Anthropologie / Psychologie Perfektionismus durch Online-Netze?
Der zitierte Artikel bezieht sich ja explizit auf Studierende und stellt "deutlich höhere" Werte heraus als vor 30 Jahren, d. h. vor dem Internetzeitalter. Es gab das Phänomen also schon immer. Zu erklären ist dieser ansteigende Trend zu Perfektionismus im Beruf, zur Selbstoptimierung wie auch zum Narzissmus durch die weit größere Vergleichsgruppe für die Studierenden. Vielleicht aber war der Einfluss auf das Privatleben noch nie so hoch wie heute, siehe das Styling von Jugendlichen beiderlei Geschlechts, aber besonders bei jungen Männern und nicht nur bei der akademischen Jugend.
Als Ideal wird die menschliche "eierlegende Wollmilchsau" mit den genannten Attributen vor allem für Bewerber und nur in bestimmten Branchen und für bestimmte Jobs und in einem Arbeitgebermarkt gesucht. Sobald es jedoch ein Arbeitnehmermarkt ist, wie aktuell bei den Informatikern und Programmierern, interessiert das Äußere und die perfekte Vita weniger bis überhaupt nicht, wie man bei einschlägigen Fachmessen beobachten kann.
Auch ich habe den mitunter teuren Verlust an Know-How durch diese Einstellungspolitik erlebt. Er scheint aber letztlich nicht wirklich zu interessieren, denn es gab immer wichtigere Dinge. Vor allem die SPD drängt auch deshalb aktuell darauf, mit den sachgrundlosen Befristungen aufzuhören, um den jungen Menschen etwas mehr Planungssicherheit zu ermöglichen.
Wir haben seit längerer Zeit auch einen "Arbeitnehmermarkt" z.B. bei Naturwissenschaftlern (Medizinern und Chemikern) und auch im Dienstleistungsbereich und Pflegesektor. Auch Lehrer, Erzieher, gut ausgebildetes Pflegepersonal usw. sind sehr stark gefragt.
Da können dann diejenigen, die Jobs suchen, entsprechend auswählen und auch die Modalitäten gut verhandeln. DAs wird auch gemacht, weil gerade die jüngere bis mittlere Generation heute grossen Wert darauf legt, nicht mehr so zu arbeiten, wie es ihre Eltern (oft Väter) machten und dadurch wenig bis keinen Freiraum für ihre Familien hatten. Auch Sabbaticals sind stark gefragt. In grösseren Unternehmen ist dies meist auch gut möglich, da es dort ARbeitszeitmodelle gibt, die es erlauben, einige Zeit TAge und Wochen durch Mehrarbeit anzusparen und sie dann für längere Zeit abzubummeln.
Interessant wird auch für die Zukunft sein (was ebenfalls heute schon praktiziert wird),dass räumlich feste Arbeitsplätze entfallen. Die Menschen arbeiten auch zu Hause und wenn sie in die Büros kommen, suchen sie sich einen Schreibtisch usw., der gerade frei ist.
Dies wird es z.B. auch Frauen gut ermöglichen, Berufstätigkeit mit Kindererziehung zu kombinieren, wenn Arbeitsplätze zu Hause normaler werden.
Dadurch könnte dann hoffentlich und bald die unselige Arbeit auf Mini-JobBasis oder niedrigschwellige TEilzeitjobs entfallen ,die insbesondere bei Frauen direkt in Altersarmut führen, wenn sie dies zu lange machen und dann irgendwann keine Rückkehrmöglichkeit auf Vollzeit in die Betriebe finden, auch deshalb, weil ihr Wissen und ihr Know-How nicht mehr zeitgemäss ist.
Alles wird aber auch bedeuten: lebenslang lernen und dies nicht nur intern inder Firma, wo man gerade arbeitet, sondern sich so zu schulen, dass man die persönliche Flexibilität besitzt, jederzeit auch wechseln zu können (und natürlich auch die Mobilität). Olga
Hier noch ein Artikel der sich etwas detaillierter mit der angegebenen Untersuchung beschäftigt...
Die körperliche Arbeit ist zwar für die Meisten humaner geworden. Aber heute muss ein Angestellter 24 Stunden pro Tag und 7 Tage die Woche für das Unternehmen online sein, wenn er am Ende des Jahres noch auf der Lohnliste geführt werden möchte.
Dieser Review Article von Autor Philip Perry nennt einige neue Aspekte aus der Originalstudie, die nur käuflich zu erwerben ist. Die Teilnehmerzahl von 41.000 Teilnehmer aus den UK,US, Can, ist schon eine belastbare Hausnummer. Zunächst müsste man eigentlich fragen, bis zu welchem Grad seine Aussagen auch auf D anwendbar sind. Tendenzielle Übereinstimmung kann man aber doch vermuten.
Der verlinkte Text von Perry bestätigt meine Thesen, dass es um die top jobs geht und bei den "societal pressures" vor allem um die unvergleichlich größere Referenzgruppe im Netz, besonders in den sozialen Medien. Als neuen Aspekt benennt der Text aber die Eltern, die ihre eigenen, z.T. unerfüllt gebliebenen Karrierepläne auf die Kinder projizieren, oft unabhängig davon, ob die Kinder das von ihren Anlagen her leisten können. Ergänzend bestätigt der Satz: "Young people are responding by reporting increasingly unrealistic educational and professional expectations for themselves.", dass die jungen Leute mitunter auch selbst gar nicht studieren bzw. nicht mal das Abitur ablegen wollen. Für diese Jugendlichen Entlastung z.B. mit einer dualen Ausbildung anzubieten, würde vielen helfen, am meisten ihnen selbst.
Auch die Aussage, dass "Higher educational demands and the need to find a job that earns a significant salary, also lead to an inflated need for perfection.", ist auf zweifache Weise interessant: a) gibt es die höheren Bildungsanforderungen wirklich und wenn ja, wo? In D beklagen Vertreter der ausbildenden Institutionen doch oft ein sinkendes Niveau der Studien- und Ausbildungsbewerber, die mitunter nicht mal elementare Kulturtechniken sicher beherrschen. Und b) weist der Satz darauf hin, dass sie sich letztlich doch dem Druck beugen, weil sie selbst einen (sehr) gut bezahlten Job möchten. Es ist also auch hausgemacht.
An Entlastungsstrategien und Wegen heraus aus dem Dilemma fehlt es, wie Perry zu recht beklagt. Aus D wissen wir, dass es doch auch Gegentendenzen gibt, wenn die Jugendlichen heute z.B. verstärkt auf die work-life-balance achten, wie Olga schreibt. Und was ist mit den jungen Akademikern selbst? Sollten sie als künftige Elite unseres Landes nicht auch in der Lage sein, sich von den ganzen medialen Einflüssen auch ein Stück weit zu emanzipieren und für sich realistische(re) Ziele zu setzen? Dabei können und sollten ihnen ihre lebenserfahrenen Eltern helfen, anstatt sie zusätzlich unter Druck zu setzen.
Ja und wo bliebt in dem Text von Perry und im verlinkten Original-Review eigentlich der eingangs erwähnte Narzissmus? Der wird nämlich oft überstrapaziert. Es ist noch nicht klar, inwieweit der extreme Narzissmus durch die sozialen Medien verstärkt wird. Oft werden histrionische Eigenschaften (Eitelkeiten, theatralisches Gebahren, Wunsch nach ständiger Anerkennung und danach im Mittelpunkt zu stehen) mit Narzissmus gleichgesetzt. Extreme Narzissten, und nur um die sollte es gehen, zeichnen sich aber dadurch aus, dass sie sehr impulsiv reagieren und sich nicht in vorhandene Strukturen einordnen können, keinem festen Wertekanon folgen. Das ist eine besondere Kategorie und nicht mal so häufig.
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