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Geisteswissenschaft / Philosophie Historische Primärquelle: Tagebuch

lotte2
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Historische Primärquelle: Tagebuch
geschrieben von lotte2
Wie wir wissen, sind historische Darstellungen immer unter Berücksichtigung der weltanschaulichen Gebundenheit des Verfassers/ der Verfasserin zu lesen ....
(Auch) offizielle Geschichtsschreibung ist interpretiertes und ( deshalb) ausgewähltes Faktenwissen.
Es steht aber - für mich - außer Diskussion, dass Tagebücher eine besonders nahe Quelle für laufende Ereignisse sind. Besonders fiel mir das bei folgender Lektüre auf.


Viktor Klemperer
Ich will Zeugnis ablegen
Tagebücher 1942 bis 194


13. Januar, Dienstag ( 1942)
Paul Kreidl erzählt - Gerücht - aber von verschiedenen Seiten sehr glaubhaft mitgeteilt,- es seien evakuierte Juden bei Riga reihenweise, wie sie den Zug verließen, erschossen worden. Er zittert für
seine verheiratete Schwester, in Prag lebend, zum Abtransport vorgemerkt. D` altra parte ist er optimistisch: Die russische Offensive dringe in der Mitte gegen Polen vor. Ich glaube das aber nicht so recht: heute ist im Heeresbericht wieder von Kämpfen bei Leningrad und östlich von Charkow die Rede, also kann die Mitte gar nicht so weit zurückgedrängt sein.-
Man macht ungeheuer viel her vom Erfolg der Pelzsammlung. Den Juden wurden die Pelze und Wollsachen fortgenommen, die Arier mussten sie » freiwillig« hergeben und lieferten einige 50 Millionen Stück ab. Das komme einer » Volksabstimmung« gleich, bezeuge die unerschütterliche Verbundenheit von Volk und Heer, Volk und Führer etc.etc ......
Es gibt keine Kalenderblätter, wie sie in früheren Jahren den Zeitungen beilagen. Frau Voß kaufte als Ersatz einen Volkskalender, den »Nürnberger Kalendermann 1942« . Darin fand ich - nach 23 Jahren und gerade jetzt , wo ich eben dieses Curriculum - Stück fertig gestellt habe- den Namen Maximilian Müler-Jabusch. Gott, wie heruntergekommen ! Einen Materialiensammlung über den »Goetzischen Gruß«, der in » männlichen Zeiten« floriere. Auch das ist Schriftstellerei. Alles, Was mit dem Hinterteil dieser Funktion zu tun hat,wird herangezogen, um die Seiten zu füllen.

Viktor Klemperer,1995, Büchergilde Gutenberg, Frankfurt am Main, Seite S. 9 f

Viktor Klemperer, Wissenschaftler, war mit einer "arischen Frau, Musikerin , verheiratet und gehörte zu den wenigen Überlebenden der shoa ..
In seinen Tagebüchern erzählt er unaufgeregt und distanziert vom Leiden und Überleben .... diese Sicht des Überlebenden ist überall spürbar: in seinen Ängsten - in den wenigen Aufatmungsmomenten, die er beschreibt ....

Auch die deutsche Zivilbevölkerung kommt gerecht bei ihm weg.... ein vor Regimeangst geplagtes Volk.... und bis zum Schluss mehrheitlich nicht von Judenhass erfüllt ... die " deutschen Bestien" schildert er auch - aber nicht nur...

marianne
marianne
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Re: Historische Primärquelle: Tagebuch
geschrieben von marianne
als Antwort auf lotte2 vom 16.01.2011, 14:54:26
Danke, Lotte!

Die Tagebücher von V. Klemperer, eines 1933-1941, das andere 1942- 1945,-
die stehen im Schrank.
Ich hatte schon mal begonnen zu lesen...., aber habe es nicht sehr weit geschafft.

Ich werde neu beginnen.

Viele Grüße dir! M
omasigi
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Re: Historische Primärquelle: Tagebuch
geschrieben von omasigi
als Antwort auf lotte2 vom 16.01.2011, 14:54:26
auch ich moechte
mich bei Dir bedanken.
Ich werde versuchen von hier aus zu bestellen.
Habs auch schon auf meine Liste geschrieben fuer die
Deutschlandreise.
omasigi

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clara
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Re: Historische Primärquelle: Tagebuch
geschrieben von clara
als Antwort auf omasigi vom 16.01.2011, 16:39:20
Ja, es lohnt sich, die Tagebücher zu lesen, gerade weil sie sehr subjektiv sind und Alltägliches beschreiben.
Nicht ganz so zügig zu lesen ist sein autobiografisches und reflektierendes Buch LTI (Lingua Tertii Imperii), das über die Grenzen Europas hinaus Verbreitung fand. Es behandelt die "Sprache des Dritten Reiches" und Klemperer gelingt "ein erschütterndes document humain aus grauenvollen Jahren seines Lebens, die er ohne die unbeirrbare Besinnung auf die nüchtern-distanzierte, oft sogar heiter wirkende Haltung des Wissenschaftlers kaum überstanden hätte." (Zitat aus dem Vorwort des Buches)

Noch ein Zitat von Klemperer aus LTI: "Worte können sein wie winzige Arsendosen, und nach einiger Zeit ist die Wirkung da".

Clara
olga64
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Re: Historische Primärquelle: Tagebuch
geschrieben von olga64
als Antwort auf clara vom 16.01.2011, 17:06:53
Zu meinen persönlichen Primärquellen gehören pasenweise immer wieder Tagebücher. Besonders in Zeiten, wo es mir nicht so gut ging, vertraute ich meinem Tagebuch Vieles an, was ich anderen auch eng verbundenen Menschen nie gesagt hätte. Es ist für mich immer wieder interessant, auch nach 30 Jahren diese von mir verfassten Tagebücher zu lesen und mich zurückzuerinnern, was mich damals beschäftigte. Ich sehe daraus, welcher Mensch ich damals war und wie ich mich - gegebenenfalls - verändert habe. Olga
clara
clara
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Re: Historische Primärquelle: Tagebuch
geschrieben von clara
als Antwort auf olga64 vom 17.01.2011, 16:58:01
Psychotherapeuten empfehlen ihren Patienten immer wieder, ein Tagebuch zu führen, und sich damit belastende Dinge wortwörtlich von der Seele zu schreiben.
Tagebücher sowie Briefwechsel von Persönlichkeiten lese ich auch gern, besonders wenn sie in turbulenten oder schwierigen Zeiten verfasst sind, wie hier bei Viktor Klemperer. Bei ihm bedeutete es neben dem Festhalten von zeitgeschichtlichen Ereignissen sicher auch eine persönliche Entlastung bei all diesen bedrückenden Erfahrungen.
Ganz anders (ist aber auch interessant) betrachte ich eine von vorne herein beabsichtigte spätere Veröffentlichung der Tagebücher, wie etwa die von Goebbels, der sich damit ein heroisches Denkmal setzen wollte. Diese Art Tagebuch ist aber selten ehrlich verfasst und entsprechend zu lesen.

Clara

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olga64
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Re: Historische Primärquelle: Tagebuch
geschrieben von olga64
als Antwort auf clara vom 17.01.2011, 19:03:19
So ergeht es mir auch mit Biografien: wenn z.B. junge Menschen, der kurze Karriere schon wieder zu Ende geht, eine solche erstellen. Es ergeht mir auch so, wenn ich jetzt erlebe, dass von Pierer (früher Siemens) ein Buch veröffentlicht, mit dem er anscheinend nur versucht, sich und sein Lebenswerk reinzuwaschen. Vermutlich erscheint demnächst eine Biografie des nächsten Versagers = Zumwinkel. Meist verlegen solche Wichtigtuer ihre "Ergüsse" im eigenen Verlag und kurze Zeit später findet man diese "Werke" auf dem Flohmarkt. Olga
lotte2
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Re: Historische Primärquelle: Tagebuch
geschrieben von lotte2
als Antwort auf marianne vom 16.01.2011, 16:12:48
Entschuldigt, dass ich mir mit den Antworten Zeit ließ.... ein böser grippaler Infekt zieht mir die Nerven und verleidet mir den Platz vor dem PC.

Ja, liebe Marianne, mir ging es ja ähnlich... aber als ich anfing, konnte ich nicht mehr aufhören....
irgendwie war es für mich auch merkwürdig, daran zu denken, dass ich ja in diesen Jahren schon ganz bewusst gelebt habe ... und ich entdeckte z.B. bei der Schilderung des großen alliierten Angriffes auf Dresden , dass ich wieder anfing zu schwitzen ....
liebe omasigi - lebst Du nicht in Deutschland ?.... aber, wenn Du Dich für ganz Authentisches der in Frage kommenden Zeit interessierst, snd die Klemperer-Tagebücher eine 1A Auskunft....

Weißt, clara, die " Sprache des Dritten Reiches" habe ich einmal auszugsweise gelesen ...das ist lange her ....

aber ich bin sicher, dass dieser Auszug meine "Misstrauenshaltung" offiziellem Sprachgebrauch gegenüber Antrieb gegeben hat ... überhaupt, wie sich Sprecher/innen durch - sogar alltäglichen - Wortgebrauch " outen"....

Olga 64, clara: zu Eurem Thema: ich glaube, dass sogar solche Biografien wie die Pierers oder Zumwinkels Auskunft über den Zeitgeist geben können...

Wie ja überhaupt - quasi im Nachhinein -erstellte Autobiographien -mMn - einen anderen Interpretationszugang brauchen als Tagebücher -- wenn sie " richtig" gelesen werden, das heißt eben kritisch ....
Ich meine damit: so als 1 zu 1 Quelle sähe ich sie nicht....
olga64
olga64
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Re: Historische Primärquelle: Tagebuch
geschrieben von olga64
als Antwort auf lotte2 vom 18.01.2011, 17:47:32

Wie ja überhaupt - quasi im Nachhinein -erstellte Autobiographien -mMn - einen anderen Interpretationszugang brauchen als Tagebücher -- wenn sie " richtig" gelesen werden, das heißt eben kritisch ....
Ich meine damit: so als 1 zu 1 Quelle sähe ich sie nicht....
[/
quote]

Die meisten Autobiographien werden von Ghostwritern verfasst also nicht von dem selbst, der alles erlebte. Und ich möchte eigentliche weder heute noch morgen lesen müssen, wie einige früher mächtige Industrie-Bosse eigentlich Riesen-Stümper sind und auch noch in grenzenloser Dummheit ihr eigenes Lebenswert zu Schrott fahren und dann versuchen, mit einem Buch die Gerichte, die Medien oder sonst wo dafür verantwortlich zu machen. Olga
miriam
miriam
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Re: Historische Primärquelle: Tagebuch
geschrieben von miriam
als Antwort auf lotte2 vom 18.01.2011, 17:47:32
Liebe Lotte,

ein Thema über welches es sich lohnt nachzudenken, Anlaß auch in der eigenen Bibliothek nochmals nachzusehen, welche vergessen Schätze sich da noch befinden - kurz: ein Dankeschön an dich - und auch an diejenigen, die hier geschrieben haben.

Von meiner Seite vorläufig nur dies - aber ich schreibe in den nächsten Tagen natürlich auch zum Thema.

Spontan fallen mir dazu ein: "Die Welt von gestern" - von Stefan Zweig - und das von mir sehr geschätzte autobiographische Buch von Bruno Walter - "Thema und Variationen. Erinnerungen und Gedanken."

Natürlich sind die von mir erwähnten Werke, als Quelle der Geschichte, nicht gleichwertig mit Viktor Klemperers Buch - die oben erwähnten Werke sind ja auch keine Tagebücher, sondern Erinnerungen.

Liebe Grüße

Miriam

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