie trotz wolkenlosem Himmel und strahlendem
Sonnenschein bereits den Regenschirm zum hl. Michael mitnahmen. - Sage
einer, die Eifeler seien kein gläubiges Völkchen. Anfang Juni erwarteten wir Kinder in
jedem Jahr mit Spannung den Tag, an dem die Wiesen durch eine Auktion
versteigert wurden. Nachdem der Schweizer an Lungenentzündung verstorben
war und die Viehwirtschaft nicht das einbrachte, was man erwartet hatte,
wurden die Tiere verkauft und auch die Schweinezucht aufgegeben. Die Witwe
bezog in ihrem Heimatort einen Neubau und eröffnete dort ein
Kolonialwarengeschäft, von dessen Erträgen sie sich und die vier
Kinder ernähren konnte. Die vormals für unseren Gutsbetrieb
benötigten Wiesen konnten nun von den Bauern der umliegenden
Dörfer für die Heumahd gepachtet werden. Tage vorher, bevor die Versteigerung
stattfand, wurde die Tenne in der Scheune gesäubert und im Halbkreis
Bänke aufgestellt. Die Bauern schauten sich aber erst die
Wiesenstücke einmal an, die alle mit Nummern versehen waren. Manche
Bauern konnten etwas tiefer in die Tasche greifen und sich die besten
Wiesen leisten. Andere gaben sich mit weniger guten Erträgen zufrieden. Kam dann der besagte Tag, wurde der
Rentmeister mit der Kutsche abgeholt. Er leitete die Auktion im Beisein
von Vater und einem Kollegen. Das riesige schwarze Scheunentor wurde weit
geöffnet. Direkt dahinter standen Tisch und Stühle. Man nahm Platz,
und die Auktion konnte beginnen. "Losnummer eins: 'Bachwiese'.
Was wird geboten?" Um die guten Wiesen gab es oft ein
hartes Ringen. Immer wieder bot jemand mehr, bis es endlich hieß
"Zum ersten, zum zweiten, zum dritten Mal." Manche Bauern brachten
ihre Sense gleich mit, um noch am gleichen Tag zu mähen. Blieben am
Ende einige Wiesen unverkauft, waren es natürlich nicht die besten, und
Vater gab sie an jene ab, die einfach nichts bezahlen konnten. Auch auf Waldschneisen und an
Wegrändern konnten sie ihre einzige Kuh grasen lassen. Manche
kamen auch zum Distelstechen. Das kennt man heute wohl kaum noch. Bevor diese
Disteln ihren harten Stängel treiben, wurde mit einem alten Messer die
Rosette über dem Boden abgestochen. Für die Fütterung
übergoss man sie mit kochendem Wasser, damit die Stacheln weich und
genießbar für das Vieh wurden. Damals war das ein beliebtes Futter,
um die Milchproduktion zu steigern, und Vater war froh, wenn dieses
Unkraut aus den Wiesen verschwand. So schlug man zwei Fliegen mit einer Klappe. Ich erinnere mich, dass Vater
öfter Bedürftigen etwas zukommen ließ. Einmal war es eine Fuhre
Rüben, mal Astholz aus dem Wald, das nach dem Abtransport der
Stämme liegen blieb. Als einmal ein Holzarbeiter im Nachbarrevier von
einem fallenden Baum erschlagen wurde, und seine Frau mit zwei Kindern und eine
alte Oma hinterließ, versorgte Vater sie vor jedem Winter mit Brennholz
und Viehfutter. Diese Leute wiederum ließen es sich nicht nehmen, im
Winter schon um fünf Uhr in der Frühe im kleinen Wohnzimmerchen ein
Kanonenöfchen tüchtig einzuheizen, damit mein jüngerer
Bruder sich dort aufwärmen konnte. Er besuchte damals im Städtchen
das Gymnasium. Im Winter, bei Eis und Schnee, konnte er diese Schule nur mit
dem Postbus erreichen. Das hieß erst einmal ganz früh aus dem
Bett und dann eine halbe Stunde Fußmarsch bis zur Haltestelle im Ort. Wie
angenehm war es da, die kurze Wartezeit bis zur Abfahrt in einer warmen Stube
bei einer heißen Tasse Tee zu überbrücken. Es war übrigens
die alte Oma, die allmorgendlich für meinen Bruder sorgte. Ich sehe heute
noch ihre verarbeiteten, steifen, alten Hände vor mir, die am Ende nur
noch mit sehr viel Mühe stricken konnten. * Mit meiner letzten Schilderung habe
ich nun schon ein Stück Zukunft vorweggenommen. Ich muss also wieder
einen großen Schritt zurückgehen. Gibt es doch aus der
Kinderzeit noch einiges zu berichten. Grasauktion, das hieß Heuzeit,
und das wiederum bedeutete oft große Hitze. Juni, Juli, August, in diesen
heißen Sommermonaten konnte man schon ins Schwitzen geraten. War dann die
Sonne am Abendhimmel untergegangen, oft in den herrlichsten Farben, lag
über dem Hof noch eine wohltuende Temperatur. Die Pflastersteine im
Hof und die Haustreppe aus Bruchstein reflektierten noch lange die
aufgenommene Wärme des Tages. Ich saß dann oft auf den Treppenstufen
und wartete auf den hellen Abendstern oder den aufgehenden Mond. Renno lief
seine Runden und schnupperte überall herum, oder er gesellte sich zu
mir und ließ sich kraulen. Lag ich dann wenig später im Bett,
hörte ich meine Eltern noch einmal in den Garten gehen. Auch für sie
war der Feierabend angebrochen und die wohlverdiente Ruhe. Unter meinem Schlafzimmerfenster
stand eine alte, grüne Gartenbank. Darauf setzten sie sich nach dem
Rundgang oft noch ein Weilchen, um die Stille des Abends zu genießen und
zu horchen, wie die Natur schlafen ging. Ich hörte dann das
leise Murmeln der Unterhaltung unter meinem Fenster, und das vermittelte
eine unbeschreibliches Gefühl der Geborgenheit. An machen Abenden konnte man auch
ein vielstimmiges Froschkonzert erleben. Auf der anderen Seite der
Straße lag eine abgeholzte, sumpfige Fläche, die wieder bepflanzt
werden sollte. Der Nässe wegen war eine sogenannte Hügelpflanzung
geplant. Dafür werden Erdlöcher von einem halben Meter Tiefe
ausgehoben und diesen Aushub türmt man gleich nebenan zu einem kleinen
Hügel. Die Nässe sammelt sich dann in den so entstandenen
Gräben, und die jungen Pflänzchen stehen, zumindest für die
ersten Jahre, auf trockenem Boden. Mit den Jahren ebnen Wind und Wetter,
Pflanzen und fallende Nadeln die Erde wieder. In diesen, mit Wasser gefüllten
Löchern fanden aber erst einmal die Frösche ein wahres Eldorado.
Sie boten einen idealen Laichplatz. Kein Wunder also, dass sie in großen
Scharen den Platz bevölkerten. Am Tage hörte man sie kaum, da waren
sie wohl mit der Eiablage beschäftigt. Doch in der Dämmerung
ging es mit einem Mal schlagartig los. Wie beim Auftakt eines Dirigentenstabes
begann das einzigartige Froschkonzert, um genau so plötzlich nach
einer Weile wieder zu verstummen. Kein Nachzügler quakte hinterher.
Wie auf Kommando herrschte momentan Ruhe. Meine Mutter fragte dann am
nächsten Morgen, ob ich die 'Fröschtigallen' gehört habe. Diese
Bezeichnung leitete sie ab von den Nachtigallen, die es in unserer Region
leider nicht gab. Heute fallen mir noch spontan die 'Fröschtigallen'
meiner Kindheit ein, wenn ich wieder einmal Froschgequake höre. Doch der Abend hatte viele Stimmen.
Da gab es noch die Unken, deren 'Läuten' ich heute noch liebe. Sie
hausten in einer etwa fünfzig Zentimeter hohen Trockenmauer, die den
Blumengarten vom Gemüsegarten trennte. Manche Tiere werden am Abend erst
munter und beginnen mit der Jagd. Dazu gehören auch die Fledermäuse,
die im Zickzackflug ihre Beute fangen. Hin und wieder verirrte sich sogar eines
der Tiere in unserer Küche, wenn wir beim Schein der Petroleumlampe
beieinander saßen. Die Scheu vor diesen nützlichen Tieren hatte
Vater uns schon früh genommen. Wir wussten, dass sie in der
Insektenvertilgung unübertroffen sind. In zwei Räumen
überwinterten alljährlich Fledermäuse. Einmal in einer
dunklen Kellerecke, zum anderen in einem Raum, wo Kastanien für die
Wildfütterung lagerten. Aus nächster Nähe konnten wir sie
anschauen und sogar vorsichtig anfassen. "Alle Tiere sind schön und
haben eine wichtige Aufgabe", pflegte Vater zu sagen. So kam es, dass wir
Blindschleichen, Eidechsen, Salamander, Würmer, kurz alle Tiere ohne
Widerwillen anfassen konnten und schätzen lernten. Rückte der Johannistag
näher, kam die Zeit der Glühwürmchen. Unzählige dieser
Leuchtkäfer säumten in diesen Tagen den Weg, der die Bachwiese
entlang zu einem kleinen Weiher führte. In der Mitte dieses Weihers befand
sich eine kleine Insel, die mit zwei uralten Erlen und einigem Strauchwerk
bewachsen war. Zwischen den Erlen stand eine Bank, die man über einen Holzsteg
erreichen konnte. Einen romantischeren Platz gab es wohl kein zweites Mal.
Vor allem hatte sich mit den Jahren eine vielfältige Fauna hier
entwickelt. Es gab immer etwas zu schauen und zu erleben. Der Bach,
welcher sich durch das Wiesenthal schlängelte, floss durch diesen
Weiher hindurch und versorgte ihn mit klarem Wasser und Sauerstoff. So kam
es, dass auch Forellen prächtig gediehen, die Vater dort eingesetzt
hatte. * Die Bachwiese und der alte Weiher
waren auch gerne unser Ziel, wenn Gäste ins Haus kamen. An einem
Sommerabend also spazierten wir mit Onkel und Tante nach dem Abendessen noch
zum Weiher. Die Luft war mild und klar, ideal auch für die
Glühwürmchen. Auf dem Rückweg kam mir eine
Idee, wie ich unseren Gästen einen Schabernack spielen könnte.
In irgendeiner Tasche meiner Bekleidung führte ich immer eine leere
Streichholzschachtel bei mir. Sie diente auf meinen Streifzügen
durch die Natur dem Zweck, Marienkäfer zu sammeln und diese in unseren
Garten auszusetzen. Von Vater wussten wir um die Nützlichkeit der kleinen
Käfer bei der Vertilgung von Blattläusen. An diesem Abend aber
sammelte ich in meine Streichholzschachtel Glühwürmchen und nahm sie
unbemerkt mit ins Haus. Wenige Zeit später, als Onkel und Tante zu
Bett gegangen waren, schlich ich mich leise zur Schlafzimmertür,
öffnete sie einen Spalt, und ließ diese Tierchen im Zimmer frei. Sie
verfehlten ihre Wirkung nicht. Onkel und Tante sahen plötzlich viele
kleine Funken vor den Augen, und ich weiß nicht mehr, ob sie
anschließend eine ruhige Nacht verbrachten. Das blieb nicht der einzige Streich,
den ich Onkel spielte. Als ich einmal die Schulferien bei ihnen verbrachte, bot
sich mir wieder so eine Gelegenheit. Im Schreibzimmer des Onkels hing eine
alte, interessante Uhr. Man konnte sie mit einem Schlüssel aufziehen, doch
schien sie schon seit Jahren nicht mehr zu funktionieren. Wahrscheinlich
bewahrheitete sich an ihr der weise Spruch 'Wer rastet, der rostet'. Drehte man den Schlüssel einige
Male um, gab sie ein ganz müdes Ticken von sich, machte Pause, um dann, in
immer größer werdenden Abständen stotternd, hin und wieder
ein wenig weiterzugehen. Das Besondere an dieser Uhr war jedoch, dass sie die
Funktion eines Weckers haben konnte. Nicht etwa, dass sie zur eingestellten
Zeit ein schrilles Läuten von sich gab. Es setzte sich vielmehr
eine Spieluhr in Bewegung, die schön melodisch eine Arie aus Carmen
intonierte. Ich stellte also diesen 'Wecker' auf zwei Uhr in der Nacht, zog die
Uhr kräftig auf und wartete gespannt auf das, was da kommen würde. Irgendwann, als ich Onkel und Tante
im ersten Tiefschlaf wähnte, schlich ich mich leise zu ihrer
Schlafzimmertür, um sie einen Spalt zu öffnen. Die Uhr hing gleich
neben dieser Tür. Mein Plan konnte kaum misslingen. Auch meine Zimmertür
blieb einen Spalt offen, damit ich auch nichts verpasste. Vielleicht war es den beiden schon
beim Zubettgehen aufgefallen, dass ich die Uhr aufgezogen hatte. Dass aber auch
die Spieluhr aufgezogen und eingeschaltet war, ahnten sie nicht.
Pünktlich um zwei Uhr in der Nacht tönte dann in die nächtliche
Stille die Weise 'Die Liebe vom Zigeuner stammt ...' usw. Im Nebenzimmer wurde es unruhig. Ich
hatte genau das erreicht, was ich mir vorgestellt hatte. Doch nicht genug mit
diesem einmaligen Wecken aus dem ersten Tiefschlaf. Uhr und Spielwerk
ließen sich nicht abstellen. Einmal aufgezogen, musste man sich
den Spaß bis zur Neige anhören. Das bedeutete in diesem
Falle, dass in immer länger werdenden Abständen die Spieluhr
eine Tonfolge und am Ende nur ein paar Töne von sich gab. Bis sechs
Uhr in der Früh muss dieser Spuk gedauert haben. Ich lag zu dieser Zeit in
tiefem Schlaf. Am nächsten Morgen setzte ich
mich erst an den Frühstückstisch, als mein Onkel zum Dienst war. Bis
zu seiner Heimkehr, so hoffte ich, war der Ärger wohl schon etwas
verpufft. Von Tante bekam ich natürlich einiges zu hören, aber das
war mir der Spaß wert. Der Schlüssel für die Uhr wurde seitdem
unter Verschluss gehalten. Besagter Onkel besuchte uns in jedem
Herbst einige Wochen, um Vater beim Abschuss von Kahlwild zu helfen. War die
Hirschbrunft vorbei, stand eine bestimmte Anzahl Wild auf der Abschussliste, um
den Bestand gesund und im richtigen Gleichgewicht zu halten. Vater jedoch hatte
mehr Freude an der Hege als am Schießen, und so wurde Onkels Besuch um
diese Zeit obligatorisch. Der wiederum freute sich, eine Gelegenheit zu
haben, sich jagdlich zu betätigen. Nun kannten wir Kinder den Onkel
eigentlich nur mit Schlips und Kragen. Er legte sehr viel Wert auf sein
Äußeres, was keineswegs ein Fehler ist. Wir kannten ihn also nur mit
Bügelfalte. Diese Bekleidung eignete sich
für die Jagd natürlich absolut nicht. So kam es, dass wir Onkel
einmal nicht in langer Hose, sondern in einer Art Kniebundhose und
Sportstrümpfen sahen. Vater trug alle Tage solche Bekleidung. Das war
nichts besonderes. Doch seine Beine, vor allem die Waden boten einen ganz
anderen Anblick als Onkels dünnes Gebein. Jedenfalls muss ich eines Tages
den beiden ungleichen Gestalten entsetzt nachgeschaut und ausgerufen
haben: "Onkel, willst Du mit den
Beinen auf die Straße gehen?!" Kamen sie von der Jagd nach Haus,
tranken sie jedes mal ein Schnäpschen, ganz gleich ob Diana hold
gewesen war oder nicht. Zu diesem Zweck brachte Onkel immer je eine Flasche
Zwetschgen- und Kirschwasser mit. Diese reichten meist genau für
eine Jagdperiode. An ihren Mienen glaubte ich zu erkennen, dass dieser
Flascheninhalt, der wie Wasser aussah, ganz famos schmecken musste. So konnte
es nicht ausbleiben, dass ich in einem unbewachten Augenblick einmal eine
Flasche an den Mund setzte. Wenigstens probieren wollte ich. Bei dieser einen
Probe ist es dann geblieben. Ich bin nie ein Freund von Alkohol geworden. * Meine Eltern besaßen bei ihrem
Heimatort am Rhein noch einen oder zwei Weinberge, deren Trauben von meinem
Vetter in jedem Herbst zur Erntezeit gelesen wurden. Dafür erhielten wir
regelmäßig ein Fässchen Wein. Der verbleibende Rest wurde
verrechnet. So lagerte in unserem Keller immer ein kleiner Weinvorrat, der
es ermöglichte, unsere Gäste zu bewirten. Wer meinen Vater kannte,
der schätzte auch seinen Wein. Wieder einmal hatte Josef ein
Fässchen mit der Kutsche von der Bahnstation abgeholt, und Vater
schickte sich an, den angelieferten Wein in Flaschen abzufüllen. Die
leeren Flaschen kamen in einen großen Bottich mit Wasser und wurden mit
Bürsten sorgfältig gesäubert. Im Anschluss daran zündete
Vater Schwefelstreifen an, um die Flaschen zu sterilisieren. Bei dieser
Tätigkeit mochte einem manchmal die Luft zum Atmen wegbleiben. Noch
heute steckt mir der Schwefelgeruch in der Nase. Mutter bereitete indes
die Korken vor, die ja auch keimfrei sein mussten. Dann kam der große
Augenblick des Anstichs. Ein kleiner Holzhahn wurde in das Fass geschlagen
und das Abfüllen begann. Wir Kinder machten uns
nützlich, indem wir die Flaschen anreichten, die Korken in die
dafür konstruierte Maschine legten und dann die verschlossenen Flaschen
ordentlich ins Regal lagerten. Damit nicht einer dieser wertvollen Tropfen
verloren ging, wurden sie unter dem Abfüllhahn in einem Eimerchen
aufgefangen. Irgendwann unterbrach Vater diese
Tätigkeit und ging für kurze Zeit nach oben. Meine Schwester
blieb derweil im Keller zurück und setzte in diesem unbewachten
Augenblick besagtes Eimerchen an den Mund. Als sie nach einer Weile nach oben
kam, fiel uns auf, wie seltsam sie sich verhielt. Bäuchlings legte
sie sich über einen Stuhl, strampelte mit den Beinen und wollte nicht mehr
aufhören mit Lachen. Als ihr dann übel wurde, und sie das Innerste
nach außen kehrte, da wusste Mutter was passiert war und steckte sie
schleunigst ins Bett. Hinterher erzählte meine Schwester, wie das
Bett und das ganze Zimmer sich mit ihr im Kreis gedreht hatte. Es war wohl der
erste, unfreiwillige Rausch ihres Lebens. Ich habe das zum Glück nie
erlebt, ich war ja gewarnt. So gut konnte kein Alkohol schmecken, dass ich
diesen elenden Zustand riskierte. In manchen Jahren fuhr mein Vater
nach der Traubenlese an den Rhein um den 'Federweißen' zu probieren. Das
ist der noch nicht ausgegorene, trübe Wein. Er entsteht, wenn Most in
Säure übergeht. Für diesen Abstecher benutzte
Vater meist sein Fahrrad. Damit konnte man das Ahrtal entlang in vier Stunden
die Fähre am Rhein erreichen. Der Rückweg wurde allerdings
mühsamer, weil es ständig bergauf ging. Also verfrachtete er das
Rad in den Zug und fuhr so weit wie möglich mit der Eisenbahn. Die letzte Wegstrecke legte er
wieder mit dem Fahrrad zurück. In seinem Rucksack befanden sich immer
einige Flaschen 'Federweißen'. Dabei passierte es einmal, dass sich
ein Korken löste und der Flascheninhalt auslief. Wahrscheinlich waren
die Flaschen zu sehr geschüttelt worden. Vaters Anzug hat diesen
heimtückischen Federweißen nicht vertragen. Er war für alle
Zeit verdorben. Das war insofern besonders ärgerlich, weil er dieses
gute Stück erst wenige Wochen vorher gekauft hatte. Es mag sein, dass mancher Gast auch
des guten Weines wegen den Weg zu uns fand. Sicher ließ es sich dabei gut
plaudern. Bei solchen Anlässen mischte ich mich gerne als Zuhörer
unter die Erwachsenen. Später, bei der Verabschiedung der Gäste,
wurden diese noch bis vor das Hoftor begleitet. Man sprach noch ein paar Worte,
um dann endgültig den Heimweg anzutreten. Bei einer solchen Gelegenheit
passierte es einmal, dass wir noch vor dem Hoftor standen und mit dem
Herrn Pastor die letzten Worte wechselten. Da hob unser Dackel in fast gotteslästerlicher
Weise plötzlich das Bein, und etwas Warmes lief Hochwürden in die
Schuhe. Der Himmel wird es auch nicht
gewusst haben, was ihn zu diesem Frevel bewogen hat. Meine Mutter
wäre am liebsten in den Boden versunken. Sie entschuldigte sich ein um
das andere Mal, obwohl das eigentlich die Angelegenheit unseres Dackels
war. Hochwürden blieb nichts weiter übrig, als dieses Fußbad
mit auf den Heimweg zu nehmen. Es war nun mal nicht zu ändern. * Besonders willkommen war uns allen
ein Onkel aus Köln. Durch seinen Schneiderberuf arbeitete er Tag
für Tag in den vier Wänden seiner Werkstatt. Kein Wunder also,
dass ihm ab und zu nach frischer Waldluft zumute war. Zwischen zwei
Aufträgen blieben manchmal zwei, drei Tage Zeit, in denen er sich auf den
Weg zum Forsthaus machte. Unangemeldet tauchte er dann um die Mittagszeit bei
uns auf. Den Weg von der Posthaltestelle legte er zu Fuß
zurück. Meine Mutter machte um diese Zeit
ihren geliebten Mittagsschlaf, während die Hausgehilfin spülte
und die Küche in Ordnung brachte. Nach einer Stunde der Ruhe tauchte
Mutter wieder auf, meist mit roten Schlafbäckchen, und ging daran, den
Nachmittagskaffee herzurichten. Sie hatte also noch keine Ahnung, dass Besuch
gekommen war, und dieser hatte den Finger an die Lippen gelegt und uns
signalisiert 'Pst, nicht verraten!' Er hatte in Vaters Sessel Platz genommen,
vergrub sich hinter der großen Tageszeitung, in die er vorher ein Loch
gemacht hatte. So harrte er der Dinge, die da kommen würden. Mutter erschien wie gewohnt, und wir
gaben uns alle Mühe, ein möglichst unauffälliges Verhalten
an den Tag zu legen. Sie ging an Onkel vorbei in die Speisekammer, lief hin und
her, deckte den Tisch, setzte Wasser für den Kaffee auf den Herd,
immer an Onkel vorbei. Sie glaubte sicher, Vater würde im Sessel sitzen. Plötzlich fiel ihr Blick auf
die Schuhe. Sie stutzte. Das waren nicht Vaters Schuhe und beim
nächsten Hinsehen auch nicht Vaters Hosenbeine. Mein Onkel, der durch das
Loch in der Zeitung alles beobachtet hatte, konnte nun nicht mehr an sich
halten. Er gab sich zu erkennen, und so kam es endlich zur
Begrüßung. Wir nannten ihn den 'Lieblingsonkel', denn immer war er
zu Späßen aufgelegt. Mit ihm wurden es stets lustige Tage.
Bei seinem Besuch kam auch der alte Billardtisch auf dem Speicher noch einmal
zu Ehren. Er brachte meinem Bruder das Billardspielen bei. Die wenigen Tage nutzend, machte er
gerne Spaziergänge, und Ami begleitete ihn dabei. Einmal
führte sein Weg einen Pirschpfad am Rande einer dichten Tannenschonung
entlang. Von der Wiese aus war dieser Pfad nicht zu sehen. Die Äste
reichten bis zum Boden. Ami lief meist ein Stück voraus. Man brauchte ihn
nicht an der Leine zu führen, denn er parierte aufs Wort. Plötzlich kam der Hund, so
schnell es seine kurzen Beine erlaubten, zurückgerannt und
hinter ihm her eine Wildsau. Blitzschnell überlegte mein Onkel, wie er dem
Unheil in dem dichten Unterholz ausweichen könne, denn der Hund suchte
offensichtlich bei ihm Schutz. Im letzten Moment konnte er an einem
stärkeren Ast hochklettern und sich in Sicherheit bringen. Die Sau aber
ließ von dem Hund ab, als sie des Mannes ansichtig wurde.
Wahrscheinlich war es eine Bache mit Frischlingen, die Ami da aufgestöbert
hatte. Ins Forsthaus zurückgekehrt,
ließ Onkel sich erst einmal in den Sessel fallen. Der Schreck
steckte ihm noch in den Gliedern. Erst nach einer Verschnaufpause
erzählte er in allen Einzelheiten, was er erlebt hatte. Ami legte
sich derweil unter den Küchenherd, um diesen Schrecken zu vergessen. Als
er nach einer Weile im Traum leise "wuh, wuh" machte, waren wir
überzeugt, dass die Sau wieder hinter ihm her war. Wer den Schaden hat, braucht
bekanntlich für den Spott nicht zu sorgen. So zeichnete Vater
später diese nicht alltägliche Szene mit viel Liebe und Ironie und
schenkte dieses Werk meinem Onkel zu Weihnachten. Wie wir erfuhren, hat es
ihm große Freude bereitet. Solche und ähnliche Ereignisse
mit Gästen, Beobachtungen in der Natur und die rege Tätigkeit an Haus
und Hof ließen nie Langeweile aufkommen. Außerdem
entdeckte ich die Welt der Bücher. Sie wurden mit der Zeit meine besten
Freunde. * Über mehrere Jahre betreute ich
an Sonntagen die Borromäus-Bibliothek im Pfarrhaus. Das hieß
früh aufstehen, die erste Messe um acht Uhr besuchen um anschließend
etwa eineinhalb Stunden lang Bücher zu tauschen, zu registrieren oder
auch anzumahnen. Dass ich mich dabei selber mit Lesestoff versorgte, war
selbstverständlich. Am Ende gab es nur noch wenige Bücher, die ich
nicht 'verschlungen' hatte. Ich war auf das Lesen angewiesen, um
meinen Wissensdurst zu stillen. Die Dorfschule konnte nur das Grundwissen
vermitteln, und vom Besuch einer höheren Schule war nicht die Rede, ganz
einfach, weil keine Möglichkeit bestand, wenn man so weit vom Schuss
wohnte. Es wurden zwar Überlegungen angestellt, doch wäre dann
der Aufenthalt in einem Internat notwendig geworden. Das aber war teuer
und auch nicht in meinem Sinne. Also bekam ich erst einmal die
Möglichkeit, das Klavierspiel zu erlernen. Durch die Vermittlung unseres Pastors
fuhren meine Eltern, mit dem Organisten unserer Kirche als Fachberater,
nach Bonn, wo ein gebrauchtes, aber gutes Instrument angeboten wurde. Es stand
im Haus eines Musikprofessors, dessen Sohn tödlich verunglückt war.
Nun wollten die geprüften Eltern nicht ständig durch das Klavier an
den einzigen Jungen erinnert werden. So kam es nach kurzer Zeit in unseren
Besitz. Jeder, der etwas von Klavieren verstand, bestätigte uns, dass es
einen guten Klang hatte. Mit dem besagten Organisten wurden
wöchentlich zwei Stunden vereinbart. Damit begann für mich eine
neue Beschäftigung, die ich im Laufe der Zeit sehr lieb gewann. Lagen erst einmal die Anfänge
der Läufe und Etüden hinter mir, wurde die Sache immer interessanter.
Als nach etwa zwei Jahren mein Lehrbuch durchgearbeitet war, gab ich
die wöchentlichen Stunden auf und arbeitete in eigener Regie weiter,
so gut dies ging. Für den Hausgebrauch reicht meine Kunst. Mein allererstes Musikinstrument war
übrigens eine Mundharmonika. Mutter brachte sie von einer Reise mit. Nie
kam sie mit leeren Händen nach Haus. Ich kurierte damals gerade eine
Mandelentzündung und lag mit Halswickel zu Bett. Die Mandeln waren meine
einzige Schwachstelle. Viele Jahre später wurden sie operativ
entfernt. Jetzt aber hatte ich Muße, unter der Bettdecke meine
ersten Übungen auf der Mundharmonika zu versuchen. Bereits als Mutter
mir das Abendessen brachte, konnte ich zu ihrem Erstaunen das Lied vom lustigen
Zigeunerleben vorspielen. Schon zum nächsten Weihnachtsfest brachte mir
das Christkind eine doppelseitige Hohner-Mundharmonika. Sie gehörte ab
sofort zu meinen Schätzen. Wenn ein Schulausflug geplant war,
brachte ich mein Instrument mit und begleitete die Wanderlieder
musikalisch. Einmal passierte es, dass ich am Abend die Harmonika nicht fand.
Alles Suchen blieb erfolglos. Ich musste wohl oder übel ohne sie zu Bett
gehen. In der Nacht sah ich sie im Traum direkt vor mir liegen, an einer
Stelle, an der ich tags zuvor nicht nachgeschaut hatte. Mein erster Weg am Morgen
war zu dieser Stelle, und oh Wunder, meine Mundharmonika lag
tatsächlich dort. Für mich blieb dieses Ereignis ein Phänomen.
Wahrscheinlich spielte das Unterbewusstsein dabei eine Rolle. Musikübertragungen waren damals
noch eine Seltenheit. Der Radioempfang steckte noch in den Kinderschuhen.
Einer meiner Onkel, Beamter bei der Post, brachte anlässlich eines Besuches
zwar eines Tages ein Radio mit, der Empfang war aber so jämmerlich,
dass man wirklich nicht von Musikgenuss reden konnte. Auf einem Sockel standen
einige Röhren und Spulen, etliche Drähte und Schrauben
vervollständigten den Wirrwarr. Eine Verkleidung gab es nicht. Da wir
damals noch nicht ans Stromnetz angeschlossen waren, musste der Betriebsstrom
einem Akku entnommen werden. Natürlich war immer dann, wenn einmal
etwas Interessantes gesendet werden sollte, der Akku leer. Im weiten
Umkreis gab es nur eine einzige Auflademöglichkeit. Dafür machte
Josef mit dem Fahrrad abends auf der Heimfahrt einen kleinen Umweg und brachte
ihn am nächsten Morgen wieder mit. Außerdem besaßen wir
einen Plattenspieler, ein schwerer quadratischer Kasten mit echtem Holzfurnier.
Klappte man den Deckel hoch, konnte man eine Kurbel entnehmen, die durch Aussparung
dort eingepasst und mit Klammern gehalten wurde. Seitlich integriert,
befanden sich zwei kleine Fächer. Eines enthielt die ungebrauchten Nadeln,
das andere nahm durch einen Schlitz, ähnlich einer Spardose, die
verbrauchten Abspielnadeln auf. So war eine Verwechslung unmöglich.
Nach jedem Abspielen sollte die Nadel erneuert werden, damit die Platten nicht
verkratzten. Unser Repertoire war nicht
groß. Ein paar Volkslieder, etwas Unterhaltungsmusik und eine
'Lachplatte'. Auf ihr blies ein Trompeter immer wieder falsche Töne,
die das Publikum erst vereinzelt, dann immer stärker zum Lachen anregten. Mit dieser Platte und dem
Plattenspieler natürlich, verzogen wir uns an dem Tag, an dem ein Schwein
geschlachtet wurde, in den äußersten Winkel des Hauses. Hier
stellten wir den Apparat recht laut und erreichten so, dass wir nicht
einen Laut von der Schlachtprozedur mitbekamen. Heute scheint es mir etwas
makaber, dass gerade lautes Gelächter dies alles übertönen
sollte. Eine geeignetere Geräuschkulisse fand sich aber nicht. Wir
konnten ja nicht einfach alle das Haus verlassen. Vater nahm an diesem Tage
Proviant im Rucksack mit und kam erst abends heim, wenn der Metzger die Sau
schon fertig zerlegt und die Teile an den Sprossen einer Leiter mit Krampen
aufgehängt hatte. Sie musste über Nacht auskühlen. Geschlachtet
wurde ohnedies nur im Winter. Abgesehen von der Möglichkeit, auch
einmal einen Reh-, Sau- oder Hirschbraten zu bekommen, reichte der Vorrat
von zwei Schweinen für ein ganzes Jahr. Was nicht im Rauchfang
haltbar gemacht werden konnte, das sterilisierte Mutter in Gläsern.
Man konnte ja nicht schnell einmal zum Metzger gehen. Hatte Josef mit der Kutsche eine
Besorgung im Städtchen zu machen, brachte er manchmal frischen Kochfisch
mit. Das war eine beliebte Bereicherung unserer Speisekarte. Vorratswirtschaft wurde zu Hause
stets betrieben. Nicht nur Fleisch und Wurst verschiedenster Sorten, auch
Gemüse und Obst wanderte in Gläser, ganz zu schweigen von
Marmelade und Gelee. So kam Mutter nie in Verlegenheit. Es konnte auch
unangemeldeter Besuch ins Haus kommen. Wenn nach den langen Fastenwochen,
die damals noch ernsthaft zu spürbarer Enthaltsamkeit anregten, am
Karsamstag der obligate Osterschinken angeschnitten wurde, rief Vater
der Mutter in die Speisekammer nach: "Nun pfeif aber auch!" Das
sollte heißen, wer pfeift, kann nicht gleichzeitig naschen. * In den Wochen vor Ostern ging
draußen im Wald auch langsam der Holzeinschlag zu Ende. Vater war
dann tagelang mit dem Vorarbeiter unterwegs, um das gefällte Holz zu
vermessen, damit die Löhne errechnet werden konnten. Diese Arbeit
wurde nach Leistung bezahlt. Ein gutes, fleißiges Team konnte also mehr
verdienen als ein weniger emsiges. Darum war es den Arbeitern auch nicht
egal, mit wem sie zusammen eingeteilt wurden. Ein Faulpelz konnte empfindlich
spürbar die Löhne verderben. Damit Vater durch den Nachhauseweg
am Mittag nicht kostbare Zeit verlor, sollten wir Kinder das Essen in den Wald
bringen. Ein kräftiger Eintopf eignete sich dafür am besten,
zumal, wenn aus der letzten Schlachtung noch Pökelfleisch zur
Verfügung stand. Ich erinnere mich, dass sich im Essgeschirr, das Mutter
mir in einen Korb gestellt hatte, Grünkohleintopf befand. Damals
waren Grünkohl und Spinat absolut nicht nach meinem Geschmack. Doch bei
Vater war das anders. Am vereinbarten Platz wartete er schon auf uns und
gab sich mit Appetit an seine Mahlzeit. Natürlich war die Portion
viel zu groß. Seiner Aufforderung, den Rest mit meinem Bruder zu teilen,
stand ich erst etwas skeptisch gegenüber, aber probieren konnte
ich ja. Am Ende fand ich, dass es wunderbar schmeckte. In der freien
Natur schmeckt eben alles anders und viel besser als zu Hause. Seit diesem
Tag gehörte grünes Gemüse zu meinen Lieblingsspeisen. Ob
das eine abgekartete Sache war? - Wer weiß. * Zur Hege und Pflege des Waldes
gehörte es auch, dass Vater Pflanzgärten anlegte und den
notwendigen Nachwuchs heranzog, um damit im Bedarfsfall die abgeholzten
Flächen aufzuforsten. Das dazu erforderliche Saatgut wurde aus
den eigenen Wäldern beschafft. Mit Steigeisen ausgerüstet,
erkletterten geschickte junge Arbeiter besonders gut gewachsene und gesunde
Bäume, um Tannen- und Kiefernzapfen zu sammeln. In eigens dafür
vorbereitetem Boden säte man den Samen in exakte Reihen aus. Mädchen
und Frauen hielten den Pflanzgarten sauber und jäteten das Unkraut,
damit sich die zarten Pflänzchen gut entwickelten. In jedem Jahr wurden sie vorsichtig
aus der Erde genommen und an anderer, vorbereiteter Stelle wieder eingepflanzt.
'Verschulen' nannte man das. So schossen die Sämlinge nicht schmal und
schwach in die Höhe, sondern wurden durch den Wachstumsstop
kräftig und vital. Nach viermaligem Verschulen konnten die Pflanzen
für die Aufforstung benutzt werden. Sicher war es ein Vorteil, dass
Samen von Bäumen gesammelt wurden, die im heimatlichen Klima über
Jahrzehnte gesund und kräftig herangewachsen und nicht aus einer
Gegend mit völlig anderen und fremden Wachstumsbedingungen stammten.
Ich könnte mir vorstellen, dass Pflanzgut, welches in der Niederrheinischen
Tiefebene gezüchtet wurde, in den Gebirgen und Mittelgebirgen nur schwer
gedeiht. Von den Holzarbeitern gibt es noch
eine nette Episode zu berichten. Selbstverständlich war, dass am
Vormittag erst einmal ein Feuer angezündet wurde. Daran konnte man
die Kaffeeflasche aus Aluminium und auch zwischendurch die eiskalten Hände
wärmen. Um die Mittagszeit stellten sie die mitgebrachten Essgeschirre in
die Glut und suchten sich in der Nähe des Feuers einen geeigneten
Ruheplatz. Nach der Mahlzeit machte man auch
einmal ein Nickerchen. An freundlichen Tagen wärmte sogar die Sonne noch
etwas. Einer dieser Waldarbeiter trug nun
schon tagein, tagaus eine Schirmmütze aus langhaarigem Filz. Der
Schirm sah schon ganz abgegriffen aus, und die Mütze hatte einige
Löcher, durch welche die Haare herausschauten. Während er nun nach dem Essen
gegen einen Baum gelehnt saß, beobachteten seine Kollegen, wie ein
Meischen sich auf die Mütze setzte, heftig etwas Wolle abzupfte und
damit verschwand. Immer wieder kam es zurück, sicherte auf einem Ast,
setzte sich dann auf die Mütze und flog mit der ausgezupften Wolle im
Schnabel davon. Ganz sicher befand sich in der Nähe ein Nest. Es hatte
eben noch das Polstermaterial gefehlt. Außer den Arbeitern, die unter
Vaters Regie tätig waren, gab es noch einen alten Wegarbeiter, der von der
Gemeinde angestellt war. Seine Aufgabe bestand darin, die
Straßenränder zu bearbeiten und die Gräben offen zu
halten. Wuchs das Gras zu weit in die Straße hinein, wurde es
seitlich abgeschlagen und mit einer Hacke die Sode (Rasendecke)
abgeschält. Irgendwann erschien dann ein Fahrzeug, das die so entstandenen
Grashügel und den Aushub aus den Gräben abtransportierte. Seit vielen Jahren schon ging der
Mann dieser Arbeit nach und war darüber alt und grau geworden.
Nie sah man ihn ohne seine halblange krumme Pfeife, deren Farbe schwer zu
bestimmen war. Ursprünglich muss dieser Meerschaumkopf einmal
weiß gewesen sein. Damit ihm die Pfeife nicht aus dem Mund fiel, steckte
auf dem Mundstück ein Gummiring, der von einem Bierflaschenverschluss
stammte. Die Zähne waren dem guten alten Mann mit der Zeit alle ausgefallen,
und mit den 'Bällerchen', wie man im Volksmund zu zahnlosen Kiefern
sagt, mit dem Zahnfleisch konnte er die Pfeife nicht halten. Dritte Zähne
kannte man auf dem Lande nicht; zumindest nicht in diesen Kreisen. Rückte dieser Arbeiter bei
seiner Tätigkeit dem Forsthaus immer näher, hatten wir Kinder wieder
eine neue Abwechslung. In der Unterhaltung konnte er zwar recht einsilbig sein;
wann traf er auch schon auf Menschen, mit denen er reden konnte? Die
Landstraßen waren damals noch einsam und leer. Auch er entzündete alle Tage
ein Feuer für seinen Kaffee und das Mittagessen. War der Arbeitstag
zu Ende, deckte er die Glut sorgfältig mit Erde ab, damit kein Waldbrand
entstehen konnte und machte sich auf den Heimweg. Wir warteten dann auf den
Augenblick, wo er im Wald verschwand, entfernten die Erde von der
Feuerstelle, entfachten sie neu und legten nach einer Weile Kartoffeln in
die Glut. Die hatten wir schon vorher aus dem Keller geholt und hinter einem
Baum versteckt. Manchmal rief Mutter zum Abendessen, bevor die Kartoffeln
gar waren. Dann baten wir um etwas Aufschub und fanden dafür auch
Verständnis. Nur war es hinterher mit dem Appetit nicht mehr weit her. Wir
hatten unser Abendessen eigentlich schon hinter uns. Natürlich wurde die
Glut wieder mit Erde abgedeckt, wie wir es vorher angetroffen hatten. * Damals gab es in unseren Regionen
noch keine Asphaltstraßen. Doch mit zunehmender Motorisierung begann
man allmählich die wichtigsten Strecken auszubauen. Wo ein Postbus die
Verbindung zu Stadt und Eisenbahn herstellte, begann man mit dieser
Sanierung. Es dauerte einige Jahre, bis auch auf unserer Nebenstrecke mit dem
Ausbau begonnen wurde. Die Vermessungsarbeiten hatten wir schon
beobachtet. Jetzt kamen eines Tages Lastwagen und brachten
Bruchsteine, Grauwacken und Schiefergestein. Diese Gesteinsarten sind in der
Eifel beheimatet. So bedurfte es keiner langen Anfahrten. Natürlich
lieferte man das Gestein in dicken Brocken an, um sie entlang der Straße
aufzukippen. Im nächsten Arbeitsgang mussten diese mit einem schweren
Vorschlaghammer erst grob und anschließend mit einem Steinhammer zu
etwa fünf bis acht Zentimeter großen Stücken zerschlagen werden.
Diese Steine wurden für den Unterbau der Straße benutzt. Steine klopfen,
wie man es nannte, war zwar keine begehrte Arbeit, aber wer fragte damals schon
danach. Heute sorgen Steinmühlen für die richtige Körnung,
und Maschinen schaffen an einem Tag mehr Kilometer Straßendecke, als
die Straßenarbeiter damals in einer ganzen Woche. Wir Kinder
'halfen' natürlich beim Steine klopfen, doch suchten wir uns den Schiefer
heraus. Der spaltete sich leichter. Waren die Vorarbeiten getan und die
Teermaschine und die Dampfwalze rückten an, dann wurde es wieder
interessant. Ein solches Ungetüm war uns noch nie begegnet. Ich
durfte einmal oben in der Maschine sitzen und einige Mal mit hin- und
zurückfahren. Das war aufregend. Auf der neuen Straßendecke
lief das Fahrrad natürlich wesentlich besser als vorher auf dem Schotter.
Das Fahren machte eigentlich jetzt erst richtig Spaß, Ich nahm oft einen
Umweg in Kauf, wenn ich ins Dorf musste, zumal, wenn außer der Schule am
Vormittag auch sonst irgend etwas anlag. Vater bekam damals statt des
Fahrrades ein Zweirad mit Hilfsmotor. Ein 'Moped' würde man heute sagen.
Heimlich probierten wir Kinder es auch damit und kamen uns dabei sehr wichtig
vor. Auf den unbelebten Straßen konnte eigentlich nichts passieren. Und
doch wurde Vater einmal in einen Unfall verwickelt. Auf dem Weg in die Stadt kam ihm in
einem Dorf ein Ochsenfuhrwerk entgegen. Die Tiere trabten
bedächtig heimwärts, und der Bauer saß auf dem Wagen und
döste vor sich hin. Die enge Straße wurde von dem Ochsengespann
fast ausgefüllt, und Vater musste versuchen, seitlich auszuweichen.
Dort befand sich aber ein Drahtzaun, und so blieb nur noch der Rinnstein
oder die 'Gosse', wie wir sagten. Diese war vor dem Hauseingang überbrückt
durch einen Steg, unter dem ein Rohr hergeführt war. Vater stieß mit
seinem Moped gegen dieses Hindernis und stürzte so unglücklich, dass
der Drahtzaun ihm fast das Ohr abriss. Ein sofort herbeigerufener Krankenwagen
brachte ihn zum nächsten Krankenhaus. Hier stellte sich heraus,
dass die Halsschlagader beschädigt war. Bei der Operation kam es zu einer
starken Blutung. Wir dachten später oft mit Schaudern daran, was
hätte passieren können, wenn Vater nicht sofort in ärztliche
Obhut gekommen wäre. Mutter weilte zu dieser Zeit am
Rhein bei ihren Geschwistern. Wo wir Vater mittlerweile gut versorgt
wussten, wollten wir sie durch einen Anruf nicht beunruhigen, zumal sie am
nächsten Tag wieder zu Hause erwartet wurde. Später erzählte sie von
einem merkwürdigen Traum. Sie hatte ein Kruzifix vor sich gesehen und
hinter dem Ohr des Korpus hatte sie Blut herunterlaufen sehen. Da sie von
dem Unfall absolut nichts wissen konnte, blieb dieser Traum für uns immer
ein großes Rätsel. Ihren Geschwistern erzählte sie am
Morgen ihren Traum und trat sehr beunruhigt die Heimreise an. Einer von Vaters Jagdkollegen, ein
jüngerer Förster, verwaltete das angrenzende Revier. Beide
Reviere gehörten einem bekannten Großindustriellen und
Privatgelehrten, dessen ständige Wohnung und das Institut sich in der Umgebung
von München befand. So ergab sich, dass die beiden Förster eng miteinander
arbeiteten, sich berieten und einander behilflich waren. Wenn je einem Kind der Beruf in die
Wiege gelegt wurde, dann konnte man das von Arnold sagen, wie er allenthalben
hieß. In den milden Jahreszeiten kam er oft Tag und Nacht nicht nach
Haus. Er kannte jeden Winkel des Reviers und jedes der Tiere. Entsprechend interessant waren dann
seine Schilderungen. An seiner lauten Stimme hörten wir, wenn er im
Vorbeigehen hereinschaute. Er redete doppelt so laut als andere Menschen. Das
hatte aber nichts mit schlechten Ohren zu tun. Vielleicht war es nur die
Begeisterung, mit der er seine Geschichten vortrug. Wenn er erzählte,
dann war das spannender als jedes Buch. Als einmal in der Bachwiese eine
riesige Pappel gefällt wurde, sollte anschließend das umfangreiche
Wurzelwerk und der Stubben gesprengt werden. Arnold hatte im Ersten Weltkrieg
der schweren Artillerie angehört. Er konnte also mit Sprengstoff
umgehen. Die Vorbereitungen zur Sprengung
wurden unter seiner Anleitung getroffen. Wir durften in sicherer
Entfernung, hinter einem dicken Baum stehend, das Ganze verfolgen. Dreck,
Steine und Wurzelstock wirbelten im weiten Umkreis herum, und das Loch in der
Wiese war beachtlich. Eingeebnet und neu eingesät, sah man
Wochen später kaum noch, wo einmal der Baum gestanden hatte. Ein andermal berieten Arnold und
Vater gemeinsam, wie man einem Wilddieb das Handwerk legen könne, der seit
einiger Zeit sein Unwesen trieb. Ob ein bestimmter Verdacht vorlag, kann ich
heute nicht mehr sagen. Es wurde noch ein weiterer Kollege hinzugezogen, und
interessiert verfolgten wir die Pläne, wie man den Dieb fangen
wollte. Auf unsere Verschwiegenheit konnte Vater sich verlassen. Die drei vereinbarten einen
mondhellen, günstigen Abend, an dem sie dem Wilddieb auflauern wollten.
Durch Schussfolge wollte man sich verständigen, wenn einer den anderen
brauchte. Der Dieb ging den Forstbeamten auch prompt in die Falle und konnte
auf frischer Tat überführt werden. Wenig später
erhielten alle ein Ehrendiplom und eine Medaille für ihren Einsatz im Jagdschutz.
Die Medaille verwahre ich heute noch in ehrendem Andenken. Das eingerahmte
Diplom kam beim Einzug der Amerikaner später abhanden. Von den vielen Geschichten, die
Arnold erzählte, ist mir eine besonders in Erinnerung geblieben. Mit
Proviant im Rucksack war er wieder einmal über Nacht nicht nach Haus
gekommen, sondern saß bei hellem Vollmond auf einem Hochsitz. Er
beobachtete eine Rotte Wildschweine. In unseren Revieren gab es
damals noch keine rundum geschlossenen Kanzeln. Man saß auf offenem
Hochsitz. Da konnten die Nächte empfindlich kühl werden. Auch
diese kleinen Gasheizöfchen gab es damals noch nicht. Ein echter 'Nimrod'
(sagenhafter großer Jäger vor dem Herrn) benahm sich dem Wild
gegenüber noch fair. Stieg Arnold dann beim ersten
Sonnenstrahl vom Hochsitz, musste er durch taunasses Gras laufen. Wen
wundert's, dass er auch mal nasse Füße bekam. In der Mittagszeit
suchte er sich dann ein trockenes, sonniges Plätzchen und packte
seine Stullen aus. Aus dem Nachtschlaf war nicht viel geworden, darum
wollte er jetzt ein Weilchen die Augen schließen. Mit dem Mantel als
Unterlage und dem Rucksack als Kopfkissen ging das recht gut. Die Schuhe zog er
aus, damit die nassen Socken an den Füßen in der Sonne trocknen
konnten. Er musste tatsächlich
eingeschlafen sein, denn plötzlich erwachte er davon, dass jemand an seinen
Strümpfen zupfte. Ganz vorsichtig schaute er zu seinen
Füßen hin und stellte fest, dass sich ein Jungfuchs mit den Socken
beschäftigte. möglich, dass er von dem guten Geruch angelockt
wurde. Man konnte es jedenfalls annehmen. Dabei fällt mir ein eigenes
Erlebnis mit einem Jungfuchs ein. Ich streifte wieder einmal durch den Wald und
wollte einen Ansitz am Rande der Bachwiese aufsuchen. Schon oft saß
ich dort und waren es nicht Hirsch und Reh, so gab es doch immer irgendwelche
anderen Tiere zu beobachten. Ein schmaler Pirschweg führte durch
einen Eichenbestand, und der Waldboden war von Blaubeeren dicht bewachsen. Plötzlich tauchte in einiger
Entfernung ein Füchslein auf und kam mir auf dem Pfad entgegen.
Spielerisch und sorglos steckte es seine Nase mal hier, mal da zwischen die
Sträucher. Ein Mäuschen wäre ihm schon recht gewesen. Ich
ließ mich vorsichtig auf den
Weg inmitten der Waldbeeren auf die Erde gleiten und wartete
bäuchlings und unbeweglich, was jetzt geschehen würde. Leise ahmte ich das Wispern einer
Maus nach. Füchslein hörte es und stutzte. Aufmerksam wiegte es den
Kopf hin und her, um besser lauschen zu können. Darauf kam es wieder
ein Stückchen näher. Wieder mäuselte ich leise, und wieder
reagierte es aufmerksam. Jetzt hatte es die Jagdlust gepackt. An eine Finte zu
denken, dazu war es noch zu unerfahren. Ich trieb das Spiel mit ihm so lange,
bis es auf einige Meter herangekommen war. Sein drolliges Gebaren sah zu lustig
aus. Ich musste lachen. Wie der Blitz machte es kehrt und war verschwunden. Jungfüchse sind von Natur aus
ungemein neugierig. Im Übrigen benehmen sie sich wie kleine Hunde,
man möchte fast sagen wie kleine Kinder. Sie raufen und balgen,
rennen sich nach und zanken sich. Ist ein kleiner Hang oder eine Böschung
in der Nähe der Behausung, gibt es ganz sicher eine Rutschbahn. Auf dem
Hinterteil, die Rute hochgestellt, vergnügen sie sich wie Kinder auf dem
Spielplatz. Nicht selten verbrachte ich Stunden in der Nähe eines
Fuchsbaues. Dabei muss man auf günstigen Wind achten, denn ihre
Witterung ist ausgezeichnet. Doch ebenso gut ist das Gehör, zumindest das
der Alten. Schon das Aneinanderreiben eines Kleidungsstückes kann sie
in die Flucht schlagen. Es ist daher nicht ganz einfach, unbemerkt das Versteck
wieder zu verlassen, ohne die Tiere zu stören. Meine Eltern mögen manchmal
etwas in Sorge gewesen sein, wenn ich gar so lange ausblieb. Doch wenn man das
Wild nicht vergrämen und ungesehen den Rückweg antreten will, darf
man nicht auf die Uhr schauen. In unmittelbarer Nähe des
Ansitzes an der Bachwiese gab es einen alten Steinbruch. Viele Jahre holte
man dort das Material zum Befestigen der Waldwege. Zwischen Steinen und
Büschen wohnten Eidechsen, Blindschleichen und sogar Feuersalamander. Sie
sonnten sich gerne auf den umherliegenden Steinbrocken und verschwanden in
Windeseile in einer der Spalten, wenn man zu nahe an sie herankam. Vater
machte uns schon früh mit diesen Tieren vertraut, zeigte wie
schön sie gezeichnet sind, und dass die Blindschleiche keineswegs
blind ist, sondern wunderschöne, orangefarbene Augen hat. Fanden wir
einmal bei einem Klassenausflug eine Blindschleiche und ich nahm sie vom
Boden auf, konnte ich damit die ganze Kinderschar in die Flucht schlagen.
Was wussten die schon von Blindschleichen?! *** Fortsetzung: Jungendjahre |