Meine Zeit
in Unterdickt
erzählt
von Elisabeth Dorothea Krämer Jugendjahre Vor Ostern 1934 ging für mich
das letzte Schuljahr zu Ende. Es gab eine Entlassungsfeier. Man
händigte uns die Zeugnisse aus, gab uns gute Wünsche mit auf den Weg,
und damit lag dieser Lebensabschnitt hinter mir. Erst als nach den Osterferien
die Jüngeren wieder zur Schule gingen merkte ich, dass mir etwas
fehlte. Einerseits hatte ich viel Zeit für Lieblingsbeschäftigungen,
andererseits empfand ich doch ein Gefühl der Leere. Natürlich
konnte ich mich überall nützlich machen. Man war auch dem Status der
Erwachsenen nähergerückt. Aber so recht zufrieden
fühlte ich mich nicht. Der Herbst sollte jedoch eine
Veränderung für mich bringen. Ich würde ein Jahr lang ein Pensionat,
eine Haushaltsschule, im Sauerland besuchen. Durch Bekannte waren
meine Eltern an diese Adresse gekommen. Bald brachte uns der
Briefträger das angeforderte Prospektmaterial ins Haus. Winterberg im
Sauerland, das hörte sich gut an. Zwar steckten damals
Wintersport und Tourismus dort im Vergleich zu heute noch in den
Kinderschuhen, doch Schnee und Winter, den gab es in Hülle und
Fülle. Den Kahlen Asten, als höchsten Berg des Gebietes, kannte ich
aus der Schule, ebenso einige Seen und Stauseen. Dazu endlose Wälder
und interessante Orte. Das konnte eine erlebnisreiche Zeit werden. Vor
allem spannte ich darauf, mit welchen Mädchen ich zusammen diese Zeit
verbringen würde. Wir waren vierzehn
Schülerinnen, die vormittags unter der Leitung von Lehrschwestern
alle im Haushalt vorkommenden Dinge erlernen sollten. Das erstreckte sich vom
Kochen über Backen, Anrichten, Tischdecken, auch für festliche
Gelegenheiten, Servieren, bis zur Pflege der Wäsche und perfektes
bügeln aller gestärkten Teile. Wer es dabei am weitesten brachte,
durfte sich an die steife Schwesterntracht wagen, die wir etwas respektlos
»Heiligenhäuschen« nannten. Für die grobe
Küchenarbeit und die Putzerei im Haus gab es Lehrköchinnen. Wir
hatten nach einer mittäglichen Ruhepause nachmittags noch drei bis
vier Stunden theoretischen Unterricht. Eine Kleider- und Wäscheliste
schrieb vor, was mitzubringen war. So unter anderem je ein weißes
und ein dunkelblaues Kleid; das weiße für festliche Gelegenheiten,
das blaue für die Sonntage. Alles musste knöchellang getragen
werden, auch die Röcke im Alltag. Die Schule stellte eine
Schülermütze, dunkelblau mit blaugelber Borte. Wir trugen sie
bei jedem Ausgang. - Nach der Ankunft im Pensionat stand
ich erst ein bisschen dumm herum. Die Schülerinnen wechselten jedes halbe
Jahr, und so übernahmen wir, die 'Neuen', die Plätze derer,
die ihre Zeit zu Ende hatten. Die restlichen 'Alten' hatten drei Wochen Urlaub
hinter sich und waren nun dabei, erst einmal den eigenen Kram zu ordnen. Eine
von ihnen sah mich wohl etwas hilflos dastehen, man kannte sich in dem
großen Haus ja noch nicht aus. Jedenfalls nahm sie mich bei der Hand und
meinte leise: "Du musst wenigstens so tun,
als hättest Du Beschäftigung, und wenn Du nur von einer zur anderen
gehst." Nie auffallen war die Devise. Das
lernte ich also schon am ersten Tag. Bei diesem halbjährlichen
Schülerwechsel blieb immer ein 'Stamm' übrig. Man konnte sagen etwa
die Hälfte. Wir 'Neuen' wurden jeweils den 'Alten' zugeteilt, eine gute
Methode, den Lehrschwestern die Arbeit zu erleichtern. So wuchs man ganz leicht
in die Umgebung hinein. Natürlich entwickelten sich auch spezielle
Freundschaften, doch weil alle zwei Wochen turnusmäßig die Partnerin
wechselte, arbeitete man auch mit solchen zusammen, die man nicht so gerne
mochte. Aber wer kann sich schon im Leben immer seine bevorzugten Mitarbeiter
aussuchen? Diese Philosophie steckte wohl auch dahinter. Es klappte eigentlich von Anfang an
alles wie von selber. Man durfte nur nicht versuchen, gegen den Strom zu
schwimmen. Extratouren gab es nicht. Eine strenge Hausordnung regelte den
ganzen Tagesablauf. Geweckt wurde mit einem Gong um halb sieben Uhr in der
Früh. Damals war Winterberg noch sehr
ländlich. Ich erinnere mich gerne an diese Zeit zurück. Die dort
erworbenen Kenntnisse prägten sich unauslöschlich in mein
Bewusstsein. Noch ehe die letzten Wochen vor
meiner Heimreise anbrachen, teilte Mutter mir in Briefen mit, dass unsere
Hausangestellte geheiratet und gekündigt habe; dass es momentan sehr
schwierig sei, einen Ersatz zu finden. Die Mädchen vom Lande
würden lieber in einem Stadthaushalt arbeiten oder sich eine qualifiziertere
Beschäftigung suchen. Ich vertröstete die Eltern auf meine Heimkehr.
Dann würde ich die Sache anpacken. Im Alter von siebzehn, achtzehn,
neunzehn Jahren glaubt man ja Bäume ausreißen zu können. * Im Oktober 1937 kam ich von
Winterberg zurück. Ein erlebnisreiches Jahr lag hinter mir. Zu Hause hatte
sich wenig verändert, und ich genoss meine Heimkehr in vollen
Zügen. Josef, der mich mit meinem Gepäck an der Bahnstation abholte,
war immer noch der Alte, und doch beschlichen mich plötzlich Zweifel, ob
ich das vertraute 'Du' noch gebrauchen dürfe. Schließlich brachte
man mir ein ganzes Jahr lang Sitte und Anstand bei. Doch als ich ihn mit 'Sie'
ansprach, und er mich daraufhin 'Fräulein' nannte, kamen wir uns wohl
beide komisch vor. Noch ehe wir das Forsthaus erreichten war die Sache
geklärt, und wir redeten uns erleichtert mit dem altvertrauten 'Du'
an. Wenige Tage nach meiner Heimkehr war
mein jüngerer Bruder damit beschäftigt, auf der Weide hinter der
Scheune Drachen steigen zu lassen. Vater hatte mit ihm gemeinsam einen
großen roten Papiervogel gebaut, und die restlichen, schönen
Herbsttage boten ideale Gelegenheit, die Flugfähigkeit zu testen. Doch es
kam, wie es kommen musste. Der Drachen geriet nach einer Weile in die Nähe
der hohen Tannen und stürzte ins Geäst. Nun war guter Rat teuer. Ihn
aus dieser Höhe herunterzuholen war nicht einfach. Mein Bruder bat
mich hochzusteigen. Grundsätzlich war das die einzige Lösung,
doch ließ sich das noch mit meiner klösterlichen Erziehung vereinbaren,
auf Bäume zu steigen? Am Ende siegten Versuchung und Vernunft. Ich schaute
mich um, ob mich auch niemand beobachtet, dann holte ich den Ausreißer
heil zurück. Auch im Kloster verlernen sich nicht nach einem Jahr alte
Lieblingsgewohnheiten. Nach meiner Rückkehr hatte sich
noch keine fremde Hilfe gefunden. Also lernte ich schnellstens die beiden
Kühe melken und entlastete meine Mutter so gut ich konnte. War meine
ältere Schwester zu Hause, stürzten wir uns gemeinsam in die Arbeit.
Kam allerdings der Chef zur Jagd, manchmal sogar mit Familie, dann fand sich
immer eine vorübergehende Hilfe im Dorf. Mutter und ich konnten
uns dann auf das Haus und die Gäste konzentrieren. Einmal weilte Mutter
gerade im Krankenhaus, als sich der hohe Besuch anmeldete. Das war die
Gelegenheit, meine in der Haushaltungsschule erworbenen Kenntnisse an den Mann
zu bringen. Bei meiner Tätigkeit war ich
sehr darauf bedacht, möglichst viel Freizeit herauszuschinden. Es gab
ja noch Hobbys wie Klavierspiel, Bücher, Handarbeiten und später in
den Kriegsjahren das Briefeschreiben. Ich arbeitete immer nach der Uhr und
einem genauen Zeitplan. Im Umgang mit Tieren ist das notwendig, da
für sie die Gewohnheit eine große Rolle spielt. Da kann man nicht
nach Gutdünken mal früher, mal später füttern
oder melken. Ich war einfach zu einer gewissen Ordnung gezwungen. Das
wiederum machte es möglich, über geregelte Freizeiten zu verfügen,
die ich dann randvoll mit meinen persönlichen Liebhabereien
ausfüllte. Ich erinnere mich, dass ich damals
einen besonders guten Kontakt zum Pfarrhaus hatte. Der Herr Pastor, ein
gemütlicher kleiner Herr, spielte mir oft auf einem prächtigen Flügel
klassische Musik vor. Seine Vorliebe galt Beethoven, und ich sehe noch heute,
wie er die Oktaven meisterte mit seinen etwas kurzen Fingern. Sie sprangen
förmlich von einer Taste zur anderen. Er wiederum schien sich zu freuen,
wenn ich interessiert seiner 'Schicksalssinfonie' lauschte oder der 'Pastorale'.
Dabei erklärte er mir die einzelnen Sätze, so dass ich wirklich
heraushören konnte, was der große Komponist vertont hatte.
Außerdem waren lange Gespräche an der Tagesordnung, sowohl mit Hochwürden,
als auch mit seiner Haushälterin, die er scherzhaft sein 'Hauskreuz'
nannte. Was konnte ich in solchen Unterhaltungen nicht alles lernen. Daher
passierte es auch oft, dass ich kein Ende fand. Später erst kam mir in den
Sinn, wie viel Zeit man mir schenkte, obschon in einem Pfarrhaus ganz sicher
eine Menge Arbeit anfällt. Ich war ja auch nur eine von vielen
Gästen, doch nie spürte ich Ungeduld. Man hat mir für mein
späteres Leben ungemein viel gegeben. Beide waren sie sehr aufgeschlossen
und gute Berater. Er verstand es, in jungen Menschen Sinn für das
Schöne und für Ideale zu wecken. Ich lieh mir eine Menge Bücher
aus seiner reichhaltigen Bibliothek, und manches lange Gespräch
drehte sich um deren Inhalt. Einmal erhielt ich zum Geburtstag eine Spruchkarte.
Darauf stand: Lasst uns wie die Sterne, treu in ihren Bahnen, Höhenwege wandern. Solche Worte fielen bei mir auf
fruchtbaren Boden. Ich versuchte sie zu leben. * In einem Forsthaus fällt
verständlicherweise eine Menge Arbeit an. Mensch und Tiere müssen
versorgt werden, das Haus stets sauber gehalten, der Garten bestellt
und das ganze Jahr über so mancher Gast beherbergt werden. Zudem soll auch
die Familie nicht zu kurz kommen. Allein hätte Mutter das nicht
bewältigen können, deshalb gab es eine Haushaltshilfe, die sich
hauptsächlich um die Stallarbeit und das übrige Viehzeug
kümmerte. In den Jahren meiner Schulzeit war Hilfe eingestellt worden, die
alle anfallenden Arbeiten sehr gewissenhaft ausführte. Ihr schien die zugedachte
Tätigkeit auch Spaß zu machen, denn obwohl die Natur ihr keine gute
Stimme zugedacht hatte, pflegte sie ständig bei der Arbeit zu singen. Ihr
Repertoire war zwar nicht sehr groß und bestand hauptsächlich aus
Moritaten und Volksliedern. Doch davon gab es der Strophen so viele, dass
sie für den ganzen Tag reichten. Nun wurde damals mein Vater einmal
ernstlich krank und musste über längere Zeit das Bett hüten. So
kam es, dass der Gesang ihm allmählich auf die Nerven ging. Mutter
versuchte also, so schonend wie möglich, unserer fleißigen Sängerin
beizubringen, dass es Vater nicht gut gehe, und die Lieder ihn störten.-
Sie stellte sich darauf ein. Ab sofort schallten jetzt nur noch Kirchenlieder
durch das Haus. Sie muss wohl der Ansicht gewesen sein, dass fromme Lieder von einem
Kranken auf jeden Fall als eine Wohltat empfunden werden müssten. Wir waren jedoch froh, wieder eine
fleißige Hilfe gefunden zu haben. Somit konnte ich meine Mutter im
Haushalt entlasten. Natürlich fand ich allmählich auch Gefallen
daran, hin und wieder eine Tanzveranstaltung zu besuchen. Meine ältere
Schwester hatte inzwischen einen netten jungen Mann kennengelernt und so
zog es sie öfter nach Linz, wo dieser zu Hause war. Da meine Eltern beide
aus dieser Rheingegend stammten, lebten dort eine Reihe Vettern und
Cousinen, denen ich mich anschließen konnte. So fehlten wir denn auch bei
keiner Kirmes, und das brachte viele lustige, unbeschwerte Stunden. Eine Tanzschule konnte ich nie
besuchen. Mit ein wenig Gefühl für Rhythmus ging es auch ohne. Einmal
wagte ich mich sogar zu Karneval als Teufel maskiert auf einen Maskenball.
Ich fühlte mich zwar nicht recht wohl in meiner Haut, doch niemand hat
mich vor der Demaskierung erkannt, nicht einmal mein Vetter, mit dem
ich verabredet war. Hinterher gab es ein großes Hallo. Ich hatte alle an
der Nase herumgeführt. Da ich seit meiner Schulzeit die
Ferien meist am Rhein verbrachte, war dies so etwas wie meine zweite Heimat
geworden. Außerdem kannte ich alle Dorfbewohner, und im Kreise der
gleichaltrigen Jungen und Mädchen betrachtete man mich fast als
Einheimische. Diese lustige Geselligkeit gab es im Forsthaus
natürlich nicht. Andererseits war es auch kein Problem, öfter einmal
an den Rhein zu fahren. Nicht selten benutzten meine Schwester und ich für
diese Strecke das Fahrrad. Das Ahrtal entlang konnte man in vier Stunden die
Fähre am Rhein erreichen. Dass die Rückfahrt zwei Stunden
länger dauerte, was machte das schon, wenn man jung ist. Im darauffolgenden Frühling
verbrachte ich die Karnevalstage zusammen mit meiner Schwester am Rhein.
Sie war mit ihrem Schatz verabredet. So ergab sich, dass auch ich dessen
Familie kennenlernte. Außer den Eltern gab es noch drei Geschwister, von
denen die ältere Schwester in einer Ordensgemeinschaft
lebte. Die beiden jüngeren waren aber noch zu Hause. Es handelte sich
um einen Sohn in meinem Alter und eine Schwester, die noch die Schule besuchte.
Was lag also näher, als dass wir gleichaltrigen schnell Kontakt aufnahmen
und uns dabei auch noch sympathisch fanden. Dass Amor damals schon auf der
Lauer lag, erkannten wir zwar noch nicht gleich, aber nachdem wir uns in der
Folgezeit öfter begegneten, erwischte es uns recht bald. Meine
Vorliebe an den Rhein zu fahren, hatte eine völlig neue Perspektive dazubekommen. So oft ich zu Hause abkömmlich
war, zog es mich im folgenden Sommer an den Rhein. Unbeschwert trafen
wir uns zu Spaziergängen, Kinobesuchen, gemeinsamem Singen und
vielerlei Gesprächen. Wir, das war immer eine ganze Gruppe
junger Leute, die gemeinsam etwas unternahmen. Einer von ihnen spielte Gitarre,
und ich vergesse nie, wie wir abends beim Sonnenuntergang oben auf dem
Kaiserberg saßen und alte Fahrtenlieder sangen. Manche davon stammten aus
dem Liedgut der katholischen Jugend und waren damals schon verboten. * Allmählich spürte man
immer deutlicher die Einwirkungen der neuen Machthaber. Bis zu unserem
Forsthaus waren sie noch nicht vorgedrungen, aber in den Städten
waren Aufmärsche an der Tagesordnung. Die traditionellen Jugendverbände
waren längst verboten und in den Untergrund gedrängt. In dem
katholischen und stockkonservativen Linz kam es dann immer einmal zu Rempeleien
und mitunter sogar zu handfesten Keilereien. Uns störte das noch
wenig. Wir sahen ohnedies alles durch eine rosarote Brille. Nach einem gemeinsamen Besuch eines
Lokals in Hönningen, unsere älteren Geschwister waren mit von der
Partie, vermisste mein Freund dann am Bahnhof kurz vor der Abfahrt des
Zuges seinen Hut. Den musste er im Lokal vergessen haben. Wir rannten eilig zurück in der
Hoffnung, hernach den Zug noch zu erreichen. Doch als wir außer Atem
zum Bahnhof zurückkamen, war unser Zug weg und unsere Geschwister
ebenfalls. So ergab es sich zwangsläufig, dass wir bis zur Abfahrt
des nächsten Zuges, in einer Stunde etwa, ganz alleine unsere Zeit
vertreiben mussten. Diese eine Stunde reichte aus, um uns auf einer verschwiegenen
Bank der Rheinanlagen den ersten Kuss zu geben. Von da an war es besiegelte Sache:
Den oder keinen. Wie ernst uns das war, hat sich später noch oft gezeigt.
Ob Peters Hut versehentlich oder absichtlich hängen blieb, habe ich nie
erfahren. Jedenfalls war er an jenem Abend unser Glücksbringer. Dass unsere Eltern über das
sich anbahnende 'Verhältnis' nicht begeistert waren, wen konnte es
wundern. Zwar fand meine Schwester inzwischen bei den zukünftigen
Schwiegereltern vollstes Einverständnis, doch waren die Sympathien
der Schwiegermutter nicht von heute auf morgen zu gewinnen. Sie wachte mit
Argusaugen darüber, dass ihre Söhne sich tüchtige, brave Frauen
suchten. Wer konnte es ihr verdenken. Außerdem waren unsere Geschwister
zehn Jahre älter als wir. Wir waren also noch viel zu jung für
'solche Dinge'. Doch der liebe Gott hatte wohl schon unsere Wege
vorherbestimmt. Wer weiß, ob wir uns je gefunden hätten, nachdem
schon bald der Krieg mit all seinen Wirren und Schicksalen begann.
Außerdem war ich begeistert der Anregung eines Missionspaters
gefolgt, der in einer Predigt ausführte: "Niemand von Euch kennt
heute schon seinen späteren Lebenspartner, aber ganz gleich wer es sein
wird, beten könnt ihr für ihn." Oft, sehr oft in meinem Leben, habe
ich hinterher Gottes Führung erkannt. Wie ein roter Faden kann ich das
verfolgen, und an Zufälle glaube ich nicht. * Nun hatten wir uns gefunden, und
natürlich korrespondierten wir auch miteinander. Das geschah
allerdings vorerst noch heimlich. Ich adressierte meine Briefe an das
Büro der Firma, in der mein Schatz zu dieser Zeit seine Berufsausbildung
erhielt. Ich bekam seine Briefe postlagernd zur nächsten Posthilfsstelle
geschickt. Ich konnte mir in etwa ausrechnen, wenn Antwort auf meine
Briefe kam und fuhr dann schnell mit dem Fahrrad, um sie abzuholen. Nach
einiger Zeit flog die Geschichte zwar auf, weil in meiner Schürzentasche
ein Brief gefunden wurde. Seitdem brachte der Briefträger meine Post.
Die Heimlichkeiten wären ohnedies bei meinen Eltern nicht nötig
gewesen. So hatte in der Zwischenzeit die
ganze Familie unsere Schwärmerei mitbekommen, und als ich Mutter
einmal nach ihrem Urteil über meine Wahl befragte, meinte sie nur: "Der kann reden wie ein
Buch". * Im Sommer 1939 stand sein Besuch,
sein erster, im Forsthaus bevor. Das heißt, wir Schwestern bekamen
Pfingsten beide Besuch von den Brüdern. Dass es schöne Tage
wurden, steht außer Frage. Ich konnte Peter in meine Welt und mein Reich
einführen, und wir stellten fest, dass es auch da viel Gemeinsames
gab. Einige Wochen später war wieder ein Besuch im Forsthaus vereinbart.
Ich machte mich am Abend mit Renno auf den Weg zur Bushaltestelle. Viel zu
früh natürlich, und so ließ ich den Hund einige hundert Meter vor dem Ziel ein wenig frei
herumlaufen. Dabei muss ich die Ankunft des Busses übersehen
haben, denn plötzlich kam mir auf der Straße jemand entgegen.
Bevor ich Renno zurückpfeifen konnte, begrüßte er den Gast
schon freudig wie einen alten Bekannten oder ein Familienmitglied. Ich
konnte nur noch staunen. Wenn das kein gutes Omen war. Schließlich war
Renno Fremden gegenüber keineswegs harmlos und friedlich.
Mein Schatz gehörte also schon zur Familie. Das war mit dieser
Begegnung bewiesen. In diesen Sommer fällt noch ein
Tiererlebnis, von dem ich gerne erzählen möchte. Ich befand mich an
jenem Nachmittag allein zu Haus. Meine Eltern waren einer Einladung gefolgt,
und Josef brachte sie mit der Kutsche ins Dorf. Weitere Arbeiter weilten
nicht am Hof. Womit ich mich gerade beschäftigte, weiß ich heute
nicht mehr. Jedenfalls brüllte im Stall eine Kuh, und ihr unruhiges
Verhalten machte mich aufmerksam. Dass in den nächsten Tagen ein Kälbchen
das Licht der Welt erblicken sollte, wusste ich, aber doch hoffentlich nicht
gerade jetzt, wo ich alleine war. Doch ein Blick in den Kuhstall ließ
keine Zweifel aufkommen. Es war so weit. Zugeschaut, wie man den
Geburtshelfer spielt, hatte ich schon. Nun musste ich selber anpacken. Nach
einer Weile lag denn auch ein schwarzes Kälbchen mit weißer
Stirnblesse im Stroh und wurde von seiner Mutter liebevoll abgeleckt.
Nachdem ich es mit Heu abgerieben und gut gebettet hatte, wartete ich, bis der
ganze Geburtsvorgang beendet war und begab mich wieder ins Haus, um mich einer
gründlichen Reinigung zu unterziehen. Plötzlich
hörte ich wieder Brüllen im Stall. Oh nein, dachte ich, nicht schon
wieder. Aber dieser Zwilling war schon unterwegs. Alles ging gut, und ich versorgte
auch das zweite Tierchen. Am Abend kamen die Eltern nach Haus und ich nahm
Vater beim Arm und ging mit ihm zum Stall. Er traute seinen Augen kaum,
als er diese Bescherung sah. Ich aber bekam ein dickes Lob und war sehr stolz
darauf. Im Umgang mit Tieren kann man so manche Überraschung
erleben und sogar zum Geburtshelfer werden. * Die letzten Monate vor dem
Kriegsausbruch blieb in unserem Forsthaus noch alles ruhig. Zwar lag irgend
etwas in der Luft, doch an kriegerische Auseinandersetzungen mochte
niemand glauben. Meine ländliche Beschäftigung war mir schon zur
Routine geworden, und ich fand Gefallen daran. In den Herbst des gleichen Jahres
fiel Peters Abschlussprüfung als Industriekaufmann. Ich bekam von der
anschließenden Feier eine sehr lustige Karte und zweifelte nicht
daran, dass alles gut gelaufen war. Wenig später bestätigte sich
diese Vermutung. Ein neuer Lebensabschnitt begann. Meine älteren Schwestern,
inzwischen beide verheiratet, waren ausgezogen. Mein älterer Bruder
ebenfalls. Er arbeitete nach bestandener Uhrmacherlehre in einem
Fachgeschäft. Der jüngere Bruder besuchte noch das Gymnasium und
fuhr jeden Tag mit Vaters Leichtmotorrad zur Schule. Wir verstanden uns sehr
gut und tauschten auch alle kleinen Heimlichkeiten aus. Als ich einmal ein
Mädchenfoto bei ihm fand, gestand er mir seine erste Verliebtheit.
Nun wusste ich auch, warum die Schulstunden ab und zu etwas länger
gedauert hatten. Er brachte dann seine kleine 'Susi' noch zum Zug. Im gleichen Jahr hätte der
Wechsel von der Unter- in die Oberprima angestanden. Er gehörte
jedoch zu den drei Besten der Klasse, denen jetzt bereits, ohne Prüfungen,
das Abiturzeugnis ausgehändigt wurde. Die neuen Machthaber hatten die
Eliteverdächtigen schon fest ins Auge gefasst. Die drei Jungs wurden
kurzerhand für ein Jahr als Lagermannschaftsführer nach Burg
Stahleck verpflichtet. Mein Bruder muss dort sehr unter Heimweg
gelitten haben. Dies erzählte mir viele Jahre später einer
seiner beiden Kameraden, der inzwischen als Kinderarzt praktizierte und
unsere Kinder in Köln betreute. Ich mag das Wort Zufall nicht. Es war wohl
eher eine Fügung. Unsere Kinder waren jedenfalls bei ihm in den besten
Händen. Auf seine Frage nach meinem Bruder musste ich ihm leider mitteilen,
dass dieser nicht aus Jugoslawien zurückgekommen ist. – * Am ersten September 1939 in der
Frühe ließ Hitler die Deutsche Wehrmacht nach Polen einmarschieren.
Der Zweite Weltkrieg hatte begonnen. Vater weilte am Tage der Mobilmachung in
Ahrweiler zu einer Kur. Per Telefon bestellte er Josef mit der Kutsche und traf
schon am späten Nachmittag zu Hause ein. Schon wenige Tage später
standen Offiziere des Heeres vor der Tür und inspizierten alle
Räume. Nicht nur der Wohnraum wurde registriert, sondern auch alle
Stallungen und Schuppen. Ferner sollten Barackenunterkünfte nahe beim
Haus errichtet werden, in einen Eichenwald integriert und so aus der Luft
nicht so leicht auszumachen. Schon einige Zeit später begannen Bautrupps
mit der Erstellung der Holzbaracken. Zur Straße legte man einen
Knüppeldamm an, so dass die Baracken bei jedem Wetter trockenen
Fußes zu erreichen waren. Vater bekam eine Liste der im Notfall
beschlagnahmten Räume. Dagegen zu protestieren wäre sinnlos
gewesen. Vorerst blieb auch noch alles ruhig.
Noch spielte sich ja der Krieg in Polen ab. Erst mit Beginn des
Frankreichfeldzuges, Frankreich und England hatten als Verbündete
Polens Deutschland den Krieg erklärt, zogen Soldaten in die Baracken ein,
und in den großen Stall, der ehemals über vierzig Kühe beherbergt
hatte, installierte man eine 'Heereskarten-Druckerei'. Alles Kartenmaterial
für die Fronttruppen wurde hier erstellt. Natürlich baute man
zugleich eine Stromleitung zu unserem Haus, und während in der ersten Zeit
die Druckerei mit Stromaggregaten arbeitete, konnten die Maschinen bald schon
ans Netz angeschlossen werden. Wir erhielten die Erlaubnis, unseren Bedarf
ebenfalls unentgeltlich, dieser Stromversorgung zu entnehmen. Das war
nicht viel, denn elektrische Haushaltsgeräte besaßen wir nicht. Die
Kosten für ein paar Glühlampen und eine Hausklingel fielen nicht
ins Gewicht. Jetzt war es vorbei mit der
beschaulichen Stille. Wir erfuhren, dass in einem Berg bei Rhodert für
Hitler ein exklusiver unterirdischer Befehlsstand gebaut wurde. Um seine
komfortable Einrichtung rankten sich die tollsten Vorstellungen. Der militärische Betrieb hielt
sich an unserem Hof in Grenzen. Die Soldaten bewohnten die Baracken.
In unseren Privatbereich war noch niemand eingedrungen. Die Gefahr
aus der Luft entwickelte sich erst allmählich, so dass man eines
Tages dazu überging, die hellen Fachwerkflächen mit Ästen
zu tarnen. Ein wüstes Hämmern lag uns tagelang in den Ohren. Der
Schuppen auf der gegenüberliegenden Straßenseite bekam einen
Tarnanstrich und den Vorplatz überspannte man mit riesigen
Tarnnetzen, damit dort Militärfahrzeuge abgestellt werden konnten. Mit der Ausweitung der Front stieg
die Zahl der einquartierten Soldaten ständig. Inzwischen waren sowohl
die ehemaligen Kornspeicher belegt, als auch die Räume über dem
Schuppen, wo einmal das Wildfutter lagerte. Nur ein Raum stand uns noch zur
Verfügung. Mit Beginn des Russlandfeldzuges im Juni 1941, wurde diese
Druckerei an die Ostfront verlegt. Ihnen folgte eine Instandsetzungsstaffel,
kurz I-Staffel genannt. Silvester 1939/40 verbrachte ich
wieder am Rhein. In Peters Familie war es Sitte, den Jahreswechsel im
Familienkreis zu begehen. Deshalb bat er seinen Freund, mich zum Neujahrsball
zu begleiten. Der arme Kerl holte sich bei dieser Gelegenheit ein blaues
Auge, denn zu vorgeschrittener Stunde packte einen der Dorfbewohner wohl
die Eifersucht. Jedenfalls wäre eine Keilerei entstanden,
hätten nicht kräftige Fäuste aus meinem Bekanntenkreis dies
verhindert. Im Mai 1940 flatterte für Peter
die Einberufung zum Arbeitsdienst ins Haus. Sein Einsatzort befand sich in
Lothringen, innerhalb der französischen 'Maginot-Linie'. Von nun an
waren wir auf Briefe angewiesen und entwickelten eine rege Korrespondenz.
Urlaub gab es während dieser Dienstzeit nicht. Noch bevor er aus dem
Arbeitsdienst im Januar 1941 entlassen wurde, lag schon der Einberufungsbefehl
zur Wehrmacht auf dem Tisch. Vier Tage blieben uns Zeit zwischen
Arbeitsdienst und Militärausbildung. Inzwischen längst in die
Familie eingeführt, verbrachte ich diese Tage in Linz. Peters Ausbildungsbataillon hatte
seinen Standort in Wiesbaden. Nach seiner Grundausbildung wurde er als
Fernschreiber bei der Luftnachrichtentruppe ausgebildet. Zusammen mit
seinen Eltern besuchte ich ihn einmal sonntags in der Kaserne, bevor er nach
Wien verlegt wurde und von dort aus später zum Einsatz nach Sofia kam. Der Krieg hatte trotz der
Anfangserfolge an Härte zugenommen. Immer mehr feindliche Flugzeuge
kamen zum Einsatz. So entstand auch ein hoher Reparaturbedarf bei den
deutschen Militärfahrzeugen. Es ging am Hof zu wie in einem Taubenschlag.
Inzwischen kamen noch nächtliche Fliegerangriffe dazu. Sie
konzentrierten sich zwar anfangs noch auf die Städte, doch es beunruhigte
Vater sehr, dass wir im Bereich des Führerhauptquartiers wohnten. Für das Militär entstanden
inzwischen eine Menge Bunker, doch wir waren noch relativ ungeschützt.
Vater überlegte also, was wir zu unserem eigenen Schutz tun
könnten. Der Keller eignete sich kaum und konnte durch die darüberliegenden
Wohnräume auch nicht befestigt werden. Eher bot sich ein
Rübenkeller unter der Scheune an. Seine Außenmauern bestanden aus
Bruchsteinen. Darüber konnte meterhoch Stroh gestapelt werden. Von
unten stützten Arbeiter die Decke mit grob behauenen Baumstämmen ab.
Und die Schütte, über die die Rüben in den Keller transportiert
wurden, konnte als Notausgang dienen. Für die damalige Situation
schien das keine schlechte Lösung. Inzwischen arbeiteten an unserem Hof
keine jüngeren Mitarbeiter mehr. Sie waren mittlerweile alle zum
Militär, beziehungsweise Kriegsdienst eingezogen. Ein geregelter
Arbeitsablauf war kaum noch möglich. Lediglich die Felder wurden noch
bestellt. Mit Einführung der Lebensmittelkarten begann die
Beschränkung auf bescheidene Portionen. Wie froh konnten wir da sein,
als Selbstversorger zu gelten. Zwar mussten bestimmte Mengen von den
Erträgen abgeliefert werden, doch blieb immer so viel, dass wir
gottlob keinen Hunger kennenlernten. Außerdem konnten wir über Jahre
unseren Verwandtenkreis nach Kräften unterstützen. Weiß der
liebe Himmel, wie viele Pakete ich in dieser Zeit gepackt und zur Post
gebracht habe; ganz abgesehen davon, was bei Besuchen mitgenommen
wurde. Damit diese Paketflut nicht auffallen sollte, fuhr ich mit dem Fahrrad
zu sämtlichen Poststellen der näheren und weiteren Umgebung und
gab auch verschiedene Absender an. Josef, der mit den Jahren etwas
schwerhörig geworden war, arbeitete immer noch am Hof. Zusätzliche
Leute wurden nur gebraucht, wenn die Pflanz- oder die Erntezeit anstand.
Dafür wurden der Soldaten immer mehr. Außer einer Stammmannschaft,
die Fahrzeuge reparierte, war es ein ständiges Kommen und Gehen. In unserem Speicherzimmer
quartierten sich mit der Zeit Offiziere ein. Sie benutzten einen separaten
Eingang. So gab es selten Kontakte. Natürlich entdeckte der eine
oder andere Soldat, dass ein Mädchen am Hof wohnte und machte
Annäherungsversuche. Es wurde auch mal hier und da geschäkert, doch
nie ist jemand ausfallend oder lästig geworden. Ich ließ erkennen,
dass ich 'in festen Händen' war und das wurde respektiert. Seit unserer Trennung schrieb ich
fast jeden Tag einen Brief nach Sofia. Wehrmachtspost, oder besser gesagt
die Feldpost, verlangte kein Porto. Schreibpapier hatte ich mir massenhaft
besorgt. Wenn abends die Familie zu Bett ging, saß ich oft noch lange
über einem Brief. Unsere graugetigerte Katze lag dabei manchmal über
meinen Schultern und schnurrte behaglich. Es kam auch vor, dass sie, vom leisen
Kratzen der Schreibfeder angeregt, mit den Pfoten spielerisch den
Füller aus dem Konzept brachte. Ich musste dann erklären, dass dieser
Kleckser oder Strich Miezes Handschrift gewesen war. Mit der Zeit gewöhnte die Katze
sich an, tagelang das Haus und ihr angestammtes Revier zu verlassen und im
Wald zu jagen. Erst waren es nur wenige Tage, die sie fortblieb. Dann wurden
die Abstände immer größer. Einmal glaubten wir schon, sie
würde nicht mehr wiederkommen. Es war die Zeit der Jungkaninchen, und
wenn eine Katze einmal mit der Jagd auf diese Tiere begonnen hat, verwildert
sie regelrecht und lässt es nie mehr. Vater sprach damals mit Arnold
darüber, als dieser wieder einmal zu uns hereinschaute. Er bat ihn, bei
sich bietender Gelegenheit die Katze zu erschießen. Selber brachte
er das nicht übers Herz. Als Arnold dann das nächste Mal kam,
saß sie draußen am Gartenzaun. Sie lauerte wohl auf
Vögel. Mit einem Schuss aus der Dienstpistole kam er Vaters Bitte nach und
erlegte sie. Die Katze flüchtete noch in ein dichtes
Dornengestrüpp und ward nicht mehr gesehen. Etwa vier Wochen später
saß ich am Abend bei meiner Lieblingsbeschäftigung und schrieb
wieder einmal nach Sofia. Das Fenster stand einen Spalt offen.
Plötzlich hörte ich ein Geräusch. Ich glaubte meinen Augen nicht
zu trauen, als mit einem Mal die totgeglaubte Katze auf der Fensterbank
saß und scheu nach allen Seiten hin sicherte. Nachdem sie festgestellt
hatte, dass sich niemand außer mir im Raume aufhielt, kam sie
vorsichtig näher. Jetzt erst konnte ich sehen, was passiert war. Der
Schuss aus der Pistole hatte ihr den Unterkiefer durchgeschlagen und
war seitlich am Hals ausgetreten. Die Wunde eiterte stark und ich fragte mich,
wie das Tier so lange ohne Nahrung überleben konnte. Sie musste wohl
nur Wasser getrunken haben. Schnell füllte ich eine Schale
mit Milch. Heißhungrig fiel sie darüber her. Dabei stellte ich fest,
dass sie starke Schluckbeschwerden hatte. Immer wieder sicherte sie
ängstlich, während sie die Milch trank und war danach auch gleich
wieder aus dem Fenster in die Dunkelheit verschwunden. Seitdem
kam sie jedoch regelmäßig am Abend, wenn alle zu Bett waren, und ich
alleine in der Küche saß. Nach ein paar Tagen ließ sie mich
auch die Wunde behandeln. Das Zutrauen wuchs langsam wieder, doch es durfte
niemand anders im Raum sein. Erst nach Wochen hielt sie sich auch tagsüber
in der Küche auf. Ich weiß heute nicht mehr genau, wie lange es
dauerte, bis sie wieder feste Nahrung und Mäuse fressen konnte. Doch als es
so weit war, blieb sie wieder länger fort und kam eines Tages
nicht mehr wieder. Wir haben nie erfahren, wo sie geblieben ist. Wenige Zeit später wollte ich
abends Renno in seinen Zwinger bringen, da hörte ich aus der angrenzenden
Hütte in der er nachts schlief, leises Miauen. Es stellte sich heraus,
dass jemand drei kleine Kätzchen heimlich dort abgesetzt hatte.
Fürs Erste verpflegte ich sie mit Milch und schaffte sie zu Ami in den
Stall. Zwei der Tierchen verschenkten wir an Interessenten. Das
schönste behielten wir für uns. Es freundete sich schnell mit Ami an
und die beiden wurden unzertrennlich. Mit der Zeit entwickelte sich sogar
ein Kuriosum. Ami, bisher nie Mutter geworden, hatte plötzlich Milch
für die kleine Katze. Diese hatte, von der eigenen Mutter getrennt,
wie es kleine Kätzchen machen, damit die Milch besser fließt, so
lange gesaugt und geknetet, bis die Hündin tatsächlich stillen
konnte. Der Tierarzt bestätigte uns, dass dies in ganz seltenen
Fällen möglich sei. Jetzt mussten wir Abend für Abend die beiden
zusammen in den Stall bringen. War die Katze einmal gerade auf Mäusejagd,
wie es ja ihrer Natur entspricht, ging die Sucherei los. Der Hund jaulte
so lange nach ihr, bis sie zur Stelle war und er seine Milch los wurde. Durch
ein vom Tierarzt verabreichtes Medikament normalisierte
sich Amis Zustand bald wieder, doch die Freundschaft zwischen Hund und
Katze blieb über Jahre erhalten. Von den sprichwörtlichen
Untugenden, die man Dackel nachsagt, waren bei Ami keine zu entdecken. Er
war weder hinterlistig noch angriffslustig. Ganz im Gegenteil. Nur eine kleine
Untugend konnte er nicht lassen. Er stahl sich hin und wieder heimlich aus
dem Haus um auf eigene Faust zu jagen. Dabei trieb es ihn nicht weit. Er
inspizierte vielmehr in der nahen Umgebung den einen oder anderen
Kaninchenbau. Wir konnten ihn der Tat dadurch überführen, weil er mit
völlig verschmutztem Gesicht und dreckiger Nase und Pfoten
zurückkam. Vermissten wir ihn wieder einmal,
pfiffen wir draußen auf Vaters Hundepfeife, auf die normalerweise
alle sofort hörten. Gaben wir nach einer Weile ergebnislos auf, dann
lag Ami längst auf seinem Lieblingsplatz unter dem Küchenherd und
mimte den Schlafenden. Nur an dem Zwinkern aus einem Augenwinkel erkannte
man, dass er nicht wirklich schlief, sondern ein schlechtes Gewissen verbarg.
Durch irgendeine Hintertür war er ins Haus gelangt und spielte den
Unschuldsengel. Wenn in der Woche vor Weihnachten
der obligate Hase geschossen werden sollte, war Ami natürlich mit von der
Partie. Vater wusste, wo die beste Aussicht bestand einen Hasen zu erlegen.
Mein Bruder Josef und ich fungierten als Treiber und streiften durch ein mit
viel Gestrüpp bewachsenes Hanggelände am Rande der Bachwiese. Ami
stöberte eifrig. Mal
kam er auf mich zu, mal war er wieder verschwunden. Plötzlich
höre ich ein Knurren, das ich mir schlecht erklären konnte. Ich
ging darauf zu und fand Ami, der sich am Hinterteil eines Dachses
verbissen hatte. Knurrend zerrte er immer wieder an Dachsens Hinterteil.
Dieser drehte sich ab und zu nach seinem Peiniger um. Er hatte wohl gerade
seinen Winterschlaf unterbrochen und war daher steif und wenig aggressiv, sonst
hätte er sich stärker gewehrt. Es sah eher komisch aus, wie er den
Dackel hinter sich her zog. Die Hasenjagd war übrigens am Ende
erfolgreich. Wir konnten Mutter den erwarteten Weihnachtsbraten präsentieren. Im zweiten Kriegsjahr mussten wir
uns von Olga, einem unserer Pferde trennen. Registriert waren die Tiere
schon lange, doch hatten wir gehofft, dass im Ernstfall Max als erster
geholt würde. Den retteten wahrscheinlich seine krummen Hinterbeine
vor dieser Misere. Dass Josef es nicht übers Herz brachte, Olga zur
Sammelstelle zu bringen, verstanden wir nur zu gut. Man konnte sich ja vorstellen,
was sie und alle ihre Leidensgenossen erwartete. Einer der Waldarbeiter
brachte sie fort. Natürlich hörten wir nie mehr etwas über
den Verbleib. Für die gezahlte Vergütung schaffte Vater ein
neues Pferd an. Die erste Wahl befand sich schon im Krieg. Trotzdem hatten wir
Glück mit dem neuen Tier. Es war brav und willig. Das konnte man von Max absolut nicht
sagen. Der konnte ganz hinterlistig beißen und brannte auch ab
und zu einmal durch, wenn ihn der Hafer stach. Zum Glück ist Josef dabei
nie etwas passiert. Es sah manchmal halsbrecherisch aus, wenn das Gespann
daherraste. Olga wäre das nicht in den Sinn gekommen, und das neue
Pferd hielt auch nichts von Extratouren. Wir konnten es sogar in die Kutsche
spannen, ein wichtiger Gesichtspunkt, wenn das die einzige Transportmöglichkeit
ist. Max brachte mich auch einmal sehr in
Bedrängnis. An Sonn- und Feiertagen wäre es unsinnig gewesen,
Josef den weiten Weg zuzumuten, nur um die Pferde zu füttern. Das
besorgte Vater; manchmal auch mein älterer Bruder, wenn dieser zu Hause
war. Nicht selten übernahm auch ich das Füttern, gab Hafer in den
Trog und Heu in die Raufe. Nach einer Weile mussten die Tiere noch
getränkt werden. Bis zu zwei Eimer Wasser können sie trinken. Max
hatte den ersten Eimer schon geleert. Der erste Durst war also gestillt und ich
bot den zweiten Eimer an. Da legte er die Ohren nach hinten und schaute mich
mit bösen, hinterlistigen Augen an. Im nächsten Moment biss er nach
mir. Gleichzeitig verstellte er mir mit seinem Hinterteil den Fluchtweg.
Ich stellte mich in Körpermitte. So verhinderte die Kette, mit der er
angebunden war, dass mich sein Gebiss erreichte. Ich wusste, bei der geringsten
Berührung würde er zu trampeln und zu toben beginnen. Meine einzige
Chance war, den schmalen Spalt hinten zu benutzen, der verblieben war. So
schnell ich nur konnte, rannte ich aus meiner misslichen Lage und schaffte es
auch. Max schlug so heftig hinter mir her, dass die Wände der Box
zersplitterten und die Holzspäne flogen. Nie mehr wagte ich mich seitdem in
seine Nähe. Ich wusste, er würde es wieder versuchen. Meinem
Vater erzählte ich leichenblass von meinem Erlebnis, und er erschrak ganz
gewaltig. Das hätte böse ausgehen können. Inzwischen hatte sich der Krieg
immer mehr ausgeweitet. Die Arbeitsplätze der Männer besetzte
man mit Frauen und Mädchen. Die Rüstung lief auf vollen Touren. Ganz
sicher wäre ich in irgendeiner Munitionsfabrik oder einem ähnlichen
Betrieb eingesetzt worden, hätte Vater mich nicht in der Landwirtschaft
gemeldet. Ich wurde offiziell als Arbeiterin geführt. Dadurch blieb mir
vieles erspart, vor allem konnte ich zu Hause bleiben und meinen Eltern eine
Stütze sein. Mein älterer Bruder arbeitete
schon als Feinmechaniker in einem Kriegsbetrieb, der Ersatzteile
für die Kriegsmarine herstellte. Sein erlernter Beruf als Uhrmacher
kam ihm jetzt im Umgang mit Funkgeräten zugute. Mein jüngerer Bruder,
inzwischen gemustert und eingezogen, absolvierte nach der Grundausbildung
eine Offiziersschule in Dresden. Er besuchte uns einmal als Oberfähnrich
und kam dann als junger Leutnant in Jugoslawien zum Einsatz. Meine älteren Schwestern hatten
ihre Männer anfangs noch zu Hause. Ein Schwager, Peters Bruder, war im
technischen Dienst bei der Reichsbahn als unabkömmlich eingestuft und
konnte so gottlob alle Kriegsjahre bei seiner Familie verbleiben. Der
andere Schwager, Angestellter bei der Post, wurde dann doch noch Soldat. Als
bei einem nächtlichen Bombenangriff das Haus getroffen und unbewohnbar
war, bekam er drei Tage Sonderurlaub, um bei der Evakuierung von Frau und Kind
zu helfen. Vater besorgte einen LKW und holte sie zu uns ins Forsthaus. Niemand konnte natürlich
voraussagen, ob unser abgelegener Winkel verschont bleiben würde.
Hier und da fiel im Revier schon eine Bombe, doch die hatte wohl dem Hauptquartier
oder einem der Bunker gegolten. Zumindest war die Ernährungssituation
bei uns wesentlich besser als in der Stadt. Die Lehrerfamilie und auch das
Pfarrhaus im Dorf wurden schon während meiner Schulzeit mit
frischer Butter von uns versorgt. Jetzt, wo die Zuteilungen auf den
Lebensmittelkarten immer knapper ausfielen, war eine Aufbesserung durch ein
Pfund Butter wöchentlich eine echte Hilfe. Als ich wieder einmal mein
Päckchen ins Pfarrhaus brachte und mich wie üblich in ein langes
Gespräch verwickelte, stellte mir der Herr Pastor seine Einquartierung
vor, ein junger Unteroffizier aus Neuß, der seit ein paar Tagen im
Pfarrhaus Quartier bezogen hatte. Er beteiligte sich an der Unterhaltung,
und dabei stellte sich heraus, dass er aus der katholischen Jugend kam und
Religion und Idealismus ganz groß auf seine Fahne geschrieben hatte.
Richard, so hieß der junge Mann, hatte bis zum Kriegsbeginn eine
Pfadfindergruppe geführt und war ein Idealist bis auf die Knochen.
Bei allen Unterhaltungen stellte sich heraus, dass wir viele gemeinsame
Interessen hatten. Es gab kaum ein Gebiet, auf dem er nicht zu Hause war,
ob es sich um die Natur, die Musik, die Sterne oder fremde Länder
handelte. Begeistert erzählte er aus einer Pfadfinderzeit und von dem
Umgang mit jungen Menschen. Wir trafen uns nach einiger Zeit
regelmäßig, wobei vom ersten Gespräch an klargestellt wurde,
dass ich einen festen Freund hatte. Wie sagt man so schön: Wo das Herz von
voll ist, läuft der Mund über. Natürlich erzählte ich,
wie ich Peter kennenlernte, und dass wir nach Kriegsende heiraten wollen.
Aber einer guten Freundschaft stand das nicht im Wege. Im Gegenteil, wir wollten
beweisen, dass dies möglich ist, auch zwischen verschiedenen
Geschlechtern. Richard war noch auf der Suche nach
einer Partnerin, und wenn er glaubte ein Mädchen gefunden zu haben,
schleppte er sie zu einer eng befreundeten ,jungen Familie mit neun Kindern.
Seine Devise war: "Aus der Reaktion auf die Kinder und deren Verhalten dem
Mädchen gegenüber kann ich sehen, ob es für mich die
Richtige ist." Kinder haben einen untrüglichen, natürlichen
Instinkt den Erwachsenen gegenüber. Das habe ich später oft erfahren,
als ich selber Kinder hatte. Dass ich vernarrt in Bücher war
und auf diese Weise mein Allgemeinwissen etwas aufpolieren wollte, hatte
Richard schnell gemerkt. Zu Hause in Neuß besaß er eine Menge guten
Lesestoff, und er brachte mir gleich nach der ersten Heimfahrt einen
ganzen Koffer voll davon mit. Jede freie Minute beschäftigten wir uns
mit Büchern und so lernte ich Julius Langbehn, Adalbert Stifter,
Matthias Claudius, aber auch Schriftsteller wie Spörl kennen. Die Feuerzangenbowle
zum Beispiel bereitete uns viel Vergnügen und nicht selten ging ich irgend
einer Arbeit nach und Richard las mir derweil aus dem lustigen Band vor. Als
einmal mein jüngerer Bruder Heinz einige Tage Urlaub zu Hause verbrachte
und Richard auch gerade über das Wochenende bei uns weilte, hörte ich
in der Frühe um fünf Uhr aus dem angrenzenden Schlafzimmer schon
Gelächter. Da wusste ich: die beiden lesen die Feuerzangenbowle. Etwa drei Wochen dauerte Richards
Einquartierung im Pfarrhaus, dann kam er zum Fronteinsatz nach dem Osten,
und seither herrschte nicht nur zwischen Peter und mir reger Briefwechsel,
sondern auch an ihn gingen viele Briefe. * Peter weilte immer noch in Sofia. Er
war dem deutschen Luftattaché unterstellt und machte im dortigen
Postgebäude Dienst als Fernschreiber. Neben den männlichen
Kameraden verrichteten später auch Nachrichtenhelferinnen der Luftwaffe
und des Heeres Funk-, Fernschreib- und Fernsprechdienste in der
bulgarischen Hauptstadt. In Sofia war die Lage nach wie vor
ruhig. Da Peter nun einmal als Fernschreiber an einer Nachrichtenzentrale
Dienst tat, lag der Gedanke nahe, dass er sich intensiv nach einer Fernsprechmöglichkeit
mit einem Angehörigen in der Heimat umschaute. Seine ältere
Schwester arbeitete damals in einem Lazarett in Koblenz als examinierte
Krankenschwester im OP-Bereich. Normalerweise wurden in diesem Lazarett
keine Zivilpersonen behandelt, doch als sich ihre Mutter eines Tages einer
Operation unterziehen musste, nahm man sie dort auf. So fühlte sie sich
bei ihrer Tochter in den besten Händen. Zu diesem Lazarett hin suchte Peter
nun über Wehrmachtsleitungen eine Sprechmöglichkeit, und es gelang
ihm tatsächlich eine Verbindung herzustellen. So konnte er
erfahren, wie die Operation verlaufen war und auch seinen Vater und die
Geschwister sprechen. Als ich einmal einen Krankenbesuch machte, stand ich
ebenfalls aufgeregt in der Runde und konnte mit ihm reden. Das war schon eine
feine Sache. Nun hatten wir im Forsthaus auch
Telefon. Also blieb es nicht unversucht, auch mit mir eine
Sprechverbindung aufzubauen. Klingelte dann zu halber Nachtzeit das Telefon (um
diese Zeit waren die Leitungen am wenigsten belastet), dann rannte ich aus
dem Bett, denn um diese Zeit konnte das nur Peter sein. Doch über
Postleitung war die Verständigung so schlecht, dass man nur Wortfetzen
verstehen konnte und auch ich war in Sofia kaum zu hören, obwohl ich das
ganze Haus mit meiner lauten Stimme weckte. Wir mussten uns also weiter
mit Briefen begnügen. Das wurde mit einem Schlag anders,
als eines Tages ein riesiger Funkwagen der Wehrmacht anrollte und in den
Räumen, wo ehemals die Kastanien und Eicheln für die
Wildfütterung lagerten, eine Vermittlungsstelle installiert
wurde. Man hievte die Apparaturen mit einem Kran durch das Fenster. Zwei
Soldaten, welche diese Geräte bedienten, richteten sich im
Nebenzimmer ihre Bleibe ein. Es dauerte nicht lange, und man kam
auch einmal ins Gespräch. Ich berichtete Peter im Brief von dieser
Nachrichtenstation in der Hoffnung, jetzt eine Möglichkeit für
Gespräche mit Sofia zu bekommen. Im nächsten Brief schrieb er,
ich möge Deckname und Nummer der neuerrichteten Dienststelle erfragen. Das
war nun absolut unvorschriftsmäßig, sogar 'Geheimsache', da diese
Vermittlung zum Führerhauptquartier gehörte. Die beiden Soldaten
hätte das Schlimmste erwartet, wäre ihnen die Weitergabe solcher
Informationen angelastet worden. Andererseits hatten sie viel
Verständnis für unser Ansinnen und so ließen sie einmal, wie
unbeabsichtigt, einen Zettel liegen, auf dem die erfragten Angaben notiert
waren. Als nächstes vereinbarten wir brieflich eine Uhrzeit, zu der
er sich melden wollte. Dafür bot sich der Sonntag an, wo die beiden
Soldaten frei hatten und ins Dorf schlenderten. Auf der einsamen Bude
zu sitzen war nicht nach ihrem Geschmack. Da war es schon unterhaltsamer, im
Dorf ein Bier zu trinken oder mit den Mädchen zu plänkeln. Jedenfalls
saß ich pünktlich um vierzehn Uhr oben in der Vermittlung und
wartete aufgeregt auf ein Gespräch mit Sofia. Schlag vierzehn Uhr
läutete das Telefon. Wir konnten miteinander sprechen, über eine
Strecke von mehr als zweitausend Kilometer hinweg. Die Verständigung
war so gut, als würde aus dem Nebenraum gesprochen. Natürlich
waren die Leitungen des Führerhauptquartiers besonders
verstärkt. Nun konnten wir uns jeden Sonntag
eine halbe, manchmal sogar eine ganze Stunde unterhalten. Das war eine
feine Sache. Einige Wochen dauerte diese Herrlichkeit, dann mussten die
Geräte wieder abgebaut und in den großen LKW verladen werden. Wenige Tage später erfuhren wir
dann, dass die Vermittlung wieder abgebaut werden sollte. Der Russlandfeldzug
hatte begonnen und das Hauptquartier und der Generalstab wurden nach Berlin
bzw. nach Ostpreußen verlegt. Dieses Hauptquartier nannte sich
WOLFSSCHANZE. Der komfortable Führerbunker bei Rhodert,
FELSENNEST wurde nur noch sporadisch bezogen, oder stand den
Befehlsstäben für die Westgebiete zur Verfügung. Peter kam im Oktober 1941 zum ersten
Mal von Sofia aus in Urlaub. Die Freude war riesengroß. Ich
quartierte mich für diese Zeit bei meinen Verwandten im Nachbarort ein,
der eine halbe Fußstunde von seinem Heimatort Linz entfernt
lag. Drei gemeinsame Wochen lagen vor uns, doch wie schnell vergingen solche
Tage. Ehe man sich's versah, hieß es schon wieder Abschied nehmen. Doch
es gab viel zu erzählen, aus dem fernen, fremden Land Bulgarien, das
von orientalischen Einflüssen durch die vierhundert Jahre
währende osmanische Herrschaft geprägt war. Das war eine ganz
andere Welt. Ende 1942, als Peter sich wieder
einmal im Urlaub befand und eine Woche davon bei uns im Forsthaus verbrachte,
weilte auch Richard gerade in der Heimat und kam zu einem Besuch. So
lernten die beiden sich kennen. In Briefen war zwar schon oft die Rede von dem
Einen und dem Anderen gewesen, doch hatte sich ein persönliches
Kennenlernen bisher nicht einrichten lassen. Ich hatte den Eindruck, dass
beide sich sofort gut verstanden. Jedenfalls wurden es schöne, gemeinsame
Tage, die das Vertrauen stärkten und klar und harmonisch verliefen.
Ein jeder wusste, was er von dem anderen zu halten hatte. Bis zum März 1943 konnte Peter
regelmäßig, jedes halbe Jahr, in Urlaub nach Hause fahren. Danach
betrug die Spanne erstmals ein ganzes Jahr. Auch in Sofia war es vorbei mit der
Ruhe. Die Dienststelle wurde von Helferinnen übernommen und das
Quartier im Hotel mit einer Baracke außerhalb der Stadt getauscht. Sein
Dienst verlagerte sich jetzt auf den rein technischen Bereich: Leitungsbau
und die Unterhaltung dieser Nachrichtenverbindungen. Unser Briefwechsel
funktionierte aber noch einigermaßen gut. Nur wenn durch Luftangriffe
oder Partisanenüberfälle die Bahnverbindung ins Reich
unterbrochen war, staute sich natürlich auch die Beförderung der
Feldpostsendungen. Zu Hause, in Westdeutschland, war
der Krieg inzwischen geprägt von ständigen schweren Luftangriffen.
An unserem Hof gab es ein Kommen und Gehen. Alle Truppenverschiebungen mussten
jedoch bei Dunkelheit geschehen. Am Tage konnte jede Bewegung aus der Luft
beobachtet werden. Waren wieder einmal Soldaten abgerückt, erschienen
gleich Quartiermacher für neue Einheiten. Da diese sich bei der
Ankunft im dunkeln mit den Örtlichkeiten nicht auskannten, der
Flieger wegen aber kein Licht angezündet werden durfte, waren Vater und
ich oft halbe Nächte auf den Beinen um die Leute einzuweisen. Die feindlichen
Aufklärer besaßen inzwischen so hoch entwickelte Instrumente, dass
sie aus großer Höhe sogar das Glimmen einer Zigarette erkennen konnten.
Alle Aktivitäten wurden daher in die Abend- und Nachtstunden verlegt,
wobei man sorgfältig darauf achten musste, dass die Fenster dicht
verdunkelt waren. Jeder kleinste Lichtschimmer konnte einen Angriff
auslösen. Im April 1944 stand für Peter
wieder ein Heimaturlaub an. Wie die Entwicklungen der Kriegslage erahnen
ließen, konnte das der letzte Urlaub aus Sofia sein. Lange würden
sich die deutschen Soldaten dort nicht mehr halten können, zumal nach
dem Tode von König Boris und dem späteren Einmarsch der russischen
Truppen, im September des gleichen Jahres, die Bulgaren Deutschland auch noch
den Krieg erklärten. Wir planten daher angesichts der unsicheren Zukunft,
uns in diesem Urlaub zu verloben, um so auch nach außen hin unsere
Zusammengehörigkeit zu demonstrieren. Zu dieser Zeit konnte man
für Geld schon keine Ringe mehr kaufen. Ich versuchte es mit Speck und
Butter und erstand so zwei schlichte Goldringe, die ich stolz aufbewahrte,
bis Peter kam. Mit Lebensmitteln im Koffer machte ich mich auf den Weg nach
Linz, wo wir uns nach einem langen Jahr wiedersahen. Im kleinen Familienkreis wurde eine
bescheidene Feier arrangiert. Nun fühlten wir uns noch stärker
miteinander verbunden. Dass nach diesem Urlaub die Trennung besonders schwer
fiel, mag ein jeder nachempfinden. Wir konnten nur hoffen und beten, dass
wir uns wiedersehen würden. Wie dramatisch sich die Zeiten
verschlechtert hatten, bekam jeder am eigenen Leibe zu spüren. Hunger, Tod
und Tränen bestimmten den Alltag jener Tage. Hinzu kam die Angst. Die
Städte waren verwüstet, die Menschen hin und her verschickt worden,
und ein Ende war immer noch nicht abzusehen. In den ersten Septembertagen des
Jahres 1944 gelang es den deutschen Soldaten in Bulgarien das Land zu
verlassen. Erst hofften noch alle, dass es ein zügiger Rückmarsch in
die Heimat werden könnte, doch in den Rückzugskämpfen
rieben sich die Einheiten immer wieder auf, sammelten sich mit anderen
Versprengen und so geriet Peter schließlich in Kroatien, bei Vinkovci,
wie wir später erfuhren, in Gefangenschaft. Damit war die Verbindung in
die Heimat abgebrochen. Inzwischen hatten die englischen und
amerikanischen Invasionstruppen den Ärmelkanal überquert und
waren erfolgreich auf französischem Boden auf unsere Grenzen vorgedrungen.
Unsere Kriegsführung machte noch einmal den verzweifelten Versuch, durch
die sogenannte 'Ardennen Offensive' die alliierte Invasionsarmee aus Frankreich
zu vertreiben. Was sich in diesen Tagen der Truppenbereitstellung bei uns
tat, lässt sich kaum beschreiben. In den Wäldern lagerten tausende
Fässer mit Kraftstoff, die für den Nachschub bereitgehalten wurden.
Die Fernsprechaktivitäten wurden verstärkt, so dass unser Hof
kaum noch zu überqueren war, vor lauter Leitungen. Innerhalb von zwei
Tagen rollten LKW's mit Soldaten an und brachten fünfzehntausend Mann
in Hof, Haus, Schuppen, Stallungen, Scheune und Baracken unter. Es gab
kein Fleckchen, welches nicht belegt war. In den Futtertrögen der
Kühe, zwischen den Tieren, in jedem Winkel lagen Soldaten. Es hieß:
"Morgen in der Frühe geht es in Richtung Frankreich". Ich nahm an diesem Abend mitten in
der Küche stehend mein Abendessen ein. Es fand sich kein Platz, wo
ich meinen Teller hätte abstellen können. Einige Soldaten saßen
oder standen um den Küchentisch und verspielten mit Karten ihr letztes
deutsches Geld. "Morgen brauchen wir's nicht mehr. Da zahlen wir mit
'Franc'." Die so redeten, gehörten zu einer Sondereinheit. Die meisten
von ihnen, oder alle, waren Freiwillige. Viele von ihnen hatten schon deutliche
Blessuren davongetragen, ein Bein, ein Auge oder eine Hand verloren.
Trotzdem waren sie der festen Überzeugung, dass sie die
Invasionsarmee der Alliierten wieder vom Festland vertreiben würden.
Alle sprachen englisch und besaßen komplette alliierte Uniformen und
Ausrüstungen, einschließlich entsprechender Pässe.
Jetzt wollten sie den Gegner unterlaufen und eine heillose Verwirrung anrichten.
Was für ein wahnwitziges Unterfangen! Alle waren voller Begeisterung
und Zuversicht. Ich erinnere mich wie heute:
Für die Soldaten hier am Hof war die Uhrzeit 5 Uhr 23 ausgegeben worden.
Auf die Minute genau hörte man nur noch laufende Motoren. Wenig später
war dieser ganze Spuk vorüber. Bis auf wenige, die den Nachschub
sicherstellen sollten, waren alle in Richtung Westen verschwunden. Es ist bekannt, dass diese Aktion
erfolglos blieb. Von den vielen, mit Benzin gefüllten Fässern,
will man später die meisten von Gewehrkugeln durchlöchert gefunden
haben. So ist dieser Kraftstoff im Waldboden verronnen. Das war es aber nicht
allein. Bei dieser 'Blitz'-Offensive baute man darauf, die gesamte alliierte
Kraftstoffbereitstellung in die Hand zu bekommen. Aber die hat es nicht
gegeben. Die Invasionsarmee wurde über eine Pipeline, die man in den
Ärmelkanal abgesenkt hatte, vom englischen Festland her versorgt. So
sind die jungen Soldaten, die uns an jenem Morgen voller Tatendrang
verließen, nicht allzu weit gekommen. Ihre englisch-amerikanische
Maskerade hat man ihnen, wie später zu erfahren war, sehr verübelt.
Man hat sie allesamt erschossen. Dieses ganze Unternehmen war ja wohl auch auf 'Alles oder Nichts'
angelegt. Zwischen all diesem
militärischen Treiben versuchten wir die Funktionen am Hof so gut es ging
aufrecht zu erhalten. Die Felder waren notdürftig bestellt worden. Josef,
der wegen seines Alters und seiner Schwerhörigkeit zu keinem
Kriegsdienst eingezogen worden war, versah noch immer die anfallenden Arbeiten.
Dabei halfen mal der Eine oder Andere aus dem Dorf; manchmal sogar Soldaten.
Möglicherweise stammten sie aus bäuerlichen Betrieben und freuten
sich, wieder einmal einer liebgewordenen Beschäftigung nachgehen zu
können. Zeitig im Herbst mähte Josef mit der Mähmaschine in der
Dämmerung die reifen Weizen- und Roggenfelder und fuhr die Garben in die
Scheune. Das noch vorhandene alte Stroh stapelte man unter das Dach, indem
dort vorher Bretter über das Gebälk gelegt wurden. So schaffte man Platz
für die neue Ernte. Wie ich schon an anderer Stelle
erwähnte, zerstörten Bomben das Haus meiner Schwester in
Düsseldorf. Seitdem wohnte sie mit dem etwa vierjährigen
Söhnchen Willi bei uns. In der ehemaligen Schweizerwohnung hatte
eine junge Gärtnersfrau mit Töchterchen Helga ein Heim gefunden.
Ihr Mann war gleich zu Beginn des Russlandfeldzuges vor Leningrad gefallen. Die
beiden Kinder spielten täglich miteinander und waren noch zu jung, um
all das Leid dieser Zeit zu begreifen. Helgas Mutter nahm einen älteren,
pflegebedürftigen Onkel bei sich auf. So war sie in ihrem Kummer nicht
ganz allein und stellte sich gleichzeitig eine pflegerische Aufgabe. Etwa
zwei Jahre lebte der alte Herr noch, dann fand sie ihn eines Morgens. Ein
Herzinfarkt hatte sein Leben beendet. Wenigstens brauchte er während der
letzten Monate seines Lebens keinen Hunger zu leiden. Unsere beiden
Kühe, die Schweine und Hühner lieferten, was man zum Leben
brauchte. Hinzu kamen die Erträge der Felder und des Gartens. Es war Spätherbst 1944 geworden
und alles richtete sich auf den kommenden Winter ein. Uns standen
inzwischen nur noch die unteren Räume unseres Wohntraktes zur
Verfügung. Die Speicherzimmer bewohnten Offiziere. Meist blieb eine
Einheit drei bis vier Wochen, dann kamen wieder neue Gesichter. Die
Tageseinteilung geschah nicht mehr nach der Uhr, sondern wurde bestimmt von den
Fliegerangriffen. Vieles, was draußen erledigt werden musste, geschah
abends oder morgens in der Dämmerung. Die Kühe auf die Weide zu
treiben war nicht mehr möglich. Man mähte das Gras und
verfütterte es im Stall. Renno hatte mit zwölf Jahren
ein beachtliches Hundealter erreicht. Nun bekam er plötzlich Probleme
mit dem Rücken. Zuerst erkannten wir die kranke Stelle daran, dass sein
Winterfell dort nicht mehr ausfiel. Nach einiger Zeit begann er zu lahmen und
knickte auf den hinteren Läufen immer häufiger auf die Seite. Bald
machte ihm auch das Aufstehen große Mühe. Heute hat man die Möglichkeit,
in solchen Fällen durch Einschläfern einen humanen Tod herbeizuführen.
Damals bot sich uns diese Möglichkeit nicht. Statt dessen erhielt ich von
Vater die Erlaubnis, den Hund durch Erschießen von seinen Leiden zu
erlösen. Ich selbst brachte das natürlich nicht übers Herz. Ich
besprach mich mit einem Soldaten, und dieser erklärte sich bereit, das
Tier zu erschießen. Als Vater wieder einmal den ganzen
Tag im Revier verbrachte, nahm ich seinen Drilling, lud ihn und machte
mich mit Renno und dem Soldaten auf den Weg in den Wald. Schweren Herzens
band ich Renno an einen Baum und ging ein wenig abseits, um mir nicht alles
Weitere mit ansehen zu müssen. Als der Schuss gefallen war, stellte
sich jedoch heraus, dass der Soldat den falschen Lauf erwischt und
mit Schrot geschossen hatte. Sicher war es sein erster Schuss aus
einem Drilling. Ich riss ihm die Flinte aus der Hand und schickte die
erlösende Kugel hinterher. Den Blick, mit dem Renno mich noch anschaute,
werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Wir vergruben ihn an Ort und Stelle.
Als ich nach einer Woche sein Grab aufsuchen wollte, war es leer. Ein
Fuchs hatte Witterung bekommen und ihn ausgescharrt. Man sah es deutlich
an den Spuren. Vater wollte wissen, warum zwei
Schüsse gefallen waren. Ich brachte es nicht fertig, ihm die Wahrheit zu
sagen, sondern gab an, dieser zweite Schuss sei nur zur Sicherheit abgefeuert
worden. Das Wetter blieb im besagten Herbst
lange mild. In früheren Jahren herrschte am ersten November, Allerheiligen
also, manchmal schon klirrender Frost. Dieser Feiertag fiel damals
auf einen Sonntag. Am darauffolgenden Allerseelen-Tag kam Josef in der
Frühe um die beiden Pferde zu versorgen. Vater hatte sich vorgenommen, die
Löhnung zu schreiben, um allen, die in der Erntezeit geholfen hatten, den
Lohn auszuzahlen. Etwas ungehalten reagierte er damals auf einen
Telefonanruf, in dem ein Dorfbewohner darum bat, seine Futterrüben vom
Feld holen zu dürfen. Vater wäre viel lieber an seinem Schreibtisch
geblieben. So aber musste er hinaus auf das Feld, um diesem Mann zu zeigen,
welche Rüben er abfahren konnte. Er überlegte mit Josef, der
ohnedies die Pferde bewegen und ausreiten wollte, dann auch gleich die
restlichen Rüben an einen anderen Käufer ins Dorf zu liefern. Während Vater zum Feld ging,
schirrte Josef unter dem Tarnnetz am Schuppen die Pferde in den Wagen. Es
war um die Mittagszeit. Mutter pflegte ihren Mittagsschlaf zu halten und
meine Schwester hatte ihren Jüngsten, der im Sommer zur Welt gekommen
war, gefüttert und zu Bett gebracht. Ich saß in der Küche, nahe
beim Fenster, und warf einen Blick in die Zeitung. Plötzlich vernahm ich das
Motorengeräusch eines Flugzeuges. Ein riesiger Schatten huschte
über den Hof. Ich konnte noch erkennen, dass es eine englische
Maschine, ein 'Doppelrumpf-Jäger' war. Im nächsten Moment krachte es
auch schon. Staub wirbelte auf. Ich rannte in das Zimmer, in dem das Baby
schlief und riss es mit der Decke aus dem Bettchen. Im nächsten Augenblick
stand auch Mutter schon in der Tür, und ich brachte sie alle, auch meine
Schwester, schnellstens in den Keller. Niemand konnte wissen, ob diesem Angriff
nicht ein Zweiter folgen würde. Also wechselten wir schleunigst in den
für Angriffe vorgesehenen Rübenkeller. Dort gerade angekommen,
hörte man vom Hof her den Ruf "Feuer!" Mein Vater hatte mir für diese
Situation alle Handgriffe eingeprägt. Ich rannte nach oben und sah die
Scheune brennen. Zwei Soldaten, die gerade greifbar waren, drückte ich den
Hydrantenschlüssel und die Feuerwehrschläuche in die Hand. So richteten sie im Handumdrehen den
Wasserstrahl auf das Scheunendach. Ein weiterer Soldat hatte schon
versucht, mit einem der üblichen Feuerlöscher dem Brand zu Leibe zu
rücken. Durch den schnellen Einsatz griff das Feuer nicht um sich und
konnte rasch gelöscht werden. Meine Schwester rief indessen nach
dem kleinen Willi, der mit Helga draußen spielte, als der Angriff
stattfand. Doch Soldaten hatten die beiden Kinder in Sicherheit gebracht. Ihnen
war, außer einem mächtigen Schrecken, nichts geschehen. Das alles spielte sich so schnell
ab, dass man noch gar nicht übersehen konnte, was überhaupt geschehen
war. Meine Angehörigen hielten sich im Keller auf. Da lief ein Soldat
aufgeregt auf mich zu. Josef und die Pferde waren getroffen worden. Am Hoftor
bot sich uns ein schlimmer Anblick. Josef, der gerade mit dem Fuhrwerk die
Straße erreicht hatte, war von einem Geschoss getroffen worden und sofort
tot. Ebenso das Pferd, auf dem er gesessen hatte. Das zweite Pferd stand noch
schwankend auf den Beinen, war aber auch schwer getroffen. Sein
Unterkiefer war zerfetzt. Ich bat die Soldaten, ihm den Gnadenschuss zu
geben. Doch das war ihnen nicht möglich. Sie verfügten nur
über abgezählte Munition. Schnell holte ich Vaters Drilling und einer
der Männer erlöste das arme Tier von diesem Zustand. Nun kam auch Vater angelaufen, mit
hochrotem Kopf und völlig außer Atem. Er hatte vom nahegelegenen
Feld aus den Angriff beobachtet und war so schnell es ging nach Hause gerannt.
Der Anblick der sich ihm bot war grausig. Wir blieben zum Glück alle
unversehrt, aber dass Josef einen solchen Tod fand, das hat uns alle noch lange
mit großer Trauer erfüllt. Vater blieb die schwere Aufgabe, den
Armen zu seiner Familie zu bringen. Ein Offizier stellte dafür ein
Auto zur Verfügung. Nun konnten wir, als alles ruhig blieb und kein
weiterer Angriff mehr stattfand, erst einmal sondieren, was geschehen war. In der Scheune hatte nur das alte
Stroh gebrannt, das oben unter dem Dach gestapelt war. So blieben die
ungedroschenen Garben ohne Schaden. In unserem Wohnhaus gab es mehrere Einschläge
und aufgerissene Wände. Da, wo Vater gesessen hätte, um die
Löhnung zu schreiben, wenn er nicht auf das Feld gegangen wäre,
klaffte ein Loch in der Wand. Das Geschoss durchschlug die Mauer genau in
Brusthöhe. In meinem Schlafzimmer hatten zwei Einschüsse
das Kopfkissen und die darunterliegende Matratze durchschlagen. Der
übliche Mittagsschlaf wäre mein Tod gewesen. Hätte ich im
Büro in dem großen, bequemen Sessel vor dem gusseisernen Ofen
meine Mittagspause verbracht, wie das oft geschah, wäre ich ebenfalls
genau in der Schusslinie gewesen. Eine Kugel war durch den Sessel
gedrungen und hatte die Ofentür zerschmettert. Seit diesen Tagen
glaubte ich nicht mehr an Zufälle. Nach diesem Ereignis überlegte
Vater, wie wir uns besser vor Angriffen schützen könnten. Es gab
in der Nähe, etwa achthundert Meter vom Haus entfernt, einen alten
Steinbruch. Aus ihm hatte man die Steine entnommen, um im Revier die Wege zu
befestigen. So war eine etwa acht bis zehn Meter hohe Böschung entstanden,
in deren Mulde sich mit der Zeit Bäume und Strauchwerk ansiedelten.
Vater ließ in eine Tannengruppe eine Lücke schlagen und in
dieses Versteck eine Hütte bauen. Die Wände bestanden aus starken
Baumstämmen in Doppelreihe; ebenfalls das Dach. Darauf wurden
außerdem noch Pressstrohballen gestapelt. Für den Boden und die
Innenwände verwandte man dicke Bohlen und der Raum, den wir bewohnen
wollten, wurde sogar mit einer Tapete versehen. So entstanden zwei
nebeneinanderliegende Räume, jeder etwa sechzehn Quadratmeter groß.
Wir packten im Forsthaus die wertvollsten Sachen, wie Porzellan, Geschirr,
Silber, Wäsche und das Notwendigste für den Alltag in Kisten und
Kasten und transportierten es in die Hütte, so viel hineinpasste.
Dabei blieb ein Raum zum wohnen und wurde mit dem Nötigsten eingerichtet.
Ein Küchenherd, zwei Liegen für die Nacht, ein Regal um das Geschirr
unterzubringen, sowie Tisch und Stühle. Ab sofort bewohnten meine Eltern
ständig diese Hütte. Wir jüngeren hielten uns nur am Tage
dort auf. Abends, in der Dämmerung, schlichen wir auf einem Waldpfad,
der durch hohe Tannen führte, zum Wohnhaus, um die Tiere zu versorgen, die
Kühe zu melken und die unbedingt notwendigen Arbeiten zu verrichten.
Meist wurde die Nachtruhe sehr kurz. Ganz früh am Morgen mussten dann
die Tiere wieder gefüttert werden. Diesmal für den ganzen Tag, denn
wir würden erst am Abend wiederkommen. Was Mutter für die Verpflegung
brauchte, nahmen wir mit in die Hütte. Es waren immerhin fünf
Erwachsene und drei Kinder zu versorgen. Alle mussten sich mit dem engen
Raum begnügen. Bei gutem Wetter konnten die Kinder
unter hohen Bäumen draußen spielen. Sie waren dort vor den
Spähern aus der Luft geschützt. Überhaupt nutzten wir jede
Gelegenheit, um uns draußen aufzuhalten. Man konnte ja nicht ständig
in der engen Hütte herumsitzen. Vater und ich beschäftigten uns
tagsüber, wenn es ruhig blieb damit, Steine aus dem Steinbruch zu holen
und sie rund um die Hütte zu stapeln. Mit der Zeit entstand so ein Wall
von etwa einem Meter fünfzig Tiefe und einer Höhe, die bis an
das Fenster reichte. Bei Luftgefechten oder Bombenabwürfen legten wir uns
hinter diesem Steinwall auf den Boden, immer eng an die Außenwand
geschmiegt. Gegen einen direkten Volltreffer wäre das alles kein Schutz
gewesen, aber vor Splitter fühlten wir uns einigermaßen sicher.
Ich erinnere mich, dass es einmal wochenlang regnete. Der Weg zur Hütte
wurde zum Morast. Zum Glück hatte mir ein Soldat, der vier Wochen lang am
Hof einquartiert gewesen war, aus Norwegen ein Paar Gummistiefel
geschickt. Die leisteten mir jetzt unbezahlbare Dienste. Vater und ich wollten ein halbes
Stündchen durch den Wald laufen. Mutter kochte derweil das Mittagessen.
Wir waren etwa zweihundert Meter von unserer Hütte entfernt, da
hörten wir ein Bombergeschwader anrauschen. Während wir noch kurz
überlegten, ob wir umkehren sollten, fielen auch schon die ersten
Bomben. Wir warfen uns in eine Bodenmulde und waren im nächsten
Augenblick von Staub so überschüttet und eingenebelt, dass wir
kaum noch atmen konnten. Wochenlang war es nass und Wasser stand überall
in Pfützen. Jetzt aber verdunkelte der aufgewirbelte Staub den
Himmel. Überall nur Staub, wohin man schaute. Er knirschte sogar zwischen
unseren Zähnen. Der Bombenteppich hatte wohl den Bunkern der
Stabsoffiziere gegolten. Bis zu einer Entfernung von etwa achthundert
Metern reihten sich Krater an Krater. Zum Glück hatten sie uns und unsere
Hütte verschont. Wir rannten zurück und fanden alle unversehrt.
Nur das Geschirr war teilweise aus dem Regal gefallen und hatte den einen oder
anderen getroffen. Am schönsten sah derjenige aus, der unter dem
Tintenfass gelegen hatte. Wir konnten von Glück reden, dass in dieser Zeit
der Hof heil blieb und somit auch die Tiere. So lange war für unsere
Ernährung gesorgt und die Kinder hatten immer ihre Milch. * Mein Bruder Heinz weilte immer noch
in Jugoslawien, wo die Partisanenkämpfe den deutschen Soldaten viel
zu schaffen machten. Immer wieder war in seinen Briefen die Rede davon.
Gegen einen offen operierenden Gegner konnten sie sich wehren, doch gegen
Angriffe aus dem Hinterhalt waren sie oftmals machtlos. Bis zu den
Rückzugskämpfen um Agram (Zagreb) erhielten wir noch
regelmäßig Post von ihm. Dann teilte er uns eines Tages mit, er
müsse im Schnellverfahren Kroatisch lernen, da er zum Oberleutnant
befördert worden sei und in Kürze das Kommando über eine
kroatische Einheit übernehmen solle. Das Rahmenpersonal dieser
Einheit bestand aus deutschen Offizieren. Nach ihrem Einsatz in Slowenien kamen
noch einige Briefe, dann riss der Kontakt plötzlich ab. Statt dessen
erhielten meine Eltern die Nachricht, dass er vermisst sei. In den letzten Wirren des Krieges
ereilte dieses Schicksal so manchen jungen Menschen. Meine Eltern, wir alle,
trugen schwer daran. Als nach Kriegsende Suchdienste eingerichtet wurden,
schickten meine Eltern alles, was sie an Unterlagen besaßen, sowie
Standortangaben und Daten aus seinen Briefen an die dafür zuständigen
Stellen in der Hoffnung, doch noch etwas über seinen Verbleib zu
erfahren. So lange keine offizielle Todesnachricht vorlag, keimte wohl auch ein
kleiner Funken Hoffnung. Täglich hörten wir am Radio die Liste der
verlesenen Namen, über deren Verbleib man etwas in Erfahrung gebracht
hatte. Doch der Name meines Bruders war nie dabei. Auch ehemalige Kameraden,
deren Anschrift man inzwischen auf irgendwelchen Wegen ausfindig gemacht hatte,
konnten einem nicht weiterhelfen. Allerdings wussten sie zu berichten, wo sie
Heinz das letzte Mal gesehen hatten. Siebzehn Jahre nach Kriegsende, als
Vater schon nicht mehr lebte, erfuhren wir, wo mein Bruder abgeblieben war
und konnten es Mutter noch mitteilen. Es wurde ein langer Winter in der
engen Hütte. Ein jeder musste durch Geduld und Rücksichtnahme
dafür sorgen, dass alles gut und harmonisch blieb. Als Vater einmal
mit seinem Leichtmotorrad eine dringend notwendige Besorgung in
Münstereifel machen wollte, rutschte er auf der glatten Straße aus
und verletzte sich am Bein. Nur mühsam konnte er wieder auf sein
Fahrzeug steigen und sich bis zum Ort rollen lassen. Den Rückweg musste er
zu Fuß zurücklegen. Das Motorrad funktionierte nicht mehr und
musste die zwölf Kilometer bis nach Hause bergan geschoben werden.
Völlig verausgabt kam er in der Hütte an. Das Schlimmste war jedoch,
dass die Wunde durch den Frost, der damals herrschte, zu eitern begann und ihm
böse zusetzte. Mit den noch im Hause befindlichen Mitteln versuchten wir
die Wunde zu heilen. Da jedoch Venen in Mitleidenschaft gezogen waren, wurde
die Verletzung immer schlimmer. Ich entschloss mich daher, gegen Abend mit dem
Fahrrad nach Rheinbach zu fahren. Dort arbeitete zu dieser Zeit Peters
älteste Schwester in einem Lazarett und wir hofften, dass sie uns helfen
könne. Mit einer großen Flasche Rivanol kam ich am späten Abend
nach Haus. In den nächsten Tagen erlebten
wir, wie das Bein langsam besser wurde und zu heilen begann. Einige Wochen
später bildete sich in Vaters Nacken ein großer Karbunkel. Da
solche Geschwüre an dieser Stelle nicht ungefährlich sind, setzte ich
alle Hebel in Bewegung, um einen Militärarzt zu Rate zu ziehen.
Dieser nahm ihn mit in seine Sanitätsstation und schnitt das
Geschwür auf. Es dauerte jedoch lange, bis die Sache richtig verheilt war.
Solche Ereignisse belasteten die Eltern zusätzlich. Hinzu kam die
Sorge um unsere Soldaten, deren Briefe uns nur noch spärlich
erreichten. Mehrmals in der Woche ging ich abends ins Dorf, um nach Post zu
schauen. Längst schon gab es keinen geregelten Dienst mehr.
Alles war auf Notdienst umgestellt. Die Männer waren eingezogen. Im Februar 1945 erhielt ich von
Richards Bruder Josef die Nachricht, dass Richard gefallen sei. Seine Einheit
war von den Russen bis nach Halle an der Saale zurückgedrängt worden.
Dort wurde er bei dem Versuch, einen verwundeten Kameraden zu bergen,
selber von einer Kugel getroffen. Sicher konnten die Eltern sein Grab
später in der russischen Zone aufsuchen. Seine beiden Brüder blieben
in russischer Erde. - Ich hatte einen aufrechten, guten Freund verloren. * An unserem alten Volksempfänger
verfolgten wir täglich die Meldungen und orientierten uns über den
Verlauf der Frontlinien. Im Osten kämpfte man schon längst wieder auf
deutschem Boden und im Westen konnte es nicht mehr lange dauern, dass die
Alliierten den Rhein erreichen würden. Im März war es dann
soweit. Über den Rundfunk erfuhren wir, dass die Amerikaner bei Remagen
den Rhein überquert hatten. Die letzten Soldaten verließen
Hals über Kopf ihre Quartiere. Die letzte Einheit an unserem Hof war eine
berittene Kompanie gewesen. Man hatte die Pferde und Wagen einfach im Stich
gelassen und war mit den restlichen LKW's getürmt. Als sich keine
Soldaten mehr am Hof befanden, verließen wir die Hütte, verriegelten
sie und erwarteten im Forsthaus die Ankunft der Amerikaner. Zwischen dem Abzug der deutschen
Truppen und dem Anmarsch der Sieger vergingen etwa drei Tage. Wir entdeckten in
dieser Zeit noch einen gefallenen deutschen Soldaten, den man auf einem
Pferdewagen auf Stroh gebettet hatte. Mein Vater sorgte dafür, dass
seine Papiere sichergestellt wurden. Er fand auf dem Dorffriedhof vorerst
seine letzte Ruhe. Die zurückgelassenen Pferde
liefen draußen umher, versammelten sich abends jedoch meist an unserem
Hof. Als ich einmal versuchte, ihnen Hafer zu bringen, hätten sie mich
fast über den Haufen gerannt. Also warf ich nur vom Heuboden Futter in den
Hof. Darauf entstand eine wilde Rauferei unter den Tieren. Manche von
ihnen waren nur noch Haut und Knochen. Welche Strapazen mochten sie
hinter sich haben. Ich bemühte mich, zwei der Pferde einzufangen,
damit wieder eine Möglichkeit bestand, den Acker zu bestellen. Es gelang
mir auch, einen kleinen Fuchs mit langem, hellem Schweif und heller Mähne
im leeren Pferdestall anzubinden. Auch ein Rappe wehrte sich nicht, als ich ihn
in den Stall führte. Beide sahen zwar recht verwahrlost und mager aus,
aber das änderte sich bei guter Pflege in kurzer Zeit. Man kannte sie da
kaum noch wieder. Am Vormittag des dritten Tages
rollten plötzlich amerikanische Truppen an. Von weitem konnte man den
weißen Stern auf ihren Fahrzeugen erkennen. Langsam fuhren sie auf das
Forsthaus zu. Vater riet uns, weiße Tücher zu schwenken, um damit
unnötige Schießerei zu vermeiden. Vorsichtig und mit
vorgehaltener Schusswaffe kamen die Soldaten in den Hof. Einer von ihnen sprach
etwas Deutsch und wollte von Vater wissen, wer sich noch in den Gebäuden
befände. Nachdem sie alle genauestens inspiziert und sich überzeugt
hatten, dass nur wir Zivilpersonen uns hier aufhielten, gaben sie uns
Instruktionen, das Haus nicht zu verlassen und zogen wieder ab. In diesen Tagen holten wir alles,
was in der Hütte untergebracht war, wieder ins Haus, um es vor etwaigen
Plünderungen zu schützen. Meinen Koffer, in dem ich einiges an
Aussteuer verwahrte, versteckte ich auf dem Heuboden. Er war mein ganzer
Stolz und sollte einmal unseren jungen Haushalt gründen helfen. Wir konnten nun erst einmal einige
Tage unbehelligt unserer Arbeit nachgehen. Mit einem Mal glaubte ich das
Blöken eines Schafes zu hören. Wir hatten nie welche besessen; das
konnte nur ein Überbleibsel der Soldaten sein. Also ging ich der Stimme
nach und entdeckte das Tier im Schuppen, eingesperrt in einen dunklen Raum, in
dem ehemals Kunstdünger gelagert wurde. Man hatte dem Schaf zwar eine
Menge Heu als Futter gegeben, aber kein Wasser. Darum blökte es ganz
jämmerlich. Mit Vaters Hilfe versuchte ich ihm ein Halsband
anzulegen, um es herausführen zu können. Wahrscheinlich hatte es in
der letzten Zeit viel schlechte Behandlung erfahren, denn es wehrte sich mit
allen Kräften. Endlich gelang es uns doch, das Tier zu bändigen
und führten es in einen leeren Schweinestall, innerhalb unseres Kuhstalls. Jetzt versorgten wir es mit den
anderen Tieren und nach anfänglicher Abwehr wurde es nach und nach
zutraulicher und vergaß wohl die schlimmen Erfahrungen der
vergangenen Wochen. Sicher wollten die Soldaten ihre
kargen Rationen mit Hammelfleisch aufbessern. Ihr fluchtartiger Abmarsch
rettete dem Tier das Leben. Spontan fiel mir auch ein Name für
unseren neuen Stallbewohner ein. Er hieß fortan 'Knorz'. Wie ich
darauf kam? Das muss ich noch erklären: Von Gunnar Gunnarson hatte ich eine
Erzählung gelesen, die den Titel 'Advent im Hochgebirge' trug. Darin war
die Rede von einem Hirten, der in jedem Jahr, wenn der erste Schnee fiel und
alle Tiere von den Bergen in das Tal getrieben waren, sich auf den Weg machte,
um verirrte Schafe zu suchen und vor Erfrierungen und Hungertod zu retten.
Bei dieser Aktion halfen ihm die gute Nase seines Hirtenhundes und der
Spürsinn seines alten Hammels 'Knorz'. Alle drei verbrachten wahre
Heldentaten bei ihren schwierigen Vorhaben und so waren mir die Leistungen
des alten Knorz noch in guter Erinnerung, als wir in den unverhofften
Besitz des Schafes kamen. Damals konnte ich zwar noch nicht ahnen, welche
einmalige Freundschaft sich zwischen mir und Knorz entwickeln würde,
doch sage mir keiner, Schafe seien dumm. Bevor ich weiter darauf eingehe,
möchte ich jedoch noch schildern, was die nächsten Wochen für
uns brachten. Nachdem die erste amerikanische
Fronttruppe wieder abgerückt war, erschienen Offiziere, die das ganze
Gehöft inspizierten. Vater musste dann auf einen der Panzer klettern. Man
nahm ihn mit. Wohin, das wussten wir vorerst noch nicht. Als er bis zum Abend
nicht zurück war, machten wir uns große Sorgen. Erst am
nächsten Nachmittag kam er zu Fuß wieder nach Haus. Mit allen
männlichen Personen des Dorfes und der Nachbardörfer hatte man ihn in
die Kirche eingesperrt, bis jeder Einzelne vom dortigen Pastor
identifiziert und beurteilt worden war. Man wollte vor allem wissen, wer
sich als 'Nazi' hervorgetan hatte. Vater hatte die Nacht im Pfarrhaus verbringen
dürfen, während die meisten der anderen Männer
wieder nach Hause gehen konnten. Nur wenige behielt man in Arrest, aber auch
nur für kurze Zeit. Die Ungewissheit brachte uns jedoch viel Kummer.
Ungewissheit, das war in diesen Tagen die große Sorge aller. Was mochte
aus unseren Angehörigen geworden sein, aus Peter, Josef, aus Heinz, von
dem wir nur wussten, dass er vermisst war. Wie mochten unsere Verwandten die
Wirren der letzten Zeit überstanden haben? Ob wohl noch alle lebten,
nachdem die Front über sie hinweggerollt war. Man wusste nichts.
Nirgendwohin gab es eine Verbindung. * Bei uns erschienen jetzt
amerikanische Quartiermacher. Alle Räume, die vorher von deutschen
Soldaten belegt waren, mussten nun für die fremden Truppen zur
Verfügung gestellt werden. Ändern ließ sich daran nichts, wir
hofften im Stillen, dass nicht ausgerechnet schwarze Soldaten bei uns wohnen
würden. Als dann die Einquartierung anrollte, fiel mir fast das Herz
in die Schuhe. Ich sah nur schwarze Gesichter. Im ersten Augenblick
verließ mich aller Mut. Mit diesen Menschen hatte man überhaupt noch
keinen Kontakt gehabt und stand einer ganz fremden Welt gegenüber. Wir
jüngeren nahmen uns vor, uns vor ihnen zu verbergen und das Haus
nicht zu verlassen. Alles, was außerhalb der Wohnräume zu
verrichten war, besorgte von nun an Vater. Die Fenster zum Stall verhingen wir
mit Säcken, damit wir ungesehen die Tiere versorgen konnten. Ostern stand inzwischen vor der
Tür. Wir hatten uns am frühen Morgen durch den Gartenausgang
gestohlen, um zur Kirche zu gehen. Bei der Rückkehr war es unvermeidlich,
dass uns ein schwarzer Soldat zu Gesicht bekam. Ich sehe ihn noch heute, wie er
mit offenem Mund dastand und uns nachschaute. Mit der Zeit gewöhnten wir uns
an die schwarzen Gestalten. Es waren Menschen, wie alle anderen auch.
Wir machten keine bösen Erfahrungen. Kindern gegenüber hatten sie
sogar eine besondere Schwäche. Nicht selten bekamen Willi und Helga
Schokolade, Kekse und andere Süßigkeiten, Mutter sogar einmal
löslichen Kaffee. Diese Dinge waren auch für uns längst etwas
Besonderes geworden. Wir brauchten zwar nie Hunger zu leiden, aber wer
kannte noch Kaffee oder Süßigkeiten. Unter all den dunklen Gestalten fiel
ein Soldat auf, der eine ausnehmend helle Gesichtsfarbe und
weißblondes Haar besaß. Mit seinen etwas wulstigen Lippen
glich seine Physiognomie genau den schwarzen Kameraden und auch die hellen
Haare waren kraus wie die ihren. Wir hatten es wohl mit einem Albino zu tun. In den frühen Morgenstunden
eines jeden Tages wurde in der 'Gulaschkanone', die mitten auf dem Hof
stand, eine Menge Wasser heiß gemacht. Wenn sich dann die schwarzen
Gesellen mit Schüsseln heißes Wasser holten und zu schrubben
begannen, konnte man kaum glauben, dass nicht endlich die Haut hell wie die
unsrige werden würde. Ich beobachtete einmal, wie der Koch
lässig an die Gulaschkanone gelehnt, sich mit einem Kameraden unterhielt.
Von hinten schlich ein anderer heran, entfachte ein Streichholz und warf es in
die Glyzerinmasse, in welcher der riesige Kocheinsatz schwamm. Es gab eine
gewaltige Verpuffung, und die erschrockenen Soldaten machten Sätze, wie
Panther in der Wildnis. Ihre Bewegungen und ihrem Verhalten
haftete überhaupt eine Menge Natürlichkeit an. Sie konnten
sich benehmen wie die Kinder. Ein besonderer Clown war der kleine
Fahrer des Kommandanten. Ich beobachtete einmal, wie er mit seinem
Jeep in voller Fahrt auf den Hof brauste und mit einer Vollbremsung vor der
Haupttreppe zum stehen kam, im nächsten Augenblick aus dem Auto heraus
einen Satz über den Kühler machte und mit ausgebreiteten Armen, wie
ein Künstler auf der Bühne, dastand, den Applaus erwartend. Dabei
zeigte er ein so breites Grinsen, dass sein Mund fast von einem Ohr zum anderen
reichte und die weißen Zähne nur so blitzten. Jeden Morgen, wenn Vater sich
draußen sehen ließ, rannte er auf ihn zu, gab ihm mit einer Verbeugung
die Hand und sagte: "Guten Morgen mein Herr!" - Wahrscheinlich waren
das die einzigen deutschen Worte, die er kannte; doch darauf schien er
mächtig stolz zu sein. Mit der Zeit verloren wir unsere
anfängliche Scheu vor diesen fremd anmutenden Menschen. Wir machten
überhaupt keine schlechten Erfahrungen. Es war allerdings verboten, ihnen
Alkohol in irgendeiner Form zu geben. Hin und wieder fragte man uns
danach, doch nach all den Kriegsjahren glaubte man uns sicher die Antwort, dass
wir nicht mehr im Besitz von Alkohol seien. Die geretteten Weinflaschen
lagen gut versteckt auf dem Heuboden, ebenso wie mein großer
Aussteuerkoffer. Nach drei Wochen zog diese erste Einquartierung wieder ab. Sie
hinterließen Unmengen von Brot und Konserven. Zum ersten Mal lernten
wir Meatpaste und Cornet-Beef kennen. Was wir nicht selber verwerten
konnten, verschenkten wir im Dorf. Im Handumdrehen stellten sich
nämlich Ratten ein. Bald rollte ein Kommando an, das die
in den Wäldern zurückgebliebene Munition abtransportieren
oder sprengen sollte. Angeblich bestand dadurch Gefahr für unser Leben.
Wir wurden also einfach ausquartiert. Im nächstgelegenen Ort fanden wir
zum Glück eine Bleibe. Helga und ihre Mutter packten Hab und Gut zusammen
um fortan bei den Großeltern in der Nähe von Brühl zu wohnen.
Wir aber sollten auf Geheiß eines amerikanischen Offiziers alle transportable
Habe im Wohnzimmer und im Schlafzimmer meiner Eltern unterbringen. Beide
Räume lagen nebeneinander. Drei Tage blieb uns Zeit und so stapelten
wir alles, was wir mit Pferd und Wagen nicht mit in die Übergangswohnung
nehmen konnten, in diese beiden Zimmer. Was nicht in die Schränke
passte, stellten wir auf den Boden. Man versicherte uns hoch und heilig,
dass diese Räume verschlossen blieben. Niemand würde sie
betreten. Im guten Glauben zogen wir also in das Dorf, banden dort die
Kühe und die Pferde in der Scheune an. Hühner besaßen wir nicht
mehr. Die waren in die Kochtöpfe der Soldaten gewandert. Ich hatte meine
liebe Not, Knorz bis ins Dorf zu führen. Im Stall war er inzwischen schon
etwas heimisch geworden, doch erwachte jetzt das alte Misstrauen. Er
sprang um mich herum, und ich musste mich immer wieder von dem Seil befreien,
mit dem ich ihn führte. In Gesellschaft der Kühe beruhigte er sich
bald wieder. Wir richteten uns in der neuen
Umgebung ein, so gut es ging. Am nächsten Vormittag hielt es mich
nicht in der Wohnung. Ich wollte bis zum Waldrand gehen, von wo aus ich unser
Forsthaus sehen konnte. Den Dackel Ami nahm ich mit. Ja, der Gute lebte noch.
Er war immer an unserer Seite gewesen. Jetzt sollte er mich begleiten, denn wer
konnte wissen, ob sich im Wald nicht Amerikaner aufhielten. An dem
Verhalten des Hundes würde ich genau erkennen, wenn Menschen in der
Nähe wären. Ohne Zwischenfall erreichten wir den
Waldrand. Auf den ersten Blick erkannte ich, dass die Fensterläden
aufgerissen, die Fenster zertrümmert und die Gardinen in Fetzen
hingen. Wir konnten uns unschwer ausmalen, wie es drinnen aussah. Das
Versprechen der Offiziere war eine Farce gewesen. Mit dem Fahrrad machte ich
mich am nächsten Tag auf den Weg, um die amerikanische Kommandantur
in Münstereifel aufzusuchen. Ich wollte erreichen, dass wir noch einmal
in das Forsthaus gehen und mit einem Pferdewagen möglichst viele Sachen
herausholen könnten. Nach viel Palaver bekam ich am Ende eine
schriftliche Sondererlaubnis, und Leute aus dem Dorf halfen uns, so viel das
Gefährt fassen konnte, in Sicherheit zu bringen Ein großer Teil der Sachen war
jedoch nicht mehr zu gebrauchen. Was auf dem Boden gestanden hatte, war
zum größten Teil zertrampelt und unser Geschirr fand ich nach
Wochen, als wir zurückkehrten, im ganzen Gelände verstreut. Fast zwei
Monate dauerte der Aufenthalt im Dorf. Dann durften wir zurück in unser
Forsthaus. In den ersten Maitagen war dieser
entsetzliche Krieg endlich zu Ende. Hitler war tot. Die Hauptverantwortlichen
hatte man, soweit sie noch lebten, gefasst. Sie sollten sich vor einem Tribunal
der Siegermächte als Kriegsverbrecher verantworten. Die
Repräsentanten einer geschäftsführenden Reichsregierung
unterzeichneten die bedingungslose Kapitulation der Deutschen Wehrmacht. Die großen Städte waren
mehr oder weniger zerstört. Die Industrie lag total am Boden. Die Menschen
suchten verzweifelt nach ihren Angehörigen, denn Millionen
befanden sich auf der Flucht, in Kriegsgefangenen- oder Internierungslagern.
In den Ostgebieten hatte man viele Zivilisten in unbekannte Fernen
Russlands verschleppt. Sie blieben über Jahre oder für immer verschollen.
Aber irgendwie musste es ja doch weitergehen. Wenn man diesen Neubeginn
später als die Stunde NULL bezeichnete, so war das schon sehr zutreffend. Jetzt hieß es erst einmal
Ordnung zu schaffen. Vieles war gestohlen, unter anderem auch meine Gitarre, an
der ich so gehangen hatte. In einem Wandschrank glaubte ich sie hinter
Kleidern sicher versteckt, zumal dieser abgeschlossen war. Doch es gab
keinen Winkel, den die Soldaten nicht durchstöberten. Was ihnen
gefiel und was sie brauchen konnten, ließen sie kurzerhand mitgehen. Vaters
Schusswaffen, seine beiden Ferngläser und auch meine russische
Leica, die Richard mir geschenkt hatte, und die mir als Andenken wertvoll
war, mussten wir in den ersten Tagen der Besatzung ohnehin abgeben. Die Sachen
wurden registriert, doch außer der Kamera erhielten wir nichts
zurück. Erst später konnte man sich melden und eine finanzielle
Entschädigung fordern. Doch was war damals das Geld noch wert?
Man konnte sich nichts mehr dafür kaufen. Amerikanische Einquartierung gab es
jetzt nicht mehr am Hof. Das große Aufräumen konnte beginnen.
In den Unterkünften der Soldaten stand noch manches Inventar. Es
wurde von den Behörden registriert und später abgeholt. Bevor
dies geschah, suchten wir uns einige brauchbare Sachen heraus.
Schließlich war bei uns auch nicht alles heil geblieben. Soldatenspinde,
Tische, Stühle und Wolldecken waren Dinge, die uns nützlich sein
konnten. Wir betrachteten es als kleinen Ersatz für all das, was uns
abhanden gekommen oder beschädigt worden war. Die Tage normalisierten sich langsam
etwas. Es blieb die Sorge um unsere Soldaten. Von Peter und auch von Josef
blieb jede Nachricht aus. Hörte man fremde Schritte auf der Straße,
so hoffte man im Stillen, es möge einer der Angehörigen sein. Heinz,
über den wir die Vermisstenanzeige erhalten hatten, könnte doch
auch noch leben. Meine Eltern, wir alle, klammerten uns an jeden Funken
Hoffnung. Es war nicht das erste Mal, dass jemand, der vermisst gemeldet
wurde, eines Tages doch noch heimkehrte. Ich vergesse nicht den Vormittag im
August, als plötzlich eine abgerissene Gestalt, mit einem
Knüppel in der Hand auf den Hof kam und uns freudig begrüßte.
Es war mein Bruder Josef, der es geschafft hatte, den weiten Weg von Berlin zu
Fuß bis in die Eifel zurückzulegen. Seine Wirtsleute, bei denen
er in Berlin-Kreuzberg wohnte, als er im Rüstungsbetrieb arbeiten musste,
verhalfen ihm zu einer Möglichkeit, über die Grenze zu
kommen. Man muss dazu wissen, dass die Alliierten Deutschland in Sektoren
aufgeteilt hatten. Berlin-Kreuzberg gehörte zur
russischen Zone, während die angrenzende ländliche Umgebung von
den Engländern verwaltet wurde. Die Leute, bei denen mein Bruder wohnte,
lagen mit ihrem Haus und den angrenzenden Äckern genau auf der
Sektorengrenze. Das Haus stand im russischen, die Felder lagen im
englischen Sektor. Zur Kartoffelernte bekamen sie also eine Sondergenehmigung,
um diese Grenze passieren zu dürfen. Die Posten kannten wohl diese Leute.
Jedenfalls nahmen sie es mit der Kontrolle nicht so genau, als mein Bruder,
angezogen wie ein Bauer und mit einem Bündel Kartoffelsäcken
über der Schulter, hinter dem Pferdewagen mit auf das Feld ging.
Drüben angekommen gaben seine Wirtsleute ihm etwas Brot und Wasser mit auf
den Weg und er marschierte los, in Richtung Westen. Natürlich konnte
es passieren , dass man ihn unterwegs aufgegriffen hätte, doch irgendwie
kam er durch und landete so nach strapaziöser Wanderschaft zu Hause. Wie
soll man die Freude beschreiben? Der Erste war zu Hause. Das ließ
die Hoffnung größer werden. Dass sie sich bei Heinz nicht
erfüllte, beschrieb ich schon an anderer Stelle. Doch Peter, was mochte aus ihm
geworden sein. Weder seine Eltern noch ich hatten seit Ende des vergangenen
Jahres etwas von ihm gehört. Meine Schwester, die mit den Kindern
noch bei uns wohnte, erhielt schon bald ein Lebenszeichen von ihrem Mann.
Er war in einem Lager in Süddeutschland und wartete auf seine Entlassung.
Ich setzte in diesem Sommer meine ganze Kraft daran, unser Wohnhaus wieder in
einen guten und geordneten Zustand zu bringen. Mit den Kühen und den
anderen Tieren umzugehen, machte mir keine Mühe. Abgaben von unseren
ländlichen Erträgen brauchten wir keine mehr zu leisten. Wir konnten
vielen Verwandten und Bekannten mit Lebensmitteln unter die Arme
greifen, denn jetzt war die allgemeine Versorgung der Bevölkerung
schlechter als je zuvor. Es wurde alles gegen etwas Essbares getauscht.
Teppiche, Wäsche, Schmuck, alles kompensierte man, um sich am Leben zu
erhalten. Bis die einzelnen Behörden
wieder eingerichtet waren, das dauerte noch eine ganze Weile. Das Militär
der Siegermächte hatte erst einmal das Sagen. Die Bevölkerung durfte
sich nur in einem gewissen Umkreis bewegen. Für alles brauchte man
Genehmigungen. Auch zwischen Staatsforst und privatem Waldbesitz gab
es keinen Unterschied. Vater und seine Kollegen mussten die Offiziere zur
Jagd führen. Nach Möglichkeit pirschten sie dort, wo wenig Wild
anzutreffen war. Sie kannten ja ihr Revier. Als eines Tages doch
plötzlich ein guter Hirsch vor Arnold und seinem englischen Major
stand, und dieser das Gewehr anlegte, zog Arnold ein weißes Tuch aus der
Tasche. Hinter dem aufgeregten Schützen stehend, machte er sich
heftig winkend bemerkbar. Noch bevor unser Schütze zum Schuss kam, war der
Hirsch wieder verschwunden; sehr zum Erstaunen dieses Offiziers. Arnold redete
von schlechtem Wind, aber die Enttäuschung war groß. Arnold
aber freute sich insgeheim, dass sein Trick gelungen war. Ein anders Mal hörte Arnold bei
einem Waldgang plötzlich ein wildes Schießen. Er schlug die
Richtung ein, aus der die Schüsse kamen und fand hoch oben in einer Eiche
einen Engländer, den es auf den Baum getrieben hatte. Eine Rotte
Wildschweine war ihm in die Quere gekommen. Dabei habe er ständig
gerufen: "Da Fuchs, da Fuchs!" Der Sommer brachte eine Menge
Arbeit. Feld und Garten konnten wieder normal bestellt werden.
An den Gedanken, nicht bei jedem Flugzeug die Flucht ergreifen zu
müssen, gewöhnte man sich langsam wieder. Die schlimme Zeit der
Angriffe steckte noch in den Gliedern. Unsere Kühe konnten wieder auf den
Weiden hinter dem Haus grasen. Knorz fühlte sich inzwischen so
heimisch, dass er ohne Scheu mit ihnen auf die Wiese ging. War er jedoch satt,
oder hatte er keine Lust mehr, trabte er einfach heimwärts. Für
ihn waren die Zäune kein Hindernis. Er schob sich zwischen den Latten
einfach hindurch. Als er einmal bei starkem Regenwetter mit den Kühen
draußen weidete, konnte ich beobachten, wie er unter dem Bauch der
älteren Kuh Schutz suchte. So wurde er nicht nass. Die Kuh aber setzte
vorsichtig einen Fuß vor den anderen, um ihn nicht zu berühren.
Seine Lieblingskost bestand jedoch aus Hafer. Eine kleine Schale davon
bekam er jeden Morgen. Ganz übermütig sprang er herum, wenn er
erkannte, mit welchem Futter ich ankam. Als Mutter ihm einmal Hafer bringen
wollte, wurde er so ungebärdig, dass sie es nicht schaffte, die
Futterschale vor ihn hinzustellen. Der Inhalt fiel auf den Boden, und als
Mutter mit der leeren Schüssel fortgehen wollte, fühlte er sich wohl
um seine Lieblingsspeise betrogen. Von hinten griff er so ungestüm an,
dass Mutter den Boden unter den Füßen verlor. Seitdem war das
Füttern nur noch meine Aufgabe. Längst schon sperrten wir Knorz
nicht mehr im geschlossenen Schweinestall ein. Er hatte jetzt seinen Platz
in der Reihe der Kühe. Setzte ich mich nun zum melken unter die Kuh,
spürte ich plötzlich, wie mir jemand im Rücken den
Schürzenbändel aufzog. Sah ich mich nach dem Übeltäter
um, stand er mit scheinheiligem Gesicht da, als könne er kein Wässerchen
trüben. Ich band die Schürze wieder zu und melkte weiter. Wieder zog
Knorz mir die Schürze auf. Es schien ihm richtig Spaß zu machen.
Schimpfte ich jetzt wieder mit ihm, schüttelte er den Kopf, als wolle er
sagen: "Ich war's nicht." Als er wieder einmal von der Weide
genug hatte und allein zurückkam, sah er mich vom Hof aus am
Küchenfenster stehen. Im nächsten Augenblick stieg er auch schon die
Stufen zur Küche hinauf und begrüßte mich. Dann bemerkte
er, dass der Kleine von meiner Schwester mitten in der Küche im
Kinderwagen saß. Dort stand er oft, beschäftigte sich mit Spielzeug
und schaute dem Treiben rundum zu. Jetzt ging Knorz langsam zum
Kinderwagen. Erst lachte der Kleine noch, doch als das Schaf immer näher
kam, veränderte sich seine Mine, und als Knorz vor ihm stand, begann er
lauthals zu schreien. Knorz stand wie versteinert. Plötzlich stampfte
er mit einem Fuß ganz heftig auf den Boden, schüttelte den
Kopf, drehte sich langsam um und verschwand. Die Situation war so komisch,
dass wir lachen mussten. Das stimmte auch den Kleinen wieder freundlich. Oft begleitete Knorz mich wie ein
Hund ins Revier. Dabei legte er gerne seine Schnauze in meine Hand und lief
neben mir her. Seine Anhänglichkeit war einzigartig. Er brauchte
mich nur zu sehen, schon war er zur Stelle. Als die Weiden hinter dem Haus
abgegrast waren, trieb ich die Kühe in die Bachwiese. Dort hatte man im
Sommer das Gras geschnitten und das Heu eingefahren. Jetzt stand der
zweite Graswuchs in den Wiesen. Ich musste allerdings bei den Tieren bleiben.
Es gab keine Zäune. Zum Zeitvertreib nahm ich mir ein Buch mit und suchte
mir ein schönes Fleckchen. Knorz graste mit den Kühen. Es war ein
friedliches Bild. Immer wieder schaute er zu mir hin, kam auch manchmal um sich
kraulen zu lassen. Gerne legte er auch seinen Kopf auf meine Knie, und ich
sprach mit ihm. Dann schienen seine Augen und seine Mimik zu sagen: "Ich
kann alles verstehen, was du erzählst." In solchen Augenblicken
schien er ein Philosoph zu sein. Hatte er dann genug, schüttelte er sein
weises Haupt und trollte sich. Seine Stimmungen schienen immer
zwischen Träumen und Schelmerei zu wechseln. Mit Ami lieferte er sich
wilde Verfolgungsjagden, wobei einmal der Hund hinter ihm, dann Knorz hinter
Ami herjagte. Als ich abends einmal wieder die Kühe von der Weide holte
und diese gerade zum Hoftor einschwenken wollten, kam Knorz plötzlich
übermütig von hinten angerannt. Dadurch ermuntert, begannen auch
die Kühe zu rennen, aber nicht etwa in den Stall, sondern in Richtung
Wald. Um die Ausreißer einzufangen, musste ich natürlich hinterher.
Alles Rufen und Schreien half da nichts. Immer weiter entfernten sie sich vom
Hof. Knorz fand das alles ganz toll. Er rannte, dass man meinte, seine
Füße würden kaum den Boden berühren. Wie ein großes
Wollknäuel flog er durch die Luft. Ich musste zur Seite springen. Er
hätte mich glatt umgerannt. Über eine Stunde brauchte ich, um die
inzwischen müde gewordenen Kühe nach Haus zu treiben. Zum ersten Mal
war ich Knorz ein wenig böse, doch für ihn war das ein
Riesenspaß gewesen. Der Sommer 1945 verging und die
Erntezeit rückte heran. Einer der ehemaligen Waldarbeiter, der
sich im Umgang mit Pferden auskannte, hatte die Arbeit von Josef
übernommen. Den kleinen Fuchs, den ich im Frühjahr eingefangen hatte,
tauschte Vater gegen ein anderes Pferd. Feldarbeit war wohl nie seine
Beschäftigung gewesen. Wenn er auf seinen Hinterbeinen tanzte, konnte
man eher annehmen, dass er einmal in einem Zirkus gearbeitet hatte. Mit seinem
Nachfolger und dem Rappen hatten wir wieder ein kräftiges Gespann. Die Kartoffelernte lag schon hinter
uns. Roggen und Hafer waren gemäht und in die Scheune eingefahren. Nur der
Weizen stand noch auf dem Halm. Der Wildschweine wegen waren die sechzig
Morgen Feld ringsum mit einem Gatter versehen. Vier Tore, die man
aushängen konnte, führten in das Gelände. Wo die Zäune an
den Wald grenzten, hatten sich mit den Jahren dichte Schwarzdornhecken
angesiedelt. Eines Morgens kam einer der Arbeiter, dessen Weg am Feld
vorbeiführte und erzählte aufgeregt, dass eine Rotte Wildschweine
ein Loch in den Zaun gerissen und in den Futterrüben ihr Unwesen getrieben
hätten. Die Tiere waren noch im Gatter und versteckten sich beim
Anblick des Arbeiters in den Schwarzdornhecken. Wir überlegten, was zu tun
sei. Vater besaß keine Waffe mehr. An Schießen war also nicht zu
denken. Auf jeden Fall mussten wir aber die Schwarzkittel aus dem Gatter
treiben. Der Arbeiter, mein Vater, Bruder Josef und ich bewaffneten uns also
mit Knüppeln, nahmen Ami mit und machten uns auf den Weg. Beim Näherkommen bot sich uns
ein kurioses Bild. Aus den Hecken schauten die Wildschweinköpfe
heraus. Wir öffneten erst einmal die Tore, damit die Tiere herauskonnten.
Dann ging das Spektakel los. Mit viel Lärm machten wir den Sauen Beine.
Immer wieder fand die Eine oder Andere eine Toröffnung und suchte das
Weite. Als wir schon glaubten, alle seien vertrieben, ging ich noch einmal
durch das Weizenfeld. Plötzlich machte es dicht neben mir
"Wuhh", und zwei Tiere rannten los. Inzwischen waren es siebzehn
Wildschweine, die wir gesehen und vertrieben hatten. Das hätte
manchen guten Braten gegeben. Geräucherte Wildschweinschinken sind eine
Delikatesse. Wir konnten in den Kriegsjahren dem Jagdbesitzer mehr als einmal
eine Freude damit machen. Im Oktober des gleichen Jahres
erreichten uns die ersten Flüchtlinge. Sie waren aus den Ostgebieten
Schlesien und Pommern vertrieben worden und jetzt im Westen angelangt. In
Schulen und Sälen fanden sie erst einmal Notunterkunft. Von dort aus
versuchten die örtlichen Behörden, den Menschen eine Bleibe zu
suchen. Als man Vater fragte, bot er die leerstehende Schweizerwohnung
an. Wenige Tage später wussten wir, dass drei Familien mit Kindern dort
einziehen würden. Wir bestellten den Schreiner, der
erst einmal dafür sorgte, dass genügend Betten vorhanden
waren. Derweil wuschen wir Kartoffelsäcke, um diese nachher
aneinanderzunähen und mit Haferspreu zu füllen. Früher war es
auf dem Lande üblich, dass die Leute solche Betteinlagen verwendeten.
Längst nicht jeder konnte sich Matratzen leisten. Außerdem sollte
diese Haferspreu auch gesundheitliche Vorzüge haben. Der
Schreiner zimmerte also die Betten und wir richteten die Einlagen dazu. Es
standen auch immer noch restliche Tische, Stühle und Spinde von den
Soldaten herum. Die fanden jetzt gute Verwertung. In den unteren Räumen
richtete sich eine junge Familie mit vier Kindern ein. Der Mann, ehemals
gelernter Schreiner, hatte im Krieg den linken Arm verloren. Seine Frau
erwartete in Kürze ein Baby. Die oberen Räume teilten sich eine Witwe
mit drei Kindern. Ein viertes war auf der Flucht in den Westen gestorben,
ferner ein Ehepaar mit fünf Kindern. Davon kamen erst einmal der Vater mit
den beiden Söhnen. Die Mutter blieb mit den Kleinsten noch im Notlager
der Schule. Sie wollten wohl erst einmal sondieren, ob die Unterkunft bei uns
geeignet und die Verpflegung gesichert sei. Wir konnten fürs erste die
Leute mit Milch, Brot und Haferflocken versorgen. Haferflocken
ließen wir in der Mühle pressen, wo auch unser Mehl gemahlen wurde. Am nächsten Morgen stand einer
der beiden Söhne, etwa vierzehn Jahre alt, plötzlich in der Tür
und berichtete, sein Vater sei über Nacht gestorben. Sie hatten ihn am
Morgen gefunden und sein Ableben gar nicht bemerkt. - Wenig später
arbeitete unser Schreiner an einem Sarg, damit der Tote nicht in der Wohnung
blieb. Nach der Beerdigung zog auch die Mutter mit den kleineren Kindern bei
uns ein. Was hatten diese Menschen nicht
alles an Leid und Entbehrungen hinter sich. Wir bemühten uns, ihnen
zu helfen, so gut wir konnten. Jeden Abend, wenn ich die Kühe
gefüttert, gemolken und die Milch durch die Zentrifuge gedreht hatte,
brachte ich einen großen Eimer Milch zu den Flüchtlingen und
verteilte sie. Vater schickte Roggen und Weizen in die Mühle, damit sie
sich Brot backen konnten. Die Kinder jubelten, dass sie alle Tage Milchsuppe
bekamen. Die Hälfte des großen Gartens traten wir ab, damit
jeder sein Gärtchen mit Gemüse bepflanzen konnte. Kartoffeln gab
es ebenfalls genügend. Nicht selten, wenn ich abends die
Milch ablieferte, erzählten sie mir von ihren Erlebnissen, von den langen
Wochen, die sie unterwegs waren, und was sie in der Heimat alles
zurücklassen mussten. Jetzt freuten sie sich, dass sie nach der langen Odyssee
eine so gute Unterkunft gefunden hatten. Öfen standen noch von den
Soldaten herum. An Holz war kein Mangel. Zum ersten Mals mussten sie nicht mit
Schrecken an den bevorstehenden Winter denken. Es kam die Adventszeit, und wir
überlegten, wie wir vor allem den Kindern zum Christfest eine kleine
Freude machen könnten. Drei größere Mädchen, etwa
acht bis zehn Jahre alt, würden mir beim Basteln schon helfen
können. An den Nachmittagen setzten wir uns zusammen. Wir wollten vor
allen Dingen Puppen machen. Wie gut, dass Mutter sich nie von alten Sachen
trennen konnte. Selbst ihre alten Strümpfe kamen uns wie gerufen. Wir
füllten sie mit Sägemehl, formten Leib, Arme, Beine und Kopf und
malten ein Gesicht. Aus Glasknöpfen wurden Augen und aus Wolle ein
Haarschopf gezaubert. Danach nähten wir Kleider, oder wenn es ein Junge
sein sollte, eben lange Hosen. Ich häkelte winzige Schuhe. Sie mussten ja
nicht passen. Ein paar Bausteine oder ein Pferdchen aus Kindertagen
fanden sich noch in einer Kiste. Jedenfalls hatten wir am Ende für jedes
Kind ein kleines Geschenk. Wir legten alles stolz beiseite. Niemand wusste
von unserem Tun, außer meinen Angehörigen natürlich. Es sollte
ja eine Überraschung werden. Irgendwo trieb ich noch Gold- und
Silberpapier auf. Nun ging es an den Christbaumschmuck. Sterne in
verschiedenen Größen entstanden, nur auf Kerzen würde man
verzichten müssen. Die waren einfach noch nicht aufzutreiben. Am Tag vor
dem Hl.Abend heizte Vater dann den großen Backofen ein, in dem unser
Brot gebacken wurde. Mutter bereitete indessen große Mengen Hefeteig vor,
verteilte ihn auf alle verfügbaren Bleche und belegte sie mit Streusel.
Zum Auskühlen brachten wir sie anschließend heimlich in den
ehemaligen Kühlraum. Ich hatte vorher dort die Regale ausgewaschen, denn
dieser Raum wurde lange nicht benutzt. Gegen Abend, als langsam die
Dämmerung heraufzog, und ich wie üblich die Milch zu den
Familien brachte, standen schon die mit unseren selbstgebastelten Sternen
geschmückten Tannenbäumchen in den Zimmern. Mit den Mädchen
holte ich nun die Spielsachen, damit die Mütter sie austeilen konnten.
Die Jungs jedoch mussten helfen, den Kuchen herbeizuschaffen. Ich glaube,
das war das schönste Weihnachtsfest meines Lebens. Diese Freude und
Dankbarkeit habe ich nie vergessen. Es hätte noch schöner sein
können, wäre nicht die Ungewissheit und Sorge um unsere Soldaten
und Angehörigen gewesen. Doch hofften wir im Stillen, dass auch sie in
diesen Tagen etwas Wärme und Menschlichkeit erfahren würden. Um Mitternacht begleiteten die
Erwachsenen uns in die Christmette in unserer Dorfkirche. Zwar war niemand von
ihnen katholisch, doch was bedeutete das schon. Die feierliche Messfeier war,
nach allem, was sie an Leid und Trauer hinter sich hatten, ein großes
Erlebnis. Auch für den kleinen Willi
meiner Schwester konnten wir an diesem Weihnachten noch keine neuen
Spielsachen kaufen. Lange vor dem Fest nahmen wir zwei Pferdchen fort, gaben
ihnen einen neuen Anstrich und stellten sie wieder unter den Tannenbaum. Ob er
sie wiedererkannte weiß ich nicht. Dazu kam auch für ihn eine
selbstgebastelte Puppe. Ich weiß, dass er sich sehr darüber freute.
Als wir um Krippe und Baum versammelt saßen, an unsere Lieben
draußen dachten und Weihnachtslieder anstimmten, sang er aus
Leibeskräften: "Oh Tannenbaum, wie grün sind deine
Bretter." Er konnte damals wohl das L noch nicht richtig sprechen. * In den ersten Januartagen des Jahres
1946 kam bei der jüngeren Flüchtlingsfamilie ein kleines
Mädchen zur Welt. Die alte Hebamme aus dem Dorf, die schon vor Jahren
unserer Mutter bei meiner und der Geburt meines Bruders zur Seite gestanden
hatte, half dem neuen Erdenbürger und der jungen Mutter. Alles
verlief gut, und um fünf Uhr in der Frühe lag das kleine Menschlein
in seinem Körbchen. Die vier Geschwister hatten im
Nebenraum so fest geschlafen, dass keiner etwas von diesen Vorgängen
mitbekommen hatte. Umso größer war am Morgen das Erstaunen und
die Freude über das Baby. Die junge Mutter aber stand am
Vormittag trotz eisiger Kälte und Frost schon im Garten um Wäsche auf
die Leine zu hängen. Unser Angebot, das doch für sie verrichten zu
können, wurde dankend abgelehnt. Sie hielten sich überhaupt uns
und auch den anderen Flüchtlingen gegenüber, etwas reserviert. Ihr Aufenthalt in der
Schweizerwohnung war auch nicht von langer Dauer. Der junge Vater bemühte
sich intensiv um eine Anstellung und fand bald eine Pförtnerstelle in
Bonn, die es ihm ermöglichte, für seine Familie zu sorgen. Damit
wurde ihre Wohnung bei uns leer und konnte von den anderen Flüchtlingsfamilien
genutzt werden. Einer der älteren Söhne,
inzwischen siebzehn geworden, war von Hause aus schon mit landwirtschaftlichen
Arbeiten vertraut und übernahm die Stelle von Josef. Dabei wurde er von
älteren Arbeitern aus dem Ort bei Bedarf unterstützt, so dass
der Betrieb wieder in normalen Bahnen ablaufen konnte. * Die Versorgungslage der meisten
Menschen, die den Krieg überlebt hatten, war immer noch katastrophal.
Vor allen in den Städten ging der Hunger um. Die Menschen versuchten alle
Habe in etwas Essbares umzutauschen. Der Schwarzmarkt trieb ungeahnte
Blüten. Zigaretten und Butter, um nur zwei Beispiele zu nennen,
wurden zu horrenden Preisen gehandelt. Als die ersten Züge wieder
fuhren, waren die Städter in Scharen unterwegs, um auf dem Lande zu
'kompensieren', wie man es nannte. Auf Dächern und Trittbrettern
hielt man sich fest. Nur mitkommen, hieß die Devise. Für einen
halben Sack Kartoffeln riskierte man alles. Allmählich begannen auch die
Postverbindungen wieder zu funktionieren. Man erfuhr, wer aus dem
großen Verwandtenkreis das Kriegsende überlebt hatte. Das Haus von Peters Eltern war von
einer deutschen Stuka-Bombe beschädigt worden. Zu der Zeit hielt sich auch
meine älteste Schwester mit den beiden Kindern dort auf, weil die Dienstwohnung
im Bahnhof Rheinbrohl ebenfalls durch Kriegseinwirkung weitgehend unbewohnbar
war. Zum Glück hatten sie alle die Angriffe überlebt und konnten mit
einem Teil ihrer Habe bei einem Eisenbahnkollegen unterkommen, bis eine
brauchbare Wohnung gefunden war. Unser Haus im Nachbarort Leubsdorf
war durch eine Luftmine beschädigt. Die Fundamente zeigten Risse,
konnten aber später durch das Einziehen von Ankern saniert werden.
Die fehlenden Fensterscheiben wurden erst einmal durch Bretter
ersetzt. Nur die obere Etage, die damals von einem alten Ehepaar aus
Köln bewohnt war, bekam fürs Erste eine Notverglasung. Ich versuchte natürlich
möglichst bald eine Fahrt an den Rhein zu unternehmen um auch meinen
Eltern berichten zu können, wie die Lage dort aussah. Dabei tat sich eine
große Schwierigkeit auf. Wie schon an anderer Stelle bemerkt, war
'Rest'-Deutschland in Besatzungszonen aufgeteilt. Unser Forsthaus lag
in der englischen, Linz und Leubsdorf jedoch in der französischen Zone.
Die Grenze verlief in Unkel, zwei Stationen vor Linz. Das hieß
praktisch, dass alle Reisenden, welche von einer Zone in die andere
wollten, von Soldaten kontrolliert wurden. Da man jedoch gezwungen war,
Proviant mitzunehmen und außerdem den Verwandten in ihrer schlechten
Versorgungslage mit ein wenig Butter oder Speck unter die Arme greifen wollte,
konnte diese Grenze zu einem echten Problem werden. An eine solche Fahrt mit
Hindernissen erinnere ich mich noch genau. Ich hatte meinen Besuch in Linz
angemeldet. Ein angehender Schwager, der in Unkel bei der Bahn Dienst tat
und die dortigen Kontrolleure kannte, wollte mir behilflich sein, dass ich
ungeschoren durch die Sperre kam. Ich stieg in Unkel aus dem Zug, er nahm mich
in einen Dienstraum und brachte mich, als der Zug weiterfahren sollte,
wieder ins Abteil zurück. Was wir jedoch beide nicht geahnt hatten;
eine Kontrollgruppe fuhr mit bis Linz, wo dieser Zug endete. Dort mussten alle
Passagiere sich in einem Dienstraum versammeln. Zur 'Passkontrolle' hieß
es. Man sammelte an der Sperre alle Pässe mit der Bemerkung ein, dass
sie nach der Kontrolle wieder ausgehändigt würden. Jetzt war aber guter Rat teuer. Um
Zeit zu gewinnen, stellte ich mich an das Ende der wartenden Menschenschlange.
Während die Anderen aufmerksam die Kontrolle der Soldaten verfolgten,
suchte ich in dem schlecht beleuchteten Raum eine Möglichkeit, meinen
Koffer zu öffnen und etliche Klumpen Butter und Speck in meiner Bluse
verschwinden zu lassen. Durch den Rockbund konnten sie nicht nach unten rutschen.
Meine Jacke ließ ich offen darüber hängen. Bald kam die
Reihe an mich und ich versuchte, so harmlos wie möglich auszusehen.
Das Augenmerk richtete man ohnedies hauptsächlich auf den Kofferinhalt.
Gegen das mitgeführte Brot, Mehl und den Quark hatte man nichts einzuwenden.
Die Eier, so gab ich an, seien gekocht und das alles zu meiner Verpflegung
gedacht. Nach aufregenden Minuten bekam ich meinen Pass wieder und konnte
gehen. Draußen in der Dunkelheit
suchte ich mir eine Stelle, wo ich meinen Koffer wieder ordnungsgemäß
packen konnte. Die Butter begann schon langsam von der Körperwärme
weich zu werden. Doch zum Glück hatte alles nicht allzu lange gedauert.
Ich machte mich auf den Weg zu Peters Eltern. Die waren inzwischen zur Ruhe
gegangen, denn der letzte Zug, mit dem ich hätte eintreffen sollen, war
längst überfällig. Sie hatten gewartet und dann vermutet,
dass ich nicht gefahren sei. Nun stand ich also vor verschlossener Tür und
begann mit Steinchen auf des Schlafzimmerfenster meiner Schwägerin zu
werfen. Es befand sich im ersten Stock des Hauses. Nach einer Weile
erschien ein schlaftrunkenes Gesicht dort oben am Fenster und als sie mich
erkannte, war die Überraschung groß. Um diese Nachtzeit hatte
niemand mehr mit mir gerechnet. Ich erzählte kurz, was sich
abgespielt hatte und suchte dann auch das Gästebett auf. Doch
schlafen konnte ich nach dieser Aufregung nicht. Außerdem waren Bett und
Zimmer so kalt, dass ich mich noch am Morgen wie ein Eisklumpen
fühlte. Nie vorher noch nachher ist mir jemals so kalt gewesen. Geheizt
wurde damals eben nur die Küche mit dem Herd, auf dem man kochte. Heizmaterial,
wie bei uns im Forsthaus gab es nicht. Ein andermal war ich wieder nach
Linz unterwegs, bepackt mit den üblichen Proviantpäckchen. Diesmal
hatte mein Schwager in Unkel keinen Dienst. Ich stieg also eine Station
früher aus, weil man sagte, nur die Züge würden kontrolliert,
nicht aber die Zonenübergänge an den Straßen. Zu Fuß
machte ich mich auf den Weg nach Linz, eine Strecke von fast zwei Stunden. Wie
schwer mir damals der Koffer wurde, lässt sich schlecht beschreiben. Meine
Arme schienen immer länger zu werden. Zudem war es wieder ein
eiskalter Tag. Meine Hände spürte ich am Ende kaum noch. Doch der
Mensch kann viel wenn er will oder muss. Ich kam mit meinem Gepäck unbehelligt
in Linz an. - Vergessen kann man solche Torturen nicht. Ich erinnere mich, dass meine
angehende Schwiegermama manches Stückchen Fleisch, das ich
mitbrachte, ob es aus eigener Schlachtung oder vom Wildbret stammte, in
Gläser einweckte, obschon sie es selber bitternötig gebrauchen
konnte. Es sollte für die Heimkehr von Peter aufbewahrt werden. Sie
hat nie daran gezweifelt, dass er noch lebte. Mitte Juni 1946 erhielten Peters
Eltern dann ein erstes Lebenszeichen von ihm. Nun wussten wir, dass er noch
existierte. In einem Brief an die Eltern teilte er seinen Standort mit. Nun
wussten wir, nach langem Warten, dass er in jugoslawischer
Kriegsgefangenschaft war. Meine Schwägerin verständigte mich
telefonisch, und zwei Tage später erhielt auch ich einen ersten
Brief. Wer kann die Freude beschreiben.
Unsere Hoffnungen hatten sich erfüllt. Wir konnten, wenn auch nur, wie
vorgeschrieben, mit dreißig Zeilen, wieder miteinander
korrespondieren. Bald wurden auch in beschränktem
Umfang Pakete und Päckchen erlaubt. Eine Wolldecke, etwas Kleidung,
Medikamente und Essbares, so versuchte man seine Misere etwas zu mildern. Viele
Soldaten kamen in diesen Wochen und Monaten schon nach Haus. Die westlichen
Alliierten entließen ihre Gefangenen wesentlich früher als
Russland und Jugoslawien. Unsere Geduld wurde auf eine lange Probe gestellt. Nachdem Knorz nun schon den zweiten
Sommer an unserem Hof verbrachte, konnte ich mir die Tage ohne ihn gar
nicht mehr vorstellen. Da er nie festgebunden wurde, konnte er sich
überall frei bewegen. Neugierig musste er überall dabei
sein und ließ keine Gelegenheit aus, seinen Schabernack zu treiben.
Selbst, wenn ich im Herbst daranging, Tannenzapfen für die
nächste Schlachtung zu sammeln, war er mit dabei. Vater zeigte mir die Stellen, wo
besonders viele Zapfen lagen. Ich sammelte sie in Säcke, und diese
wurden dann mit dem Pferdekarren nach Haus gefahren. Zum Räuchern von Wurst, Speck
und Schinken mussten die Zapfen feucht und geschlossen sein. Lagerten sie
über längere Zeit auf dem Speicher, so trockneten sie aus
und öffneten sich. Um die Öfen anzuzünden war das günstig,
aber die Zapfen im Rauchfang durften ja nicht brennen. Die Hitze
hätte den Speck zum Tropfen gebracht. Hier ging es nur um die Rauchentwicklung.
Wenn ich also die frischen Zapfen
sammelte, lief Knorz um mich herum und schaute zu. Viel lieber wäre ihm
gewesen, ich hätte mich mit ihm beschäftigt. So aber wurde es ihm auf
die Dauer langweilig. Er störte mich dann bei meiner Arbeit, indem er die
Zapfen, die ich aufnehmen wollte, mit dem Vorderlauf wegscharrte. Oder
aber er stieß mit seiner Stirn gegen meine, was wohl heißen
sollte: "Nun spiel endlich mit mir!" - Schimpfte ich dann mit ihm,
schüttelte er beleidigt den Kopf und trabte zur Seite. Aber nur um
einen kleinen Bogen zu schlagen und das gleiche Spiel wieder zu beginnen. Er konnte manchmal recht
übermütig werden und wenn ihm zum Boxen zumute war, musste ich
aufpassen, dass ich nicht den Boden unter den Füßen verlor. Eines Tages fiel mir jedoch auf,
dass Knorz hin und wieder hustete. Er war auch nicht so lebendig als sonst und
nicht mehr zu Streichen aufgelegt. Eine Erklärung dafür konnte
ich nicht finden. Als sich sein Husten verschlimmerte, konsultierten
wir den Tierarzt. Der stellte fest, dass eine Lungenquetschung vorlag. Wir
konnten uns das nur so erklären, dass eine Kuh sich beim Hinlegen auf
ihm niedergelassen hatte. Nach Aussagen des Arztes würde er daran langsam
aber sicher eingehen. Dazu wollten wir es natürlich
nicht kommen lassen. Ich packte meine Koffer, um mich eine Woche bei Verwandten
aufzuhalten. Meine Eltern bestellten den
Schlachter, der ansonsten für das Schlachten unserer Schweine in
Anspruch genommen wurde. Als ich wieder nach Hause kam, waren alle Spuren
beseitigt. Von dem Fleisch konnte ich allerdings nichts essen. Niemals zuvor
hätte ich geglaubt, dass eine solche Freundschaft mit einem Schaf
möglich sein könnte. Mit einem Herdentier ist es wahrscheinlich
auch unmöglich. Knorz war eben ein Individualist. *** |