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Biowissenschaften Die Kulturelle Evolution

Karl
Karl
Administrator

Die Kulturelle Evolution
geschrieben von Karl

Ich habe gestern in Emmendingen einen Vortrag auf Einladung des Ökumenisches Bildungswerk Emmendingen gehalten.

Dieser Vortrag war dort der dritte in einer Reihe über die Evolution. Die erneute Einladung freute mich, als diese Reihe nicht geplant war, sondern durch die wiederholte Einladung der Veranstalter zustande gekommen ist. Demnach folgerte ich, dass in den vorhergehenden Vorträgen zur biologischen Evolution viele Fragen offen geblieben waren, die Veranstalter mir dies aber nicht persönlich angelastet hatten und wohl dachten, ich könnte das teilweise wieder gutmachen. Ich fürchte, dem bin ich nicht gerecht geworden, denn durch die Erweiterung der Themenstellung auf „Kulturelle Evolution“ habe ich eher viele neue Fragen aufgeworfen. Diese führten am Ende aber zu einer sehr lebhaften Diskussion - und mehr wollte ich auch gar nicht erreichen.

Zuerst habe ich gestern die beiden ersten Vorträge zur biologischen Evolution zusammengefasst, um später den Unterschied zur kulturellen Evolution deutlich machen zu können. Euch biete ich den Link zu den Folien der ersten Vorlesung an, die ich hier im Seniorentreff bereits vorgestellt hatte.

Dieser Vortrag zu den Mechanismen, die die biologische Evolution antreiben, ist hilfreich zum Verständnis des Unterschieds zur kulturellen Evolution, über die es im Folgenden gehen soll.


Die kulturelle Evolution

Das waren meine Themen gestern (20.4.2018):
1.Die biologische Zeitskala „Wir haben noch viel vor uns“ ;-)
2.Definition von „Kultureller Evolution“
3.Die Wurzeln der kulturellen Evolution im Tierreich
4.Unterschiede und Gemeinsamkeiten von biologischer und kultureller Evolution
5.Was die kulturelle Evolution des Menschen auszeichnet
6.Welche Einheiten werden in der kulturellen Evolution selektiert?
7.Die Entkopplung von Intelligenz und Bewusstsein und deren Folgen
8.Können technische Systeme Bewusstsein entwickeln?
9.Was bleibt vom Menschen?

Ich plane, dass ich hier in diesem Thread zu den einzelnen Kapitel nach und nach meine Vorstellungen erläutere und mit euch diskutiere. 

So, jetzt habe ich mich unter Zugzwang gesetzt und werde morgen damit anfangen Lächeln.
Ich hoffe natürlich, dass die Inhalte einige von euch  interessieren. Die Resonanz gestern hat mich jedenfalls ermutigt, es zu versuchen.

Karl


 
mane
mane
Mitglied

RE: Die Kulturelle Evolution
geschrieben von mane
als Antwort auf Karl vom 21.04.2018, 23:07:03

Lieber Karl,

das Themengebiet interessiert mich und ich würde gerne mehr erfahren. Ob mein Wissen allerdings ausreicht, im Forum darüber zu diskutieren, bezweifel ich. Vielleicht wenn ich mich etwas in deine kommenden Einführungen eingelesen habe.
Gruß Mane

schorsch
schorsch
Mitglied

RE: Die Kulturelle Evolution
geschrieben von schorsch
als Antwort auf Karl vom 21.04.2018, 23:07:03

Befürchtest du nicht, dass du das hiesige Publikum ganz schön überfordern könntest?

OK, ich kann ja nur für mich selber sprechen.....


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Karl
Karl
Administrator

RE: Die Kulturelle Evolution
geschrieben von Karl
als Antwort auf schorsch vom 22.04.2018, 11:23:17

Lieber schorsch,

deshalb stelle ich es ja zur Diskussion, damit jeder seine Fragen formulieren kann. Wenn uns das gegenseitige Verlangen zu lernen antreibt, dann gibt es keine "dummen" Fragen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es sehr hilfreich für die Vertiefung des eigenen Verständnisses ist, wenn man genötigt wird, etwas gut zu erklären.

Liebe Mane,

danke für dein Interesse. Das wunderbare Wetter treibt uns heute aber aus dem Haus, weshalb ich mein ersten Kapitel erst heute Abend schreiben werde.

Beste Grüße

Karl

britti
britti
Mitglied

RE: Die Kulturelle Evolution
geschrieben von britti
als Antwort auf Karl vom 22.04.2018, 12:28:00

Hallo Karl, ich lese gerade "Spontane Evolution" von Lipton/Bhaerman. Sehr interessant, passt vielleicht zu Deinem Thema! Bin gespannt  Lächeln

Karl
Karl
Administrator

RE: Die Kulturelle Evolution
geschrieben von Karl
als Antwort auf britti vom 22.04.2018, 14:36:57

Liebe Britt,

das wird sich zeigen, ich bin eher skeptisch. Was ich auf die Schnelle zu den Autoren googeln konnte, klingt doch für mich sehr seltsam. Ich fange mit meinem Teil einfach einmal an, Du kannst es ja kommentieren.

Beste Grüße, Karl


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Karl
Karl
Administrator

RE: Die Kulturelle Evolution
geschrieben von Karl

Ich möchte mit den ersten beiden Punkten beginnen:
1.Die biologische Zeitskala „Wir haben noch viel vor uns“ ;-)
2.Definition von „Kultureller Evolution“



Zur Zeitskala

Biologen haben eine etwas andere Zeitauffassung als der Normalbürger. Für einen Biologen ist es nicht ungewöhnlich, viele Millionen von Jahren zurückzuschauen.

Die Fossilien vergangener Epochen lehren uns, wie sehr diese Welt dem Wandel unterworfen, wie veränderbar sie ist. Es wird jedoch auch deutlich wie gewaltig die Zeiträume sind, während derer sich das Leben auf dieser Erde entwickelt hat.

Wenn wir die Frage stellen, wie diese Entwicklung weitergehen wird, sind wir jedoch ziemlich verloren. Für welchen Punkt auf der nachfolgenden linearen Zeitskala wollen wir eine Prognose wagen?

Falls wir eine Milliarde Jahre auf der linearen Zeitskala mit einem Meter gleichsetzen, entspricht ein „Millimeter“ 1 Million Jahre. 1000 Jahre entspräche einem Mikrometer  (einem Tausendstel eines Millimeters). Wir bräuchten also ein Mikroskop um die Ausdehnung von 1000 Jahren auf der unten gezeichneten Skala erkennen zu können.

Niemand von uns kann ernsthaft behaupten, er wisse, wie das Leben auf dieser Erde dann gestaltet sein wird und doch würde die Erwartung, dass die Zeitskala der Erde noch mindestens 1000 Jahre weiter geschrieben werden wird, nicht sehr unrealistisch sein.

Ich zeige diesen Zeitbalken also, um die Perspektive dieses Vortrags zurechtzurücken. Die Evolution über die wir heute gemeinsam nachdenken möchte, spielt sich innerhalb gewaltiger Zeiträume ab, die wir normalerweise in unserer Vorstellungswelt nicht kennen.

Screenshot 2018-04-22 20.58.24.png
 
Die Zeitskala der Erdgeschichte macht mehrere Dinge deutlich:

1. Die biologische Evolution hat sich offensichtlich beschleunigt, jedenfalls drängen sich die Säuger, Affen und der Mensch kurz vor der 0, also vor heute.

2. Die menschliche Kulturgeschichte hat auf dieser Skala praktisch noch keine Ausdehnung, sie hat gerade erst begonnen (vor einigen Mikrometern).

3. Es scheint so, wenn die Erde nicht durch eine Katastrophe zerstört wird und die Evolution nicht abbricht, dass noch unendlich viel Zeit für Weiterentwicklung gegeben ist.

Da wir uns mit der kulturellen Evolution beschäftigen wollen, die die langsamen Mechanismen der biologischen Evolution abgelöst haben, fragen wir nun als Erstes einmal nach der Definition dessen, was wir unter Kultur und unter Kultureller Evolution verstehen.

Screenshot 2018-04-22 21.23.29.png
 
Was verstehen wir unter "Sozialem Lernen?"

Screenshot 2018-04-22 21.24.51.png
Deshalb liegen die Wurzeln für Kulturfähigkeit bereits im Tierreich und damit werden wir uns als Nächstes beschäftigen (ab morgen).

Karl

 

Karl
Karl
Administrator

RE: Die Kulturelle Evolution
geschrieben von Karl
als Antwort auf Karl vom 22.04.2018, 21:29:12
Die Wurzeln der kulturellen Evolution im Tierreich

Schimpansen
Bei den in Zentralafrika untersuchten Schimpansenpopulationen konnten Unterschiede tradierter Verhaltensweisen zwischen den einzelnen Populationen festgestellt werden, die so zahlreich und ausgeprägt sind, dass einige Forscher demgemäß von unterschiedlichen Kulturen sprechen. Zum Informationsfluss durch Vererbung von Genen kommt bei der kulturellen Evolution also der Informationsfluss ​​durch Lernen hinzu.

Zur Illustration möchte ich hier zwei (im Vortrag wegen ihrer Länge nicht gezeigte) Filme einstellen, die es sich lohnt anzuschauen.
 

Nicht direkt zum engeren Thema gehörend, aber berührend:
 




Screenshot 2018-04-23 14.15.04.png

Hier sehen wir zwei Kapuzineraffen, die Joghurt mithilfe von Bambussstangen “löffeln”. Die Problemlösung wird vorausgedacht und dann erst umgesetzt. Deutlicher wird das vielleicht in Experimenten, die Wolfgang Köhler mit Schimpansen durchgeführt hat.

Screenshot 2018-04-23 15.14.00.png

Wenn man im Schimpansenkäfig in grosser Höhe eine Banane anbringt, so dass sie durch Springen nicht erreichbar ist, erzeugt man bei Schimpansen zunächst eine grosse Verärgerung. Sie springen vergeblich und ziehen sich dann schmollend zurück, aber nicht ohne ihre Blicke zwischen der Banane und diversen Utensilien im Käfig hin und her schweifen zu lassen.
Plötzlich werden sie aktiv, stapeln - wenn auch ungeschickt - vorhandene Kisten aufeinander - und pflücken die Banane.
Erkennungsmerkmal einsichtigen Verhaltens ist das “Durchspielen einer Handlung im Kopf” vor der konkreten Ausführung. Der Selektionsvorteil dieser Fähigkeit ist evident, sie ermöglicht, das Versuch und Irrtum-Lernen, zu dem die meisten Tiere in der Lage sind, gefahrlos im “inneren Simulationsmodell” der Aussenwelt durchzuspielen. Eventuell fatale Folgen einer Handlungsweise müssen nicht erfahren werden, sondern sie werden aufgrund des Simulationsergebnisses aktiv vermieden. Ich muss nicht in den Abgrund springen, um festzustellen, dass das weh tut, wenn ich dies vorausgesehen habe.
Voraussage ist also ein essentielles Merkmal intelligenten, einsichtigen Verhaltens. Die Qualität der Voraussage hängt naturgemäss sehr stark von der Qualität des verwendeten Modells der realen Welt ab, zudem natürlich auch von der Zeitspann,  für die sie gelten soll.

In Kombination mit Nachahmung (man beachte den aufmerksamen Beobachter unten rechts im Bild) wird einsichtiges, intelligentes Handeln zu einem enormen Beschleuniger der kulturellen Evolution. Information breitet sich damit wie eine virale Ansteckung aus und muss nicht den Weg über die DNA nehmen. Es bilden sich bei kulturfähigen Arten Traditionen aus.

Sehr gut ist das auch bei Singvögeln zu beobachten (zu hören).

Screenshot 2018-04-23 15.18.30.png
 
Kanarienvögel lernen ihren Gesang von älteren "Tutoren", das müssen nicht die leiblichen Eltern sein. Der Gesang bei Vögeln spielt beim Sozialverhalten eine ähnlich wichtige Rolle wie die Sprache beim Menschen.

Interessanterweise enthält auch die genetischen Grundlage von Sprache und Vogelgesang eine ähnliche Komponente. So ist z.B. für beides das FoxP2 Gen notwendig, dessen Genprodukt, ein Transkriptionsfaktor, eine Batterie anderer Gene aktiviert, die wichtig für die Entwicklung entsprechender Gehirnareale sind.

Spielt die klassische Evolution auf DNA-Ebene bei der Evolution der Befähigung zu Sprache noch eine große Rolle, so ist die Sprache des Menschen dann jedoch der entscheidende Faktor, der es dem Menschen ermöglicht hat, endgültig die Fesseln der biologischen Evolution zu sprengen.

Mit Sprache und später der Schrift  kann Information extern, außerhalb der Lebewesen gespeichert werden. Information kann sich wie eine virale Ansteckung zwischen den Individuen und auf Folgegenerationen ausbreiten.

Karl
Karl
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Administrator

RE: Die Kulturelle Evolution
geschrieben von Karl
als Antwort auf Karl vom 23.04.2018, 14:17:47
Unterschiede und Gemeinsamkeiten von biologischer und kultureller Evolution

Weltweit gibt es circa 7000 unterschiedliche Sprachen. Sprache wird in der Regel von einer Generation auf die nächste durch den Prozess des sozialen Lernens weitergegeben. Diese Traditionsbildung ermöglicht es durchaus auch für Sprachen so etwas wie einen "Abstammungsbaum" zu erstellen, siehe z. B. hier.

Sehr beeindruckend ist auch der Stammbaum der Religionen (durch Klick zum größeren Original).

Screenshot 2018-04-23 15.55.01.png

Sowohl Stammbäume für Sprachen und Stammbäume für Religionen unterschlagen aber den intensiven Austausch zwischen den verschiedenen Zweigen, sobald diese in räumliche Nachbarschaft kommen. So leben wir heute nicht mehr auf sprachlichen und religiösen Inseln, die entstanden als Homo sapiens von Afrika ausgehend die Kontinente eroberte, sondern wir leben in einem globalen Dorf, wo jeder alles hören und lernen kann. Sowohl die Grenzen der Sprachen wie der Religionen verwaschen sich (was teilweise zu wütenden Gegenbewegungen führt).

Screenshot 2018-04-23 16.01.21.png
Den dritten Punkt der Folie möchte ich noch erläutern. Die biologische Evolution ist auf die Auslese von Mutationen angewiesen, die zufällig die Fitness ihrer Träger erhöhen. Das ist ein sehr langwieriger, mit vielen Misserfolgen gepflasterter Weg.

Die kulturelle Evolution funktioniert anders. Ein Erfinder ärgert sich zum wiederholten Male, dass er zu dem Erreichen eines Zieles viel Aufwand betreiben muss oder es mit den gegebenen Mitteln überhaupt nicht erreichen kann. Also überlegt er sich eine Lösung. Edison z. B. war es bei Kerzenlicht zu dunkel, er wollte etwas Besseres und erfand die Glühbirne. Davon waren seine Mitmenschen so begeistert, dass sich die Glühbirnenkultur schnell über den Globus ausgebreitet hat.

Karl

P.S.: Fortsetzung erfolgt morgen.
 
qilin
qilin
Mitglied

RE: Die Kulturelle Evolution
geschrieben von qilin

Hochinteressant - die beiden Videos mit Jane Goodall (das zweite hat mich besonders berührt); und den Evolutionary Tree of Religion habe ich mir natürlich 'runtergeladen Lächeln - ja, wenn wir nicht irgendeine Katastrophe selbst verursachen (wenn auch nur 'durch Unterlassung'), oder uns eine von außen trifft (wie Asteroidentreffer, Sonnenflackern o.Ä.), dann können wir uns wohl noch ein paar Mikrometer weiterentwickeln - von Millimetern zu sprechen wäre wohl schon Hybris... Zwinkern

() qilin


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